Die Gartenlaube (1868)/Heft 45
[705]
No. 45. | 1868. | |
In einer ziemlich entlegenen Straße Bambergs erhebt sich ein Gebäude von bedeutender Ausdehnung, das städtische Spital. Früher ein gräfliches Besitzthum, das aus zwei einzelnen Häusern bestand, ward es vor Jahren zu dem gegenwärtigen Zwecke durch einen Mittelbau vereinigt, dessen Front hart an der Landstraße liegt, während die Rückseite von großen, schattigen Gärten begrenzt wird, die sich bis an die Ufer der Regnitz hin erstrecken.
Die untergehende Sonne eines Apriltages warf ihre letzten Strahlen in ein Parterrezimmer dieses Krankenhauses und erhellte die Physiognomie des hohen, etwas düsteren Gemaches. Es war ein Zimmer von ungewöhnlicher Tiefe; zwei Fenster desselben gingen nach der Straße, zwei andere, correspondirende, nach dem Garten, dessen alte, beschattende Bäume wohl immer eine gewisse Dämmerung in jenem Theile des Raumes erhalten mochten.
An einem der Gartenfenster war offenbar das Lieblingsplätzchen des Bewohners etablirt. Ein viel gebrauchter, aber trefflich gepolsterter Lehnstuhl stand vor einem soliden kleinen Tische mit geschweiften Füßen, der mit Büchern, Rauchapparat und, gerade jetzt, mit einer ziemlichen Anzahl uneröffneter Briefe bedeckt war. Weit ernsthafter blickte ein großes, mit grünem Tuch bezogenes, neben eines der hellen Fenster nach der Straße zu gerücktes Schreibpult drein, neben dem sich ein Bücher-Repositorium erhob, das fast bis zur Decke reichte. Im Contrast mit der übrigen einfachen Einrichtung stand an der langen Wand, der Thür gegenüber, ein großer, noch neuer Flügel, dessen besonders schöne und sorgfältige Holzarbeit auf ein werthvolles Instrument schließen ließ. Das Zimmer war leer. Es war ganz still darin, nur die Münchner Schnitzuhr an der Wand tickte in regelmäßigem Gange, sonst regte sich nichts.
Nun aber klirrte das Schloß der Zimmerthür; von rascher Hand ward der Schlüssel gedreht, und der Besitzer des Raumes trat ein. Er mußte nicht weit gewesen sein, denn er war in Hauskleidung, ohne Handschuhe und Kopfbedeckung, doch flog sein Blick durch das Zimmer, als prüfe er die vorhandenen Gegenstände, dann ließ er sich mit einer leichten Geberde von Ermüdung im Lehnstuhl nieder. Mit Behagen streckte er die Glieder und öffnete das Fenster, zu dem der eigenthümlich schwache Duft von jungem Laub und Baumblüthen hereinströmte, der in dieser Jahreszeit, nach Sonnenuntergang, noch wie ein Abschiedshauch des schaffenden, drängenden Tages, durch die ruhenden Gärten zieht. Dann wurde eine Cigarre in Brand gesteckt, und mit ihren leichten Wölkchen zugleich schienen mancherlei Gedanken in die kühle Abendluft hinaus zu wirbeln.
Während der junge Mann sich so dem Genuß eines Ruhestündchens überläßt, haben wir Muße, seiner Erscheinung einen Blick zu gönnen. Er mochte etwa fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahre zählen und gehörte zu jenen Gestalten, welche mehr noch die Gedanken fesseln, als das Auge. Mittelgroß, schlank, fast schmächtig, dabei aber von jener Elasticität der Bewegung, die auf eine kräftige, oft eiserne Constitution schließen läßt, lag selbst in der Ruhe, der er sich eben hingab, etwas von Energie. Der feingezeichnete, von schlicht geordnetem dunkelblondem Haar umrahmte Kopf war der eines Denkers. Die helle, frei und schön entwickelte Stirn wölbte sich über Augen von unbestimmter, sich oft verdunkelnder Färbung, deren Feuer das blasse Gesicht eigenthümlich belebte und einen stets beschäftigten, intensiven Geist verrieth. Hätte nicht um die zartgeschnittenen Lippen ein Zug von Jugendlichkeit und Lebensfrische gespielt, so wäre dies Gesicht fast zu ausdrucksvoll für einen Mann seines Alters erschienen.
„Guten Abend, Schaumberg!“ klang eine tiefe Stimme zum Fenster herein.
Der junge Mann sprang auf und grüßte achtungsvoll. „Schon zurück, Herr Director? Die Operation gut von Statten gegangen?“
„Ganz nach Erwartung,“ erwiderte der Befragte; „nichts Neues im Hause?“
„Nichts von Belang, ich komme eben aus den Sälen zurück; viele Anmeldungen nur, wie es scheint. Sehen Sie die reichhaltige Correspondenz, die mit der letzten Post eingegangen ist! Ich will mich jetzt daran machen.“
„Viel Vergnügen!“ winkte der Director, „hier haben Sie auch die Zeitung. Nichts drin heute, als lauter Projecte zu Festivitäten. Die Königin kommt wirklich nächste Woche her und soll zwei Tage bleiben. Verdammte Langweilerei! Meine Weiber denken an nichts, als an Spitzen und Bänder, und als ich heute heimkam, war das erste Wort, das die Mädels mir zum Willkommen sagten: Ball! Heirathen Sie nur nicht, Schaumberg!“
Der Assistenzarzt lachte und sah mit freundlichem Auge seinem Director nach, der durch den Garten nach seiner neben dem Spital gelegenen Privatwohnung schritt. Inzwischen war es tief dämmerig geworden, die Cigarre war ausgeraucht, und der junge [706] Mann erhob sich, um die Lampe anzustecken, die auf dem Schreibpult bereit stand. Er ergriff das Packet Briefe und setzte sich damit an den Arbeitstisch, um die letzte Berufsarbeit für den heutigen Tag vorzunehmen. Er las aufmerksam, mitunter flog ein ernster Schatten über die feinen Züge. Und doch war er daran gewöhnt, viele Briefe dieser Art zu lesen, Briefe, die fast immer eine Fülle von Leid und Sorge in ihrem engen Rahmen schließen – Briefe, die oft genug in ungeschulten, halb unleserlichen Hieroglyphen ihr schmerzliches Anliegen berichten, – Briefe, die in zitternden Charakteren den Nothschrei eines beängstigten Gemüthes zwischen den Zeilen errathen lassen, – Briefe, die, wenn sie geschäftsmäßig und gleichgültig um Aufnahme für einen Todtkranken werben, eben darum die Seele bewegen müssen – Anmeldebriefe für ein Spital!
Mit leisem Knistern fiel Schaumberg, als er ein großes, amtliches Schreiben aufnahm, ein dünnes Briefchen entgegen, dessen Ecke sich in den Spalt des stattlichen Briefcollegen ein, geschoben hatte. Er betrachtete das kleine Schriftstück einen Augenblick, ehe er es öffnete, denn allerdings trug es ein anderes Aeußere, als die übrige Correspondenz; nicht oft verirrte sich solch ein rosenfarbiges, von zartem Parfüm angehauchtes Exemplar in das Studirzimmer des jungen Klausners. Als er beim ersten Blicke sah, daß der Brief nicht die Adresse der Direction, sondern seine eigene trug, blitzte es in dem hellen Auge auf, und rasch war die Oblate gelöst. Während er las, stieg eine lebhafte Röthe ihm bis an die Stirn, er griff nach dem Couvert, um die Adresse nochmals zu untersuchen. Es trug den Stempel: „Stadtpost-Briefkasten“ und war mit derselben schrägen, offenbar verstellten Schrift bedeckt, wie das Blatt, welches es umschloß. Er las zum zweiten Male, ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen.
Der Inhalt des rosigen Briefchens war folgender:
„Eine Dame, welche Sie seit längerer Zeit beobachtet und von Ihrem Charakter die höchste Meinung gewonnen hat, wünscht lebhaft, Sie persönlich kennen zu lernen. In einigen Tagen wird die Stadt der Königin einen Ball geben. Wenn Sie denselben besuchen, so werden Sie die Schreiberin dieser Zeilen an einem Schmuck erkennen, der nicht wohl zu verwechseln ist. Derselbe hat die Form eines Malteserkreuzes und ist von alterthümlicher Filigranarbeit, mit Brillanten besetzt. Den Mittelpunkt bildet der Buchstabe E.
Erweckt die Dame, an deren Halse Sie dies Geschmeide erblicken, in Ihnen den Wunsch, sich ihr zu nähern, so schonen Sie die Beschämung, mit der nach langem Kampf diese Zeilen niedergeschrieben wurden.“
Ein paar Augenblicke nach dem zweiten Lesen dieser eigenthümlichen Zuschrift war das feine Blatt zu einem Ballen zusammengedrückt und flog in den Papierkorb.
„Dumme Mystification!“ murmelte der junge Stoiker. „Natürlich wieder einmal einer von des Assessors schlechten Witzen. Das wäre so etwas für den Patron, wenn ich, der ich nie den Fuß in einen Ballsaal setze, ihm das Vergnügen machte, auf diesen Zopf anzubeißen und mich dann hundert Jahre lang auslachen zu lassen!“
Etwas verdrießlich nahm Schaumberg die unterbrochene Arbeit wieder auf, machte auf jedem der Briefe ein flüchtiges Memorandum und vertiefte sich, nachdem dies Geschäft beendigt war, für die nächsten Stunden in das Manuscript einer wissenschaftlichen Arbeit, die ihn so fesselte, daß es bereits zehn Uhr geschlagen hatte, ehe der Schluß des Abschnittes ihn die Feder niederlegen ließ. Ueberrascht sah er nach der Uhr, griff, da er nicht Lust hatte, so spät noch auszugehen, nach den Beständen seiner Junggesellenwirthschaft, die im Wandschranke solcher Fälle harrten, klingelte nach einem Glase Bier und ließ sich das frugale Abendbrod mit jugendlichem Appetit munden.
Dann schraubte er die Lampe herunter und setzte sich an den Flügel. Nach kurzem Präludium füllten bald die vollen Accorde der Appassionata den Raum und drangen mit mächtigen Tönen durch die geschlossenen Fenster in die Nacht hinaus. Schaumberg spielte ohne Noten, ein bedeutend entwickeltes Talent entlockte dem Instrumente die reichsten Klänge. Nach dem Schlußaccord des Tonstückes verweilte die Hand des Spielers noch ruhend auf den Tasten, und erst einzelne Töne anschlagend, dann der augenblicklichen Stimmung immer mehr nachgebend, entwickelte sich in freier Phantasie ein schöner musikalischer Gedanke. Das Auge des jungen Mannes blickte träumerisch in’s Weite und schweifte durch das Fenster über die Straße.
In dem Hause gegenüber war ein Balconzimmer der Beletage erhellt, zwar nur schwach, als ob auch dort das Licht gedämpft wäre, aber doch hinreichend, um die Umrisse einer schlanken weiblichen Gestalt erkennen zu lassen, die, in einen hellen Burnus gehüllt, auf dem Balcon lehnte. Ein plötzlicher Gedanke zuckte, wie ein Blitz, durch Schaumberg’s Kopf und färbte sein Gesicht mit heller Röthe. Mitten im Accord brach er ab, zuckte ärgerlich die Achseln und schloß den Flügel. Ehe er zu Bett ging, nahm er aber aus dem Papierkorb den mißhandelten rosenfarbigen Brief hervor, glättete ihn und schloß ihn in ein Fach seines Schreibtisches.
Otto Schaumberg war, was die Masse der Menschen einen eigenthümlichen Charakter zu nennen pflegt, ein Ausdruck, der im Grunde nichts Anderes bedeutet, als ein selbstständiges Naturell.
Von Wenigen näher gekannt, galt er diesen als eine bedeutende Persönlichkeit. Er selbst war ein strenger Beurtheiler der einzelnen Personen, schwer zu befriedigen in der Wahl seines Umgangs. Unter den jungen Männern, mit denen er hier und da verkehrte, hatte er sich nur an einen früheren Universitätsgenossen, der gegenwärtig als Regierungsassessor in Bamberg angestellt war, näher angeschlossen. Wären Gleichheit der Neigungen, der Lebensweise eine Bedingung der Freundschaft, so würden nicht leicht zwei weniger passende Gefährten zu finden gewesen sein, als diese Beiden. Der Assessor von Marbach war ein Lebemann, ein Freund des geselligen Treibens, ein Satiriker, der von Allem den Schaum abschöpfte, ohne sich Zeit zu nehmen, den Becher zu leeren; dennoch war sein Umgang dem ernsten Freunde zum Bedürfniß geworden. Die frische Lebendigkeit des Assessors, der Allem, woran er vorüberstreifte, etwas abzugewinnen verstand, fiel wie heiteres Sonnenlicht in Schaumberg’s begrenzte Welt und erfrischte ihn.
So begab sich denn auch heute der junge Arzt mit einem Gefühl des Behagens nach dem Bahnhofe, um den Freund, der von einer commissarischen Reise zurückkehren sollte, dort in Empfang zu nehmen. Es war bereits spät und recht kühl. Schaumberg wickelte sich fest in seinen Mantel und warf ab und zu einen Blick auf die wenigen Gruppen, die, gleich ihm, auf dem Perron hin und her wanderten und, vom scharfen Ostwinde unbehaglich angeweht, der Ankunft des Zuges ungeduldig entgegenharrten. Nun pfiff das Signal durch die Luft, der Bahnwärter stellte die Weichen, bald erschienen, wie zwei Feueraugen, die rothen Laternen der Locomotive am Horizont, und wenige Secunden später hielt der nur aus wenigen Waggons bestehende Zug. Schaumberg’s scharfes Auge erspähte bald den erwarteten, seinem Zuruf folgte eine kräftige Gestalt mit elastischem Sprung, die leichte Reisetasche ward einem Gepäckträger übergeben, und die Freunde schüttelten sich die Hände.
„Laß Dir sagen, mein Junge,“ rief der Assessor, indem er den Schritt des heimwärts wandernden Gefährten mit leichtem Druck auf dessen Arm anhielt, „vorerst wäre ein Glas heißer Punsch nicht übel. Ich bin durchfroren vom Wirbel bis zur Zehe und möchte erst ein bischen aufthauen, ehe ich die Reise bis an’s andere Ende der Stadt mache.“
„Immer, wie Du willst, Goliath!“ nickte Schaumberg. „Nach der Restauration also, und dort, wenn Dir nicht auch die Stimme eingefroren ist, zum Reisebericht.“
„Was giebt es da viel zu berichten,“ sagte der Assessor, indem er den Mantel zurückwarf und sich’s im warmen Zimmer bequem machte. „Du kennst ja das alte Programm! Morgens Acten, Nachmittags Besichtigung von Löchern in der Chaussee und ähnlichen interessanten Gegenständen, Abends beim Landrath die unvermeidlichen Feldhühner, die noch unvermeidlicheren drei Töchter und ihre musikalischen Leistungen – dort heißt es ja in jedem Sinne stets: toujours perdrix! Ich gehöre nun einmal nicht zu den Glücklichen dieser Welt, die nach einer Abwesenheit von acht Tagen Bände voll Begebenheiten erlebt haben. Und hier im alten Neste steht sicherlich auch Alles auf dem alten, langweiligen Fleck – á propos aber, ich habe ja draußen gar nichts gesehen!“
„Ich auch nicht,“ lachte Otto, „denn es ist stark finster.“
„Nonsens! Keine Anstalten, meine ich, keine Triumphbogen [707] und Kränze, keine Fahnen und was sonst noch Alles zu dem Schwindel gehört. Heute sollte ja die Königin kommen, wie geht das zu?“
„Sie ist eben nicht gekommen. Prinzeß Mathilde hat die Masern, und so brachte schon gestern Abend ein Telegramm die Absage. Ist Dir denn heut keine Zeitung zu Gesicht gekommen?“
„Nicht hineingeguckt. Das ist ja eine verfluchte Geschichte! Was wird denn aus dem Balle morgen?“
„Einfach nichts. Die Stadt ist froh genug, ihr Geld zu sparen, sämmtliche junge Damen packen ihre Kränze händeringend wieder ein und gewisse Herren haben umsonst correspondirt.“
„Correspondirt? Und das sagst Du mit dem bekannten pfiffigen Zug um die Nase, der nur bei großen Gelegenheiten zum Vorschein kommt. Wer hat correspondirt?“
„Keine überflüssige Heuchelei, mein sehr verehrter Freund und Briefsteller auf rosa Seidenpapier! Zum ersten Male in meinem Leben habe ich den Ausfall eines Balles bedauert, auf dem der schlechteste Witz, den Eure Ehren jemals ausgeheckt, Bankerott gemacht haben würde.“
„Will ich doch jede Tochter des Landraths heirathen, sogar die, welche Verse macht, wenn ich eine Silbe von Deinen Anzüglichkeiten verstehe! Du machst mich so neugierig, wie eine Elster! Wenn es sich um rosenfarbene Briefe handelt, ist das Thema an sich schon interessant, werden aber dabei Sokrates dem Jüngeren, der über solche Allotria weit erhaben ist, die Backen so roth, wie ich dies eben vor Augen sehe, so prickelt es mich in allen Gliedern! Auf Ehre, Schaumberg, ich weiß nichts von einem Briefe, der sich auf den projectirten Ball bezieht. Und jetzt beichte!“
„Sonderbar,“ murmelte Otto, indem er die Cigarre fortwarf und den Arm aufstützte. „Ich war überzeugt, die Sache ginge von Dir aus – pah! was ist es weiter – hat wirklich eine Dame den Brief geschrieben, so ist diese Species jedenfalls nicht nach meinem Geschmack! Du kannst das lächerliche Schriftstück lesen, wenn wir nach Hause kommen.“
„Und das soll gleich geschehen,“ rief Marbach, lebhaft aufspringend. „Allons, aufgebrochen! Seh’ mir einer den Duckmäuser an! Damenbriefe! Laß mich das corpus delicti nur untersuchen, als ein Mann von Praxis find’ ich Dir schon die Fährte heraus!“
Plaudernd und einander neckend durchwanderten die jungen Männer die Stadt nach ihrer ganzen Länge, Schaumberg’s Behausung zu. Als sie noch etwa hundert Schritte vom Spital entfernt waren, prallte, bei der mangelhaften Beleuchtung jener Stadtgegend, ein Mann gegen sie an. Es war der Briefträger. Um Entschuldigung bittend, sagte er: „Da Sie es sind, Herr Doctor, so darf ich vielleicht einen Brief, den ich noch hinaufbringen müßte, gleich hier abgeben, und spare den Weg.“
Schaumberg nahm den Brief und hielt ihn noch nachlässig in der Hand, als der in den Localitäten des Studierzimmers unseres jungen Gelehrten völlig heimische Assessor bereits Licht angesteckt hatte.
„Halloh! abermals rosa, bei meinem Wort!“ rief Marbach jubelnd. „Die Sache wird interessant – rasch, gieb mir das erste Capitel des Romans und untersuche Deinerseits das zweite.“
Schaumberg sagte kein Wort; mit dem ersten Blick hatte er erkannt, daß der eben erhaltene Brief allerdings aus derselben Hand zu stammen schien, wie jener erste, vor acht Tagen empfangene, und ein gewisses Gefühl des Verdrusses, von demselben gesprochen zu haben, überkam ihn mit plötzlicher Verstimmung. „Ich wollte, Du dispensirtest mich,“ murmelte er, ohne aufzublicken.
„Warum nicht gar!“ lachte der Assessor. „Versprechen macht Schulden – überdies hast Du mich in falschem Verdacht gehabt, und ich verlange dafür Genugthuung. Nimm nur nicht Alles so schwerfällig, alter Junge! Beruhigt es Dein zartes Gemüth, so gelobe ich Dir mit deutschem Handschlag Discretion und Schweigen in allen Sprachen. Und nun rücke heraus mit dem ‚lächerlichen Schriftstück‘, wie Du es draußen titulirtest.“
„Laß mich wenigstens erst lesen, was ich eben erhielt,“ sagte Schaumberg, schob dem Freunde eine Zeitung hin und löste dann, in die Sophaecke zurückgelehnt, die Oblate des dünnen Blättchens. Ein eigenthümlicher Zug ging über sein ausdrucksvolles Gesicht, als er nach einigen Minuten das Blatt zusammenfaltete, einsteckte und schweigend ein paar Mal auf und ab ging.
Maibach unterbrach das Stillschweigen nicht und sah mit lächelnder Spannung dem Wechsel, ja dem stillen Kampfe zu, der in den Zügen des Freundes arbeitete. „Nun ja,“ sagte Letzterer endlich, indem er den Schreibtisch aufschloß und das darin verwahrte Blättchen herausnahm, „ich will Dir die beiden Briefe mittheilen, dann kannst Du mir sagen, ob sie nur meinem Einsiedlerauge so befremdend vorkommen, oder ob dergleichen in Eurer bunten Welt vielleicht zu den Alltäglichkeiten gehört. Doch mußt Du mich entschuldigen, wenn ich Dir den ersten Brief nicht ganz mittheile.“
Mit kaum unterdrückter Aufregung las Otto nun denselben vor, indem er die Bezeichnung und Beschreibung des Erkennungszeichens überschlug. Der zweite Brief, den er darauf dem Freunde gab, lautete so:
„Ein wohlwollendes Geschick hat mir die Strafe für den Leichtsinn erspart, der meinen früheren Brief an Sie dictirte. Seit ich ihn in Ihren Händen weiß, habe ich mir schon unzählige Male gesagt, daß Ihre Geringschätzung Alles sein dürfte, was dieser unweibliche Schritt mir eintragen würde, und doch hätte ich vielleicht nicht die Kraft gehabt, dem Ihnen vorgeschlagenen Zusammentreffen selbst auszuweichen. So danke ich denn dem Himmel, daß es sich ohne mein Zuthun anders fügte, und schreibe diese Zeilen nur, um Ihnen zu sagen, daß ich es für immer aufgegeben habe, dem Geschick abtrotzen zu wollen, was es nicht freiwillig gewährt. Sie werden nie wieder von mir hören; fühlen Sie sich aber im Laufe der Tage oder Jahre jemals einsam, dann sei es für Sie ein freundlicher Gedanke, daß ein Herz warm für Sie schlägt und bis zu seinem letzten Athemzuge Ihr Bild festhalten wird.“
Marbach’s Gesicht hatte, während er las, den spöttischen Ausdruck verloren, mit dem er begonnen. „Und Du hast keine Ahnung?“ sagte er aufblickend.
„Nein,“ entgegnete Otto, während doch eine verrätherische Gluth bis zu seinen Schläfen aufstieg.
„Hm!“ meinte der Assessor, indem er ein Lächeln unterdrückte, „was haben wir denn für Anhaltspunkte? Man hat Dich seit längerer Zeit beobachtet – das könnte also nur eine Spitalpatientin oder eine Nachbarin sein, denn in unserem Club wird die liebenswürdige Schriftstellerin Dich schwerlich beobachtet haben, und sonst sieht man Dich ja nur wie eine Figur der camera obscura, auf Deinen Spaziergängen. Daß sie den gebildeten Classen angehört, sagt uns der zweite Brief mehr als der erste, dessen Romantik allenfalls noch einer durch Leihbibliotheken gebildeten Putzmacherin entsprechen würde. Dieses Genre reicht aber doch nicht in die Scala des Ausdrucks hinauf, den wir hier vor uns haben. – Als echter Ritter bist Du wohl entschlossen, das rosa Band oder die blaue Blume des Erkennungszeichens um keinen Preis zu verrathen?“
„Nein,“ sagte Schaumberg schroff.
„Nur piano, mein Sohn, ich setze Dir keine Pistole auf die Brust, aber ganz entrinnen sollst Du mir nicht, ein Examen mußt Du aushalten. Wie ist es mit der Spitalpatientin?“
Otto lachte. Die Gestalten all’ der alten und jungen Gesichter, die ihn täglich aus großen Hauben anblickten und ihre Leiden klagten, im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Gesprächsstoff zu bringen, erschien ihm doch allzu grotesk. „Warte, mein Schatz,“ sagte er mit gutmüthigem Spott. „Nächster Tage nehme ich Dich einmal mit in meinen ‚Damenkrankensaal‘, da kannst Du Dir unter den vorhandenen Figuren den Typus einer Romanheldin heraussuchen. Du wirst vortreffliche Modelle finden, nur schade, orthographisch schreiben können sie gewöhnlich nicht.“
„Eine Nachbarin also,“ entgegnete Marbach, ohne eine Miene zu verziehen, und schritt dem Fenster zu. Ein unwilliger, fast zürnender Ausdruck glitt hinter seinem Rücken über die Stirn des Freundes und glättete sich nicht, als der Assessor, der mit einem Scherzwort den Fensterflügel geöffnet hatte, plötzlich abbrach und lauschend stehen blieb. Aus dem Hause drüben klang der Gesang einer vollen Altstimme herüber. Deutlich erkannten die Freunde die mächtige Melodie des Liedes: Am Meer, von Schubert.
Als die Sängerin geendet, schloß Marbach leise das Fenster und sah Otto mit eigenthümlichem Blick in die Augen. „Duckmäuser,“ sagte er halb ernst, „Deine nächste Nachbarin wäre denn ohne Zweifel die schöne Wittwe.“
„Welche Albernheit!“ fuhr Schaumberg auf. – „Eine schöne [708] Wittwe,“ sprach der Freund unbeirrt, „fünfundzwanzig Jahre, reich, interessant, Freier so viel wie Penelope selig, wählerisch wie jede verwöhnte Göttin, und gerade darin ganz dazu geschaffen, das vollauf Gebotene bei Seite zu schieben, um die Hand nach dem Monde auszustrecken. Du bist ein Glückspilz, dem der goldene Apfel direct aus dem Lande der Hesperiden in den Schoß fällt!“
„Wenn Du ausgefabelt hast, dann nimm Dir eine frische Cigarre und rede Vernunft,“ warf Otto in trockenem Tone ein. „Gehen wir noch in den Club, oder willst Du meine frugale kalte Küche mit mir theilen?“
„Du wünschest einen andern Discours, wie ich merke! Aber mir gefällt mein Stoff, mir gefällt die schöne Wittwe, es ist ein Thema, bei dem man gern bleibt.“
„Dann würde ich an Deiner Stelle versuchen, für immer dabei zu bleiben! Man mag seit einiger Zeit mit Dir vom Großmogul sprechen, oder von gut Wetter und Regen, immer findest Du Mittel, wieder bei Deiner schönen Wittwe anzukommen. Schlage ihr in Gottes Namen vor, Frau von Marbach zu werden, und damit gut!“
„Geht nicht an, geht leider nicht an,“ sagte der Assessor klagend. „Sie ist zu anstrengend für mich. Wenn sie so reizend aussieht, wie ein blonder Dämon es nur irgend fertig bringen kann, dann flattere ich mit ausgebreiteten Flügeln auf sie los, so wie sie aber anfängt über Himmel und Erde zu schweifen und mich armen Kerl in wirbelnder Geschwindigkeit mit sich irrlichteriren zu lassen, dann merke ich, es geht nicht an, ich würde mit einer so anstrengenden Frau nach acht Tagen schon in Atome zerstieben.“
„Eine Phantastin also, oder gar eine Art von Blaustrumpf? Das hätte ich der hübschen Frau nicht zugetraut, sie hat eher etwas Kindliches im Ausdruck.“
„Sie hat ein ganzes Repertoire von Ausdrücken, mein Junge. Ich werde Dich bei nächster Gelegenheit einmal vorstellen, dann kannst Du bessere physiognomische Studien machen, als von Deinem Fenster aus.“
„Das laß bleiben,“ entgegnete Schaumberg kalt. „Du weißt, ich verlange überhaupt nicht nach Damenbekanntschaften, und was sollte ich mit einer excentrischen Frau anfangen, oder sie mit mir!“
„Excentrisch ist Helene Dalen nun gerade nicht, nur ungewöhnlich. Die kleine Frau hat ja auch schon manchen Scenenwechsel durchgemacht, da färbt immer etwas ab, hier oder dort. Du hast sicher gehört, daß sie ein Jahr über die vergötterte Prima-Donna des Mannheimer Theaters war, noch blutjung damals, ein Mädchen aus gutem Hause, unter den Flügeln der Mutter die Theatercarriere verfolgend. Sie verließ von dort aus die Bühne, um sich an einen reichen Mann zu verheirathen, eine Art von Allerweltsgelehrten, der aus dem Kinde seine Puppe machte und sie mit Literatur, Astronomie und allem Teufelszeug vollpfropfte, bis sie aus einem liebenswürdigen Weibchen zu dem zurecht gemacht war, was man, horribile dictu! eine geistreiche Frau nennt. Der Mann starb, und die schöne Wittwe ließ sich, mit einer komischen alten Cousine als Ehrenwächterin, hier nieder, weil ihr die Gegend gefiel, meine ich. Sie hat jedenfalls das Verdienst um die Stadt, die Zungen zu beschäftigen, die ihr beim besten Willen zwar nichts Schlimmes nachsagen können, aber ihren ganzen exotischen Habitus als pikantes Futter fleißig verarbeiten. Ich bin nur begierig, ob sie ihre Freiheit noch ferner so standhaft vertheidigen wird, wie bisher.“
„So gilt keiner ihrer Bewerber als bevorzugt?“ fragte Schaumberg flüchtig.
„Doch. Da ist ein Major von Feldheim, dem sie wenigstens mehr Rechte einräumt, als den Anderen. Man sagt, er sei schon früher, als ihr Mann noch lebte, mit der Familie befreundet gewesen. Er wird viel mit ihr gesehen; hätte er aber wirklich die Chancen auf Erfolg, die man ihm zuspricht, so sehe ich nicht ein, warum die Verbindung verzögert werden sollte, und deshalb glaube ich nicht daran. Der Major könnte übrigens ihr Vater sein, gilt für einen Flattergeist in Beziehung auf das schöne Geschlecht, und denkt vielleicht gar nicht an die Heirathspläne, die ihm zugeschrieben werden.“
„Und nun ist Dein interessantes Thema doch wohl erschöpft, wenigstens für heute,“ lächelte Otto, als Marbach schwieg; „vielleicht ist’s jetzt erlaubt, die brennende Frage unseres Abendbrods noch einmal in Anregung zu bringen. Ich denke, wir gehen doch nach dem Club, die Andern erwarten Dich heute.“
Marbach nickte einverstanden, Beide brachen auf, und Schaumberg gab sich an diesem Abend mit ungewohnter Lebhaftigkeit dem allgemeinen Gespräche hin.
Als er spät in der Nacht den einsamen Weg nach Hause zurückgelegt und die Eingangspforte aufgeschlossen hatte, stand er noch einen Augenblick unter dem sternhellen Himmel und blickte zu den dunkeln Fenstern des Hauses gegenüber auf.
„Sie heißt also Helene,“ flog, mehr gedacht als ausgesprochen, über seine Lippen. „Ob ich je erfahren werde –“ der Gedanke ward nicht zum leisen Wort des Selbstgespräches. Mit rascher, fast heftiger Bewegung trat der junge Arzt ein, zog die Thür hinter sich zu und verschwand in seinem Zimmer.
Aus der schwäbischen Dichterwelt.
Wer im September auf der Eisenbahn oder in den abgelegeneren Gegenden Württembergs auf dem Postwagen gegen Stuttgart reist, dem wird eine eigenthümliche Reisegesellschaft bald auffallen. Junge Bürschlein von vierzehn bis sechzehn Jahren, ängstlich und verzagt aussehend, von sorglichen Müttern oder von Vätern begleitet, deren Aeußeres den behäbigen Decan, den kinderreichen Landpfarrer oder den gedrückten Schulmeister verräth. Zuweilen trifft man auch Trupps von acht, zehn bis fünfzehn solcher jungen Leutchen, beaufsichtigt von einem Manne, dem wir im Gespräch eine wissenschaftliche Bildung anmerken, über den wir aber nicht ganz klar sind, ob er ein Oekonom oder ein weiter gebildeter Volksschullehrer ist. Die Anrede: „Herr Präceptor“ zeigt uns seinen Stand. Auf die Frage: „Wohin mit den jungen Leuten?“ heißt es kurzweg: „Sie werden eingeliefert!“ Betroffen fahren wir zurück: sollten diese unschuldigen, flachshaarigen Jünglinge Verbrecher sein, die in eine Strafanstalt gebracht werden? Auf nähere Nachfrage berichtet man uns, nächster Tage sei in Stuttgart Landexamen, und man ist höchlich erstaunt, daß wir da draußen in der Welt von dieser ganz Württemberg durchzitternden Kunde nichts wissen.
Als bei der Reformation Herzog Christoph die Kirchengüter einzog, ließ er fünf Klöster mit ihren bedeutenden Geldmitteln bestehen und verwandelte sie in Bildungsanstalten für protestantische Theologen. Kost, Wohnung, Unterricht ist frei, ja sogar ein Taschengeld wird gegeben. Natürlich ist der Zudrang zu diesen Anstalten ein gewaltiger, bis gegen zweihundert Bewerber sammeln sich in Stuttgart, aber Viele sind berufen, nur vierzig auserwählt. Wir sagen den Leuten Lebewohl, wünschen viel Glück und hoffen sie in Stuttgart wieder zu sehen. Dort gehen wir in die bekannte Restauration „Stotz“, ungeachtet der engen Straße ein beliebtes Haus für „kleine Leute“, um mit Hackländer zu reden. Es ist gegen fünf Uhr Abends. Bei trefflichem Stoff mustern wir die Umgebung und erkennen manche unserer älteren Mitreisenden, da treffen sich alte Bekannte, Universitätserinnerungen werden ausgetauscht, man bespricht das Examen und die Möglichkeit, ob Sohn, Neffe, Zöglinge, Bekannte durchkommen; Studenten in rothen Mützen, der Tübinger Königsgesellschaft angehörig, „Roigel“ geheißen, erwarten Brüder und Freunde und suchen Füchse zu „keilen“.
Jetzt strömen die jungen Leute aus dem Examen, siegesfroh oder niedergeschlagen. Furchtbar schwer waren die Aufgaben, denn Professoren aller Württembergischen Anstalten bilden den Prüfungsausschuß, entsetzliche Argumente, anderswo lateinischer Stil genannt, werden ersonnen, „scheußliche“ Sätze aus den Classikern, hier zu Land „Perioden“ geheißen, aufgegeben. Endlich wird das Ergebniß verkündet, die Namen der vierzig Glücklichen erschallen im [709] Lande, hochgeehrt ist die Schule, welche Einige durchgebracht hat, Beförderung und Zulage erwarten den glücklichen Einpauker und schaarenweise strömen Zöglinge dem Präceptor zu, der eine besondere Fähigkeit besitzt, das „Argumentle“ einzubläuen.
Die Glücklichen beziehen nun eine der Anstalten Maulbronn, Urach, Blaubeuern oder Schönthal, dort bleiben sie vier Jahre. Der Unterricht ist ausgezeichnet, vorzüglich in alten Sprachen, weniger in Realien, griechische und römische Autoren werden eifrig übersetzt, zum Theil metrisch übertragen, ja die jungen Leute machen selbst Verse in den alten Sprachen, mitunter geht es sogar so weit, daß die Zöglinge, wie ein früherer Stiftler versichert, Schiller’s Kampf mit dem Drachen ins Hebräische übersetzen mußten, Ausflüge in die herrliche Umgegend sind nicht selten, schwärmerische Jugendfreundschaften werden geschlossen; das strenge Verbot gegen Rauchen und Wirthshausbesuch weckt die jugendliche Erfindungskraft, das Verbot hier und da zu übertreten, und manch dichterischer Jüngling findet unter den Jungfrauen des Städtleins ein empfängliches Herz für seine ersten lyrischen Erzeugnisse, nicht selten auch eine Braut. Schnell verrinnen die vier Jahre, dann geht’s mit Sang und Klang zum Städtchen hinaus und nur zu oft heißt’s:
Jetzt komm ich, ach! an Liebchens Haus,
O Kind, schau noch einmal heraus!
Aber schnell vergessen ist das Vorrecht der glücklichen Jugend; nach nochmaligem Examen nimmt Tübingen den jungen Theologen auf, dieselbe Lebensordnung, nur mit mehr Freiheit, dauert weitere vier Jahre, und dann ist der Mann fertig und beginnt seine Laufbahn als Vicar.
Nehmen wir zu solcher Erziehung die Eindrücke der umgebenden Natur, ein Land reich an Naturschönheiten, das düstere Wäldermeer des Schwarzwaldes, das reizende Neckarthal, die kühn gezogene, blaue Albkette mit ihren Felsenhäuptern, Hohenstaufen, Teck, Neuffen, Urach, Rechberg, das schwäbische Meer, über welchem die Schneehäupter der Alpen herüberblicken, so giebt das ein Bild, zwar nicht so wild und gewaltig als die tief gefurchten Thäler des badischen Schwarzwaldes, nicht so erhaben wie die großartige Alpenwelt, aber sanft und idyllisch zu stillem Sinnen und Träumen einladend. Und wie reich ist die Geschichte dieses Bodens, wie wirkt sie auf die Einbildungskraft! Hier entstammten die Hohenstaufen, auf diesen Feldern schlugen sie sich mit ihren unversöhnlichen Gegnern, den Welfen, hier erschallte der Schlachtruf: „Hie Welf, hie Waiblingen!
Und auch in der württembergischen Landesgeschichte, welche
gewaltigen Naturen! Der alte Greiner und sein Sohn Ulerich,
der gerne war „wo’s eisern klang“, der edle Eberhard im Bart,
die dämonische Gestalt des wilden Ulerich, der im Schönbuch
wegen der schönen „Thumbia“ den Hutten erschlug; Herzog
Alexander mit dem Juden Süß, der ‚Karl Herzog‘, der Held
zahlloser Anekdoten und dazu der blühende Kranz von Reichsstädten,
das feste Ulm, das gewerbsame Reutlingen, Eßlingen mit
seinen schönen Mädchen, deren eine sogar das Herz des wilden
Melac rührte, das reizend gelegene Hall mit der Limburg und
der Geiersburg, in deren Nähe der Achill des Bauernkriegs Florian
Geier fiel, das kleine Weil, wo der große Kepler das Licht der
Welt erblickte.
Diese äußeren Eindrücke und Erinnerungen und die strenge Kloster- und Stiftserziehung (dies der Name des höhern Klosters zu Tübingen) giebt den jungen Leuten gründliche Kenntnisse und poetischen Gemüthern einen feinen Formsinn durch die tiefere Einsicht in die unerreichten Muster des classischen Alterthums. Aber trotzige Naturen sträuben sich gegen den Zwang und geben sich, wenn losgelassen, wilden Ausschweifungen hin, wie der geniale, aber unglückliche Waiblinger; zarte empfindsame Naturen dagegen, wie ein Hölderlin, bilden sich eine poetische Welt, werden, wenn sie ins Leben hinaustreten, von der rauhen Wirklichkeit abgestoßen und gehen an diesem Zwiespalt zu Grunde. Doch die Extreme sind selten, alle Stiftler aber behalten, wie der berühmte Aesthetiker Vischer schildert, ein gewisses „Geschmäckle“, d. h. ein linkisches verlegenes Wesen, namentlich dem schönen Geschlecht gegenüber, eine gewisse Unbeholfenheit klebt ihnen durch das ganze Leben an, entweder sind sie, wie derselbe feine Beobachter sagt, dumm blöde oder nach freundlicher Begegnung werden sie täppisch zutraulich, so daß sie etwa eine hohe Frau bitten, ihnen einen abgerissenen Knopf anzunähen. Manche bilden sich sogar auf dieses Geschmäckle etwas ein, sind stolz auf ihre Unbeholfenheit und halten sie für das sicherste Kennzeichen tiefer Gelehrsamkeit und hoher Genialität.
In solchem Lande, von solchen geschichtlichen Erinnerungen umgeben, in solcher strengen Zucht wuchs Eduard Mörike heran, und seine Persönlichkeit, sowie der Charakter seiner Schriften wird uns verständlicher, wenn wir den Boden kennen, aus dem sie herausgewachsen sind.
Eduard Mörike ist im Jahr 1805 in Ludwigsburg geboren, dem württembergischen Potsdam, einer Stadt, die auch Vischer und David Strauß zu den Ihrigen zählt. Aber nur wenige Jahre verlebte der Dichter in dieser langweilig öden Soldatenstadt, nach dem frühen Tode seines Vaters, eines angesehenen Arztes, siedelte die Mutter nach Stuttgart über. Die dortige reizende Umgebung gab dem erwachenden Natursinn des Knaben reichliche Nahrung, und von seiner Wohnung in der Büchsenstraße, vom lärmenden Mittelpunkt des Verkehrs mehr noch als jetzt entfernt, durchstreifte er die umliegendenden Höhen und Wälder. Wie manche begabte Naturen fand auch er wenig Geschmack an den Anfangsgründen der alten Sprachen, und mit Widerstreben zwang er, wie Schwab sagt, ‚mit dem Kiele der Römersprache Herbigkeit‘. Und doch bestand er das schwere Landexamen, denn ein angeborener feiner Sprachsinn half ihm über alle Schwierigkeiten der Uebersetzung weg. Im vierzehnten Jahre tritt Mörike in Urach ein und da eröffnete sich dem angehenden Jüngling eine neue Welt; durch [710] anregende Lehrer begeistert las er mit Begierde die Alten oder streifte mit gleichgesinnten Freunden auf der herrlichen Alb umher, in den anderthalb Erholungsstunden im Winter nach Tisch und weitern anderthalb Stunden an den Sommerabenden.
In einer Felsenspalte machte er sich eine Grotte zurecht und in träumerischem Sinnen regte sich in ihm das erste Wehen des Dichtergeistes. Nur zu schnell entschwand diese Zeit, nach den üblichen vier Jahren ging’s nach Tübingen. Was Vischer in seinem „Schartenmeier“ von einem Theologen singt:
„Wie ein Ochs vor seiner Mulde
Stand er dort vor seinem Pulte
Und studirt das Testament
Und was sonst für Bücher send.
Das galt von unserm Mörike nicht, die Classiker und jetzt auch unsere deutschen Meister, später auch Shakespeare galten ihm mehr, als die altlutherische Orthodoxie, der Umgang mit Vischer, Strauß, Zimmermann, Waiblinger diente auch nicht dazu ihn zu einer Kirchensäule zu gestalten, doch bestand er das theologische Examen und zu Kleversulzbach bei Weinsberg treffen wir ihn als wohlbestallten Pfarrer. Doch nicht lange blieb er im Pfarramt, wenn er auch das Pfarrleben in reizender Idylle beschreibt; bald nach seiner Verheirathung zog er sich in das romantisch gelegene Hall zurück, wo er in dichterischer Muße den größeren Theil seiner Schöpfungen, einen Roman „Maler Nolten“, eine „Idylle vom Bodensee“ und eine Sammlung Gedichte herausgab. Später berief ihn König Wilhelm als Professor der deutschen Literatur an das Katharinenstift, eine höhere weibliche Lehranstalt, nach Stuttgart, eine Stellung, die seiner Neigung völlig zusagte und wo seine Schülerinnen besonders durch seine hinreißende Gabe im Vorlesen der classischen Meisterwerke entzückt wurden. Nach längerer erfolgreicher Thätigkeit machten es ihm Gesundheitsumstände unmöglich sein Amt weiter zu bekleiden, und so lebt er denn jetzt in dem anmuthigen Remsthal, zu Lorch, am Fuß des Staufen in der Nähe des sang- und liederreichen Gmünd.
War so sein Leben ein mehr innerliches, durch äußere Schicksale wenig bewegtes, so auch seine Dichtung. Abgesehen vom Dramatischen, zu dem alle Dichter der schwäbischen Schule wenig Zug und Neigung haben, überließ er das Feld der Romanze und Ballade, der vaterländischen Sage und Geschichte einem Knapp, Krais, Schwab, Uhland; die politischen und religiösen Kämpfe, welche den Letztern zum Einstehen für „das alte gute Recht“ in die Schranken riefen, einem Pfizer glühende Worte gegen die Tyrannei der heiligen Allianz eingaben, den Geisterseher Kerner für die Polen entflammten, Herwegh zur Theilnahme an der badischen Revolution trieben und seine Freunde Vischer, Strauß, Märklin gegen die Pietisten in’s Feld riefen, berührten ihn nicht. Desto tiefer aber versenkt er sich in sein eigentliches Gebiet, die lyrische Dichtung und die Idylle, und neben dem Inhalt entzückt uns auch die vollendete Form. Reine Form freilich allein macht noch keinen großen Dichter, denn die Form ist ja nur, so zu sagen, ein gewandtes Roß, der Gaukler tummelt es im Circus zu eitlem Spiel, aber den Feldherrn trägt es auf dem Feld der Ehre zu großen Thaten. Betrachten wir uns einige Gedichte Mörike’s näher.
Eines seiner frühesten aus dem Künstlerroman „Maler Nolten“, einem Buche voll herrlicher Einzelheiten und des reinsten, tiefsten Gemüthslebens, aber zu phantastisch und schauerlich und unserer klaren Zeit nicht ganz mehr genießbar:
Das verlassene Mägdlein.
Früh, wann die Hähne kräh’n,
Eh’ die Sternlein verschwinden,
Muß ich am Herde steh’n,
Muß Feuer zünden.
Es springen die Funken;
Ich schaue so drein,
In Leid versunken.
Plötzlich da kommt es mir,
Daß ich die Nacht von Dir
Geträumet habe.
Thräne auf Thräne dann
Stürzet hernieder!
O ging er wieder!
Dieses Gedicht drückt in tief zum Herzen greifenden Tönen den öden Schmerz des verlassenen Mädchens aus.
Wie herrlich ist sein: „Mein Fluß“.
O Fluß, o Fluß im Morgenstrahl!
Empfange nun, empfange
Den sehnsuchtsvollen Leib einmal
Und küsse Brust und Wange!
In Tropfen an mir nieder,
Die Woge wieget aus und ein
Die hingegebnen Glieder; etc.
Wer je schon in der Morgenfrische in einem Fluß gebadet hat, nicht in einem Badkasten, auch nicht in einer Schwimmanstalt, sondern in Gottes freier Natur unter Uferweiden und Erlen, beim Flüstern des Schilfs, umgaukelt von bunten Libellen, der versteht die ganze Naturwahrheit dieses Gedichtes, das sich in mancher Hinsicht neben Goethe’s Fischer stellen kann.
Und dann, welch’ köstlichen Humor, welch’ neckenden Scherz hat unser Dichter; ich greife nur heraus
Der Liebhaber an die heiße Quelle zu B.
Du heilest Den und tröstest Jenen,
O Quell, so hör’ auch meinen Schmerz;
Ich klage Dir mit bittern Thränen
Ein hartes, kaltes Mädchenherz.
Dir ist es eine leichte Pflicht;
Man kann ja Hühner in Dir brühen,
Warum ein junges Gänschen nicht?
An die Art Heine’s, aber ohne die ätzende Lauge dieses Dichters, erinnert: „an Philomele“. Er beginnt in antikem Versmaß eine Ode an die Sängerin:
O Sängerin, Dir möcht’ ich ein Liedchen weih’n
Voll Lieb und Sehnsucht!
Aber plötzlich fallt er in die derbe, schwäbische Wirklichkeit:
Verzeih! Im Jägerschlößchen ist frisches Bier
Und Kegelabend heut; ich versprach es halb
Dem Oberamtsgerichtsverweser,
Auch dem Notar und dem Oberförster.
Wie herrlich passen die schwäbischen Titel in’s antike Metrum, kein Philolog wird an dem „Oberamtsgerichtsverweser“ einen falschen Versfuß finden können.
Und so noch eine Reihe von gleich anziehenden Dichtungen, nur kurz möcht’ ich noch ein größeres erwähnen, in der „Herbstfeier“ verklärt der Dichter die schwäbische Weinlese in antiker Art, wie umgekehrt Hebel in seinem Statthalter von Schopfheim einen biblischen Stoff in die Sitten und die Anschauungsweise allemannischer Bauern übertragen hat.
Auf! Im traubenschwersten Thale
Stellt ein Fest des Bachus an!
Weiter heißt es dann:
Braune Männer, schöne Frauen
Soll man hier versammelt seh’n,
Greise auch, die ehrengrauen,
Dürfen nicht von ferne steh’n,
Treten zögernd auch die stillen
Mädchen unserm Kranze bei.
Auch das unschuldig naturalistische Element fehlt nicht:
Laßt mir doch den Alten machen,
Der sich dort zum Korbe bückt
Und den Krug mit hellem Lachen
Kindisch an die Wange drückt!
Solche Auftritte, mitunter stark rembrandtisch gefärbt, kann der Fremde, namentlich Sonntags, in Schwaben in Menge sehen.
Zum Schluß heißt’s:
Stimmet an die letzten Lieder!
Und so, Paar an Paar gereiht,
Steiget nun zum Fluß hernieder,
Wo ein festlich Schiff bereit.
Auf dem vordern Rand erhebe
Und der Kiel mit Flüstern schwebe
Durch die mondbeglänzte Bahn!
Der Fluß ist aber weder Ilissus, noch Tiber, sondern unser vaterländischer Neckar, jene Brücke mit kühnem Bogen ist bei Untertürkheim, der Thurm, der dort mit vier Erkern in die Lüfte ragt, ist weder das Capitol noch das Parthenon, sondern der Pfarrthurm von Mettingen, und die Fahrt geht nicht gen Rom oder Athen, sondern nach Eßlingen oder Stuttgart, und auf den Rebhügeln prasselt’s von Schwärmern und Raketen und die schönen [711] schwäbischen Bacchantinnen im Nachen feuern etwas zagend, aber mit heroischem Muth die Sackpuffer ab, welche galante Herren ihnen bieten.
Und fragen wir nun, was soll ein so heiterer, harmloser, idyllisch sinniger Dichter in einer Zeit, wie die unsere, wo Handel und Industrie alle Kräfte in Anspruch nehmen, wo der blaue Neckar die Räder von zahllosen Fabriken treibt, wo Dampfschornsteine am Fuß der Rebenhügel rauchen, wo Schienenstränge in’s Herz der Alb dringen; in einer Zeit, wo ganz Europa ein Waffenlager ist, wo Trommelwirbel und der Knall des Zündnadelgewehres in entfernten Waldthälern die Ruhe des Dichters stören? Ist da noch Platz für solche Naturen? Und doch!
Wie wir nach einem Gang in’s Grüne beruhigt und versöhnt, erheitert und gekräftigt wiederkehren zu des Lebens schwerer Müh’ und Noth, so befreit uns die Naturfrische unseres Mörike, sein, um ein Wort von David Strauß anzuwenden, „milder, lösender Humor“ das bedrängte Herz, und über die sorgenvollen Züge gleitet ein erheitertes Lächeln und innig freuen wir uns, daß es in unserer zerrissenen Zeit noch so grundgesunde, heitere, genügsam frohe Herzen giebt, wie unser Mörike. Möge der jugendfrische Greis uns noch lange erhalten bleiben und uns durch noch manche Gabe seiner Muse erfreuen und erheben!
Die Staßfurter Salzlager.
Von Amerika weiß Jedermann, daß dort in wenigen Jahren aus den Ansiedelungen Weniger große Städte und wichtige Handelsplätze werden können; auch in Deutschland haben wir in unserem Jahrzehnt ein ehemals unbedeutendes Städtchen in Folge glücklicher bergmännischer Forschungen zu einer Industriestadt hohen Ranges heranwachsen sehen, zu einem Platze, welcher schon jetzt eine besondere Eisenbahnanlage nöthig machte, seine Exportartikel nach Millionen von Centnern zählt, Tausenden lohnende Beschäftigung giebt und dazu berufen zu sein scheint, einen sehr wichtigen Handelsartikel, das Kali, bisher größtentheils in den Händen der Engländer, Deutschland fast ausschließlich zuzuwenden.
Und neben diesem für die Technik wie für die Landwirthschaft so wichtigen Artikel sind es die unermeßlichen Steinsalzlager, welche alljährlich die Touristen zu Tausenden nach Staßfurt ziehen und, um der interessanten geologischen Bildungen willen, die Aufmerksamkeit der Gelehrten in hohem Grade in Anspruch nehmen, Lager, nach welchen man ursprünglich allein suchte und über welchen man die anfangs gar nicht beachteten Kalisalze entdeckte, ein glücklicher Fund von nicht minderem Werthe, wie die reichen Goldlager m Californien oder anderwärts.
Zu Pfingsten mache ich mit den Lehrern und Studirenden meiner landwirtschaftlichen Lehranstalt jedesmal eine größere wissenschaftliche Excursion; die diesjährige führte uns nach Magdeburg, Hundisburg, den Glanzpunkt der deutschen Viehzucht, nach Staßfurt, Quedlinburg und in den Harz.
An demselben Tage, welchen wir der Besichtigung von Staßfurt gewidmet hatten, waren wir früh am Morgen noch über dreihundert Fuß über der Erde auf der Thurmgalerie des in seiner Einfachheit so erhabenen Magdeburger Doms, Nachmittags über tausend Fuß unter der Erde in den prachtvoll ausgehauenen, großartigen Schachten der Preußischen Werke in Staßfurt. Von der Thurmgalerie in Magdeburg konnten wir unsere Reiseroute bis dorthin vollständig überblicken, eine an sich etwas einförmige Ebene, aber durchschnitten nach rechts und links von Schienenwegen, auf welchen im unnuterbrochenen Verkehr die gewaltigen Frachtzüge nach allen Himmelsgegenden dampfen, besäet mit stattlichen Oekonomiehöfen und großartigen Fabrikanlagen, überragt und umrahmt von einer Fülle rauchender Feueressen, den Denksteinen der modernen Industrie, die in Staßfurt selbst wie die Mastbäume im Hafen einer belebten Seestadt dicht gedrängt zusammenstehen. Ist doch die ganze Umgegend von Magdeburg als ein Glanzpunkt der deutschen Hochcultur ausgezeichnet und berühmt als Mittelpunkt der Rübenzuckerindustrie, der Cichorienfabrikation, wahrer Spiritusfabriken und anderer die intensivste Landwirthschaft kennzeichnender Anlagen, fast trostlos einförmig für Denjenigen, welcher nur an landschaftlichen Schönheiten Interesse findet, aber von höchstem Werthe für Jeden, welchen die Culturentwickelung seines Volkes interessirt.
Die Thurmgalerie eignet sich zugleich ganz vortrefflich dazu, die Bildungsgeschichte der so bedeutungsvollen Salzlager sich zu vergegenwärtigen. Man überblickt einen großen Theil der fruchtbaren, zwischen Thüringerwald und Harz liegenden Hochebene, welche die Geologen als zum großen norddeutschen Beckengebiet gehörend bezeichnen und dessen hier in Betracht kommenden Theil, den südlichen, in das Thüringer und das Magdeburg-Halberstädter Becken gliedern.
Man kann sich geistig jene Zeit vergegenwärtigen, in welcher das Ganze, mit oder ohne Zusammenhang mit dem das äußere Randgebirge, bunten Sandstein, umbrandenden Ocean, noch ein großartiger See oder Morast war; man kann sich denken, wie das Becken periodisch zu Zeiten gewaltiger Regen- oder Sturmfluthen mit Wasser sich füllte, wie dieses dann allmählich verdunstete und die vorher im Wasser gelöst gewesenen Salze sich zu Boden schlugen, Schichte auf Schichte bildend, deren letzte von einer verhärtenden Kruste schwerer löslichen Gypses (Anhydrit, wenn wasserfrei, genannt) bedeckt wurde und so eine Jahresbildung begrenzte. Man kann sich vergegenwärtigen, wie nach und nach Jahresschichte auf Jahresschichte zu Boden sank, oft in welligen Linien, bis schließlich die Salzquellen versiechten und mir noch eine Art Mutterlauge über dein Ganzen stand, welche dann ebenfalls ähnlichem Processe unterlag und Schichten unreineren Kochsalzes bildete, durchsetzt mit Salzen anderer Art. Man sieht dann im weiteren Verlaufe der Jahrhunderte das Ganze mit Thon, Sand, Mergel und Letten überdeckt werden, Schichten von Sandsteinen, Gyps und Kalksteinen sich bilden, und hört das Rauschen der verheerenden Fluthen in der Eiszeit, in welcher von Norden ganze Eisberge an die deutschen Gebirgsstöcke geführt wurden; man verfolgt den Gang dieser Fluthen, sieht, wie sie an den Gebirgen sich brechen, diese zerbröckeln und die Zeugen ihrer gräßlichen Wirkungen, große und kleine Felsblöcke aus den Gebirgen Scandinaviens, da und dort hinterlassen. Bis zur Höhe von über zweitausend Fuß findet man bei uns diese Fremdlinge, „erratische Blöcke“, von oft beträchtlicher Größe, meist aus Granit, Gneiß, Syenit bestehend; in Staßfurt selbst liegen sie in großer Menge und von bedeutendem Umfange. Wir sehen dann die Sonne wieder durch das düstere Gewölk scheinen, zunächst eine Stätte gräßlicher Verheerungen bescheinen, aber auch bald wieder neues Leben erwecken; ganze Thäler sind ausgefüllt mit Schlamm, Geröll, Erde und Sand, Berge verschwunden oder doch mächtig verändert; was früher zu Tage lag, ist begraben, oft tief unten, und unser ehemaliger Salzsee ist bedeckt mit wechselnden Schichten von verschiedener Mächtigkeit. Jahrhunderte lang lagen die Schätze begraben, bis der Mensch sie wieder zu Tage förderte, indem er seine Bohrlöcher oder Schachte in die Tiefe trieb.
In Staßfurt hatten wir uns angemeldet und trafen durch die Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit der Herren Alles vorbereitet. Freilich konnten wir nur einige der größeren Fabriken besehen, die der Herren Douglas und Vorster und Grüneberg.
Die Herren hatten uns in kleinere Abtheilungen getrennt und machten selber die kundigen und unermüdlichen Führer durch ihre Etablissements, bis wir uns auf der anhaltischen Saline wieder zusammenfanden, um dort zunächst die prachtvolle Sammlung der Staßfurter Vorkommnisse zu bewundern, eine sehr zweckmäßige, das Studium der Werke sehr erleichternde Anordnung.
Herr Douglas selbst besitzt ein zierlichst gearbeitetes Modell seiner großartigen Fabrikanlagen, aus dem reinsten krystallklaren Steinsalz gefertigt, ein Feenpalast im[WS 1] Kleinen, welcher zeigt, in welcher Reinheit das Salz hier gefunden wird. Der eigentliche Salzstock besteht jedoch aus mattem, minder reinem Steinsalz; nur jenes völlig glashelle wird zu Tafelsalz verarbeitet. Die über dem Steinsalz sich findenden, für die Industrie so wichtigen Salze sind zum Theil an der Luft in hohem Grade zerfließlich; um Cabinetstücke aufbewahren zu können, müssen sie luftdicht verschlossen werden. Herr Bergmeister Schöne, hochverdient um die [712] Werke, bewahrt seine gesammelten Prachtstücke in großen umgestülpten Glasglocken, deren Deckel angeschliffen werden und so hermetisch schließen. Er selbst erläuterte uns bereitwillig seine Sammlungen, der Hauptsache nach aus den nachbenannten Mineralien bestehend. Das prachtvolle, völlig durchsichtige Salzkrystalle in beträchtlicher Größe die Sammlung schmücken, versteht sich von selbst; Stücke in blauen und rothen Farben als Seltenheiten finden sich in allen Schattirungen.
Die prachtvollsten Stücke bildet der Carnallit (dem Bergdirector Carnall zu Ehren) aus der oberen Region der Lager; rein, wasserklar, findet er sich noch in milchweißen Varietäten (sehr selten) und schön roth gefärbt durch Schüppchen von Eisenrahm oder Eisenglimmer; ein wahres Prachtstück im viereckigen Glaskasten zeigt in der Mitte die schön rothen Farben und die weißen nach außen oder auch als Adern im rothen Material, so daß das Ganze wie ein aufgeschnittener, schön marmorirter und gut durchräucherter Schinken sich präsentirt; das Mineral besteht aus Chlorkalium, Chlormagnesium und Wasser.
Kieserit (zu Ehren des Geheimen Hofraths Kieser), weißlichgrau und bald an der Luft sich trübend, bildet den Hauptbestand der zweiten Abtheilung; er besteht aus schwefelsaurer Magnesia und Wasser. Polyhalit (aus dem Griechischen: viel und Salz), hellgrau, matt, findet sich in der unteren Abtheilung schon im Steinsalz in ähnlichen Schnüren, wie die Jahresringe aus Anhydrit und besteht aus schwefelsaurem Kalk (Gyps), schwefelsaurer Bittererde, schwefelsaurem Kali und Wasser. Zwischen diesen, mehr als Einschließungen, finden sich: Sylvin (dem alten Sylvius zu Ehren), bestehend aus reinem Chlorkalium, weiß, selten röthlich, noch seltener blau (neuerdings wird auch in Kalucz in Oesterreich reiner Sylvin gefördert); dann matt gelblicher Boracit, sehr werthvoll, bestehend aus borsaurer Magnesia und Chlormagnesium in von anderen Fundorten etwas abweichender Zusammensetzung, daher auch als Staßfurtit unterschieden, wird zu Borax verarbeitet und findet sich in faustgroßen Stücken, im Salz eingefügt; Tachhydrit (griechisch: aus schnell und Wasser), das zerfließlichste Mineral, bestehend aus Chlorcalcium, Chlormagnesium und Wasser, goldgelb von Farbe, und endlich der für die Landwirthschaft so wichtige Kainit, 1865 in Anhalt vom dortigen Bergmeister gefunden, bestehend aus schwefelsaurem Kali, schwefelsaurer Magnesia, Chlormagnesium und Wasser; neuerdings wird er auch im preußischen Schachte und zwar in gelblichen Krystallen gefunden. Der Kainit wurde zuerst der Fabrik des Herrn Douglas überlassen, und hat jetzt, zu Dünger verarbeitet, als sogenanntes Doppelsalz oder schwefelsaure Kali-Magnesia die weiteste Verbreitung gefunden. Für die Industrie ist das Chlorkalium der wichtigste Artikel; aus demselben werden auch die sogenannten concentrirten Salze für die Düngung präparirt; eine andere Art Dünger sind die schwefelsauren Kalisalze; die rohe schwefelsaure Kali-Magnesia und die rohen Abraumsalze kommen als solche ebenfalls zur Düngung in den Handel. Im Jahre 1867 wurden in Anhalt 1,600,000 Centner Rohkalisalze und 160,000 Centner Kainit gefördert, während die Steinsalzförderung auf den Bedarf im Lande, 26,000 Centner, beschränkt bleibt.
Nach der Besichtigung der schönen Sammlung, die ein vollständiges Bild der Zusammensetzung der so wichtigen Lager giebt, führte der Herr Bergmeister selbst uns in die Mahlmühlen, in welchen die rohen Salzstücke zu feinem Pulver gemahlen werden; aus dem Steinsalz wird mit Zusatz von Ocker Viehsalz gemacht, letzteres auch zu Lecksteinen geformt. Die Einfahrt in den Schacht wird als nicht ganz gefahrlos geschildert, weshalb Fremde besser im preußischen Schachte in die Tiefe fahren. Auch hier trafen wir Alles schon bestens vorbereitet und wurden von den Herren Bergbeamten sofort an die Garderobe gewiesen, wo bergmännische Kleidung für Herren und Damen in Bereitschaft ist. Die Einfahrt ist nämlich hier so gefahrlos, daß sie auch von Damen gewagt werden kann. Da jedesmal nur drei von uns mit einem Bergmann einfahren sollten, so brauchten wir geraume Zeit, während welcher Jeder Gelegenheit hatte, sich mit den Einrichtungen des Fahrschachtes und den zur Beförderung der Personen und Lasten erforderlichen Maschinen bekannt zu machen.
Auch hier wurde uns jede Auskunft und Unterweisung mit größter Zuvorkommenheit gegeben. Der Schacht mündet in einer großen hohen Halle und ist an der Ausmündung mit einem Verschlag umgeben; an diesem hält ein Steiger Wache und läßt durch besondere Thüren ein und aus. Die Fahrkörbe sind viereckig, mit hoher, geschlossener Brüstung umgeben und mit starkem Schutzdach versehen, so daß kein Unfall geschehen kann. Der Schacht selbst ist 600 Fuß tief von oben ausgezimmert. Die beiden Fahrkörbe, der auf- und der absteigende, werden durch eine zwölfpferdige Dampfmaschine mittelst starker geflochtener Drahtseile in der Art auf- und niedergewunden, daß diese auf zwei großen Radtrommeln sich auf- und abrollen. Der Fahrkorb selbst ist jedoch nicht direct mit dem Seile verbunden, sondern an einem Federsystem, ähnlich dem an Eisenbahnwaggons üblichen, aufgehängt. Die durch die Last des Fahrkorbes zusammengedrückte Feder schnellt beim etwaigen Reißen des Seiles entlastet auseinander und bewirkt dann durch einen Hebel die Umdrehung zweier Wellen mit gezahnten Scheiben. Die Zähne greifen mit Gewalt in die hölzernen Führungsbalken des Fahrstuhls ein und halten somit dessen fallende Bewegung auf; der Stuhl hängt dann in der Schwebe still, bis er aus seiner Lage befreit wird.
Aehnlich ist die Einrichtung in dem Förderungsschacht, nur mit dem Unterschiede, daß dort je zwei Körbe untereinander angebracht sind; zusammen fassen sie an 25 Centner Last. Die Fördermaschine hat hundertunddreißig Pferdekraft, ihre Seiltrommel siebenzehn Fuß Durchmesser. Das Einsteigen in den Fahrstuhl geschieht nach erhaltenem Signal von unten. Ein verkleinerter Apparat, welcher sich an einer an der Wand angebrachten Scala, auf welcher die zurückzulegenden Entfernungen mit den Mündungen der Querschläge und dergleichen genau verzeichnet sind, bewegt, zeigt dem Maschinisten eben so genau an, wo die abwärts- und aufwärtsgehenden Fahrstühle in jedem Augenblicke sich befinden, und legt es somit in seine Hand, bei der gewünschten Haltstelle ohne Stoß anhalten zu lassen. Die Fahrt abwärts geht ohne merkliche Erschütterung; das trübe Licht der mitgenommenen Lampe, wirft eilig gleitende Schatten auf die Wandungen, welche in etwa Handbreite von dem Fahrkörbe abstehen. Man fährt, freilich ohne viel davon zu sehen, 27 Fuß durch Schwemmland und Diluvialkies, dann 576 Fuß durch rothe Schieferletten mit Bänken von feinkörnigem Sandstein, Roggenstein und festem grauem Kalkstein, dann mit Aufhören der Verschalung 192 Fuß tief durch hellen strahligen, festen Gyps und Anhydrit und durch derben Gyps mit Mergel, dann 21 Fuß durch Salzthon (dunkelgrauen bituminösen Mergel mit Anhydrit und Steinsalz); dann folgt die Carnallit-Region, 135 Fuß mächtig, dieser die Kieserit-Region, 180 Fuß, dieser die Polyhalit-Region, 200 Fuß, und endlich die Anhydrit-Region, 685 Fuß mächtig; in den beiden letzteren ist das krystallinische Steinsalz mit den schon erwähnten Jahresringen. Rechnet man aus Allen das Vorkommniß im Einzelnen, so besteht das Ganze aus 989 Fuß Steinsalz, 36 Fuß Anhydrit, 18 Fuß Polyhalit, 51 Fuß Kieserit, 98 Fuß Carnallit und 13 Fuß Chlormagnesiumhydrat, und daraus ergiebt sich, daß das damalige Salzwasser eine vom heutigen Meerwasser etwas abweichende Zusammensetzung hatte.
Das Aufstoßen im Schachte unten geschieht in sehr sanfter Weise, wie denn überhaupt wohl nicht leicht eine Fahrt in die Tiefe mit so großer Annehmlichkeit und Sicherheit, wie dort in Staßfurt, gemacht werden kann. Gleiches gilt von der Besichtigung des Werkes selbst. Die ausgehauenen Gänge, „Strecken“, sind in ihrer Sohle vollkommen trocken, 27 Fuß hoch und 75 Fuß weit angelegt, so daß man mit großen Lastwagen in ihnen fahren könnte und nirgends durch die Arbeiter oder die hier überall angelegten Schienenstränge, resp. die auf denselben beförderten kleinen Frachtwagen, in der Besichtigung gestört wird. Große Gesellschaften können sich mit vollster Bequemlichkeit unten bewegen. Anfangs hatte man in den Strecken größere Pfeiler stehen lassen, das Steinsalz ist aber so fest, daß man einen Einsturz nicht zu befürchten hat. Nicht minder gut ist für die Lüftung durch besondere Ventilationsvorrichtungen gesorgt; die unten allmählich sich verschlechternde Luft wird durch den Fahrschacht nach oben, die frische Luft durch den Förderschacht in die Abbaustrecken und von da wieder durch besondere senkrechte Schlote in einen dazu angelegten wagrechten Gang, die Wettersohle, geleitet, von wo sie in den Fahrschacht zieht.
Brennbare Gase erzeugen sich nur selten und brennen ohne Explosion ruhig an den Wandungen weiter; man löscht sie mit alten Lumpen; Gefahr wäre nur dann vorhanden, wenn das an den Wänden ruhig brennende Gas vor gegebenem Warnungsruf eine Sprengstelle erreichte und das Pulver hier entzündete. Es [713] wird jedoch immer so rechtzeitig bemerkt, daß Zeit genug gegeben ist, sich auf den Ruf: „Hä brennt!“ oder auch nur „brennt, brennt!“ von der Sprengstelle in die erforderliche Sicherheitsentfernung zurückziehen zu können, nicht minder umsichtig sind die Pumpvorrichtungen zur Hinaufschaffung des Wassers angelegt; nur in den oberen Schichten quillt viel Wasser aus dem Gestein; besondere Querschläge zwischen Fahr- und Förderschacht sind zum Auffangen und Ansammeln bestimmt und in ihnen Wasserbehälter ausgehauen worden; durch Pumpen wird das Wasser von Etage zu Etage gehoben und während der Nacht mittelst einer zweihundert-pferdekräftigen Dampfmaschine zu Tage gefördert. Die unteren Strecken sind völlig wasserfrei; man hat Haupt und Parallelstrecken, Querschläge u. dgl. m.
Bis unsere Gesellschaft vollständig eingefahren war, hatten wir hinlänglich Zeit, auch unten uns über alle Einrichtungen orientiren zu können; die Einfahrt dauert drei bis fünf Minuten; es verging fast eine Stunde, bis wir Alle unten waren und die Wanderung antreten konnten. Der Eintritt in die großartigen Hallen ist überraschend durch ihre Höhe und Weite; das Salz erscheint in mattem Glanze, deutlich unterscheidet man aber die schwärzlichen dünnen Linien von Anhydrit, die Jahresringe, wie sie in welligen Biegungen die Steinsalzschichten trennen; ab und zu leuchtet ein gelblichweißer Knollen aus dem Gestein, Boracit.
Bei feierlichen Gelegenheiten werden die Strecken mit Lampen illuminirt, zu welchem Zwecke in das Salz Holzpflöcke in passenden Entfernungen eingetrieben sind; wir hatten Magnesiumdraht mitgenommen, welcher ein blendendes Licht beim Anzünden entwickelt und mehr als Tageshelle verbreitet. Zu einer so gewonnenen Beleuchtung ist der Anblick einzelner Partieen wahrhaft feenhaft, besonders im Kalisalzlager, in einer zu einer Art Grotte erweiterten Strecke, wo die prachtvollen Kalisalze am schönsten sich zeigen und gegen das mattere Steinsalz um so mehr hervorleuchten; hier in ebenfalls wellig sich biegenden Streifen, mit hell- und rosenroth glänzenden Farben, Carnallit, dort in weißen Streifen, Kieserit, dazwischen graue, Polyhalit, goldgelbe, Tachhydrit, zierliche schwarze Anhydritschnüre mitten durch, und unten und oben das mattere Steinsalz in dunklerer Färbung. Schöner noch sollen solche Partieen im anhaltischen Schachte sein, wo prachtvolle Stalaktiten von Carnallit, schöne Sylvinkrystalle, blaues Sylvin, blaues und rothes Steinsalz als weitere Zierden die Wandungen schmücken.
Im Steinsalz selbst kommen Farbenwechsel selten vor; man begeht aber mit dem Gefühl größter Sicherheit mit nicht minderer Bewunderung diese großartigen Anlagen, die vor uns durch unsere Lämpchen matt erleuchtet, dann etwas weiter in tiefes Dunkel gehüllt sind und im Hintergründe die kräftigen Gestalten der Arbeiter, beleuchtet von schwachem Lichte, zeigen. „Vorsicht!“ oder „Vorsehen!“ tönt ein Ruf; ein Salzkarren taucht auf, mit Licht versehen, und wird im raschen Laufe vorübergeschoben, wieder und wieder einer begegnet uns, um rasch dem Förderschachte zuzueilen; hier arbeitet eine Cameradschaft an einem Haufwerke losgesprengter Trümmer aus großen, centnerschweren Stücken bis zu faustgroßen hinunter; ein Arbeiter tritt vor und bietet in flachem Korbe die prachtvollen, wasserhellen Salzkrystalle in schönster Reinheit. Im Weitergehen durch plötzlich aufleuchtendes Magnesiumlicht blendendste Helle, den Bergleuten selbst ein ungewohnter Anblick, dann wieder um so empfindlichere Finsterniß vor und hinter uns. „Brennt, brennt!“ und rasch ziehen wir uns mit den davoneilenden Arbeitern zurück.
Einige Minuten erwartungsvoller Pause, dann kracht ein Schuß, noch einer und noch einer und wiederhallt in rollendem Donner an der majestätischen Wölbung; anderwärts hört man nur ein Knistern im Salze, die Wirkung eines weiter entfernt abgefeuerten Schusses. Der Dampf verzieht sich allmählich und wir gehen zur Stelle über die mächtigen losgesprengten Trümmerhaufen weiter und weiter vom Steinsalz in die Kalisalze bis zur oben beschriebenen herrlichen Grotte, dann wieder zurück bis an den Förderschacht, an welchen von vier Seiten die Strecken einmünden und das regste Leben mit den ab. und zukommenden Wagen, dem Einladen in die Fahrkörbe und den vielen hier beschäftigten Arbeitern herrscht, dann weiter zum Fahrschacht, welcher uns an die Oberfläche bringen soll. Hier ist eine Luftpumpe angebracht, durch deren Schwengel, wenn Alles zur Auffahrt fertig ist, die Luft in ein Bleirohr gepreßt wird und oben im Maschinenraume eine Trompete zum Tönen bringt; diese dient dein Maschinisten als Signal.
Die Auffahrt geschieht eben so leicht und sicher wie die Einfahrt. Nach so langer Wanderung in der Tiefe in einer denn doch immer mehr drückenden Luft bei achtzehn bis neunzehn Grad Wärme sehnt man sich, wieder in frischere Atmosphäre zu kommen und der salzgetränkten Kleider sich zu entledigen. In den Steinsalzstrecken ist die Luft reiner, in den Kalisalzorten dagegen mit ätzendem Staube gefüllt, so daß die Arbeiter hier durch Brillen gegen Entzündungen sich schützen müssen, besonders die, welche mit dem Zerkleinern der losgesprengten Stücke zu thun haben.
Oben angekommen, macht man zuerst wieder Toilette, um dann die oberen Werke noch in Augenschein zu nehmen. Mit doppeltem Interesse sieht man jetzt die für die Förderungs- und Einfahrtkörbe thätigen Maschinen und vergegenwärtigt sich die verschiedenen Sicherheitsvorrichtungen. Unglücksfälle sind noch gar nicht vorgekommen, seit die neuen Federvorrichtungen angebracht sind, wohl aber haben sie sich schon bewähren können, indem durch Zerreißen des Seiles die Einfahrenden einst in der Mitte des Schachtes hängen blieben und auf ihre Erlösung aus der so bedenklichen Lage harren mußten. Bevor diese Sicherung angebracht war, ist, so viel wir hörten, nur einmal ein Fahrkorb mit seinen Insassen in die Tiefe gestürzt und natürlich gänzlich zertrümmert worden. Beim Sprengen kommen hier und da kleinere Unglücksfälle vor, und durch die salzigen Staubmassen sind Augenentzündungen langwieriger Art nicht selten. Mit doppelter Freude giebt man seinen Beitrag zur Krankencasse, da anderweitige Trinkgelder nicht genommen werden, und trotz aller Sicherheit und Gefahrlosigkeit begreift man doch das Sinnige des bergmännischen Grußes „Glück auf“, mit welchem Jeder kommt und geht.
In den oberen Werken sind neun Dampfmaschinen von zusammen vierhundertfünfzig Pferdekraft thätig; auf besonderem kleinem Schienenstrang mit Kette ohne Ende werden die zu Tage geförderten Salze auf kleineren Karren befördert, und durch sinnige Vorrichtung hängen sie sich am Bestimmungsorte von selbst wieder aus. Der größte Theil der Salze wird im rohen Zustande an die Fabriken geliefert und sofort von oben herunter aus langen Galerien in Eisenbahnwaggons geschüttet. Der Schienenstrang umkreist den alten Festungsthurm, auf welchem Otto mit dem Pfeile gefallen ist und welchen man deshalb durch eine der Bahn gegebene Curve erhalten hat. Die Schienen führen dann an der ebenfalls sehr alten Kirche vorbei, in deren Thurm eine silberne Glocke ist. – Auch in den preußischen Werken wird das Steinsalz auf besonderen Mühlen, mit einer den Kaffeemühlen ähnlichen Construction, zu feinem Pulver gemahlen und sofort schon im gleichen Raume aus dem schlechten Material das Viehsalz bereitet und in großen Mengen auch zu Lecksteinen geformt; man verbraucht dazu an hunderttausend Centner Steinsalz; acht Mühlen sind für dieses, neun für die Kalisalze im Gange. Die fertig gemachten Salze werden durch Maschinen auf die Bodenräume gehoben und dort in Säcke gefüllt.
Die preußischen Werke förderten im Jahre 1867 im Ganzen eine Million zweihundertfünfzigtausend Centner Steinsalz und eine Million fünfhunderttausend Centner Kalisalze; bis dahin hatte man durchschnittlich per Jahr neunhunderttausend Centner Steinsalz gefördert, eine an sich großartige, gegenüber den vorhandenen Vorräthen aber verschwindend kleine Production.
Rückblicke auf meine theatralische Laufbahn.
Die Originale verschwinden aus dem Theaterleben, das früher die letzte Zufluchtsstätte derselben war. Seit das wilde regellose Wandern der Mimen aufgehört, seit sie sich alle ihr Brod, und was dazu gehört, bei nur einiger Begabung, weit leichter, als ehedem, verdienen, haben die Schauspieler das Komödiantenthum abgestreift, ohne daß deshalb die Komödianten unter ihnen verschwunden [714] wären. Wenn wir hier aus jenem Komödiantenthum eine Reihe von Bildern vorführen, so halten wir es für sehr angezeigt, unsere Leser um freundliche Berücksichtigung unseres Zwecks zu bitten: wir wollen auch die Schattenseiten dieses vergangenen und verkommenen Bühnentreibens darstellen und sind dadurch genöthigt, hier und da der Derbheit des Ausdrucks mehr zu gestatten, als die Gartenlaube sonst zuläßt. Der Zweck muß einmal auch hier das unvermeidliche Mittel entschuldigen.
„Es giebt keine Liebhaber mehr am deutschen Theater,“ sagte einst die alte Schröder zu mir,“ die größte dramatische Künstlerin ihres Jahrhunderts, „wissen Sie warum? Weil die Kerle keine Bürgerstöchter mehr entführen und in keine Nonnenklöster einbrechen.“
Der nordamerikanische Generalkonsul Börnstein in Bremen, der fast Alles in der Welt gewesen, was ein ehrenhafter Mensch werden kann: Buchdrucker, Soldat, Bierbrauer, ein tüchtiger Schriftsteller, Häuserbesitzer etc., war natürlich in seinen jüngeren Jahren auch Theaterdirector und Schauspieler, und zwar an sehr verschiedenen Orten: in St. Pölten, in Baltimore, in Linz etc. Auf einer Reise nach Wien besuchte er an einem bitterkalten Wintermorgen des Jahres 1839 einen Freund im Dorfe Schwechat, welches seitdem als die Erzeugnißstätte des berühmtesten Wiener Bieres einen welthistorischen Ruf erworben hat, damals aber nur ein unscheinbares schmutziges Nest war. Ueber einen Feldweg bemerkte Börnstein einen von einer elenden Mähre gezogenen Karren, auf dem ein aus rohen Brettern zusammengenagelter Sarg lag. Hinter dieser Bettelleiche gingen ein paar Jungen und ein Geistlicher. Auf die Frage, wer da zur letzten Ruhestätte geführt werde, erzählte der Priester, es sei ein fremder Mann, der, in äußerst zerlumptem Zustande, vor zwei Tagen in einem Pferdestall theils verhungert, theils erfroren gefunden worden sei. Seine sämmtliche Habe bestand, nebst den Lumpen, die er am Leibe trug, in einem alten Theaterzettel und einem zerlesenen Gebetbuch, welches auf dem Titelblatt die Worte enthielt: „Mein Trost in lichten Stunden. Reitzenberg.“
Entsetzen faßte Börnstein! Der müde Erdenwanderer, dessen Fahrten ein so trauriges Ziel erreicht, war der eben so berühmte als berüchtigte Reitzenberg, ein großer, reichbegabter Künstler, befähigt das höchste Ziel zu erreichen, und hier verendet gleich einem wilden Thier, eingescharrt in fremde Erde – verschollen und vergessen. Der Trunk war der böse Dämon, der ihn forttrieb aus allen glänzenden Stellungen, die er in der Theaterwelt eingenommen, der Dämon, welcher ihn abwärts stieß auf seinem hoffnungsreichen Weg, bis er im Schlamm rettungslos versank. Vom reichbezahlten Hofschauspieler bis zum Dorfkomödianten! Welch’ ein Weg für den genialen, hochgebildeten Baron von Reitzenstein!
Mein unlängst verstorbener Freund Moritz, der stricte Gegensatz zu Reitzenberg – ich komme in diesen Aufzeichnungen bald ausführlich auf Moritz zurück – war unerschöpflich in Mittheilungen von Anekdoten und Charakterzügen Reitzenberg’s, wenn die Rede darauf kam, da Beide eine Zeitlang zusammen ihre abenteuerlichen Fahrten an den kleinsten Winkelbühnen ausführten. Moritz, nach einem in der Theaterwelt landläufigen Ausdruck, als „blutiger Anfänger“, Reitzenberg als „sinkendes Meteor“. Mir war Letzterer auf meinem Lebensweg nur ein Mal begegnet, und zwar auf seinem „Rückgang“, als Gast an dem einzigen Theater in Znaim. Hunderte von traditionellen „Geschichtchen“, von den großartigen Bühnenschöpfungen und der noch großartigeren Frechheit des Künstlers dem Publicum gegenüber, hatten meine Neugierde auf’s Aeußerste gespannt. Im Gasthaus an der Mittagstafel, wo die Elite des Publicums verkehrte, imponirte der schöne, wenn gleich schon etwas verlebte Mann durch seine feine Bildung, durch die frischen Mittheilungen, die er, unterstützt von einem prachtvollen Organ, mit hinreißender Beredsamkeit zum Besten gab. Er hatte seine Bildung in einem kaiserlichen Militärerziehungshaus genossen, war später Officier beim Generalstab gewesen und soll damals als Baron Reitzenstein keine Spur jener verderblichen Leidenschaft gezeigt haben, die später den bürgerlichen Schauspieler Reitzenberg in’s Unglück stürzte.
Das Theater war gedrängt voll, der Ruf hatte vom nahen Prag aus, wo er als erster Liebhaber der gefeiertste Künstler des dortigen trefflichen Theaters war, Wunderdinge berichtet. Man gab Calderon’s „Leben ein Traum“, Reitzenberg den Roderich. Wie gewöhnlich hatte er bei Tische des Guten zu viel gethan, mußte aus dem Wirthshaus in’s Theater geholt werden, und betrat die Bühne schon in „etwas schrägen Verhältnissen“. Die Lösung der Aufgabe ging über die allerdings sehr bescheidenen künstlerischen Mittel der Gesellschaft, und so kam es, daß der Darsteller des Königs in seiner langen Expositionserzählung ein paar Mal stecken blieb und gründlich verhöhnt wurde. Diese Lustigkeit dehnte sich auch später auf Reitzenberg aus, als man bemerkte, daß er einen Theil seiner Sinne beim Weinglas habe sitzen lassen. Namentlich heiter wurde die vorne im Parterre aufgepflanzte Jugend des Gymnasiums von Znaim. Mitten in der Scene trat nun Reitzenberg vor den Souffleurkasten und haranguirte einen der Lacher mit folgenden Worten: „Er dummer Junge, was lacht er? Ihn da, mit der gelben Mütze, meine ich. Also, was lacht er? Ich kann meine Rolle, das sieht er: daß mein König ein Esel ist, ist nicht meine Schuld.“
Es versteht sich von selbst, daß das Znaimer Gastspiel nach diesem Scandal, der die Beendigung der Vorstellung nicht zuließ, abgebrochen war. Auch das Prager Theater mußte er auf ganz absonderliche Weise quittiren. Nachdem ihm das Publicum, dessen erklärter Liebling er, wie bereits erwähnt, war, bereits das Unglaublichste verziehen hatte, soll er während der Darstellung der Räuber diese Freiheit in nie dagewesener Weise mißbraucht und zu seiner Entschuldigung angeführt haben: Er befände sich ja im Walde, wo derlei Ausschreitungen nicht verboten wären. Das Zugstück des damaligen Repertoires waren Kotzebue’s Kreuzfahrer, seine Forcerolle darin der Balduin von Eichenhorst, den er mit hinreißender Gluth spielte. Als ihm Wilhelmi, der nachmals so berühmte Wiener Künstler, in der Kampfscene den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen hat, schleuderte er ihn im Eifer des Spieles bis an den Souffleurkasten vor. Mit unerschütterlichem Ernst sprach Reitzenberg pathetisch: „Ich hebe diesen viel zu weit vorgeworfenen Handschuh auf.“ Man kann sich das schallende Gelächter des Publicums denken.
Im Laufe der Vorstellung steigerte sich der bedenkliche Zustand Balduin’s so sehr, daß ein vorzeitiges Ende des Dramas zu fürchten stand. Im dritten Act wird er verwundet in ein nahe gelegenes Kloster gebracht, wo er seine frühere Geliebte als Nonne wiederfindet, die bei seinem Erkennen mit einem schrillen Schrei in Ohnmacht stürzt. Balduin reißt ihr den Schleier vom Antlitz und sucht sie mit heißen Liebesbetheuerungen in’s Leben zurück zu rufen. Die junge Nonne wurde von Madame Sontag, der Mutter der nachmals so berühmten Sängerin, gegeben. In dem oben geschilderten Moment stürzt Reitzenberg nieder, fällt mit ! dem vollen Gewicht seines Körpers und des Harnisches, den er trug, auf die Brust der armen Nonne, die sich kreischend dieser wuchtigen Umarmung vergebens zu entwinden sucht. Umsonst schrie sie:, „Reitzenberg, um Gotteswillen, lassen Sie mich los“ – Reitzenberg war weder im Stande, sich wieder auf die Beine zu bringen, noch seinem unglücklichen Opfer Luft zu machen. Er blieb liegen, der Vorhang mußte fallen.
Man hatte indessen den damals noch jungen Schauspieler Ludwig Löwe – den genialen großen Künstler, der keinen ebenbürtigen Nachfolger haben wird, wenn er vom kaiserlichen Hofburgtheater in Wien, dessen Zierde er noch immer ist, einst scheidet – aus einem nahen Gasthaus geholt, um das Wagniß zu übernehmen, die Rolle zu Ende zu spielen. Der Regisseur kündigt dem Publicum an, daß wegen plötzlicher Erkrankung des Herrn Reitzenberg Herr Ludwig Löwe dessen Partie zu Ende spielen werde und um gütige Nachsicht bitten lasse. Da plötzlich öffnet sich die andere Seite des Vorhangs, wankend tritt Reitzenberg mit den Worten vor das Publicum:
„Das ist nicht wahr, Reitzenberg ist nicht krank, Reitzenberg ist nicht krank, Reitzenberg ist be –!“
Man kann sich den Eindruck dieser Scene denken. Am anderen Morgen sollte der Veranlasser derselben vor Gericht Rechenschaft ablegen, allein er hatte bereits vorgezogen, das Weite zu suchen.
Nun begann sein Vagabundenleben an den winzigsten Wanderbühnen. In einer kleinen böhmischen Stadt, wo er sich ziemlich lange aufgehalten hatte, schloß er sein Gastspiel mit dem Kotzebue’schen Schauspiel: Eduard in Schottland, oder Die Nacht eines Flüchtlings, welches zu seinem Benefiz gegeben wurde. Am andern Morgen war er verschwunden, auf dem Tische seiner Stube lag, auffallend postirt, die namhafte unbezahlte Rechnung [715] des Wirthes, unter dieselbe war der zweite Titel seiner Abschiedsvorstellung geklebt.
Nach vielen Thespisfahrten der schlimmsten Art führte ihn ein glücklicher Moment wieder nach Dresden, wo er Hoffnung hatte, am königlichen Hoftheater angestellt zu werden. Graf Vitzthum, der damalige Intendant, war entschlossen, in Berücksichtigung seines großen Talentes über den schlimmen Ruf Reitzenberg’s hinweg zu sehen. Bei der Antrittsvisite frug ihn der Chef der Hofbühne in vertraulicher Weise, nachdem er ihm über sein Spiel auf der Probe alles Schmeichelhafte gesagt: „ob er nicht fürchte, daß etwas Dialect, den er an dem Künstler zu bemerken glaube, bei seinem projectirten Gastspiel störend einwirken werde?“
„Nein, mein lieber Herr Graf Blitzdumm,“ entgegnet Reitzenberg, „ich bin ganz dialectfrei, Ihnen kommt es nur anders vor, weil sie ein ganz niederträchtiges ‚Sächsisch‘ singen.“
Natürlich hatten hierauf alle Unterhandlungen ein Ende, Reitzenberg erhielt als Abfertigung eine kleine Summe und setzte seinen Stab weiter. Wie der Schatten seines früheren Ich’s taucht er in der Theaterwelt wieder ab und zu auf, um ebenso schnell wieder auf lange Zeit zu verschwinden. Man kann sich denken, welch’ eine Fülle von Noth und Entbehrung bei diesem Treiben über ihn kam, und doch war ihm in keiner geregelten Stellung wohl, die extravagantesten Streiche führte er aus, bis er sich unmöglich gemacht hatte. Eines Abends nach beendigter Vorstellung, ungefähr zehn Uhr, als Moritz, damals in Brünn angestellt, das Theater verließ, hörte er unter dem Thorweg seinen Namen flüstern: „Bruder Moritz–“, vor ihm stand Reitzenberg. Er führte den Ueberraschten unter die düster brennende Oellampe, schob seinen Rock zurück, zeigte diesem den nackten Oberkörper und sprach dumpf: „Ich habe kein Hemd mehr.“ Tief erschüttert nahm Moritz den Unglücklichen in seine Wohnung, sorgte für des Leibes Nothdurft, kleidete den gänzlich Verkommenen neu und sauber und führte ihn dem Theaterdirector Schmidt zu, der ihm ein Gastspiel bewilligte, welches er mit solchem Glück durchführte, daß er sofort engagirt wurde. Die Handlungsweise von Moritz war um so edler, als er wußte, daß ihm in Reitzenberg ein gefährlicher Rivale in seiner künstlerischen Stellung erwachsen müßte.
Kaum warm geworden im neuen Engagementsneste, regte sich der alte Adam wieder in dem unverbesserlichen Gaukler. Moritz borgte ihm zum Hamlet schwarze Tricots und ein Paar Stiefelchen mit Franzen; letztere riß er am anderen Tag ab und trug Beinkleider und Stiefelchen so lange, bis sie ihm im buchstäblichsten Sinne des Wortes vom Leibe fielen. Einst behauptete er vor der Aufführung von Cabale und Liebe, er wolle als Ferdinand den größten Unsinn schwatzen, ohne daß es das gedankenlose Publicum merken würde. In der Scene mit Lady Milford verdrehte er die Stelle: „Umgürte Dich mit allem Stolze Deines Englands, ich verwerfe Dich, ein deutscher Jüngling –“ in folgender Weise: „Umengle Dich mit allem Gurte Deines Stolzlandes, ich verjüngle Dich, ein deutscher Werfling.“ Leider hatte er Recht, außer einigen feiner organisirten Naturen, welche diese Umarbeitung Schiller’s mit starrem Staunen erfüllte, ging der freche Schwank fast unbeachtet von der Menge vorüber. Schlimmeren Ausgang und seine abermalige Entlassung hatte eine andere übermüthige Wette. In heiterer Weinlaune, unbeschäftigt, trieb sich Reitzenberg zwischen den Coulissen herum, während draußen auf den weltbedeutenden Brettern ein Ritterstück gegeben wurde, das einen Mitbürger Brünns zum Verfasser hatte. Eben wurde die Hauptscene des Drama’s gegeben, in welcher der Bösewicht seinem Freunde den Giftbecher verderbenbringend zuwendet. „Was zahlen Sie, lieber Saal,“ fragt plötzlich Reitzenberg den mit ihm hinter der Scene zusehenden Regisseur, „wenn ich jetzt, wie ich da bin, hinaus auf die Bühne gehe und den beiden Kerls den Giftbecher wegsaufe?“
Zehn Flaschen Champagner,“ antwortete Saal, der eher des Himmels Einsturz vermuthete, als die Ausführung dieses Vorschlages.
Wer vermag aber sein Entsetzen zu schildern, als Reitzenberg mit den Worten: „Ein Schuft, der nicht Wort hält!“ bereits aus den Coulissen und im Straßencostüm zwischen die beiden Ritter an den Zechtisch schreitet, gravitätisch den Becher ergreift, diesen langsam austrinkt und sich mit feierlichem Schritte auf der anderen Seite entfernt.
Wer kann ermessen, auf wessen Seite das Erstaunen und dann die maßlose Entrüstung größer war, ob beim Publicum, ob unter den Mitspielenden, ob endlich bei dem unglücklichen verzweiflungsvollen Dichter. Anfangs glaubte man, Reitzenberg sei plötzlich wahnsinnig geworden, bis der schuldlose Mitschuldige, Herr Saal, die Sache aufklärte.
Reitzenberg wurde von der Direction sofort entlassen, von der Polizei aber gefaßt. Nachdem man ihm vierzehn Tage unter Schloß und Riegel, fern vom Weltgetriebe, Zeit gelassen, über seinen frechen Streich nachzudenken, finden wir seine Spur in Leipzig wieder, wo er auf dem Theaterzettel den Namen Koch las. Ohne sich zu besinnen, geht er in die Wohnung des ihm gänzlich fremden Collegen und versichert das Dienstmädchen, er sei ein alter Freund des Herrn, sie möge ihm nur das Zimmer aufschließen und Rum bringen.
Bei der Rückkehr in seine Wohnung fand der erstaunte Koch einen fremden Menschen, welcher in seinen, das heißt Koch’s, Schlafrock gehüllt und aus seiner Pfeife rauchend, es sich mehr als bequem gemacht hat. Mit dem Ruf: „Alter Freund, lieber Junge, wie freut sich Reitzenberg Dich zu sehen!“ Der joviale junge Künstler, der, bei den: Rufe Reitzenberg’s, gleich die ganze Geschichte durchschaute, ging auf den derben Spaß ein und behielt den aufgedrungenen Gast einige Tage bei sich. Glänzende Engagements in Braunschweig, Hamburg und an anderen großen Bühnen erwiesen sich immer nur für kurze Zeit möglich. Seine unverbesserliche Trunksucht hatte stets Scandale zur Folge, nach welchen er schlechterdings „unmöglich“ wurde.
In dem nahen Altona gab er, von Hamburg aus, eine Gastrolle in dem bereits erwähnten Stück: „Die Kreuzfahrer“ oder „die ringemauerte Nonn“, oder: „Der dankbare Türke“, wie es hier hieß. Reitzenberg sagte vor Beginn der Vorstellung: „Gebt heute Acht auf mich, Kinder, heute ist Freitag, der Freitag war von jeher mein Unglückstag, heute passirt mir ein Malheur.“ Die Probe war vortrefflich gegangen, mehrere Rollen wurden, wie an kleinen Bühnen gewöhnlich, gestrichen oder in eine zusammengezogen. Unter den Darstellern der Nebenrollen befand sich ein junger Dilettant, seines Zeichens ein Leineweber, der in seinen freien Stunden mit glühender Leidenschaft Komödie spielte und sich die Garderobestücke z. B. Helme, Harnische etc. sehr zierlich aus Pappe selbst verfertigte. Er übernahm alle zu besetzenden kleinen Partien, Ritter, Boten, stummer Apothekerbursche etc. etc.
Als er nun an diesem verhängnisvollen Abend eine Meldung zu bringen hatte, war er, in den Coulissen stehend, so tief in fanatische Bewunderung der Leistung Reitzenberg’s versunken, daß er sein eigenes Auftreten vergaß und alle Winke des gereizten Künstlers übersah. Da plötzlich packt derselbe den zum Tode Erschrockenen bei dem Pappdeckel Brustharnisch und schleudert ihn mit den Worten auf die Bühne: „Wird Er herauskommen, verfluchter Leineweber!“ Der sauber gearbeitete Harnisch war auseinander gerissen bei der gewaltsamen Procedur, und das Silberpapier hing dem armen Kunstenthusiasten über den Bauch herab.
Im Laufe der Vorstellung wurde Reitzenberg immer betrunkener; im vierten Act, als er die Aebtissin um die Freilassung der jungen Nonne bittet, konnte er nicht mehr, fest auf den Beinen stehen; er stützt sich auf sein Schwert, welches unglücklicher Weise in eine Bretterspalte des Podiums durchrutscht, und unser Held fällt in voller Länge lang, rasselnd im Harnisch, zu Boden. Dort, im vergeblichen Bemühen sich aufzurichten, brüllte er der Aebtissin entgegen: „Weib, mache mich nicht rasend, ich stürme diese Mauern, ich fürchte nichts, nichts auf der Welt, nicht einmal das Lachen dieser erbärmlichen Philister da unten, die nicht wissen, daß sie den großen Reitzenberg verhöhnen.“
Ein furchtbarer Tumult entstand, man wollte die Bühne stürmen, um den Trunkenbold zu züchtigen, der sich indeß durch eine Hinterthür entfernt und in einen Fiaker geworfen hatte, mit welchem er in vollem Costüm nach Hamburg zurück fuhr.
Dies war die letzte Heldenthat, welche von ihm in der [716] Theaterwelt bekannt wurde. Fortan trieb er sich, immer tiefer und tiefer sinkend, bei den kleinsten Theatern herum, welche die technische Bühnensprache mit dem Ausdruck „Meerschweinchen“ bezeichnet.
An einer solchen gab er den Ferdinand in Cabale und Liebe. Der Wirth des Gasthauses, in welchem das Theaterchen aufgeschlagen war, lehnte vorne an der Rampe des Orchesters. Bei der Stelle: „die Limonade ist matt“, blickte er diesen zufällig an, worauf der Kneipier zornig hinauf rief: „Das ist nicht wahr, ich habe sie selbst gemacht, Herr Reitzenberg. Sie schimpfen auch über Alles!“ „Nur über Ihren sauren Wein,“ antwortete Reitzenberg, und spielte ruhig weiter.
Jahrelang verschollen, frühere bekannte, große Städte ängstlich meidend, finden wir ihn als Leiche wieder, „theils verhungert, theils erfroren“, wie der amtliche Bericht lautete.
Der Zufall führte Freund Börnstein vorüber, als man den Mann, der durch Bildung und Talent zur Lösung der höchsten künstlerischen Aufgaben berufen war und der so elend geendet, zur letzten Ruhestätte brachte. Seine Habe bestand, wie gesagt: in einem Gebetbuche und einem Theaterzettel. Der letztere ist zu charakteristisch für das damalige Treiben kleiner Bühnen, als daß ich mich enthalten könnte, ihn wenigstens theilweise wieder zu geben:
Theater in Passau.
Die Schuld
oder
Die Spanier im Norden
oder
Der Untergang des Hauses Oerendur.
Berühmtes Trauerspiel von dem großen Dichter Adolph von Müllner.
Hugo von Oerendur, Besitzer von fünf bis sechs großen Gütern ...... Herr Reitzenberg, der größte deutsche Künstler als Gast.
Elvira, seine Gemahlin, Wittwe des Don Carlos, Officiers, Grands von Spanien und Ritters ......... Frl. Holdmann.
Ich kann zur Empfehlung dieses berühmten Trauerspiels nichts Besseres sagen, als das Urtheil des berühmten Schiller’s darüber: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Uebel größtes aber ist die Schuld!“
Ein Zugstück der Thiergärten.
Zum Glück für Diejenigen, welche nicht blos des Wirthshauses und der Musik, sondern auch der Thiere halber einen zoologischen Garten besuchen, giebt es unter den Schauthieren solche, welche Jedermann fesseln, den Laien wie den Forscher, den gleichgültigsten wie den thierfreundlichsten Menschen., Zu ihnen gehören die Kängurus.
Ich habe es schon wiederholt ausgesprochen, daß ich mich der Ansicht jener Forscher anschließe, welche die Beutelthiere insgemein als Anfangsversuche der schöpferischen Kraft erklären, als theilweise unvollendete Erzeugnisse des „Es werde und es ward“. Ich gehe noch weiter; denn ich nehme an, daß die Beutelthiere gar keine Ordnung bilden, sondern höchstens ihrer Entstehungszeit nach zusammen gehören.
Wenn man längere Zeit mit den in Rede stehenden Thieren verkehrt hat, drängen sich solche Ansichten von selbst auf. Man muß es wahrnehmen, daß sie alle hinter denjenigen Säugethieren, mit denen sie die größte Aehnlichkeit zeigen, weit zurückstehen, ebensowohl was den Leibesbau, als was die sogenannten geistigen Fähigkeiten anlangt. Selbst die vollkommensten unter ihnen erscheinen uns, verglichen mit denen, für welche sie gleichsam die Vorläufer waren, unvollkommen, unvollendet.
In den Kängurus oder Springbeutlern sehen wir die in gewisser Hinsicht vollendeten Mitglieder der „Ordnung“ vor uns. Der Versuch ist in ihnen zu einem bestimmten Abschlusse gelangt: sie sind Etwas geworden, haben eine übereinstimmende Gestalt erlangt und bilden demgemäß eine nach außen hin abgeschlossene Gruppe. Eigentlich vergleichen lassen sie sich nicht; will man es dennoch thun, so kann man nur die Springmäuse, eine Nagerfamilie, ihnen gegenüber stellen. Ihre Entwicklung weist sie noch den Rückständigen zu, ihr Bau und ihre Begabungen aber lassen sie uns ihren vorgeschrittenen Nachbildern fast ebenbürtig erscheinen. Man hat sie zwar auch mit Wiederkäuern verglichen und ein Wiederkäuen bei ihnen bemerken wollen; diese Ansicht ist jedoch unrichtig, denn die Kängurus haben mit Hirschen, Antilopen, Rindern, Ziegen und Schafen Nichts gemein – mit letzteren höchstens ihre Beschränktheit. Sie bilden eine scharf begrenzte arten- und gestaltenreiche Familie; aber das Gepräge ist bei allen Mitgliedern festgehalten und die Mannigfaltigkeit eine, ich möchte sagen, einhellige. Sämmtliche Kängurus gehören Australien an, bekunden also auch in dieser Hinsicht ihre Zusammengehörigkeit.
Das Freileben dieser sonderbaren Geschöpfe ist sehr verschieden.. Es giebt unter ihnen Tag- und Nachthiere; die einen bewohnen dünnbebuschte Ebenen, die anderen kahle Felsenwände, diese den mit fast undurchdringlichem Gestrüpp bedeckten Boden, jene das Gezweig höherer Bäume; einige hausen im Geklüft, andere in selbstgegrabenen, mit dürrem Grase nestähnlich ausgekleideten Löchern. Ihre Bewegung geschieht hauptsächlich mittelst ihrer Hinterglieder, den Schwanz inbegriffen, also hüpfend, gleichviel ob sie auf der Ebene dahineilen, an Felsenwänden emporklimmen, an Bäumen hinaufklettern, im Wasser waten oder schwimmen. Die Sinne scheinen durchgehends wohl entwickelt zu sein, die geistigen Fähigkeiten auf einer sehr tiefen Stufe zu stehen. Eine eigentliche Stimme besitzen sie nicht; denn das Geknurr oder meckernde Murren, welches sie vernehmen lassen, kann man nicht Stimme nennen. Die Nahrung besteht in Pflanzenstoffen aller Art. – Hinsichtlich der Fortpflanzung stimmen sämmtliche Arten insofern überein, als sie gleichzeitig nur ein Junges, dieses aber als unreifen Keim zur Welt bringen.
So viel im Allgemeinen; „ich bin des trocknen Tons nun satt“ und werde mich fortan bestreben, meine Schulmeisterweisheit für mich zu behalten.
Alle Springbeutelthiere, insbesondere aber die großen Arten, denen der Name Känguru gebührt, lassen sich leicht an die Gefangenschaft gewöhnen. ,Sie nehmen mit einfachem Futter vorlieb, ertragen unser Klima ohne Schaden, können also in ungeheizten Räumen überwintert werden, halten sich, wenn man sie nicht geradezu unvernünftig behandelt, lange Jahre und pflanzen sich auch regelmäßig fort, erfüllen also alle Wünsche, welche ein Thierzüchter stellen kann. Ehe man sie kannte, hat man sie deshalb zur Einbürgerung in Europa empfohlen; Einzelne tragen sich wohl auch noch mit dem Gedanken herum, sie hier als freilebendes Wild sehen und jagen zu können; ich meinestheils kann solche Hoffnungen nicht theilen und würde Kängurus höchstens zur Ausschmückung eines geschlossenen Parks vorschlagen mögen. Hier würden sie sich gewiß „sehr gut machen“, jedenfalls größeres Vergnügen gewähren, als das langweilige Damwild, welches in den Parks auffallender Weise noch immer die Hauptrolle spielt, obgleich man es auch durch weit zierlichere Hirscharten ersetzen könnte. Die Kängurus sind minder schön als Damhirsche, auch unliebenswürdiger, dümmer, furchtsamer, aber unzweifelhaft auffallender, fesselnder.
An ihnen ist eigentlich Alles sonderbar und merkwürdig: der Gang und die Bewegung überhaupt, das Wesen, das Benehmen gegen Ihresgleichen oder gegen fremdartige Geschöpfe, die Fortpflanzung etc. Die Reisenden, welche über Neuholland berichten, stimmen darin überein, daß man sich kaum ein Schauspiel denken könne, das wunderbarer wäre, als das einer fliehenden Känguruheerde, welche die volle Kraft der muskelstarken Hinterläufe in Anwendung bringt und in unsinniger Hast dahinstürmt. Man kann sich solchen Anblick ungefähr ausmalen, wenn man die gefangenen Kängurus längere Zeit beobachten und alle Arten ihrer [717] Bewegung kennen gelernt hat. Die schwachen, kurzen, gleichsam verkümmerten Vorderglieder spielen bei der Bewegung nur eine höchst untergeordnete Rolle, die Hinterbeine und der Schwanz dagegen eine um so größere. In der Ruhe liegt das Thier entweder auf der Seite, den Kopf etwas aufgerichtet, oder es sitzt auf den Sohlen der Hinterbeine und auf dem Schwanze, also gleichsam auf einem Dreifuße. Aus dieser Lage fällt es, wenn es weiden will, in eine kriechende, höchst unschöne Stellung nieder, indem es sich vorn auf die Handfläche stützt und den Schwanz einzieht, so daß dieser zwischen die Hinterbeine zu stehen kommt. Will es sich jetzt bewegen, so stützt es sich vorn mit beiden Händen und hinten mit dem Schwanze auf, zieht die Schenkel der Hinterbeine etwas ein, schiebt die Hinterläufe langsam vor, bis sie außen neben die Handstützen zu stehen kommen, zieht den Schwanz nach und setzt endlich auch die Hände weiter. Das geht so ungeschickt zu als möglich: ein Mensch auf allen Vieren bewegt sich besser, als ein in dieser Weise kriechendes Känguru.
Letzterem scheint übrigens diese Stellung auch ebenso unbequem zu sein, wie einem kriechenden Menschen die seine; es verweilt nie lange in solcher Lage, nimmt vielmehr fast nach jedesmaligem Abpflücken eines Blattes oder Halmes die Dreifußstellung wieder an. Ganz anders bewegt sich das Thier, wenn es größere Strecken zu durchmessen gedenkt. Es erhebt sich zunächst auf die Zehenspitzen der Hinterbeine, neigt sich mit dem Vordertheile des Leibes etwas herab, streckt den schweren Schwanz nach hinten aus, so gerade, als es das beträchtliche Gewicht desselben gestattet, und hüpft nun in großen Sprüngen seines Weges fort. Beide Beine werden gleichzeitig bewegt, die Hände entweder geschlossen oder (bei einzelnen Arten) etwas ausgebreitet; der Schwanz dient als Vermittler des Gleichgewichtes und als Steuer. Beim Aufspringen sieht man ein augenblickliches Einknicken der Hinterläufe, auf welches sofort die Zusammenziehung aller Streckmuskeln folgt, der schwere Leib wird von Neuem weiter geschnellt, und so geht es vorwärts. Bei geringer Eile hat diese Bewegung etwas Wiegendes oder Schaukelndes, wozu namentlich der bei jedem Sprunge auf- und niederschwingende Schwanz beiträgt; bei gesteigerter Eile folgen sich die Sprünge so rasch, daß man nur einen großen, in feinsten Bogenlinien sich bewegenden Körper sieht. An den Gefangenen [718] des Amsterdamer Thiergartens habe ich die Sprungweite eines ziemlich eilfertig hüpfenden Riesenkänguru gemessen und gefunden, daß sie sechsundzwanzig Fuß beträgt. Jeder einzelne Sprung beansprucht ungefähr die Dauer von 1,25 Secunden, das gehetzte Känguru ist also im Stande, in den ersten Minuten zum Mindesten je fünfzehnhundert Fuß zurückzulegen; denn mit der schnelleren Folge der Sprünge steigert sich in einem gewissen Verhältnisse auch deren Weite. Und mit solcher Eile sah Gould einen alten Bock achtzehn englische Meilen durchjagen! Solche Flucht fördert; sie wird nur von der unnatürlichen Bewegungsfähigkeit eines Rennpferdes übertroffen.
Jedes Känguru, welches so eilig springt, daß das Wiegende seiner Bewegung aufhört, geräth in große Aufregung und verliert dann mehr und mehr seine Besinnung. Von dieser hat es ohnehin nicht viel. Seine geistigen Fähigkeiten sind ungemein gering Man schilt den braven Esel einen geistlosen Gesellen, spricht vor der Hirnthätigkeit des Rindes mit Geringschätzung: beide erscheinen uns als Weise einem Känguru gegenüber; ihm ist wahrscheinlich selbst das Schaf geistig überlegen. Alles Ungewohnte bringt es außer Fassung, weil ihm ein rasches Uebersehen neuer Verhältnisse gänzlich abgeht. Sein Hirn arbeitet langsam. Jeder Eindruck, welchen es empfängt, wird ihm nur ganz allmählich verständlich; es bedarf einer geraumen Zeit, ihn sich zurechtzulegen. Ein neues Gehege ist dem gefangenen Känguru im allerhöchsten Grade bedenklich. Es kann zwischen Eisengittern groß geworden sein und, auf einen anderen Platz gebracht, sich an dem Eisen den Kopf zerschellen, wenn sein Pfleger nicht die Vorsicht gebraucht, es vorher tagelang in einen Stall zu sperren, in welchem es sich den schwachen Kopf nicht einrennen kann und gleichzeitig Gelegenheit findet, sich den neuen Raum anzusehen. Nach und nach begreift es, daß derselbe dem früheren Aufenthaltsorte doch wohl in allem Wesentlichen entspricht, nach und nach gewöhnt es sich ein, nach und nach hüpft es sich seine Gangstraße zurecht. Nebenan sind vielleicht andere Kängurus eingestellt worden: der Neuling sieht in ihnen entsetzliche Geschöpfe, und diese denken genau so wie er. Später freilich strafen die Nachbarn unsern Leutemann nicht Lügen, sondern kämpfen durch die Gitter hindurch gar eifrig miteinander; denn für niedere Leidenschaften, wie Neid und Eifersucht, ist selbst ein Känguruhirn hinreichend entwickelt. Seinen Wärter lernt das gefangene Känguru mit der Zeit ebenfalls kennen; doch bezweifele ich, daß es ihn von anderen Menschen unterscheidet, es tritt mit dem Menschen überhaupt, nicht aber mit einem einzelnen in ein gewisses Freundschaftsverhältniß, legt mindestens seine unsägliche Aengstlichkeit vor demselben allmählich ab.
Diese Aengstlichkeit ist der hervorstechendste Zug im Wesen unseres Thieres. Ihr fällt es gar nicht selten zum Opfer. Nicht blos durch Anrennen an das Gitterwerk tödten sich gefangene Springbeutelthiere: sie sterben im buchstäblichen Sinne des Wortes vor Entsetzen. Ihre Aengstlichkeit bekunden sie zunächst durch starkes Geifern. Dabei nässen sie sich Arme und Hände ein, versuchen den Geifer abzulecken und geifern um so mehr. Erst laufen sie wie toll umher, dann setzen sie sich nieder, schütteln mit dem Kopfe, bewegen die Ohren, geifern und schütteln wieder. So geberden sie sich, so lange ihre Angst anhält. Ein Känguru, welches ich beobachtete, starb kurz nach einem heftigen Gewitter an den Folgen des Schrecks. Ein Blitzstrahl war Ursache seiner unsäglichen Bestürzung. Scheinbar geblendet sprang es sofort nach dem Aufleuchten des Blitzes empor, setzte sich sodann ruhig auf seinen Dreifuß, neigte den Kopf zur Seite, schüttelte höchst bedenklich und fassungslos mit dem durch das gewaltige Ereigniß übermäßig beschwerten Haupte, drehte die Ohren dem rollenden Donner nach, sah wehmüthig auf seine von Regen und Geifer eingenäßten Hände, leckte sie mit wahrer Verzweiflung, athmete heftig, schüttelte und schüttelte das Haupt bis zum Abend, bis ein Lungenschlag, welcher schneller, als das Verständniß des fürchterlichen Ereignisses, gekommen zu sein schien, seinem Leben ein Ende machte.
Bei freudiger Erregung geberdet sich das Känguru anders. Es geifert zwar auch und schüttelt ebenfalls mit dem Kopfe, trägt aber die Ohren stolz und versucht, seinen unklaren Gefühlen durch ein sonderbares Meckern, welches wie unterdrückter Husten klingt, Ausdruck zu geben. In freudige Erregung kann es gerathen, wenn es nach länger währender Hirnarbeit zu der Ueberzeugung gelangte, daß es auch unter den Känguru’s zwei Geschlechter giebt. Zu solchem Einsehn kommt es übrigens, wie ich zu seiner Ehre bemerken will, noch immer ziemlich frühzeitig, obgleich ihm anfänglich Liebesgefühle gewiß fremd bleiben. Endlich dämmert auch eine Liebesahnung in ihm auf, und nunmehr bemüht es sich, dieser Ausdruck zu verleihen. Wiegend und schaukelnd hüpft es hinter dem Weibchen her, auf Schritt und Tritt ihm folgend, stunden-, tagelang. Dieser ersten Annäherung folgt die Werbung. Ein junger Mann von Geist und Gemüth beschäftigt sich mit den blauen Augen, blonden Locken, rosigen Lippen etc. der Königin seines Herzens, ein verliebtes Känguru zunächst mit einem weniger zierlichen als nützlichen Gliede, dem gewichtigen Schwanze. Ihm widmet es seine Zärtlichkeiten, indem es das Fell desselben krabbelt und streichelt. Die Schöne bekundet die größte Gleichgültigkeit, so lange der ihr Huldigende in diesen zu billigenden Grenzen der Zurückhaltung bleibt. Der Werber wird kühner und naht sich der Erkorenen von vorn. Sie öffnet die Arme, als wolle sie den verliebten Gecken bräutlich empfangen, er hüpft ihr liebestrunken an’s Herz, wird aber umkrallt, anstatt umarmt, und empfängt im nächsten Augenblick mit den Hinterbeinen einige Tritte, daß einem Anderen außer ihm die Werbung verleidet werden würde: Ein wackerer Kängurubock läßt sich jedoch durch solche Scherze nicht beirren, sondern liebkost weiter, letzteres fortan allerdings mit einiger Vorsicht, bis das spröde Herz der Braut gerührt wird und sie die Liebeswerbung ohne Fußtritte annimmt.
Nebenbuhlerische Kämpfe mit Umkrallungen und Fußtritten bleiben da, wo mehrere gleichgroße Kängurus nahbar nebeneinander leben, niemals aus und trüben einigermaßen das Glück der Liebe. Beide Kämpen fechten erbittert und lassen zum mindesten Haare: Hals und Weichen werden oft kahl und schrundig gekratzt. Aber die Kampfeslust des Verliebten, welche sich nicht selten auch an anderen Thieren oder bekannten Menschen versucht, läßt Schmerzgefühle in Folge so ruhmvoll empfangener Wunden nicht aufkommen.
Nach höchstens vierzigtägiger Tragzeit bringt das fast hirschgroße Riesenkänguru ein Junges zur Welt, welches freilich. eher einem Klümpchen Gallerte, als einem lebenden Wesen ähnelt. Es ist kaum größer als eine neugeborne Ratte, wie eine solche nackt, aber fast völlig gliederlos, also wurmartig, dabei durchschimmernd, weich, kurz ein gänzlich unreifer Keim. Mund und Nase sind einigermaßen ausgebildet, die Augen angelegt, die Ohren angedeutet, die Stummel der Vorderglieder länger als die der hinteren. Besagter Keim wird von der Alten an eine ihrer Saugwarzen angeheftet, – wie, wissen wir immer noch nicht – und nunmehr langsam ausgebildet. Die Saugwarzen liegen in einer tiefen und äußerst dehnbaren Hauttasche am Bauche, deren Oeffnung durch besondere Muskeln geschlossen wird, wie ein Tabaksbeutel mit Hülfe eines sogenannten Faden- und Bandzuges. In stark gekrümmter Lage hängt das Junge an der Zitze, unfähig sich zu bewegen, unfähig selbst zu saugen. Die Saugwarze schwillt vorn an, so daß sie den ganzen Rachen ausfüllt, und ein besonderer Muskel drückt dem hülflosen Wurme von Zeit zu Zeit einige Tropfen Milch in den Schlund. Ungefähr zwei Monate nach der Anheftung beginnt der inzwischen weiter gebildete Keim sich zuckend zu bewegen, im Verlaufe der nächsten vier Monate entwickeln sich die Glieder und die Sinneswerkzeuge und zuletzt das Haarkleid. Nunmehr fängt ein Jugendleben an, wie solches andere Säugethiere führen. Die Bewegungen werden häufiger und selbständiger, das Wachsthum schreitet rascher fort. Wenn das Junge die Ohren aufrichten kann, streckt es ab und zu auch schon einmal das Köpfchen aus der Tasche heraus; diese Heldenthat übt es fortan öfter, und vierzehn bis zwanzig Tage später pflückt es sich, während die Alte grast, bereits selbst ein Hälmchen ab. Die Alte, welche bis dahin das Junge möglichst zu verbergen suchte, alle Versuche des neugierigen Vaters, am Beutel sich zu schaffen zu machen, ärgerlich zurückwies und dem menschlichen Beschauer meist den Rücken zuwandte, zeigt sich nunmehr minder ängstlich; die Zunahme ihrer Beruhigung steht mit dem Wachsthum des Jungen überhaupt ungefähr in gleichem Verhältniß. Letzteres zieht sich bei Beunruhigung sofort in den Beutel zurück oder wird durch einen Klaps abseiten der Alten dazu veranlaßt. Geraume Zeit später, ungefähr neun Monate nach seiner Geburt, wagt es den ersten Ausflug in die Welt, wiederholt ihn immer öfter, stürzt. sich aber, wenn die besorgte Alte lockt, immer noch mit kindischer Hast kopfüber in den Beutel. Endlich kann dieser das zu groß gewordene Thier nicht mehr bergen, und das Junge muß sich [719] entschließen, im Freien zu leben. Aber noch saugt es regelmäßig, ja, es setzt das fort, so lange die Alte es gestattet: es saugt noch, nachdem es bereits selbst ein Junges im Beutel trägt und seine Mutter wiederum ein jüngeres Geschwister an eine ihrer Saugwarzen angeheftet hat.
So viel zur Erklärung unseres Bildes. Eine bessere Erläuterung des Lebens der Kängurus, als ich sie zu geben vermochte, wird jedem meiner Leser ein Besuch im Thiergarten zu Köln, zu Dresden, Frankfurt oder Breslau geben; denn das Leben spricht beredter, als alle Worte.
Ja, wenn sie nur dumme Gimpel wären die Menschen, die sich von Geheimmittelschwindlern ihr schönes Geld aus der Tasche stehlen lassen, dann könnte man über eine solche bornirte Gimpelhaftigkeit lachen. Aber man hat Grund über solche Menschen zu weinen, weil sie nicht blos Gimpel, sondern auch Verbrecher am Leben und an der Gesundheit ihres Körpers, gar nicht selten subtile Selbstmörder sind. Denn einestheils üben viele Geheimmittel wegen ihrer schädlichen Bestandtheile ganz unmittelbar einen sehr nachtheiligen Einfluß auf den menschlichen Körper aus, anderntheils werden ihretwegen die wirklich heilbringenden Maßregeln gegen die vorhandenen Leiden verabsäumt. – Verzweifeln könnte Verfasser auch darüber, daß die Zahl der Geheimmittel von Tag zu Tag nur aus dem Grunde enorm wächst, weil die meisten Menschen wegen ihrer ganz mangelhaften Schulbildung über das, was in der Natur, sowie im menschlichen Körper vorgeht, nicht richtig denken gelernt haben. – Wenn die durch Geheimmittelschwindler Betrogenen nur wenigstens so ehrlich und human wären und zu Nutz und Frommen ihrer Mitmenschen, um diese vor pecuniärem und körperlichem Schaden zu bewahren, ihre schlimmen Erfahrungen veröffentlichten! Aber sie thun es leider aus Scham über ihre Dummheit nicht. – Jedes Geheimmittel, es mag einen Namen haben welchen es will, es mag herrühren, von wem es will, ist und bleibt stets nur ein Schwindel.
„Es oder Er hat mir aber doch geholfen,“ behauptet Mancher von Denen, die sich mit Geheimmitteln, sympathetischen oder homöopathischen Nichtsen, durch Lutzen oder Lampen (=Nachfolger), mit Lobe, Hoff’schem Malzextract oder Daubitz’schem Schnaps u. s. f. curiren ließen Und solch eine Behauptung zeugt recht deutlich von der Urtheilsunfähigkeit jener Geheilten. Denn daß ihre Heilung, die gar nicht bezweifelt werden soll, auf ganz andere Weise zu Stande kam, als mit Hülfe jener Charlatane und Chartatanerien, das zu denken, ist ihnen unmöglich, und das sich erklären zu lassen, bringt man bei den Meisten, als ob sie ein Bret vor’m Kopfe hätten, nicht fertig. Man wolle sich’s doch endlich einmal merken: daß der menschliche Körper zu seinem großen Glücke von der Natur so eingerichtet ist, daß krankhafte Veränderungen innerhalb desselben solche Vorgänge nach sich ziehen, durch welche die meisten Krankheiten vollständig oder theilweise, bald schneller, bald langsamer gehoben werden. Man bezeichnet jene heilsamen Vorgänge mit dem Namen „Naturheilungsprocesse“. Ihnen ist es zuzuschreiben, daß so viele Krankheiten ohne Arznei und Arzt, bei homöopathischen Nichtsen, kurz bei dem verschiedenartigsten und blödsinnigsten Hokuspokus, sowie bei den allertollsten Gaukeleien heilen. Sie machen es auch erklärlich, daß bei ein und derselben Krankheit von verschiedenen Heilkünstlern eine Unmasse der verschiedenartigsten Arzneien, angeblich mit Glück, angewendet werden, während wiederum ein und dasselbe Heilmittel bei den verschiedenartigsten Krankheiten heilsam sein soll. Jene Naturheilungsprocesse bei jedem einzelnen Krankheitsfalle auf die passende Weise zu unterstützen und zu fördern, das ist die Aufgabe eines vernünftigen Heilkünstlers. Dies kann aber nicht nach ein und derselben Schablone, durch ein und dieselbe Heilmethode geschehen.
Um nun wieder auf den Geheimmittelschwindel zu kommen, so ist es recht traurig, daß fast jedes Zeitungsblatt die schamlosesten Anpreisungen von Geheimmitteln enthält, und daß sogar unsere Tagespresse, die von sich rühmt, für Aufklärung, für Wahrheit und Recht zu kämpfen, gegen höhere Insertionskosten das Versprechen giebt, nichts aufzunehmen, was dem Absatz des angepriesenen Mittels schaden könnte. Daß dem so ist, beweist eine Bekanntmachung der Berliner Polizeidirection, welche sagt: „um sicher zu gehen, haben sich sogar Anfertiger und Verbreiter von Geheimmitteln mit Redactionen mancher Zeitungen, deren Spalten sie mit Anpreisungen füllen, contractlich dahin geeinigt, daß die betreffenden Zeitungen niemals Artikel, welche gegen das in Rede stehende Mittel gerichtet sind, aufnehmen dürfen.“ – Betrübend ist es ferner, daß manche solche Industrie-Ritter und Quacksalber aller Art, anstatt als Betrüger und Gesundheitsschänder an den Pranger gestellt zu werden, sogar noch mit Titeln (Sanitätsrath, Hoflieferant, Director), Ehrenmedaillen, Orden und dergl. ausgezeichnet werden.
Das meiste Geld wird für Haut- und Schönheitsmittel zum Fenster hinausgeworfen. Denn urn einen schönen Teint und eine reine Haut, zumal im Gesichte und an den Händen, zeigen zu können, opfert besonders das nicht-schöne schöne Geschlecht auch die letzten Thaler aus der Sparbüchse. Mit kosmetischen Mitteln kann der Schwindel im Handel seine Schwingen am freiesten bewegen. Frankreich ist das Mutterland der kosmetischen Schwindelei und hier giebt es so viele ausgezeichnete Schönheitsmittel, daß Häßlichkeit bald ein überwundener Standpunkt sein wird. – Man glaube nun aber ja nicht etwa, daß diese Geheimmittel ganz unschuldiges Zeug sind; sie können auch der Gesundheit sehr nachtheilig werden, weil viele derselben giftige Substanzen (z. B. Quecksilber, Blei etc.) enthalten. Die bekanntesten Schönheits-Geheimmittel sind folgende:
1) Albion, aus Paris, enthält in einem aromatischen Wasser Chlorblei und mitunter auch Calomel (also zwei giftige Substanzen, Quecksilber und Blei). Es soll die Haut frei von Runzeln und weiß erhalten. – 2) Circassia-Wasser von Ruoff in Heilbronn, soll das Nonplusultra aller Schönheitsmittel und das nobelste Parfüm sein. Es besteht aus starkem Alkohol mit einigen Tropfen von Zimmet-, Nelken-, Bergamott- und Lavendelöl und Perubalsam. Das 1/3 Loth enthaltende Glas kostet 16 Kreuzer und ist nur 6 Kreuzer werth. – 3) Cosmeticum von Simerling, gegen Sommersprossen, Hautübel etc., wird so bereitet, daß 2 Loth süße und 1 Loth bittere Mandeln geschält und mit 20 Loth Wasser zu einer Mandelmilch zerstoßen, dann durchgeseiht und mit Benzoetinctur (1 1/2 Loth) und Citronensaft (1 Loth) vermischt werden. – 4) Iriswasser von Mode in Berlin, zur Verschönerung der Haut, eine Art Kummerfeld’sches Waschwasser, aus Brunnenwasser, worin etwas Kochsalz, Lavendel- und Citronenöl aufgelöst und mit rohen Schwefelblumen versetzt sind. Es hat einen Werth von 3 Kreuzer und kostet 1 Gulden 48 Kreuzer. – 5) Kräuter-Seife von Borchardt (der verkappte Goldberger) in Berlin. Eine sehr angenehm riechende, 16 Kreuzer zu viel kostende Seife aus Curcumapulver und einigen ätherischen Oelen (Lavendel-, Bergamott-, Zimmet- und Pfefferminzöl), mit einer Spur von Indigocarmin. – 6) Lait antephélique von Candes und Comp. in Paris, Waschmittel gegen Sommersprossen und andere Hautfehler. Enthält in 1000 Gewichtstheilen 10 Quecksilbersublimat, 1 Salmiak, 140 Eiweiß, 7 schwefelsaures Bleioxyd, 2 Kampher und 840 Wasser. Kostet 5 Franken und ist ist 1/2 Franken werth. – 7) Lait de perles ein Schönheitswasser mit Bleiweiß. – 8) Lenticulosa von Hutter und Comp. in Berlin, ein Schönheitswasser, aus Zucker.(1/2 Loth), gereinigter Potasche (3/8 Loth), Weingeist (1/2 Loth) und Orangenblüthenwasser (6 1/4 Loth). Die 8 Loth enthaltende Flasche kostet 1 Thlr. und ist nur wenige Groschen werth. – 9) Lilionese, ein sehr verbreitetes Schönheitsmittel, ist eine übersättigte wässerige Lösung von einfach-kohlensaurem Kali und mit einigen ätherischen Oelen parfümirt. Preis 25 Sgr., Werth 3 Sgr. – 10) Odalin von A. T. E. Vogel in Berlin, Schönheitswasser gegen Sommersprossen, Leberflecken, spröde Haut etc., ist eine Lösung von Borax in unreinem verdünntem Glycerin, mit Fuchsin rosenroth gefärbt und mit Rosenöl parfümirt. Preis 7 1/2 Sgr., Werth 2 Sgr. – 11) Schönheits-Maithau von F. v. Mrzerski in Lemberg, zum Ausglätten der runzligen Haut gegen Sommersprossen und Hautflecken aller Art, enthält weißen Thon ( 1/2 Loth), Glycerin (1 Loth), Wasser (8 Loth), Glaubersalz, schwefelsaures Kali, essigsauere Thonerde, essigsaures Natron (von jedem 3/4 Loth) und wohlriechende Oele. Preis 1 Thlr., Werth 2 Sgr. – 12) Schönheitsmilch von Pohlmann in Wien, besteht aus süßem Mandelöl (1/2 Loth), Glycerin (1/2 Loth), arabischem Gummi (1/2 Loth), Erdbeerwasser (etwa 24 Loth), Benzoetinctur 1 Loth) und Essentia Calydor (aus Macisöl, Patschuliextract, Jasminextract, Perubalsam, Tolubalsam, Benzoe). – 13) Schönheitswasser, ist gewöhnliches Wasser (oder Rosenwasser) mit Calomel. – 14) Russisches Schönheitswasser von Frau Schmarl in München, ist mit schwerspathhaltigem Bleiweiß vermengtes [720] und mit Benzoetinctur versetztes Rosenwasser. Preis 24 Kreuzer, Werth kaum 3 Kreuzer. – 15) Mittel gegen Sommersprossen und andere Hautflecke von Solbrig in München, ist erhalten durch Ausziehen von weißer Nießwurz, Arnicawurzel, Bertramwurzel, Styrax calamita mit Alkohol. Nach der Filtration wird zugesetzt: Bergamott- und Citronenöl. Preis 24 Kreuzer, Werth 8 Kreuzer. – 16) Salbe gegen Sommersprossen aus Wien, ist durch Behandeln von Olivenöl mit salpetersaurer Quecksilberoxydullösung bereitet. – 17) Tannin-Balsam-Seife von Hülsberg in Berlin, gegen Hautflecken aller Art, ist gewöhnliche Seife mit einem Zusatz von gepulvertem Talkstein und Fichtennadelextract. Preis 10 Sgr., Werth kaum 2 Sgr. – 18) Pariser Waschpulver, welches die Haut zart und schön erhalten soll, ist Reisstärkemehl mit einem kleinen Zusatz von gepulverter Seife. – 19) Kummerfeldt’sches Waschwasser ist eine wässerige Lösung von Kampher mit gepulvertem Schwefel. Preis 4 Gulden, Werth 6 Kreuzer. – 20) Griechisches Wasser ist ein aromatisches Wasser, worin weißes Quecksilberpräcipitat. – 21) Glycerin-Hautbalsam, ein Gemisch aus 100 Theilen Glycerin, 120 Theilen Pomeranzenblüthenwasser, 1 Theil Neroliöl und 1 Theil Bittermandelöl. – 22) Lucia-Waschwasser von Wilhelm in Neunkirchen und Büttner in Gloggnitz, zur Erhaltung der Schönheit und Feinheit der Haut, besteht aus 1/30 Loth Borax, 1/4 Loth Glycerin und 41/2 Loth destillirtem Wasser. Preis 20 Sgr., Werth 7 Pfennige. – 23) Quintessence balsamique du Harem, zur Erhaltung der Schönheit und Jugendfrische. Von dieser Wunderessenz kostet eine Portion von etwa 8 Loth 31/5 Thlr. in einem blauen türkischen Milchglas-Flacon und 1 Thlr. 18 Sgr. in einem gewöhnlichen Glase, ist aber mit 8 Sgr. reichlich bezahlt. Sie besteht aus Perubalsam (1/3 Loth), Lavendelöl (1/6 Loth), Kampher (1/120 Loth) und starkem reinen Spiritus (8 Loth). – 24) Oschinsky’s Gesundheits- und Universal-Seife, welche 10 Sgr. kostet und kaum 1 Sgr. Werth hat, ist ein Gemisch aus Seife, Wachs, Harz, Fett (Palmöl), Wasser, etwas Lavendel- und Rosmarinöl. – 25) Dr. Hudson’s Schönheits-Pasta der Venus, Wien bei Karl Polt, ist eine nichtsnutzige und ganz gewöhnliche Pomade (aus Wachs, Stearin, Glycerin, Ricinusöl, Schwefel und wohlriechenden Oelen), von welcher 3 Loth 11/3 Thlr. kosten, und welche bei Schönheitsfehlern das Ueberraschendste leisten soll. – 26) Pulcherin, in Wien zu haben, soll eine zarte, feine Haut und ein frisches, gesundes Colorit erzeugen, ist ein Schwindel sonder Gleichen und nur ein schwacher spirituöser Auszug aus einer seifigen Substanz mit etwas Zimmt- und Rosenöl parfümirt. Ein Fläschchen mit kaum 4 Loth kostet 80 Kreuzer österreichisch und ist mit 10 Kreuzer schon hoch genug bezahlt. – 27) Die Venus-Roma-Pasta (von Polt und Gruber) sind nichtsnutzige Gemische von Schweinefett, Cacaoöl, Seifenpulver, Glycerin, arabischem Gummi, Storax oder Benzoe. – 28) Neapolitanisches Waschwasser, angeblich ein unvergleichliches Toilettenmittel, enthält Kampher, Benzoeharz und Borax und kostet sechs Mal mehr, als es werth ist. – 29) Vetorinischer Balsam von Mizerski, unfehlbar gegen alle Hautkrankheiten, ist ein Gemisch aus Arnicatinctur mit starkem Weingeist und einer Menge flüchtiger Oele, nebst etwas Tolubalsam und Elemiharz. Preis 1 Thlr., Werth 6 Sgr. – 30) Dr. Kimball’s amerikanisches patentirtes Sommersprossenwasser ist eine völlig nutz- und werthlose Flüssigkeit (Auflösung von essigsaurem Kali in Wasser und etwas Spiritus mit Rosenöl); es kostet 10 Sgr. das Fläschchen mit 3 Loth.
Ausführlicheres über Geheimmittel findet man in „Dr. Wittstein’s Taschenbuch der Geheimmittellehre“ und in den „Industrie-Blättern“ von den DD. Hager und Jacobsen.
Die wunderthätige Homöopathie heilt natürlich alle Schönheitsfehler und Leiden der Haut mit innern Nichtsen, und dabei hat man bei demselben Uebel stets die Auswahl zwischen einer recht netten Anzahl von Mitteln. So können z. B. Sommersprossen nach Lutze ebenso durch Kalkerde, Kali, Bärlapp, wie durch kohlensaures Natron und Phosphor vertrieben werden. Leberflecken heilt nach Müller in den meisten Fällen die Sepia (Tintenfisch), und Sommersprossen sind bei übermäßigem Auftreten durch den innern Gebrauch von Bärlapp oder Nießwurz zu verjagen. Dagegen empfiehlt Hirschel zum innern Gebrauch bei Leberflecken Bärlapp, Salpetersäure, Tintenfisch und Schwefel, bei Sommersprossen außer den eben genannten Mitteln auch noch Graphit, Phosphor und Nießwurz. – Bei Mitessern hilft nach Goullon Schwefel abwechselnd mit Kieselerde. Nun, schlechte Haut was willst du noch mehr?
Von sympathetischen Curen läßt sich natürlich ebensoviel wie von den homöopathischen erwarten. – Finnen bestreiche man mit Blut von einer weißen Henne und lasse es trocknen; bei Hühneraugen und Leichdornen nehme man eine schwarze Waldschnecke, am besten bei abnehmendem Monde, lege sie so lange darauf, bis sie todt ist, und vergrabe sie dann; auch soll das Auflegen eines gespaltenen Herings und vom Gehirn eines schwarzen Raben gut sein. – Bei Sommersprossen wasche Dich bei abnehmendem Monde mit Thau, ohne jedoch ein Wort dabei zu sprechen, oder bestreiche sie mit Froschlaich und schwarzen Waldschnecken. Auch vergehen sie, wenn man am Charsamstage, sobald man die Glocken zum ersten Male ertönen hört, zum Wasser eilt und das Gesicht wäscht. Oder: wenn man am Palmsonntage über das Gesicht mit einem ganz jungen, eben ausgekrochenen Täubchen streicht. Oder: gehe im Mai heimlich in einen Birkenwald, bohre in eine Birke ein Loch und wasche Dich mit dem ausfließendem Safte, aber sprich ja nicht dabei. Oder: man wasche sich mit der Milch einer Stute, die zum ersten Male geboren hat, aber bevor sie noch das Füllen gesäugt hat; auch kann man sich mit dem Blute der Schwalbe waschen, die man im Frühjahr zuerst sieht. Ein sehr gutes Mittel gegen Sommersprossen soll auch sein, wenn man dieselben mit kleingestoßenen Krebseiern beschmiert und, wenn sie trocken geworden, mit Schweinsmilch abwäscht. – Bei Flechten reibe man Freitags die kranke Stelle mit Asche und sage: „Die Flugasche und die Flechte die flogen wohl übers Meer, die Flugasche kam wieder, die Flechte nimmermehr.“ – Bei Warzen und Geschwülsten in der Haut ziehe man die linke Hand eines verstorbenen Familiengliedes darüber hin. Oder: man zählt die Warzen stillschweigend mit dem Zeigefinger und sieht dabei in den Vollmond; oder: man beschmiert die Warzen bei abnehmendem Monde mit frischem ungesalzenem rohem Speck und vergräbt diesen unter eine Dachtraufe. Man werfe so viel Erbsen in den glühenden Backofen, als man Warzen hat, springe aber sogleich weg, damit man nicht prasseln hört, sonst werden sie ärger. Man lasse sich die Warzen von einem Andern zählen, dann bekommt sie dieser. Man mache so viel Knoten an einen Faden, als man Warzen hat, und lege diesen Faden vor Sonnenaufgang in einen Brunnen; wer zuerst plumpt, bekommt die Warzen. – Muttermäler lassen sich durch öfteres Bestreichen mit der Hand eines im Sarge liegenden Kindes oder dadurch vertreiben, daß man ein Stückchen rohes Rindfleisch nimmt, dieses einer frischen Leiche unter die rechte Achselgrube legt, dort vierundzwanzig Stunden liegen läßt, dann einige Stunden auf das Mal bindet und schließlich vergräbt. – Gegen Frostschäden hilft, wenn man bei abnehmendem Monde einen Hering spaltet und auflegt, oder wenn man Gehirn von schwarzen Raben oder Krähen auflegt. Bock.
Frauen-Emancipation. Der Artikel über Emancipation der Frauen in Nr. 39 der Gartenlaube scheint im Lager der Damen böses Blut gemacht zu haben. So lange das nun allein solche betraf, gegen die er geschrieben worden, hatte es nichts zu sagen, aber er ist auch von anderen Seiten vollkommen falsch verstanden worden, und nur deshalb, und nicht etwa um einige gereizte Entgegnungen zu berichtigen – denn die Sache ist zu ernst, um Scherz damit zu treiben – mögen diese wenigen Zeilen zur Erläuterung dienen.
Weder der Verfasser des Artikels noch die Redaction der Gartenlaube haben je daran gedacht, dem Streben der Frauen entgegenzutreten, welche dahin arbeiten, weit mehr, als das bisher geschehen ist, für sie passenden Wissenschaften und Erwerbszweigen sich zuzuwenden, und auch als Unverheirathete eine selbstständige und geachtete Stellung im Leben einzunehmen. Kein vernünftiger Mann wird ihnen darin im Wege stehen, sondern im Gegentheil Alles thun, um solche Bemühungen zu fördern und ihnen einen günstigen Erfolg zu sichern.
Solchen Frauen wird auch nie der Schutz jedes braven Mannes fehlen.
Der Artikel war nur gegen die Emancipation der Frauen geschrieben, wie sie jetzt in Amerika und England auftritt und in Deutschland ebenfalls ihre Verfechterinnen hat, besonders aber gegen diejenigen Damen, welche sich gern in Politik mischen, wählen und wählbar sein wollen und dadurch das ganze Verhältniß auf den Kopf stellen, in welchem jetzt die Frau naturgemäß in der Gesellschaft aller Culturvölker steht.
Solche Frauen werfen dann auch die Weiblichkeit ab, die bis dahin ihre schönste Zierde war – sie passen nicht mehr in die Häuslichkeit, weder als Frauen noch als Mütter, und solchen gegenüber vertritt sowohl der Verfasser des Artikels wie auch die Redaction ganz entschieden das in Nr. 39 Ausgesprochene. Fr. Gerstäcker.
gingen ferner bei uns ein: E. K. in Lehesten 4 Thlr.; S. L. in Schwerin 2 Thlr.; Panzner jun. in Glauchau 10 Thlr.; Thury aus Genf 5 Thlr.; B. in Dippoldiswalde 2 Thlr.; Lewy-Hoffmann und Marie L. H. in Kötzschenbroda 3 Thlr.; Advocat Thiel in Bautzen 3 Thlr.; Sammlung des Gesangvereins Harmonia in Sebnitz 3 Thlr. 2 1/2 Sgr.; Alex. Wiede in Leipzig 15 Thlr. Die Redaction.
Inhalt: Das Erkennungszeichen. Novelle von A. Godin. – Aus der schwäbischen Dichterwelt. Von G. Arnold. Mit Abbildung. – Die Staßfurter Salzlager. Von Professor Dr. K. Birnbaum. – Rückblicke auf meine theatralische Laufbahn. Von Franz Wallner. 1. Ein Verlorener. – Ein Zugstück der Thiergärten. Von Brehm. Mit Abbildung. – Curir-Schwindeleien. Ueber Haut- und Schönheitsmittel. Von Bock. – Blätter und Blüthen: Frauen-Emancipation. Von Fr. Gerstäcker. – Für die Wasserbeschädigten in der Schweiz.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: in