Die Gartenlaube (1869)/Heft 39

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[611]

No. 39.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Verlassen und Verloren.

Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.
(Schluß.)


15.

Benedicte legte ihre Hand auf Wilderich’s Arm. Sie gab ihm einen Wink, ihr zu folgen, und führte ihn hinaus, hinauf in ihres Vaters Wohnzimmer.

„Kommen Sie hierher,“ sagte sie dort, „ich mochte nicht die Freude meiner Stiefmutter durch mein Bleiben stören; es hätte ihr diesen Augenblick vergällen müssen, wenn ich dabei gestanden … wenn sie in meinen Augen den Triumph, so wider sie gerechtfertigt zu sein, hätte lesen und die Reue fühlen müssen, die mein Anblick ihr einflößen muß …“

„Das ist ein Gefühl, welches Ihrem Herzen Ehre macht, Benedicte,“ antwortete Wilderich, „und mir machen Sie eine große Freude, indem Sie mir erlauben, Sie noch einmal, bevor ich aus diesem Hause scheide, zu sprechen …“

Benedicte reichte ihm bewegt die Hand.

„Glauben Sie denn, ich würde Sie ziehen lassen, bevor wir uns ausgesprochen? Setzen Sie sich da, in den Sessel, und nun hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe.“

Sie nahm neben ihm in dem Sopha Platz, stützte das Kinn auf den Arm und fuhr fort:

„Ich weiß, daß Sie ein edler Mensch mit einer reinen Seele sind, Wilderich; deshalb kann ich zu Ihnen reden, wie ich reden werde … Sie dürfen mich aber nicht unterbrechen, bis ich zu Ende bin … Sie müssen mich Alles sagen lassen, damit Sie mich ganz verstehen … versprechen Sie mir das?“

Wilderich nickte mit dem Kopfe, sie mit großen gespannten Augen ansehend.

„Wenn man,“ fuhr sie leise fort, „so verlassen und verloren in der Welt gestanden hat wie ich, gedrückt vom Bewußtsein einer Schuld – denn es war doch eine, daß ich dem Vaterhause entlief – und unter dem Verdachte, eine viel größere begangen zu haben, dann lernt man das Leben ernst zu nehmen und fühlt eine große Sorge und Angst auf sich ruhen bei Allem, was man beschließt, denkt und vorhat. Ich ängstige mich vor den Worten, welche Sie jetzt zu mir sprechen wollen, vor Dem, was diesen Worten folgen wird, und vor der ganzen Zukunft. Ich sehe nur dann ein Heil voraus für diese, für unsere Zukunft, nur dann ein ungetrübtes Glück, wenn nicht Sie, sondern wenn ich jetzt spreche … Wilderich, ich liebe Sie, und,“ fügte sie ernst und ohne alle Verlegenheit, aber leise weiter redend hinzu, „ich werbe um Ihre Hand … versagen Sie mir diese, so würde ich auf ewig unglücklich sein, unglücklicher, als ich je gewesen … ich weiß wenig von Ihren Verhältnissen, aber mögen diese sein wie sie wollen, können Sie mir im entferntesten Winkel der Erde nur einen stillen Platz neben einer freundlichen Heerdflamme einräumen, so nehmen Sie mich auf, lassen Sie mich Ihr Weib werden, ich werde glücklich sein, beneidenswerth glücklich, und werde meinen letzten Blutstropfen hergeben, um Sie glücklich zu machen.“

„O mein Gott,“ rief Wilderich, bestürzt vor diesem Glück, das ihm so überwältigend entgegenkam, aus, „das sagen Sie, Sie, Benedicte, mir, der es kaum gewagt hätte, Ihnen zu gestehen, welchen Himmel ich darin sehe …“

„Sie hätten es kaum gewagt,“ antwortete sie mit sanftem Lächeln, während er vor ihr niederkniete und ihre Hand mit den beiden seinen umschloß, „aber Sie hätten es endlich doch gewagt … und dann, dann hätte ich freudig Ja gesagt, und ich wäre Ihnen gefolgt, Wilderich, in Ihr stilles verfallenes Forsthaus … und dort, dort würden Sie sich erinnert haben, daß ich ein verwöhntes Kind aus einem üppigen Patrizierhause bin, und es würde Sie gequält haben, daß Sie mir die Umgebung nicht schaffen konnten, die ich im Vaterhause gehabt, daß Sie mich entbehren lassen müßten, und Ihre Liebe würde in ihrer Demuth nicht glauben, daß sie diese Entbehrungen aufwiegen könne, und würde sich diese Entbehrungen hundertfach vergrößert vorgestellt haben … ist es nicht so?“

Wilderich sah sie verwundert an.

„Gewiß, gewiß,“ fuhr sie eifrig fort, „so wäre es gekommen und es hätte unser ganzes Glück zerstören können … und sehen Sie, darum habe ich gesprochen, ich, ich werbe um Ihre Hand, Wilderich, ich verlange Ihnen zu folgen, wohin auf Erden Sie mich führen. Wollen Sie mir Ihre Hand gewähren?“

„Sie sind das engelhafteste Wesen auf der Welt, Benedicte,“ sagte er; „haben Sie wohl auch bedacht, daß, wenn Sie Einem, das unser Glück stören könnte, so vorgebeugt haben, Sie ein Andres in meiner Seele heraufbeschwören, das mein Glück schlimmer bedroht? Und das ist der Gedanke: wie bin ich eines solchen Engels würdig, wie kann ich ihr je lohnen …“

Sie unterbrach ihn mit heiterem Lächeln.

„Ach,“ sagte sie, „vor diesem Wurm in unserem Zukunftsglück fürchte ich mich nicht! Sie werden bald sehen, daß ich weiter nichts bin als Ihr sehr irdisches, schwaches, der Leitung bedürftiges, aber treues Weib. Und wollen Sie mich so, Wilderich?“

[612] Er zog sie stürmisch, überselig an sein Herz.000

Minuten und Stunden waren verflossen, es war dunkel geworden in dem Wohnzimmer des alten Schöffen, und noch immer war dieser nicht zurückgekehrt.

Benedictens Unruhe darüber war immer höher gestiegen. Wilderich entschloß sich jetzt, den General aufzusuchen und ihn an sein Wort zu mahnen. Aber der General war nicht in seinen Zimmern. Er war ausgegangen, kurz nachdem er Marcelline verlassen und Wilderich und Benedicte mit dem Kinde gekommen. Wilderich fragte die Soldaten, die Diener, Niemand wußte, wohin er gewollt, er hatte seinen Adjutanten mitgenommen und war schweigend gegangen, ohne zu sagen, wann er wiederkehre.

Wilderich kam der Gedanke, daß er selbst zum Eschenheimer Thore gegangen sein könne, um die Freilassung des Schultheißen anzuordnen. Um sich davon zu vergewissern, verließ er jetzt das Haus und wanderte durch die Eschenheimer Gasse zum Thore. Als er an diesem angekommen, redete er die unter dem Thorweg auf- und abwandelnde Schildwache an, er fragte, ob der Commandant da gewesen? Der Mann gab, obwohl Wilderich ihn französisch angeredet, keine Antwort. Ein Sergeant, der innerhalb der in’s Wachtzimmer führenden offenen Thür lehnte, fragte ihn dagegen:

„Was wollen Sie beim Commandanten? Haben Sie ihm etwas zu melden?“

„Nicht das … ich habe Grund anzunehmen, daß er hier gewesen … wegen des gefangenen Schultheißen …“

„Wegen des Schultheißen? Und was sollte der Commandant sich mit dem alten Verräther zu schaffen machen, der in einer Stunde vor das Kriegsgericht gestellt wird …“

„Vor das Kriegsgericht … der Schultheiß?“ stammelte Wilderich entsetzt.

„Ich habe Ordre, ihn hinführen zu lassen!“ entgegnete der Sergeant.

„Unglaublich … das wäre …“

„Nun, was wäre es?“ fragte der Sergeant, Wilderich argwöhnisch fixirend.

„Ich kann es nicht glauben – es kann nicht wahr sein,“ versetzte dieser sich fassend.

Der Sergeant wandte sich ab.

„Gehen Sie um acht in den Römer,“ sagte er, „und Sie werden sehen, wie viel Federlesens man mit dem alten Schuft macht, der im Einverständniß mit dem Feind stand …“

Dabei kehrte der Franzose Wilderich den Rücken zu und trat in die Wachtstube hinein.

Der Letztere konnte nicht mehr zweifeln an der Wahrheit dessen, was er vernommen. In furchtbarer Erregung eilte er zurück. Er stürzte in das Haus des Schöffen, er verlangte stürmisch, Benedicte zu sprechen, als man es ihr gesagt, kam sie die Treppe herab und rief ihm in ängstlicher Spannung entgegen:

„Was ist geschehen … welche Nachricht bringen Sie?“

Er reichte ihr die Hand, war aber im ersten Augenblick seiner Worte nicht mächtig.

„Eine Schreckensnachricht … eine furchtbare … o, kommen Sie zu Ihrer Mutter, zu Ihrer Mutter … sie allein kann helfen! –“

Benedicte wandte sich, zitternd und leichenblaß geworden, zu Marcellinens Zimmer; sie öffnete die Thür vor ihm und Beide standen im nächsten Augenblick vor – Duvignot.

Er stand in der Mitte des Zimmers, die Hände auf den Rücken gelegt, mit düstern, wie von Ingrimm verzerrten Zügen … er schien eben heimgekehrt, eben erst Marcellinens Zimmer betreten zu haben; sie selbst war nicht da, aber sie kam gleich nachher, als sie die laute Stimme Wilderich’s vernahm, herein, in der offenen Thür zu ihrem Nebenzimmer stehen bleibend und erschrocken auf die Gruppe vor ihr blickend.

„General!“ rief Wilderich in seiner furchtbaren Erregung dicht vor Duvignot tretend aus, „hab’ ich Ihr Wort, das Wort eines Soldaten, das Ehrenwort eines Mannes, oder hab’ ich es nicht?“

„Was wollen Sie?“ fragte Duvignot auffahrend.

„Was ich will? Ihre Antwort auf meine Frage!“

„Sie sind sehr verwegen, junger Mann, es hat noch nie Jemand so mit dem General Duvignot gesprochen, und …“

„General Duvignot hat auch wohl noch nie Jemandem sein Wort gebrochen, und ihm ein Recht gegeben, so zu reden! Sagen Sie mir, daß man mich belogen hat, als man mir mittheilte, der Schultheiß werde heute noch, in der nächsten Stunde noch, vor ein Kriegsgericht gestellt!“

„Gerechter Himmel!“ rief Benedicte hier aus.

Marcelline faßte an die Einfassung der Thür, auf deren Schwelle sie stand, um sich aufrecht zu erhalten.

„Man hat Sie nicht belogen,“ erwiderte Duvignot. „Das Verfahren war einmal eingeleitet, es mußte seinen Weg gehen – was kann ich ändern daran?“

„Elender Heuchler!“ rief hier Marcelline, „Du bist allmächtig in der Stadt und willst glauben machen …“

„Glaubt, was Ihr wollt!“ sagte Duvignot achselzuckend.

„Sie gaben Ihr Wort, General, wenn ich das Kind bringe…“

„Ich gab nichts, gar nichts,“ fiel ihm Duvignot barsch in’s Wort, „ich versprach nichts ausdrücklich, nichts, was ich nicht versprechen konnte!“

„Bei Gott, General, Sie gaben es, und ein Schuft nur bricht sein Wort!“ fuhr Wilderich seiner nicht mehr mächtig vor furchtbarer innerer Empörung auf.

Duvignot blickte ihn an, blaß vor Wuth.

„Das wagen Sie mir zu sagen,“ antwortete er leise und wie von seiner Wuth halb erstickt … „Sie, der Sie ein Spion sind, den ich geschont habe, den ich aus Nachsicht und Edelmuth vergessen zu haben affectirte … zum Teufel, Herr, ich kann Sie gerade so gut wie jeden Andern vor das Kriegsgericht und vor ein Peloton mit sechs Flintenläufen schicken, die Sie stumm machen werden.“

„Also das ist Ihre Antwort, Ihre letzte,“ sagte jetzt ruhig und stolz ihn anblickend Wilderich, und wandte sich dann rasch zu Benedicten, um sie zu umfassen, da sie schluchzend zusammenbrach, während Marcelline starr auf den General schaute, als stände eine Gestalt des Schreckens, etwas ganz Furchtbares und in seiner Entsetzlichkeit nie Gesehenes vor ihr.

„Benedicte, verzweifle nicht, halte Dich aufrecht, es ist nicht Alles verloren!“ rief Wilderich dabei aus, „glaub’ mir! Ich werde thun, was ich kann, und …“

„Was wirst Du thun, Wilderich?“

„Gehn, Deinem Vater beizustehen … wird er vor das Kriegsgericht gestellt, so werde ich mich demselben auch stellen. Ich werde ihn vertheidigen … ich allein kann es, ich allein kenne seine Unschuld, ich allein wäre der Schuldige, wenn hier eine Schuld wäre, ich allein kann enthüllen, weshalb den Schultheißen dieses Schicksal trifft – weshalb General Duvignot ihn in den Tod senden will … der Himmel wird mir die rechten Worte auf die Zunge legen, diese Menschen zu rühren!“

„O mein Gott, hoffen Sie doch das nicht!“ rief hier Marcelline, „Sie rennen in Ihren Untergang!“

„Mag sein … aber es soll mich nicht abhalten … ich werde Alles, Alles sagen, was ich weiß, General …“

„Thun Sie das,“ antwortete dieser, ihn mit seinen flammenden Wuthblicken durchbohrend, „stellen Sie sich dem Kriegsgericht nicht bloß als Spion, sondern auch noch als Verleumder des General-Commandanten vor – man wird desto mehr Schonung für Sie haben, davon seien Sie sicher!“

„Du hörst es – o Du hörst es, Wilderich,“ beschwor ihn Benedicte, „Du gehst nur ebenfalls in den Tod!“

„Gut denn, für meine Pflicht … für Deinen Vater …“

„Glauben Sie,“ rief Duvignot dazwischen, „Sie wären nicht, was Sie auch sagen könnten, verloren? … verloren, weil man Sie als einen der Rädelsführer der Bauern erkennen wird? Meinen Sie, wir wüßten nicht, wer uns in den Spessartpässen hinterrücks überfallen und abgeschlachtet hat, meinen Sie, wir hätten uns nicht für ein späteres Strafgericht die Anführer gemerkt?“

Wilderich antwortete ihm nicht.

„Lebe wohl, Benedicte!“ sagte er leise und weich, während ihm Thränen in die Wimpern traten, zu dem jungen Mädchen, es an seine Brust schließend, „ich habe geglaubt, die Zukunft läge wie ein Himmel vor mir … und jetzt … jetzt reißt das Schicksal uns so auseinander … aber ich war ja glücklich … eine Stunde lang … vielleicht ist’s genug für ein Menschenleben … und denk’ an mich … Benedicte, denk’ an mich, wenn … doch nein, nein, wozu das Alles, wozu das Herz sich schwer machen; hoffe, hoffe, vielleicht kehre ich zurück – Du hast so viel gelitten, [613] der Himmel kann Dir nicht auch das noch zufügen, Menschen können Erbarmen haben.… Lebe wohl!“

Er riß sich aus Benedictens Armen, die ihn krampfhaft umschlangen, los, er ließ sie sanft auf den Boden gleiten, auf den sie halbohnmächtig niederglitt, und stürzte davon.

„Der Thor!“ knirschte Duvignot ihm wüthend nach, „mit ihm wird man kein Erbarmen haben – über eine Stunde werde ich sein Leben, wie das des Andern in jedem Momente, der mir beliebt, vernichten, ecrasiren können – und bei Gott, Marcelline, ich werde es thun, ich werde es, Du weißt allein, was mich abhalten kann und wird, diese Todesurtheile zu unterschreiben.“ …

„Ich weiß es,“ erwiderte Marcelline, die gebrochen zusammengesunken in ihrem Sessel lag. zu dem sie sich geschleppt hatte, „ich weiß es, und …“

„Was ist das?!“ unterbrach Duvignot sie, plötzlich aufbrechend und erblassend … „alle Teufel, was ist das?“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, eilte er hinaus.

Wilderich war unterdeß davongestürzt, die Treppe hinab, zum Hause hinaus – er wußte, daß er keinen Augenblick zu verlieren hatte, wenn er um acht Uhr an der Stelle sein wollte, wo das Kriegsgericht gehalten wurde … er hatte zehn Minuten nöthig, um bis zum Römerberg zu kommen – als er auf die Zeil hinauskam, hob auf dem Katharinenthurm ihm gegenüber die Uhr aus, den ersten Schlag von acht zu thun – zugleich aber wurde die Luft durch eine dumpfe Detonation erschüttert … es schien ein Kanonenschlag … noch einer … dann, nach einer Pause, wieder einer … heller und stärker zitterte es durch die dunkle Abendluft! Weit oben, nach dem Allerheiligenthor hin, wurde getrommelt … fern vom Roßmarkt her wurde Schreien und Rufen hörbar … jetzt auch wurde an der nahen Hauptwache getrommelt … und, was geschlagen wurde – Wilderich kannte sehr wohl die Bedeutung dieses Tacts auf dem Kalbfell – was geschlagen wurde, das war das ça-ira, das war der Generalmarsch der Republikaner.

Dazwischen dröhnte das Schießen fort … und – irrte sich Wilderich darin, war es eine Täuschung, hervorgerufen durch sein so stürmisch durch die Adern der Schläfen gepeitschtes Blut? – aber es war ihm, als spräche so nur der Mund österreichischer Kanonen, als kämen diese Geschützschläge aus den schweren deutschen Rohren!

Das Geschrei vom Roßmarkt her wurde stärker, lauter – ein Menschenhaufen hatte sich da zusammengeballt, er kam heran und drängte näher und näher – er vergrößerte sich von allen Seiten … dann theilte er sich, eine Hälfte blieb vor der Hauptwache, in einer gewissen respectvollen Entfernung … die andere Hälfte wälzte sich die Zeil hinauf. … Wilderich verstand jetzt dies Rufen, dies „Hurrah“, dies „die Kaiserlichen sind da, der Prinz Karl ist da!“ – er drängte sich in den Haufen hinein, er fragte, er rief, aber es wurde ihm schwer, eine verständliche zusammenhängende Antwort von einem der wie trunken von Freude und Ingrimm zugleich berauschten Menschen zu erhalten.

„Jetzt holt sie der Teufel, jetzt holt sie alle der Teufel, wenn sie nicht machen, daß sie fortkommen, das Räuberpack, die Canaille, die Hundsfötter … der Prinz Karl ist da … von Offenbach her, wie das Wetter sind die Szekler-Husaren in Sachsenhausen hinein – die Kanonen fegen mit Kartätschen die Mainbrücke rein – hurrah die Kaiserlichen, hurrah die Weißröcke!“

Die Rufe erstarben im Gedröhn der Trommeln, die zwischen einer starken Escorte jetzt die Zeil hinauf sich bewegten, um den Generalmarsch in allen Hauptstraßen ertönen zu lassen.

„Gott sei gedankt!“ rief Wilderich, vor dem wilden Jubel in seinem Innern kaum seiner Sinne mehr mächtig, und seine Stimme erhebend, rief er aus: „Dann ist’s auch mit dem Kriegsgerichthalten und Füsilirenlassen am End’ – Ihr Leute, es giebt dann Besseres zu thun, als hier Hurrah zu schrein – gehen wir zum Römer, da soll eben der Schultheiß Vollrath gerichtet werden – reißen wir ihn den Franzosen aus den Händen, bringen wir ihm die Freiheit, bringen wir ihn im Triumph zu den Seinen zurück!“

Es brauchte nur in die stürmisch bewegte Masse solch ein Gedanke geworfen zu werden, um sie dafür zu begeistern … sie verlangten nichts Besseres, als eben eine That, etwas Gewaltsames, eine stürmische Kraftäußerung, um sich darin auszutoben.

„Hoch der Vollrath! hurrah, zum Römer! hoch der Schultheiß!“ schrie es sofort von allen Seiten; Alles stürzte sich nach einer Richtung, Alles, was sich aus allen Häusern auf die Straßen ergoß, die Männer, die Weiber, die Kinder, warf sich in den Strom.

Auf halbem Wege zum Römer aber staute sich plötzlich dieser Strom. Vom Römerberge her kam ein anderer Haufe ihnen entgegen … mit denselben Hurrahs, denselben Rufen … sie hatten den Schultheiß in ihrer Mitte; sie hatten ihn aus dem Saale geholt, sie hatten das Triumphgeleite, zu dem Wilderich aufgefordert, längst gebildet … das Kriegsgericht hatte bei den ersten Alarmrufen, noch bevor es begonnen, sich aufgelöst; die Officiere, die Soldaten, Alles war zersprengt, in wilder Hast auseinandergelaufen, zu seinen Truppentheilen, seinen Sammelplätzen zu kommen; den Angeklagten hatte man sich selber überlassen und denen, die, als Zuschauer zu den Verhandlungen des Gerichts gekommen, ihn jetzt umjubelten.

So wälzte sich denn nun eine dichtgedrängte, tosende Volksmenge der Zeil wieder zu – in deren Mitte der Schultheiß Vollrath, halb getragen, nur noch halb seiner Sinne mächtig nach allen Erschütterungen der letzten Tage, nur halb noch lebend einherschwankte.

Als Wilderich die Ecke der auf die Zeil mündenden Straße erreichte, sah er, über Haufen vorüberrennender, nach ihren Sammelplätzen eilender Franzosen fort, eine Gruppe von vier oder fünf Reitern drüben vor dem Hause des Schultheißen halten. Sie setzte sich eben in Bewegung – es war Duvignot mit seinen Adjutanten und Officieren. Wilderich hat ihn nie wiedergesehen. Sie waren so blitzschnell, diese Franzosen – als ob für einen Augenblick wie dieser Alles von ihnen vorgesehen und vorbereitet gewesen; in unglaublich kurzer Zeit waren die einzelnen Truppenkörper zusammen und in guter Ordnung zogen, Munitionscolonnen und Artillerie zuerst, dann die Gepäckwagen, die Cassen- und Proviantwagen, endlich die Bataillone und die Schwadronen durch das Eschenheimer und das Friedberger Thor ab, gen Norden in die Herbstnacht hinaus.

Wilderich sah, wie der Volkshaufe den Schultheiß in seine Wohnung geleitete, wie dieser darin verschwand, wie vor seinem Hause noch lange die versammelte Menge ihre Rufe, ihre Hochs schrie. Er hatte sich todtmüde, tief erschöpft auf einen Prellstein vor dem Portal der Katharinenkirche gesetzt. Da sah er des Schultheißen, Benedictens, seiner Benedicte Haus vor sich – sah, wie die Lichter hinter den Fenstern schimmerten, sah auch Gestalten sich bewegen, leichte Schatten, die hinter den herabgelassenen Vorhängen herglitten. Er sah und hörte das Gerassel und den Lärm der abziehenden Truppen; sah auch, wie die Oesterreicher fast auf dem Fuße ihnen nachrückten; die Eclaireurs mit den gespannten Faustrohren in der Hand, langsam an den Trottoirs entlang reitend, vorauf, dann lange Züge von Szekler-, von Kaiser-Husaren, dann schwer rasselnde Geschütze, dann weiß durch die Nacht schimmernde, schwerwuchtig und müde daher marschirende Fußvölker; er sah, wie sie Halt machten und sich anschickten zu bivouakiren, und wie das Volk ihnen jubelnd zutrug, was es für sie nach all’ den Plünderungen noch hatte, um sie zu speisen und zu tränken und zu betten.

Wilderich saß lange, lange so da. Es war, als ob ihn etwas festgebannt hätte an die Stelle, als ob ihm die Glieder gelähmt sein würden, wenn er aufstehen und sich bewegen wolle. Er fühlte die Kraft nicht, sich zu erheben und hinüber zu gehen in jenes Haus dort, in dem doch seine ganze Seele war. Er konnte es nicht über sich gewinnen, über jene Schwelle zu treten – jetzt – jetzt – wo dort ein Glück herrschen mußte, das er sich scheute zu theilen, als ob er desselben nicht würdig wäre – er, der so wenig gethan an dem Allen, so nur das Einfache, Natürliche, das Jeder gethan hätte, und der so überschwänglichen Lohn dafür erhalten!

Es war ein eigenthümliches Gefühl, das ihn abhielt, da zu erscheinen, wo man seinen Namen rief, nach ihm suchte, ihn herbeisehnte, ihn verlangte. Aber es war zu mächtig in ihm – diese Blödigkeit eines tief- und feinfühlenden Herzens.

Die Morgensonne, als sie über den Dächern der befreiten Stadt aufstieg, sah ihn auf dem Lager eines Zimmers im „Grauen Falken“ im tiefen Schlummer[WS 1] furchtbarster Ermüdung.




[614] Es war spät, sehr spät, als er endlich erwachte und sich erhob. Er sah, wie hoch bereits die Sonne stand, und kleidete sich hastig an.

Als er fertig war, als er das längst kaltgewordene Frühstück, das der Hausknecht schon vor einer Stunde gebracht und auf den Tisch gestellt, schnell zu sich genommen, hielt ihn nichts mehr ab zu gehen … zu Benedicte zu gehen, zu dem Hause, welches Alles einschloß, das ihm theuer war.

Und doch ging er nicht. Er setzte sich auf den Rand seines Bettes und versank in Gedanken … in Sinnen und Träumen mehr als in Gedanken.

Was hielt ihn zurück? Hatte er nicht in die Arme der Mutter ihr Kind zurückgeführt? hatte er nicht Benedicte gerechtfertigt, hatte er nicht sein Leben dahin geben wollen, im Versuche, das Leben des Hausherrn zu retten? …

Das aber war es eben … eine unüberwindliche Scheu der Bescheidenheit und der Demuth ließ ihn zurückschrecken vor dem Augenblick, wo sein Gesicht vor jenen drei Menschen auftauchte und sie in seinen Mienen lesen würden: da bin ich – und nun dankt mir, und gebt mir zum Lohne das Beste, was Ihr habt, Euer Kind, Eure Tochter, diesen Engel, dessen Niemand, Niemand auf Erden würdig ist, gebt sie mir, dem armen Revierförster aus dem Spessart!

Mußte es denn so sein? Konnte er nicht heimkehren und an Benedicte schreiben? Dann behielt ja auch diese Zeit, sich die Zukunft, welche ihrer an seiner Seite harrte, klar zu machen und …

Wilderich spann sich eben in diesen Gedanken ein, als er auf der Treppe vor seinem Zimmer einen schweren Männerschritt vernahm und dazu einen leichteren, beflügelteren; dann wurde die Thür zu seinem Zimmer, ohne daß man anklopfte, geöffnet – der Sachsenhäuser war es, der hereinschaute und sich dann zurückwandte:

„Aus den Federn ist er … Sie konnen herein treten, Demoiselle,“ sagte er. Im nächsten Augenblick stand Benedicte vor Wilderich – sie legte ihre Hände auf seine Schultern, um ihn am Aufstehen zu hindern, sie sank auf ihre beiden Kniee vor ihm, faßte seine Hände und drückte sie an ihre glühenden Wangen.

„Endlich gefunden … o mein Gott, Wilderich, wo warst Du?“ rief sie aus. „Welche Angst ich um Dich hatte … Du kamst gestern nicht zurück, Du kamst heute nicht – da machte ich mich auf, Dich zu suchen – ich hatte Leopold mit Dir aus diesem Hause geholt – so suchte ich Dich hier zunächst … mein Gott, wie konntest Du mich allein, in solcher Sorge um Dich lassen?!“

„Du hast Recht, Benedicte!“ antwortete er, „ich … ich war wohl ein Thor … ich war ängstlich, ich dachte, ich verdiente Dich nicht, und … wie konnte ich gehen, Dich von den Deinen zu fordern … Dich, Benedicte …“

„O wohl, wohl warst Du ein Thor. … Verdienen! welch ein häßliches Wort das ist!“

„Ja, ja, ich fühl’s … es ist häßlich; nun ich in Deine Augen sehe, fühl’ ich’s … ich gehöre Dir, Du gehörst mir, wir sind ein Leben – ein einziges untrennbares Leben – ist es so?“

„So ist es, Wilderich!“

„Wer fragt nach dem Verdienst! Verdient die Brust das Herz, das in ihr schlägt?“

Sie sprang auf, erfaßte seinen Kopf mit beiden Händen, drückte einen Kuß auf seine Stirn und schaute ihm lange tief in die Augen.

„Das halte fest,“ sagte sie dann, „das Wort! Und nun kein andres mehr darüber. Komm. Komm zu den Meinen!“

Wilderich folgte ihr.

Wenn er gewähnt hatte, daß in dem Hause des Schultheißen Vollrath ihn eine Scene erwarte, die ihn beschämen und niederdrücken werde, so hatte er geirrt.

Schon beim Eintritt in das Haus wurden er wie Benedicte überrascht durch eine gewisse Aufregung, welche da zu herrschen schien … es standen österreichische Officiere unten im Hausflur in einer Gruppe zusammen, auf der Treppe standen flüsternd die Diener des Hauses – einer von ihnen kam eilig Benedicten entgegen.

„Der Erzherzog ist droben,“ sagte er, „bei dem Herrn Schultheiß … ich soll Sie gleich zu ihm führen, wenn Sie zurückkämen …“

„Der Erzherzog … bei meinem Vater?“ rief Benedicte aus, „welche Freude … auch er wird jetzt nicht tänger an mir zweifeln dürfen!“

Benedicte und Wilderich wurden von dem Diener in dasselbe Zimmer, aus dem Duvignot so plötzlich abziehen mußte, den Empfangssalon des Hauses geführt … sie erblickte den Erzherzog, neben Frau Marcelline vertraulich plaudernd auf dem Sopha sitzend – ihr Antlitz war wie mit Schamröthe übergossen, während der Erzherzog so harmlos sprach, als seien alle bitteren Worte, welche diese Frau ihm einst entgegengeschleudert, völlig von ihm vergessen. Der Schultheiß saß zur Seite – er erhob sich, als die jungen Leute eintraten, um sie dem Erzherzog vorzustellen.

„Wir kennen uns, wir kennen uns!“ unterbrach dieser ihn mit freundlichem Lächeln, „nicht wahr, mein Kind?“ und dabei reichte er Benedicten die Hand. „Was diesen jungen Forstmann angeht, so hat ja er gerade mir den Brief abverlangt, der Sie in so großes Unheil gebracht hat. Ich bin eben hier, um Ihrem Vater meine Theilnahme auszudrücken und ihm Glück zu wünschen,“ fuhr der Erzherzog sich an Benedicte wendend fort, „daß er diesem Unheil entgangen …“

„Dank Eurer königlichen Hoheit,“ fiel der Schultheiß ein.

„Nun ich hatte Sie am Ende in diese schreckliche Lage auch ein wenig hineingebracht … oder vielmehr dieser Unglücksmensch, dieser Förster hier, der meinen Brief so unklug bestellte, wie Sie mir eben erzählt haben. Aber Gott hat ja Allem eine gute Wendung gegeben und so will ich auch diesen jungen Mann, den wir im Spessart wacker an der Arbeit gesehen haben, und dem wir zum Danke verpflichtet wurden, Ihrer Nachsicht und Verzeihung empfehlen, mein lieber Schultheiß!“

Der Schultheiß nickte lächelnd mit dem Kopfe.

„Die Nachsicht und Verzeihung ist ihm bereits geworden,“ antwortete er, „meine Tochter hat mir angekündigt, daß sie ihn mir zum Schwiegersohne erkoren – was bleibt da einem gutmüthigen ‚deutschen Hausvater‘ übrig, als …“

„Ah,“ rief der Erzherzog aus, „Ihre Tochter ist die Braut unsres Forstmannes, und will ihm in seinen öden Spessart folgen? In diese stillen armen Thäler? Hören Sie, das gefällt mir nicht!“

„Aber mir, königliche Hoheit!“ erwiderte Benedicte jetzt mit verlegenem Lächeln und tiefem Erröthen.

Der Erzherzog sah sie an und blickte dann auf die stattliche Gestalt Wilderich’s. Er schwieg eine Weile, nachsinnend, dann sagte er zu Wilderich:

„Gehen Sie mit uns. Wir haben noch ein tüchtig Stück Arbeit für muthige Männer. Noch ist der deutsche Boden nicht frei. Noch ist die Rheinarmee Moreau’s durch die Schwarzwaldpässe und über die deutschen Grenzen zu werfen. Ich kann Leute, die sich wie Sie als Führer bewährt haben, gebrauchen. Als Diplomat freilich,“ fügte er lächelnd hinzu, „wären Sie nur mit einiger Vorsicht zu verwenden. Aber wie wär’s, wenn ich Ihnen eine Officierstelle bei einem Jägerregimente gäbe, mit der Aussicht auf eine Compagnie nach der ersten Action, und so weiter? Sie schauen besorgt darein, Demoiselle Benedicte? Seien Sie ruhig – er hat Glück, dieser junge Mann, das lese ich in seinen Zügen, und wenn er einst ein großer General ist, werden Sie mir’s danken!“

„O gewiß, Königliche Hoheit,“ fiel der Schultheiß erfreut ein.

„Was denken Sie?“ wandte der Erzherzog sich wieder an Wilderich.

„Ich bitte Eure Hoheit, mir gnädig zu bleiben, wenn ich diese Güte ablehne.“

„Sie wollen nicht?“

Wilderich schüttelte den Kopf und antwortete:

Wenn ich in meinem Spessart bleiben möchte, so ist es nicht allein der Wunsch, mich von dem Glücke nicht zu trennen, das ich eben gefunden habe. Ich habe die Waffen wider den Landesfeind nur ergriffen, wie es, mein’ ich, jeder deutsche Mann zum Schutz und für die Freiheit des Vaterlandes muß. Man soll dazu deutschen Männern nur vertrauen, in der Stunde der Gefahr werden sie da sein! Aber zum Soldaten taugt solch ein an’s freie Waldleben gewohnter Mensch wie ich nicht … lassen Eure Hoheit mich im Schatten meiner Buchen!“

„Nun,“ versetze der Erzherzog ihm die Hand reichend, „dann vergessen Sie in der Einsamkeit Ihrer Buchenschatten nicht, daß Sie einen Freund an mir haben!“

Er erhob sich.

[615]

Ein Wahltag im bairischen Gebirge.
Nach der Natur aufgenommen von Julius Nörr in München.

[616] „Ich muß scheiden, mein lieber Schultheiß … meine Zeit ist gemessen,“ sagte er. „Gott erhalte Sie und die Ihren, Gott erhalte Deutschland seine treuen und starken Männer, daß wir die Stürme, die noch kommen mögen, siegreich bestehen und einst so ruhig und glücklich darauf zurückblicken mögen, wie Ihr Haus es auf die Tage kann, die nun hinter Ihnen liegen!“

„Und Gott,“ flüsterte, während er vom Hausherrn und Wilderich geleitet ging, Marcelline still für sich, „Gott erhalte auch ihn – während er die Vaterstadt und meinen Gatten befreite, wurde ja auch ich frei von dem grauenhaftesten Irrthum und der entsetzlichsten Verirrung, die je ein armes schwaches Weib gefangen hielten!“




Die Wahltage im bairischen Gebirg.
Mit Abbildung.

Der Zusammentritt der bairischen Kammer, welcher vor Kurzem stattfand, lenkt die Aufmerksamkeit von neuem auf die Tage ihrer Wahl zurück. Eigentlich lebt man in Baiern still: das Naturell der Bewohner ist ein behagliches, die Physiognomie des Landes eine friedliebende. Ganz besonders gilt dies für Südbaiern, wo der Landbau vorherrscht, wo man den regsamen Lärm und die Strapazen der Industrie weit weniger kennt, als in Franken. Dennoch ist der letzte Frühling auch hier ein stürmischer gewesen: eine eigenthümliche Erregtheit, ein fast nervöser Zug ging durch das öffentliche Leben. Wer nur ein mäßiges Feingefühl für die öffentliche Stimmung besaß, der mußte dies fühlen, der mußte bemerken, daß die Atmosphäre entzündlicher geworden war. Dichter als sonst war der politische Stoff in der Luft gelagert und theilte sich auch denen mit, die am wenigsten politische Sensibilität besitzen – dem Bauernstande. So lagen die Dinge in Baiern zu Anfang Mai, als die Wahlen zum Landtag ausgeschrieben waren: die Urwahl auf den 12., die Hauptwahl auf den 20. Mai.

Wer in diesen Tagen durch die Gebirge ging, der konnte sich einem eigenthümlichen Eindruck nicht entziehen. Ueber Berg und Thal der erste Frühlingshauch. Die Luft war so licht und die Sonne so mild, blaue Blumen und keimendes Farrenkraut blühte am Wege. Auf dem Buchenzweig, der die ersten Knospen trieb, schaukelte der Fink, auf dem Boden, wo noch das Herbstlaub lag, raschelten die Thiere des Waldes. Wie klar und einfach ist dieses Werden, wie leicht sind die Athemzüge dieses Lebens! Und wie mühevoll gestaltet der Mensch sein Dasein; wie schwer und verwickelt sind die Gesetze, mit denen er Organismen schafft und die Gesammtheit zusammenhält! Dieser Gegensatz fiel scharf in die Sinne. Wenn man herauskam in’s Thal, wo die Menschen wohnen, ging eine andere Luft. Um eine Mühle, die im Thalgrund lag, war das Volk versammelt … die Schüsse krachten, die Jodler tönten, ein Festschießen ging zu Ende. Es war ein milder Abend im Mai, es war zur Zeit, wo noch keine Fremden im Gebirg weilten, wo das bäuerliche Element sich noch unbeengt und unverstellt bethätigen darf. Hier und dort standen Gruppen beisammen und ereiferten sich in lauter Rede. Man sprach von den Wahlen. Einzelne aus den älteren Männern hatten erklärt, daß sie diesmal freisinnig handeln wollten, weil sie einsähen, wie der Clerus ihre Unerfahrenheit mißbrauche. Sie sagten das ohne Erbitterung, aber mit jener starken unbiegsamen Zähigkeit, mit der der Bauer seine Entschlüsse bekundet. Mancher Neugierige schloß sich an, mancher, dem die Natur das Wort und die Gedanken versagt hatte, nickte befriedigt. Ueber der Mühle lag ein waldiger Hügel, nach welchem die kleine Schaar der Berathenden gezogen war. Hier fühlte man die stille ergreifende Mainacht, und unwillkürlich war es, als ob der Gedanke der Freiheit einen plötzlichen Zauber erhalten hätte. Grüne Matten flimmernde Sterne und dazu der schlichte Ernst der Worte, die hier gesprochen wurden, wie tief ging das zu Herzen! Mit gekreuzten Armen standen die kräftigen Gestalten im Kreise, und dann drückten sie sich die Hände und gelobten, diesmal der Freiheit die Ehre zu geben. Das war die erste Wahlversammlung, es war ein Rütli im Kleinen.

Für den nächsten Tag ward eine öffentliche Versammlung berufen, die von einigen liberalen Männern ausging, um die Candidaten zu besprechen. Als diese Absicht ruchbar wurde, da war großes Halloh unter einem Theile der „Honoratioren“. Es giebt rühmliche Ausnahmen, aber es giebt auch Bureaukraten, denen von vornherein jede Versammlung vorkommt, wie ein Skandal. Mit ungewohnter Behendigkeit liefen diese hin und wider; die ganze Phalanx der Autorität sollte aufgestellt werden gegen solche Vermessenheit. Wie man in Zeiten der Noth aus dem Zeughaus die alten Kanonen holt, so drangen sie in den Pfarrhof ein und wollten den geistlichen Herrn holen, daß er die liberale Armee mit dem Granatenfeuer seiner heiligen Flüche bombardire.

Die Versammlung bot ein merkwürdiges Bild. Seit dem Schluß der vierziger Jahre war keine politische Zusammenkunft mehr gewesen bis zur Zollparlamentswahl, die Landtagswahlen hatten ohne innere Betheiligung des Volkes stattgefunden. Und nun auf einmal in aller Ruhe und Ordnung eine liberale Versammlung!

Der Schauplatz derselben war eines jener schönen langgestreckten Häuser, wo der Weg nach vielen Richtungen sich kreuzte. Von allen Seiten kamen die Bauern in ihrer Sonntagstracht. Neugier und Spannung lag auf allen Gesichtern. Auch die Schwarzgesinnten unter den Honoratioren waren da, ein peinliches Geflüster, das dem Bewußtsein der Gegensätze entspringt, ging durch die Reihen. Endlich zog man hinauf in den großen Saal, und ein schlichter Mensch, der in der Gegend daheim war, ergriff das Wort. Er widerlegte zuerst das Lieblingsthema der Priester, als ob die Begriffe „freisinnig sein“ und „preußisch werden“ sich deckten. Aber er sei ein guter Baier und darum bitte er die Leute, sie sollten sich nicht über Preußen den Kopf zerbrechen. Die deutsche Frage wird nicht von Baiern und noch weniger von den Bauern gelöst, sondern von der Weltgeschichte. Unsere Sorge kann nur die sein, daß die Stunde der Entscheidung uns vorbereitet findet. Je tüchtiger, je freisinniger Baiern im Innern entwickelt ist, desto wohlgehaltener wird es dann aus diesen Tagen der Krisis hervorgehen.

Zu dieser inneren Entwickelung mitzuwirken ist aber der Bauernstand hervorragend berufen. Hier kann der Einzelne durch seine Stimmführung bezeugen, ob er den Nutzen freisinniger Gesetze verstehe und ob er das Beste des Landes wolle.

Auf dem Lande wird der Fortschritt vielfach verlästert, und nur weil man ihn zu wenig kennt, gilt er für ein Gespenst. Man soll ihm frisch in die Augen schauen. An der Hand der neuen Gesetze entwickelte nun der Redner, was denn der Fortschritt in Wahrheit bedeutet. Wenn im Gewerbsgesetze Jedem die Verwerthung seiner Kraft gewährt wird, so ist dies doch nicht gefährlich, und wenn das Wehrgesetz auch intelligente und vermögliche Leute unter die Waffen ruft, ist das nur gerecht. Mit der Oeffentlichkeit des Verfahrens wird die Rechtspflege unter die Garantie des Publicums gestellt; durch die neue Gemeindeordnung begiebt sich der Staat einer Vormundschaft, die ihm nicht gebührte. Jedem das Seinige. Wenn man das Facit zieht, dann kommt der Fortschritt gerade dem gemeinen Mann am meisten zu Gute. Ihm werden Lasten abgenommen, die er allein vorher getragen, und Vortheile zugewendet, die er allein vorher entbehrte. Er braucht die Bildung am meisten und darum gewinnt er am meisten, wenn sie auf eine liberale Weise dem Volke vermittelt wird. In Baiern ist jetzt ein Ministerium am Ruder, das von dieser Ueberzeugung geleitet wird, und dem die vernünftige Erziehung des Volkes eine Herzenssache ist. Was in anderen Zeiten schrittweise erobert werden mußte, wird uns jetzt als ein ganzes einheitliches Werk und aus freier Hand geboten.

Daß wir diese Reformen verstehen, daß wir annehmen, was die Zeit von uns fordert, und die Zeit uns giebt, das ist der echte Fortschritt, und in diesem liegt weder eine Gefahr für die Ruhe des Landes, noch des Gewissens.

Wir sind loyal, indem wir liberal sind. So wählt denn Männer, welch diese Grundsätze vertreten!

Nicht mit diesen Worten, aber in diesem Geiste sprach der ländliche Redner, und ein wohlthätiges Gemurmel lief durch die Reihen. Das effectvolle Bravo und die künstliche Claque, in der

[617] die Städte ihren Beifall spenden, ist auf dem Boden der Nagelschuhe noch nicht heimisch geworden; nur mezza voce äußert sich dort die Sympathie. „Ja, wenn das der Fortschritt ist,“ sagte Einer, „dann ist's ja soweit nit g'fehlt mit ihm, da sind wir ganz nahe bei einander.“ „Grad so hab' ich mir's immer vorgestellt, aber fürbringen kann ich's halt nit,“ erwiderte ein Anderer. Hier und dort nickten die Leute einander zu, es war nicht nur ein gewisses Verständniß, es war eine Stimmung geschaffen unter denselben. Sie fühlten bereits das, was sie dachten, und diese Stimmung ist der mächtigste Factor, der eine versammelte Menge beherrschen kann.

Um gegen den Strom zu schwimmen, muß man ein guter Schwimmer sein, und die Einfachheit zu besiegen, fordert vielleicht am meisten Kunst. Darauf aber sind „Honoratioren“ nicht vorgesehen. Sie hatten auf eine knüppelhafte wilde Rede gewartet, um ihren Knüppel aus dem Sack zu lassen auf eine liberale Orgie, um dann ihre „patriotischen Phantasien“ an den Mann zu bringen: die Mäßigkeit entwaffnete sie. Sie selber empfanden das, denn keiner von ihnen ergriff das Wort. Unbehaglich schoben sie sich hin und her unter der bewegten Menge, und die äußere Würde reichte nicht mehr aus, um ihr Selbstgefühl zu ernähren. Sie fühlten, daß sie innerlich unbetheiligt – d. h. daß sie überflüssig waren.

Das Schicksal der Wahl aber erschien von dieser Stunde an gesichert, denn als der 12. Mai kam, waren sämmtliche Urwahlen des Bezirkes liberal. So verlief die Agitation zum ersten Wahltag an einem der gefeiertsten Punkte des Gebirgs. Nicht überall hatte die freisinnige Partei frische Vertreter und Wortführer gefunden, und darum war Grund, daß man der Hauptwahl mit Sorge entgegensah. Sie fand am 20. Mai statt.

Denken Sie sich ein kleines Städtlein im bairischen Vorgebirge: durch die Lücken, welche die Gassen bilden, schauen die Berge herein mit tiefblauem Tannenwald. Die Häuser zu beiden Seiten der Straße sind dicht zusammengerückt, und einige stehen so schief, als ob es ihnen zu enge würde. Manche sind im alten Styl mit dem breiten Vordach und der braunen Altane, andere haben sich modern geputzt und tragen statt des verwitterten Florian ein elegantes Marienbild. Hier und dort thront ein altertümliches Thor oder ein steinerner Bogen und allenthalben ist das Pflaster entsetzlich. Das ist ungefähr die Physiognomie des Städtchens: eine seltsame Mischung von Stadt und Land. Auf dem Marktplatz steht nach alter Sitte der mächtige Brunnen, auch die Amtsgebäude stehen daselbst, und das große Wappen mit dem blauweißen Schild sieht aus, als ob die Häuser eine Dienstmütze trügen. Heute bietet die Stadt ein bewegtes Bild; alle Welt ist auf den Gassen. Auch die besagten Amtsgebäude sind in Uniform, denn eine blauweiße Flagge hängt bis auf die Erde hernieder, und die Buben springen darnach, ob sie die Zipfel erreichen können. Vor den Thüren drängen sich die Gäste – eine wahre Wagenburg ist vor den Wirthshäusern aufgefahren.

Es ist der Vorabend der Landtagswahl. Um die Vorberathungen nicht zu versäumen, sind die meisten Gäste schon Nachmittags eingetroffen, und der Conflict der Meinungen, der Wohnungs- und Nahrungssorgen erzeugt jenes liebliche Durcheinander.

Trotz des Regens stehen die Menschen in dichten Gruppen auf dem Platze. Jede Hausthür ist eine Tribüne, jeder Wirthshaussessel ein Parlamentssitz geworden. Mitten im Knäuel aber steht Einer, der in ungebundener Rede die Lage schildert und für den Gebrauch der Ellenbogen ein feines Verständniß besitzt. Beifallsrufe und Zeichen der Entrüstung unterbrechen den Redner unter seinem Regenschirmzelt, aber er läßt sich nicht unterbrechen; Neugierige aller Sorten umdrängen ihn, aber er läßt sich nicht von seinem Standpunkt verdrängen. Jeder spricht, Jeder hört auf seine eigene Weise. Der Eine hat die Pfeife im Mund, der Andere stemmt die Arme in die Seite, wasserdichte Naturen halten den Regenschirm in der Hand und sind zu faul, ihn aufzumachen. Das ist die Politik des Volkes.

Wenn man die Wahlmänner, die hier gekommen sind, von außen (und noch mehr von unten) betrachtet, so sieht man fast lauter Lederstiefel und schwarze Röcke, das heißt die Mehrzahl der Wahlmänner sind Bauern oder Geistliche, und bei manchen war es schwer, den Unterschied gleich zu entdecken.

An und für sich ist der Typus des altbairischen Landpfarrers weder unbekannt, noch zu genauerer Bekanntschaft verlockend, allein in dieser Scala wurde er wahrhaft interessant. Etwa hundert Cleriker waren hier versammelt, von der Gestalt des Falstaff herab bis zum hageren grausamen Shylock. Mit jener Zuversicht, welche bei unfeinen Naturen stets durch die Quantität erzeugt wird, wanderten sie durch die Straßen, bald in eifriger Rede, bald mit nachlässiger Güte an's Publicum sich wendend. Man fühlte, daß die Straße ein politisches Lager war, und wußte, wer das Commando in demselben besaß. Man wußte auch, wer die morgige Schlacht gewinnen würde. Hier und dort fiel die alte, vom Clerus ausgegebene Parolen „Wir wollen nicht preußisch, wir wollen nicht lutherisch werden.“ Der Parlamentär, den die Liberalen sandten, um Vergleiche zu offeriren, kam unempfangen wieder. Tapfer und rührig kämpfte die kleine Schaar, die die Fahne der Freiheit trug, aber der Sieg war den schwarzen Fahnen beschieden.

Wer hier auf der Straße stand, der konnte erkennen, wie das Volk die Politik behandelt. Der Grundfehler aber ist, daß der Begriff des Staates, daß der Sinn für’s Ganze so wenig entwickelt ist. Da der Horizont der Meisten nicht über die Sphäre ihres Hauses oder ihres Geschäftes hinausreicht, so hält Jeder dieselben Maßregeln, die im Hause nöthig sind, auch im Staate für möglich. Jedes Opfer, das der Staat ihm auferlegt, hält der Bauer nicht für ein Opfer, das er dem Ganzen bringt, sondern für eine Belästigung, für eine Chicane, die dem Einzelnen angethan wird, denn Jeder geht vom individuellen statt vom gemeinen Bedürfniß aus.

Diesen Zug haben die Geistlichen wohl erkannt und daran knüpfen sie ihre wirksamste Agitation. Allen gemeinnützigen Bestimmungen, die nicht ihrer Richtung dienen, gewinnen sie die subjective Seite ab und hemmen dadurch die Popularität derselben. So war es beispielsweise beim Schulgesetz. Auf das Heftigste wurde von Seiten des Clerus betont, welche Last hierdurch auf die Eltern, welcher Zwang auf die Familie fällt. Welche Wohlthat es aber ist für ein Land, wenn das Niveau der Volksbildung sich hebt, das ward mit keinem Worte gesagt (und vielleicht auch nicht empfunden).

Dem Clerus fehlt der staatliche Gemeinsinn. Berufs- und gewohnheitsmäßig ist er geneigt, sich mit einer Summe von Einzelnen abzugeben, der geheime Vertrauensmann ihrer Seelen zu sein. Er faßt mehr denn jeder Andere den Menschen als Individuum, und der corporative Begriff (die Vereinigung der Menschen) hat für ihn nur Interesse auf dem religiösen Gebiet. Mit einem Worte: sein Staat ist die Kirche. Bei den meisten Geistlichen wirkt schon die Erziehung in dieser Richtung; bei den wenigsten schafft die persönliche Bildung ein Gegengewicht. Deshalb lag auch der Schwerpunkt clerikaler Agitationen von jeher in der individuellen Pression. Dem Einzelnen gegenüber sind ihre Waffen am wirksamsten, denn sie sind in das feine Gift der Subjectivität getaucht.

Am Abend vor der Wahl war große Versammlung. Auf Tischen und Bänken standen die Hörer, die liberale Partei empfahl ihre Candidaten und lud zu Gegenvorschlägen in collegialer Weise ein. Bürger und Beamte, selbst Bauern traten als Redner auf aber kaum ein einziger Priester. Die geistlichen Herren agitiren nicht gern in Versammlungen, der Intelligenz des Ganzen gegenüber. Nur unter Parteigenossen, nur auf der Kanzel, wo die Einrede fehlt, streben sie nach Massenwirkung, im Verkehr des Lebens aber wenden sie sich stets an’s Ich, und das Ich ist die Achillesferse eines Jeden.

Ohne Täuschung über das, was kommen würde, ging man Abends auseinander – zur ruhelosen Ruhe. Obgleich alle Gasthäuser überfüllt waren, war man dennoch trefflich aufgehoben, denn die Bewohner des Städtchens stellten mit Freuden ihre Räume zur Verfügung. Die meisten waren wohlhabende Bürgerfamilien und die Staatszimmer des Hauses wurden heute geöffnet. An den Wänden hingen die Portraits der Eigentümer, er mit dem Blumenstrauß im Knopfloch, sie mit siedend rothen Wangen, Beide vom „Künstler“ schauerlich mißhandelt. Die Geschichte der heiligen Genofeva in Farbendruck und goldenem Rahmen wirkte ergänzend nach und wurde nur von einigen Heiligenbildern übertroffen. Auf den Betten war eine weiße gehäkelte Decke, auf dem Tisch ein noch niemals gefülltes Tintenzeug – das waren die Zeichen dieser Wohnlichkeit. Ueberall waren die Leute liebenswürdig und zuvorkommend, überall zeigte sich der Stempel eines [618] sicheren, aber geschonten, unbenützten Wohlstandes. Und nun kamen die schweren Wahlmännerstiefel und trabten auf der gescheuerten Diele umher, wie die Soldaten im Quartier. Ach, es waren ja die Truppen zur morgigen Wahlschlacht!

Sie ward von den „Patrioten“ mit einem großen Hochamt eröffnet. In dem gewaltigen Saal, wo die Wahl vollzogen wurde, prangten Fahnen und Wappen, an einem blaudrapirten Tisch saß der Ausschuß und der Wahlcommissär der Regierung, der die Zettel vertheilte. Rechts und links waren die Tische der Parteigenossen, welche ein förmliches Schreib- und Werbebureau errichteten. Mitten drinnen endloses Menschengewühl. Namen aller Parteien tönten hin und wider; Anträge wurden gemacht und verworfen, Unmuth und Witz, Rohheit und Würde ließen sich vernehmen. Ein mißliebiger Name wurde gerufen. „Jawohl,“ schrie ein Bauer dazwischen, „wählen wir den; der sagt heute so und morgen so, der gilt gleich für Zwei. Dann ersparen wir uns die halbe Arbeit, denn die ganze ist doch umsonst.“

Nach den gesetzlichen Bestimmungen ist es gestattet, daß ein Anderer den Wahlzettel ausfüllt, wenn derselbe nur vom Wähler selbst unterzeichnet ist. Gerade hierdurch entsteht zu Unterschleifen mancherlei Gelegenheit, indem die Inhaber solcher Wahlzettel getäuscht oder gar nicht um ihre Meinung gefragt werden. Ein Fall der letzteren Art kam zur Anzeige.

„Der Herr Pfarrer von F. soll vortreten,“ rief der Regierungscommissär. Durch die schmale Gasse, die sich im Menschengewühl gebildet hatte, durch die allgemeine Sensation wand der Gerufene sich erröthend hindurch.

„Sie haben für die beiden Bauern N. und N. die Wahlzettel ausgefüllt?“

„Ja.“

„Ist dies im Auftrag derselben geschehen?“

„Ja.“

„Wo sind die Beiden? Sie sollen vortreten!“

Das kleine Auge des Angeschuldigten stach zuckend durch den Saal. „Sie sind fort!“ sprach er befriedigt.

Unter allgemeiner Erregung wurden die Beiden aufgesucht und kamen zur Stelle.

„Habt Ihr dem Herrn Pfarrer von F. Auftrag gegeben, Eure Wahlzettel auszufüllen?“ redete der Commissär sie an.

„Ja,“ antworteten Beide übereinstimmend.

„Hat er auch die Namen der zu Wählenden in Eurem Auftrage geschrieben?“

„Ja.“

„Gut – und welche Namen habt Ihr ihm aufgetragen?“

„Die, welche auf dem Zettel stehen,“ erwiderten Beide kurz.

„So – und welche stehen denn auf dem Zettel?“ Keiner der Beiden wußte auch nur einen einzigen der Namen anzugeben, für welche der Pfarrer die Unterschrift ihnen abgenommen hatte.

Sofort wurden durch Beschluß des Ausschusses beide Wahlen vernichtet, der Vorgang aber zur weiteren Behandlung in’s Wahlprotokoll eingetragen. Von acht Uhr Morgens bis Abends sechs Uhr dauerte der Kampf – der Sieg aber blieb den Ultramontanen. –

Wäre dies Ergebniß der wahre Ausdruck der Volksmeinung, dann hätte ein liberales Regiment in Baiern schweren Stand. Allein man darf nicht vergessen, wie viele dieser Wahlen gemacht sind und daß der Clerus fast allein am Platze stand, als es sich darum handelte, sie zu machen. Nur die Partei, welche die Freiheit organisirt und handhabt, fehlt auf dem Lande; die Freiheit selbst ist dort nicht verrufen. Das werden spätere Wahlen

darthun. Auch Baiern ist besser als sein Ruf.
Dr. Karl Stieler.     




Bei den Preiskindern.

England ist die ursprüngliche Heimath der öffentlichen Ausstellungen. Kunst- und Industrieausstellungen, Blumen- und Fruchtausstellungen, Vieh- und Geräthausstellungen, Hühner- und Taubenausstellungen u. a. m. sind, nach seinem Vorgange, mittlerweile längst auch bei uns zu regelmäßig wiederkehrenden Vorkommnissen geworden, eine Art von Ausstellung aber hat bis jetzt anderwärts noch keine Nachahmung gefunden, sondern ist eine „berechtigte Eigenthümlichkeit“ der anglosächsischen Race diesseit und jenseit des atlantischen Oceans geblieben – die Ausstellung kleiner Kinder oder Babies, wie der Engländer sagt. Zu einer solchen führte mich vor wenigen Wochen mein Weg, und ich lade den Leser, mehr noch die Leserin, ein, mir freundlich dahin zu folgen, überzeugt, daß auch ihnen die Neuheit der Sache und des Schauspiels nicht ohne Interesse sein werde.

An der Westminsterbrücke stieg ich in eines der sogenannten Penny-Dampfschiffe, die um das geringe Fahrgeld von einem Penny pro Kopf den Omnibusdienst auf der Themse stromab und stromauf versehen, um mich nach den Gärten von Woolwich hinabtragen zu lassen, wo die Ausstellung veranstaltet war. Der Dampfer wimmelte bereits von Menschen, namentlich von Frauen. Alles wollte nach der Babyschau. Woolwich ist bekanntlich eines der größten Kriegsarsenale der Welt; hier hat die englische Regierung ihre gewaltige Fabrik von Zerstörungsmitteln, ihre Kanonengießerei, ihre Congreve-Schmiede, ihre Kugelgießereien, ihre Artilleriecaserne mit den Sammlungen von Geschütz- und Festungsmodellen aller Art und ihre berühmte Militärakademie, so daß man eines vollen Tages bedarf, um alle diese Etablissements und Institute nur einigermaßen in Augenschein zu nehmen. Heute aber lenkte sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf ganz andere, viel friedlichere und erfreulichere Dinge, auf den wunderhübsch angelegten Garten oder Park, welcher Woolwich umgiebt und einen der lieblichsten Plätze ausmacht, wo der Londoner, aus dem Getümmel seines rauch- und nebelvollen Häusermeeres entronnen, einen freien Nachmittag auf das Vergnüglichste verbringen kann; was im Westen der ungeheuern Metropole die vielgenannten Gärten von Cremorne sind, das sind die Anlagen von Woolwich im Osten, oder versprechen es wenigstens zu werden.

In diesen reizenden Umgebungen nun, inmitten eines saftstrotzenden, üppigen Baumgrüns, wie man es in gleicher Schönheit und Fülle nur in England sehen kann, war eine improvisirte Halle und daneben ein großes Zelt errichtet, und dahin wallten die Tausende, welche jetzt den Park erfüllten, denn in diesen beiden Räumlichkeiten hatte man die „Babies“ zur Schau ausgestellt. Offenbar bestand das Publicum, dem jeder neue Dampfer frische Menschenschaaren zuführte, der Mehrzahl nach aus Mitgliedern der unteren Gesellschaftsschichten, die „obersten Zehntausend“ waren blos in sehr sporadischen Erscheinungen vertreten. Dienstmädchen, Handwerker mit ihren Weibern und Kindern, junge Leute, welche zugleich ihr Absehen auf einen oder den andern der im Freien aufgezimmerten Tanzböden gerichtet haben mochten, bildeten den weitaus größeren Theil der Besucher.

Es war kein Leichtes, sich in diesem Menschenstrome fortzuarbeiten. Alles stürzte mit Ungestüm auf das eine Ziel los, und man mußte seine Ellenbogen ganz gehörig brauchen und seinerseits manchen Stoß und Puff ertragen, bis man sich an Ort und Stelle gewürgt hatte. Ich bin ein großer Kinderfreund, selten, daß ich auf meinen Wegen und Spaziergängen einem Kinde oder einer Kindergruppe begegne, ohne daß ich stehen bleibe und mich weide an diesen lieblichen Menschenknospen, ich hatte mich daher auf die Ausstellung wahrhaft gefreut. Aber – ich muß es gleich heraussagen, auch auf die Gefahr hin, daß man diesen Ausspruch unvereinbar finde mit meiner obigen Behauptung – das Schauspiel berührte mich durchaus nicht angenehm. So anziehend wie ein einzelnes kleines Kind oder eine Gruppe von Kindern auch ist, ein Durcheinander von den verschiedenartigsten Säuglingen und kleinen Kindern erscheint als das directe Gegentheil davon. Man denke sich etwa hundertundfünfzig „Babies“, von sieben Wochen bis zu achtzehn Monaten, versammelt, die, wie Ferkel in ihren Ställen, aus einem Gitter hervorsehen, hinter welchem die Mütter mit ihren Kleinen auf den Armen in langer Reihe saßen. Das Wetter war, ausnahmsweise in diesem winterhaften Sommer, drückend heiß und der Duft von gekochter Milch und Brei mischte sich mit der dampfenden Ausdünstung der eng zusammengepferchten Menge. Viele von den Kindern schliefen und lagen auf den Bänken oder auf den Knieen ihrer Mütter oder Pflegerinnen in Stellungen, die, grausig genug, an kleine Leichen gemahnten.

So viel ich mich erinnere, habe ich in der ganzen Ausstellung nur ein einziges hübsches Kind gesehen. Es war ein ungefähr

[619] anderthalbjähriges kleines Mädchen mit hellen schwarzen Augen und einer Fülle dunkelen Haares, welches in unserer leidigen Chignonära für ein halb Dutzend erwachsener Damen hingereicht haben dürfte. Natürlich wurde die kleine Schönheit von allen Seiten geliebkost und gehätschelt. Man brachte ihr alle nur möglichen zuträglichen und unzuträglichen Süßigkeiten herbeigetragen und steckte ihr Pennys und Halbpennys in die dicken kleinen Händchen, so daß die anderen Mütter die glückliche Besitzerin der umworbenen Kleinen nicht blos mit nicht mißzudeutenden Zornesblicken ansahen, sondern ihrem Neid auch in manchen noch weniger zweideutigen Complimenten Luft zu machen suchten.

Waren also im Allgemeinen die Kinder nicht eben schön zu nennen, so gab es dagegen viele dicke und große und gesunde Babies unter ihnen. Eine Zigeunerin – der braune Teint, die dunkeln mandelförmigen Augen, das blauschwarze Haar und die schlanke Gestalt ließen keinen Zweifel über ihre Abstammung – trug in ihren Armen einen vollkommenen kleinen Hercules, so braun und frisch wie sie selbst und mit Augen, die den ihrigen an Glanz und Rastlosigkeit nicht viel nachgaben. In einer Reihe daneben zappelte und krabbelte ein volles Dutzend kleiner Ungeheuer, bei denen das Fleisch in förmlichen Wülsten an Armen und Beinen saß und die Backen vor Fett fast platzten. Als Widerspiel dazu waren erst sieben Wochen alte Drillinge ausgestellt, – arme schwächliche Geschöpfe mit flachen idiotischen Gesichtern. Sie hatten etwas Gespenstisches, diese unglückseligen Drillinge, ihr Anblick verfolgte mich durch die ganze Halle wie ein unheimlicher Geist. Mit ihren zusammengekniffenen Zügen schienen sie vorzeitig alt zu sein, und dennoch hatten sie etwas so Unfertiges und Unvollkommenes an sich, daß man sich wunderte, daß sie überhaupt da waren.

Die Ausstellung war übrigens eine Privatspeculation und die als vorzüglichst befundenen Kinder sollten mit verschieden abgestuften Preisen bedacht werden, ohne welche es in England bei dergleichen Gelegenheiten, bei einer Kunst- wie bei einer Hunde- und Kaninchenausstellung, ja niemals abzugehen pflegt. Preisschweine und Preiskinder stehen bei dem englischen Publicum ungefähr in gleicher Kategorie. Sämmtliche der in Woolwich zusammengebrachten Kinder waren folglich in der ausgesprochenen Absicht hierher verpflanzt worden, um einen oder den andern, vielleicht um mehrere dieser Preise zugleich, zu concurriren. Aber merkwürdig! die meisten dünkten mich in keiner Weise etwas Besonderes zu sein, weder durch Größe noch durch Kleinheit, kurz durch nichts, als freilich etwas sehr Anerkennenswertes – durch Reinlichkeit ausgezeichnet, eine Bedingung, von welcher der Unternehmer die Einverleibung in seine Ausstellung abhängig gemacht hatte. Auch die Mütter waren höchst sauber und nett gekleidet, obschon sie, der Mehrzahl nach, offenbar in sehr ärmlichen Verhältnissen lebten und ihre Kleinen einzig und allein um jener Geldpreise willen zur Ausstellung gebracht hatten. Außerdem hatte sich der Entrepreneur des Ganzen verbindlich gemacht, während der Dauer seiner Schau die Weiber mit der nöthigen leiblichen Atzung zu versorgen, und die Aussicht auf unbeschränkte Quantitäten von Thee und Porter war jedenfalls ein mächtiges Lockmittel für die Ausstellerinnen gewesen.

Wie ich sofort bemerkte, waren beinahe alle diese Mütter vom Lande gekommen, die Stadt London selbst befand sich in entschiedener Minorität dagegen. Sammt und sonders aber schienen sie mir mit der Sache sehr zufrieden zu sein, erfreut über die Aufmerksamkeiten, welche die Besucher ihren Kleinen erwiesen, noch mehr zufrieden jedoch, wenn dergleichen Aufmerksamkeiten die Gestalt pecuniärer Spenden annahmen, wie geringfügig dieselben auch sein mochten. Ebenso sprach mir seinerseits der Unternehmer, ein gewisser Mr. Holland, seine Zufriedenheit mit den Ausstellerinnen aus und fügte den verheißenen Geldpreisen, die von fünf bis zu fünfzehn Pfund stiegen, freiwillig noch Prämien von silbernen Bechern hinzu. Das Resultat seiner Speculation mußte mithin seine Erwartungen übertroffen haben.

Die Idee der Kinderausstellungen ist übrigens amerikanischen Ursprungs, dem erfinderischen Kopfe des großen Humbugkünstlers Barnum entflossen, der, wie meine Leser wissen, so manches eigenthümliche Unternehmen erdacht und in Scene gesetzt hat. Als er vor einigen Jahren zuerst mit dem Project einer Baby-Schau herausrückte, fand man den Gedanken über die Maßen excentrisch; keine Mutter würde sich ja, das wandte man an erster Stelle dagegen ein, herbeilassen, ihre Kinder öffentlich auszustellen, und sodann dürfte kein Mensch geneigt sein, Geld auszugeben, um die etwa zur Schau gebrachteu kleinen Kinder zu besichtigen. Beide Besorgnisse erwiesen sich als grundlos, und jetzt ist in der That keine andre Ausstellung in England so leicht in’s Leben zu rufen und in gewissen Kreisen so beliebt geworden wie diese Babyschaustellungen Barnum’scher Erfindung. Um unsre Ausstellung in Woolwich in’s Werk zu richten, kündigte ihr Urheber sein Vorhaben blos in einigen englischen Provincialblättern an, und alsbald waren ihm über zweitausend Kinder dazu offerirt, und am Tage, an welchem die Schau eröffnet wurde, erschienen zweitausenddreihundert Mütter mit mindestens derselben Anzahl von kleinen Kindern an den Pforten des Gartens, manche davon aus einer Entfernung von fünfzig und mehr deutschen Meilen. Die meisten dieser Kinder waren für den beabsichtigten Zweck nicht zu gebrauchen, und es mußte das den Frauen begreiflich gemacht werden. Allein dies war eine trostlose Aufgabe. Die Weiber schrieen, die Kinder schrieen und Lärm und Tumult wurden bald so arg, daß der erschrockene Entrepreneur sich vor dem tobenden Haufen verstecken mußte. Mehrere Stunden vergingen, ehe man das Terrain von den überflüssigen Babies gesäubert und die glücklichen Auserwählten behufs ihrer Inspection seiten des Publicums in zwei Reihen formirt hatte. Wie groß der Andrang des letztern war, erhellt aus der Thatsache, daß in den vier Tagen, während welcher die Ausstellung geöffnet blieb, über dreitausend Personen dieselbe besucht haben sollen. Das Eintrittsgeld betrug einen Schilling, rechnet man hierzu, daß auch der Erlös aus den nicht eben sparsam genossenen Erfrischungen und Herzstärkungen in die Tasche des Veranstalters fiel, so muß das Unternehmen als Finanzspeculation gewiß ein vollkommen gelungenes genannt werden.

Desgleichen haben die vier Tage den Müttern und ihren Kindern zu offenbarem Gewinn gereicht. Eine halbe Woche freies Essen und Trinken und die Chance, nach Ablauf dieser Zeit fünf oder zehn, ja im glücklichsten Falle selbst fünfzehn Pfund Sterling obendrein zu verdienen, und zwar lediglich dadurch, daß man auf dem Stuhle sitzt und sein Kind nährt – das ist eine Perspective, die sich dem armen Weibe selten aufthut, und darum nicht zu verwundern, wennn sie mit beiden Händen ergriffen wurde. Ueberdies waren die Kinder selbst während der vier Ausstellungstage unbestritten besser daran, als sie es jemals zu Hause gewesen sein mochten: besser getränkt und gespeist und reinlicher gehalten; für sie zumal ist also die Ausstellung als eine wahre Glücksepoche im Leben zu bezeichnen.

Auch in dieser Beziehung läßt sich somit gegen die Idee der Kinderausstellungen nichts Erhebliches einwenden. Ein Anderes ist es hinsichtlich des zuschauenden Publicums; nach meiner Ansicht ist dies der einzige Theil, welcher dabei verliert, denn, ich wiederhole es, das Schauspiel entsprach meinen Erwartungen bei Weitem nicht und schien mir in der That des angewandten Schillings kaum werth zu sein – vielleicht, weil ich mir unter „Preiskindern“ und namentlich unter englischen Preiskindern, nach der Menge prächtiger, rosiger, von Gesundheit und Leben strotzender Kinder, die man in den öffentlichen Londoner Parks, in den Squares und auf den Promenaden sich tummeln sieht, etwas absonderlich Vollkommenes von Kindergenre zu finden hoffte.

Die mit zuschauenden Frauen und Mütter, welche, wie bereits erwähnt, uns anwesende Männer an Zahl mindestens um das Doppelte übertrafen, schienen freilich anderer Ansicht zu sein. Für sie hatte die Ausstellung unbestritten das allergrößte Interesse, denn sie verglichen im Stillen die Preisbabies mit ihren eigenen Kindern zu Hause. Man sah dies an der gespannten Aufmerksamkeit, mit welcher sie sich jedes einzelne Kleine hinter den absperrenden Gittern betrachteten, man hörte es aus dem eifrigen Geflüster, das sie mit einander unterhielten, und das triumphirende Lächeln und Kopfschütteln, womit in der Regel ihre Unterhaltung endete, deutete klar genug an, wie sehr die Parallele zu Gunsten ihrer eigenen Sprößlinge ausfiel. Viele dieser zuschauenden Mütter begnügten sich natürlich nicht mit dem bloßen Ansehen der ausgestellten Kleinen, sie wollten sie vielmehr nach allen Dimensionen hin gründlich befühlen und auf den Armen wägen. Die Babies mußten nicht selten die Runde durch die ganze Halle machen, ehe sie ihren natürlichen Pflegerinnen restituirt wurden.

Mir wurde angst, daß nicht am Ende eine allgemeine Säuglingsverwechselung die Folge dieser, beiläufig, von einem ohrenzerreißenden vielstimmigen Schreiconcerte begleiteten Wanderungen [620] sein möchte, und ich hielt mit meiner Besorgniß nicht zurück. Damit hatte ich indeß das Signal zu einem furchtbaren Sturm gegeben, der über mich hereinbrach. Der Mutterstolz fühlte sich durch meine Aeußerung gekränkt und erhob ringsum energischen Protest. „Ob ich meinen Baby nicht wieder erkennen werde, und wenn Hunderttausende von Kindern da wären!“ schrie mich eine riesige Bäuerin aus Yorkshire an und machte Miene, aus dem Gitter herauszutreten und mir mein Unrecht handgreiflich zu demonstriren, wie mir schien. „Das kann nur ein ‚Foreigner‘ (Ausländer) behaupten,“ eiferte eine Andere, und von rechts und links drangen wüthende Blicke auf mich ein. Schon fürchtete ich eine Scene wie bei Eröffnung der Ausstellung, wo der Unternehmer sich hatte flüchten müssen, und wollte mich meinerseits ebenfalls in Sicherheit bringen, da ward plötzlich die allgemeine Aufmerksamkeit nach anderer Seite hin abgelenkt. In höchster Aufregung drängte sich eine Frau in den Saal, und ein Polizeidiener ihr nach. Ihr Kind, welches sie als „einen sehr schönen, großen kräftigen Knaben“ beschrieb, war der Unglücklichen in der Nacht vorher aus ihrer Wohnung gestohlen worden, und auf der Polizeistation, wo sie davon Anzeige gemacht, hatte man gemeint, vielleicht habe es eine kühne Speculantin genommen und auf die Ausstellung nach Woolwich gebracht, um sich damit einen Preis zu gewinnen. Die Idee schien ganz plausibel zu sein, und da war nun die arme Mutter und ging in ihrer Herzensangst von Kind zu Kind. Sie sah sich jedes einzelne auf das Genaueste an, allein das ihrige war nicht unter den Hunderten, und bitterlich schluchzend zog das Weib unter dem Geleite ihres Schutzmanns wieder ab, von einer Fluth nicht eben liebsamer Titulaturen verfolgt, denn sämmtliche Ausstellerinnen sahen sich durch den Zwischenfall schwer an ihrer Ehre gekränkt.

Inzwischen war es Abend geworden, und einzelne Männer erschienen, um Frauen und Kinder nach Hause zu holen. Wie ich erfuhr, waren das jedoch nicht etwa die Väter der ausgestellten Kleinen, sondern die Brüder oder Vettern der Ausstellerinnen, die Väter hielten sich, vielleicht aus gerechter Scheu, von dem Schauspiele fern. Jedenfalls vermißten wir ihre Abwesenheit nicht. Alle Mütter nämlich, die wir danach fragten, erklärten ohne Ausnahme, ihre Babies seien die leibhaftigen Abbilder der Herren Papas, und wir hatten schon an dem Anblick der Kinder genug, um uns nicht nach dem der Väter zu sehnen.

Auch das Publicum entfernte sich allmählich, wie mich dünkte und wie ich zur Ehre des englischen Volkes constatiren zu können glaube, im Allgemeinen nicht sehr erbaut von der Ausstellung. Wenn es sich des Eindrucks auch nicht klar zu werden schien, ein dumpfes Gefühl mochte Alle durchdringen, daß diese aus bloßer materieller Speculation unternommenen öffentlichen Schaustellungen des Theuersten, was der Mensch auf Erden besitze, wenn sie auch nicht gerade unmoralisch zu nennen sind, doch unseren menschlichsten und darum heiligsten Empfindungen Hohn sprechen.

Ich aber fuhr mit der stolzen Ueberzeugung die Themse hinauf nach Hause, daß dergleichen Kinderausstellungen bei uns in Deutschland niemals Nachahmung finden und noch viel weniger Popularität gewinnen werden, obschon mindestens eine gute Seite derselben sich nicht in Abrede stellen läßt: sie tragen unleugbar dazu bei, daß, wenn gleich lediglich in Aussicht auf mögliche pecuniäre Vortheile, für die nothwendigste Grundlage alles künftigen leiblichen und geistigen Wohlbefindens, die Gesundheitspflege der Kinder, größere Sorge getragen wird, als dies, ohne solchen Anreiz, in den hier zunächst in Frage kommenden Schichten der Gesellschaft sonst der Fall sein würde. Und aus diesem Grunde sei unserm Verdammungsurtheile über die „Baby-Shows“ wenigstens die Abschwächung der „mildernden Umstände“ bewilligt.




Aus der Wandermappe der Gartenlaube.

Nr. 4.0 Bei „Helbigs“ in Dresden.

„Wo treffen wir uns heut’ Abend?“ frug mich ein liebenswürdiger Reisegefährte, dessen Bekanntschaft ich auf der Fahrt von Berlin gemacht hatte, als wir auf dem Bahnhofe in Neustadt-Dresden ausstiegen.

„Doch wohl bei Helbigs,“ lautete meine Antwort.

Hätte die „Gartenlaube“ ihre Leser blos in Deutschland, so brauchte es schwerlich einer Sylbe über das Was? und Wo? dieses allgemeinen Sammelpunktes, denn wer jemals in Dresden gewesen ist oder wem Andere von Dresden erzählt haben, dem ist „Helbigs“ ein ganz ebenso geläufiges Zug- und Schlagwort wie die Sixtinische Madonna oder die Brühl’sche Terrasse. Da indessen auch weit über dem Ocean drüben im Hinterwalde des fernen Westens, ja auf den weitentlegenen Inseln der Südsee und in den Tropenthälern von Java – kurz, überall, wo Deutsche wohnen, die „Gartenlaube“ eine treue Hausfreundin geworden ist, so dürfte eine Erklärung und Feststellung des Begriffs geboten sein.

Um von vornherein allen Illusionen zu begegnen, sei ohne weitere Umschweife gemeldet, daß dies magnetische „Helbigs“ weiter Nichts bedeutet, als einfach eine Restauration. Da jedoch dieselbe eine Lieblingsstätte der Erinnerung für viele Tausende von Fremden bleibt, welche auf kürzere oder längere Zeit in dem großen Gasthof Dresden einsprechen, so darf „Helbigs“ unbedingt auf den Rang eines classischen Bodens Anspruch erheben.

Auf einem der imposantesten und durch hundertfache Abbildungen bekanntesten Plätze der Residenz, westlich, doch in unmittelbarer Nähe der berühmten stattlichen Elbbrücke, dem italienischen Renaissancebau der katholischen Kirche, dem neuen Museum und der Rotunde des Theaters gegenüber, steht, dicht neben dem vornehmen Hôtel Bellevue, eine Reihe von niedrigen kleinen Häusern, einstöckig und so unscheinbar, häßlich und ärmlich wie möglich, bilden sie den auffälligsten Contrast gegen die genannten Prachtbauten. Nur eines, welches seine gegenwärtige Gestalt erst der neueren Zeit verdankt, zeichnet sich durch größere und schmuckreichere Verhältnisse aus, ohne darum das Niveau bescheiden bürgerlicher Wohnlichkeit zu überragen. Diese sieben Häuschen waren mit einigen anderen jetzt längst vom Erdboden verschwundenen einst die Niederlassung der italienischen Architekten, Bildhauer und Maler gewesen, welche August’s des Starken Sohn, der prunkliebende König August der Dritte von Polen, im zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts zum Bau der katholischen Hofkirche berufen hatte, und hießen deshalb bis auf unsere Tage herab „das italienische Dörfchen“. Nachdem die Italiener in ihre Heimath zurückgekehrt oder gestorben waren, siedelten sich in ihrer ehemaligen Colonie mehrere kleine Bier- und Weinschenken und später auch verschiedene künstlerische und literarische Notabilitäten Dresdens an, wie denn u. A. der Maler Vogel von Vogelstein, das erst unlängst hoch betagt verstorbene, als Harfenspielerin gefeierte Fräulein Aus dem Winckell und Helmine von Chezy genial-wunderlich-saloppen Andenkens Jahre lang hier ihr Zelt aufgeschlagen hatten, heute ist’s die Pforte, die Straßenfront oder, besser gesagt, die unschöne Kehrseite des Helbig’schen Etablissements, von dessen heiter-prächtiger Stromfaçade unsere Illustration ein getreues Abbild giebt, das freilich wohl die Linien, nicht aber die fast südlich-warme Farbe des Gemäldes, wie sie die milde Dresdener Landschaft überhaupt kennzeichnet, zur Anschauung bringen kann.

Auch Worte vermögen das nicht. Dennoch wollen wir versuchen, das Panorama unseres wackeren Künstlers durch ein paar Pinselstriche – aus dem Tintenfaß zu coloriren.

Vorerst denke sich der Leser den Complex jener sieben Häuser, welche ein interessantes und pittoreskes Labyrinth von einigen dreißig durch Stufen, Corridore und Gänge verbundenen Zimmern, Galerien, Veranden und Sälen umschließen, durch zierlich geschnitzte und ornamentirte An- und Vorbaue halb schweizerischen, halb gothisch-maurischen Styls zu einem Ganzen von gefälliger Wirkung vereinigt und den breiteren Vorsprung in der Mitte, der zugleich eine geschützte Halle bildet, mit landesfarbigen Flaggen und Wimpeln an hochragenden Masten decorirt; dann folge er mir die schmale Treppe an Häuschen Nr. 7, dem der Brücke am nächsten gelegenen, zum Paradies der „Elbterrasse“ hinab. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, die Zeit, wo man „Helbigs“ in seiner vollster Glorie erschaut. Schier unabsehbar dehnt sich eine ziemlich breite, mit Brettern gedielte Plateform längs der Elbe aus, über welche sie sich, durch eine leichte Balustrade begrenzt, [621] nur wenige Fuß erhebt, so daß der schöne blitzende und glitzernde Flußspiegel mit seinem ewig wechselnden Leben von Gondeln, Badekähnen, Segelbooten, Dampfern, Flossen fast in das Bereich unserer Hände gerückt ist und der frische Hauch des Wassers um die Wangen fächelt.

In einiger Entfernung zur Linken wird der Strom in schräger Richtung von der neuen Eisenbahn- oder Marienbrücke überjocht, welche die Bahnhöfe der am rechten Ufer liegenden Neustadt mit dem grandiosen Centralbahnhof in der Altstadt verbindet. Ueber der Brücke und durch ihre Bogen hindurch sieht man am Horizont, Meißen zu, die schon in bläulichem Abenddufte verdämmernden Rebhügel des unter dem Gesammtnamen der Lößnitz begriffenen Wein- und Villendistricts. Jenseit der Elbe, gerade vor uns, baden die Gebäude der Neustadt ihren Fuß im Wasser; uns zur Rechten endlich haben wir den Glanzpunkt des Bildes, „die große Brücke“.

Wer hätte nicht schon von dieser Brücke gehört, die für jedes echte Dresdener Kind ein Gegenstand des höchsten Stolzes, die ihm „die Brücke“ schlechtweg ist? In der That, „die große Brücke“ mit ihrer heiteren Bewegung, mit der anmuthvollen, weichen Stimmung der Landschaft rechts und links, mit den sich beständig erneuernden Bildern, die sie bietet: ihren Omnibus voller fröhlicher Menschen, welche nach dem Lincke’schen Bade, nach dem Waldschlößchen, nach dem Weißen Hirsch und den vielen anderen Luftorten trachten, die sich an und auf der Hügelkette des rechten Elbufers aneinander drängen; ihren sich unaufhörlich kreuzenden Droschken voll ab- und zuströmender Reisenden; ihren eleganten Equipagen, in denen die reiche und vornehme Welt nachlässig hingegossen durch das Leben rollt; ihren promenirenden Paaren und Gruppen in modernsten, reichen Toiletten; ihren Soldatenzügen zu Fuß und zu Roß, welche mit klingendem Spiel und blasenden Trompeten zur Hauptwache marschiren – mit diesem Allen zusammen übt sie einen Zauber aus, der uns immer von Neuem gefangen nimmt. Namentlich Nachts aber, wenn die in Stadt und Vorstädten entzündeten Lichter und Gasflammen beide Elbufer stundenweit mit einer ununterbrochenen Funkenschnur umflammen und sich unten in der Fluth in endlosem Reflexe wiederholen, ist die Brücke eine Wandelbahn, so traum- und feenhaft schön, daß der geschickteste Theaterdecorateur einen mächtigeren Bühneneffect nicht zu ersinnen vermöchte. Mit einem Worte: die Brücke ist ein Hauptelement im Ensemble von Dresdens wie speciell von „Helbigs’“ Reizen; ohne sie wäre letzteres nimmermehr geworden, was es heute ist. Sie liegt hoch über unserem Observatorium, so daß fast jeder ihrer Bogen sich zum Rahmen eines abgerundeten lieblichen Bildes gestaltet. Es sind dies gewissermaßen die Vor- und Eingangshallen zur sächsischen Schweiz, denn dort hinauf geht es nach diesem ausgetretenen und doch unerschöpflich schönen Touristencanaan, dem Lieblingsziel für Pfingstfahrten und Hochzeitsreisen in ganz Nord- und Mitteldeutschland, und die rechts unser Panorama begrenzenden Waldberge mit ihren vielen, vom letzten Tagesscheine in Gluth getauchten hellen Punkten sind die schlösser- und villenbesäeten Höhen um jenes anmuthige weingrüne Loschwitz, das sein edelster Sommergast, unser Friedrich Schiller, für alle Zeiten zur heiligen Stätte geweiht hat.

Halt! Dort unter der Mittelhalle hat sich inzwischen ein Tisch geleert; eilen wir davon Besitz zu ergreifen, so lange es Zeit ist, denn schon steuern neue Zuzüge auf ihn los. „Zu schön, wundervoll, himmlisch!“ – „Now, that is beautiful indeed!“ – „Ah, que cela est beau!“ tönt es, je nach den verschiedenen deutschen und fremdländischen Vaterländern der Bewundernden uns entgegen, wie jetzt mit den intensiven Farbentönen der scheidenden Sonne das wonnesame Gemälde sich immer magischer verklärt, und deutet uns an, daß jene Zug- und Wandervögel, welche alljährlich bald nach den Schwalben in Dresden und Umgegend als hochwillkommene Eindringlinge erscheinen, das wesentlichste Contingent zu Helbigs’ Publicum stellen. Gut neun Zehntel desselben kommt, wenigstens im Sommer, auf ihre Rechnung; das lehrt uns außer dem Ohr, an welches vorzugsweise die schärferen Klänge norddeutscher, speciell spree-atheniensischer Dialekte schlagen, der erste Blick in das vielgestaltige, bunte, kaleidoskopisch wechselnde Menschentreiben um uns herum, das ebenso wie Lage und Umgebung, wie Ausdehnung und Eigenthümlichkeit der Etablistements Helbigs’ Elbterrasse zu einem Unicum ihrer Art und zu einer so interessanten Bühne für allerhand anthropologisch-ethnographische Beobachtungen und Studien stempeln.

Bereits schwimmt das Etablissement in einem Lichtermeere, als sich ein neuer Menschenschub die Stufen in der Ecke herabwälzt. Die Oper ist aus, und eine gute Anzahl ihrer Besucher, Damen wie Herren, spricht noch zu einem Nachttrunke und Plauderstündchen bei Helbigs ein. Wir mustern das gemischte Völkchen, wie es sich auf der Treppe drängt, bis unsere Augen auf einer langen in Grau gehüllten Gestalt haften bleiben. Auch sie hat uns alsbald erkannt und schreitet, mit dem Taschentuche grüßend, auf unser Plätzchen zu. Der freundliche Herr, etwas über die Mittagshöhe des Lebens hinaus, ist der Redacteur des verbreitetsten Dresdener Organs, Dresdener von Geburt und, wie man sich denken kann, eine der bekanntesten Persönlichkeiten Dresdens, seinerseits mit Menschen, Dingen und Zuständen desselben vertraut wie wenige Andere, obwohl sein Beruf ihn fast den ganzen Tag an den Schreibtisch fesselt.

„Ich bin kein regelmäßiger Gast bei Helbigs,“ nahm er nach landesüblichem Gruß das Wort, „wir Dresdener überhaupt verkehren hier meist nur im Winter, im Sommer überlassen wir die Elbterrasse den Fremden. Sollten Sie heute dennoch dieser oder jener unserer ‚Berühmtheiten‘ hier begegnen, so haben Sie dies nur einem günstigen Zufall zu danken. Und merkwürdig! dort kommt wirklich ein Paar, das ich jemals bei Helbigs gesehen zu haben mich kaum entsinne. Gewiß kennen Sie es noch aus früheren Tagen?“ richtete er seine Frage an mich.

Ich blickte auf. Freilich erkannte ich den Mann mit den seltsamen interessant-häßlichen Zügen, die sich so leicht nicht vergessen lassen, auf der Stelle, aber er war alt geworden, recht alt und grau und schien etwas lässig in Gang und Haltung seit jenen Tagen in Leipzig, wo er, nach einem bewegten Journalistenleben in Wien, Berlin, Hamburg, München und Zürich, seine kleinen pikanten Geschichten und noch pikanteren Notizen im „Charivari“ schrieb, einer der Pioniere des aus Frankreich nach Deutschland verpflanzten graziös-leichten Feuilletongeplauders. Ja, es war der alte Eduard Maria Oettinger, heut’ wie damals zierlich und patent in Anzug und Tournure und heut’ wie damals am Arme seiner Gattin, die vierzig Jahre hindurch Freud’ und Leid getreulich mit ihm getheilt hat.

„Unsere Schriftsteller und Künstler,“ fing unser Dresdener Journalist wieder an, „leben im Ganzen wenig genossenschaftlich. Zudem sind die Meisten augenblicklich nah oder fern irgendwo in der Sommerfrische. Andree z. B., den Sie ja kennen, der kenntnißreiche Ethnolog und Geograph, der Herausgeber des vortrefflichen ‚Globus‘, sitzt über seiner großen ‚Handelsgeographie‘ draußen im gastlich-reichen Maxren bei der edlen Majorin Serre, der Wittwe unseres Schillerstiftungsgründers; Gustav Kühne, der alte Kämpe vom ‚Jungen Deutschland‘, einer von den weißen Sperlingen unter uns mit Haus und Hof, vergräbt sich in sein reizend in Bäumen verstecktes Landhaus in Niederpoyritz unweit Pillnitz, wenn er nicht etwa mit seinem eigenhändig vom Bock gelenkten großen Schimmel Weg und Steg unsicher macht; ein Zweiter jener verschwindend kleinen Minderzahl, Waldmüller-Duboc, der Dichter sinniger, fein ausgemalter Novellen, thront auf waldiger Höhe in seiner aussichtreichen Schweizervilla bei Wachwitz; Andere, so den immer gleich frischen, gleich unabhängigen, gleich fleißigen und gleich biederen Weltumsegler Gerstäcker, bekommt man gar nicht zu sehen; der harmlos-humoristische Dorfbarbier, der liebenswürdige und gemüthliche Stolle ist durch den Tod seiner Gattin gegenwärtig in tiefes Leid versenkt, und so geht Einer an dem Andern vorüber seine eigenen Wege und seinen eigenen Zwecken nach.

Dresdens literarischer Ruhm ist ja überhaupt verklungen, er gehört jener politisch-stillen und öden Zeit an, wo das Lämpchen der Abendzeitung glimmte, wo der artige Theodor Hell sie und das Hoftheater regierte und unermüdlich französische Bühnenstücke übersetzte; wo der anspruchslose Friedrich Kind den Freischütz dichtete; wo der Commissionsrath Schulze als Friedrich Laun seine leichte Novellenwaare auf den Markt brachte; wo um Elisa von der Recke und ihren Trabanten Tiedge eine Anzahl schöner Seelen sich schaarte; wo der glatte Kammerherr von Wachsmann seine historischen Salonnovellen in den ‚Lilien‘ mittheilte; wo Fr. von Brunnow seinen ‚Ulrich von Hutten‘ schrieb; wo der

[622]

Das italienische Dörfchen in Dresden. Nach der Natur aufgenommen von Adolf Eltzner.
Brühl’sche Terrasse       Frauenkirche.       Italienisches Dörfchen.       Katholische Hofkirche.       Helbigs Terrasse.

[623] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [624] Leibarzt Carus goethisirte und mystisch ästhetisirte und malte. Das war unsere ,gute alte Zeit‘, aber sie war etwas süßlicher, weichlich-verschwommener, sich selbst beräuchernder Art, mehr weiblicher als männlicher Natur, und dieser gewissermaßen blaustrümpfige Charakter haftet unserm Literaten- und Künstlerthum auch heute noch an. Es fehlt ihm die frische, kräftige, selbstständige productive Männlichkeit, die ihm auch die Gutzkow, die Ruge, die Auerbach, welche längere Zeit unter uns weilten, nicht aufdrücken konnten. Daß es uns ganz und gar an einer periodischen Presse gebricht, welcher eine höhere als locale Bedeutung vindicirt werden kann, hat nicht dazu beigetragen, unsern Dresdener Journalismus männlicher und schärfer zu machen. Mit unserer Kunst aber ist es nicht viel anders bestellt. Nehmen Sie den ausgezeichneten Ludwig Richter, die anheimelnde Erscheinung mit dem ehrwürdigen grauen Haar und dem echtmenschlichen Wohlwollen in Blick und Zügen, nehmen Sie den unermüdlichen Nimrod und Thiermaler Guido Hammer, den genialen Hoffmann aus, dessen geist- und wirkungsvolles Othellobild die Gartenlaube in so gelungenem Holzschnitt wiedergegeben hat; nehmen Sie unsern berühmten Bildhauer Hähnel und noch ein halb Dutzend andere Namen von gutem, ja bestem Klange aus - auch hier herrscht das Weiblich-Weiche und Weiblich -Weichliche vor, vielleicht, weil unsere Landschaft uns auch so weich und lind umschmeichelt. Aber lassen wir das! Kennen Sie den Alten da, welcher sich soeben dort uns gegenüber in die Ecke gesetzt hat?“ fragte er, indem er einem etwas gebückten, doch munter aussehenden ziemlich betagten Herrn zunickte, der seinen Gruß freundlich, allein wie mich dünkte, etwas wehmüthig erwiderte.

"Der hat weit über hundert Bände auf seinem Gewissen,“ setzte er hinzu, "manchmal etwas leichtes Gebäck, er selbst aber ist die treueste Seele von der Welt, welche Alle achten und lieben, die sie näher kennen. Es ist Niemand anders als Lubojatzky, ein Autodidakt von der Pike auf; erst Goldschmiedgesell, dann Schauspieler und endlich Novellist. Seit fünfundzwanzig Jahren liegt die Frau des guten Mannes total gelähmt darnieder, und er pflegt sie mit wahrer Engelsgeduld. Sein Schreibtisch steht an ihrem Krankenbette, und da sitzt er nun rastlos und componirt mitten in Noth und Sorge seine Romane.“ -

Mittlerweile ist der Mond herabgestiegen und legt seinen Silberhauch auf Fluß und Stadt, die in dem magischen Lichte zu einem Bilde von überraschendem Effecte verschmelzen. Nachgerade beginnt sich’s bei Helbigs zu leeren, je nach der Lage der verschiedenen Behausungen füllen sich die verschiedenen Aufgänge zum Theaterplatze mit heimziehenden Menschen.

„Haben Sie wohl den Herrn mit dem geistvollen Auge und den langen grauen Haaren bemerkt, der dort der Ecktreppe zuwandert? Sehen Sie nur, wie er sich den Himmel beschaut und zum Monde aufblickt, als habe er gerade einen neuen Vulcan darin entdeckt! Der Mann erfreut sich bei uns eines großen Rufes – es ist der ,Barometrius' in unseren ,Nachrichten‘, auf dessen wissenschaftlich begründete Witterungs-Prophezeiungen unser Landvolk schwört. Eigentlich sind seine Beobachtungen nur für unser Elbthal berechnet, werden aber regelmäßig auch in Leipzig, häufig sogar in Prag, ja selbst in Wien nachgedruckt. Nach seinem bürgerlichen Stand und Namen ist der scharfsinnige Wetterprophet ein Dr. Drechsler und war früher Professor der Astronomie in Basel. Aber Mitternacht ist nahe. Wir brechen daher jetzt wohl auf, denn den schönsten Anblick, welchen Helbigs bietet, haben Sie erst noch zu sehen und wir dürfen nicht zögern, wenn er uns noch voll zu Theil werden soll.“

Gern folgten wir dem Geleite unsers liebenswürdigen Führers durch Zwinger und Ostraallee zur Marienbrücke hinauf.

„Jetzt umgeschaut!“ rief er, „dort gen Morgen hinüber!“

Wir wandten uns, und unwillkürlich entschlüpfte uns ein ‚Ah!‘ der Bewunderung. Dort zur Rechten lag Helbigs mit seinen Hunderten von Lichtern, als tauche es gleich einem massigen feurigen Meteore aus einem Becken geschmolzenen Silbers auf – phantastisch schön wie ein Stück aus mondbeglänzter Zauberwelt, wie eine Fata Morgana im Morgenlande.




Vom Hamburger Blumenfest.

Welche Blüthe wird diesmal die Mode im Reich der Blumenliebhaberei als Königin des Tages ausrufen? Diese Frage beschäftigte mich viel auf meiner Fahrt zu dem improvisirten Pflanzenfest in Hamburg. Von der letzten Ausstellung des Gartenbau-Vereins in Berlin her konnte ich ungefähr voraussetzen, welche Blume gegenwärtig am beliebtesten und daher am zahlreichsten vertreten sein werde. Freilich waren seitdem aber bereits mehrere Monate vergangen – während die Mode bekanntlich auch auf diesem Gebiete nur zu bald von einem Gegenstande zum andern übergeht.

Wie groß war daher meine Freude, als ich dennoch die seit Langem aus der Mode gekommene, doch immer vorzugsweise geschätzte und allbeliebte Rose auch hier auf der großartigen Internationalen Gartenbau-Ausstellung von Hamburg ebenso wie in Berlin in der vollen Geltung ihres Rechts als Blume des Tages fand! Kaum läßt sich der Eindruck beschreiben, den ein wundervoller Rosenflor zur jetzigen Zeit hervorruft. Vereint mit allen übrigen Contrasten, welche diese Ausstellung hervorgebracht, muß er von vornherein die wohlthuendsten Eindrücke auf jeden Besucher ausüben.

Hier wetteifert die Wirklichkeit mit den kühnsten Schöpfungen der Phantasie. Wer noch vor wenigen Monaten dies Terrain gesehen, mit dürftigen Anlagen, wenig einladendem Gebüsch und widerwärtigem Gewässer, der wird sich nicht genug wundern können über den förmlich hervorgezauberten Park mit schattenden Bäumen, lachenden Gefilden und duftenden Blüthen, mit malerischen Teichen und Flüssen. Fast noch größer erscheint das Wunder, mit welchem selbst der Himmel zu Hülfe gekommen, um hier voll und reich ein Eden zu schaffen, ein kleines Paradies im vollen Sinne des Worts. Bis ganz vor Kurzem hüllte noch naßkaltes Wetter die Natur in sein trostloses Gewand; jetzt hat die Septembersonne eine wahre Frühlingsblume herausgekehrt und aus den trübseligen herbstlichen Regenschauern, mit denen fast der ganze Sommer uns geplagt, ist jetzt noch eine „Maienzeit“ geworden, so mild und schön, wie sie selbst der Wonnemond nur selten gewährt. Hier brauchen wir aber in den lieben Frühling uns gar nicht hineinzuträumen – hier haben wir ihn ja vor uns, in lebensvollster Wirklichkeit.

Vergeblich schauen wir uns nun nach den Blumen der jetzigen Jahreszeit, nach den herbstlichen Eriken oder Haidekrautblümchen, Astern, Georginen und dergleichen; freilich fehlen auch ebenso die zarten Blümchen des ersten Frühlings, die Crocus, Primel, Schneeglöckchen und Veilchen. Wenden wir uns daher zunächst zu der herrlichen Blume, die für den deutschen Wonnemond – welcher im größten Theile unseres deutschen Vaterlandes keineswegs der Mai, sondern erst der Juni ist – so recht bezeichnend erscheint und die hier zugleich einen herrlichen Triumph feiert: zu der Rose.

Links, nicht weit von dem Eingange der Ausstellung, begrüßt uns eine Gruppe von fünfzig hochstämmigen Rosen aus der „Rosen-Speeial-Cultur von Friedrich Harms in Eimsbüttel bei Hamburg. Es ist die Varietät Maréchal Niel, welche in prachtvoll entwickelten Kronen und noch zahllosen Knospen den Beweis liefert, daß ihr Züchter einer der bedeutendsten Rosengärtner Deutschlands sei, wenn auch ihre Blumenpracht hier nicht zur vollsten Entwickelung gekommen. Dies Urtheil bestätigt uns die nächste Gruppe desselben Ausstellers von fünfzig Stämmen der im köstlichsten Flor stehenden Varietät Gloire de Dijon. Doch wenn wir weiterhin die verschiedenen Gruppen von herrlichen und seltenen französischen Rosen betrachten, so müssen wir anerkennen, daß diese Hamburger Rosen nicht allein seit geraumer Zeit die aller Blumen-Ausstellungen in Deutschland übertreffen haben, sondern daß sie auch auf dieser großartigsten Ausstellung zweifellos den ersten Rang einnehmen. Im Ganzen hat Herr Harms acht verschiedene Rosengruppen ausgestellt, unter denen durch Schönheit und Frische, sowie durch Mannigfaltigkeit vorzugsweise die Topfrosen sich auszeichnen, auch dadurch, daß sie verschiedene Novitäten, vornehmlich von Bourbon- und Theerosen, sowie auch von den niederliegenden zierlichen Remontante- Rosen aufzuweisen haben. Eine Varietät der gewöhnlichen Feldrose, Ruga genannt, ist hier zu einem hübschen und geschmackvollen Rosenschirm gezogen [625] worden und verdient um so mehr Beachtung, da sie für solche Zwecke bisher noch wenig benutzt und doch sehr gefügig ist.

Es würde aber ein großes Unrecht sein, wollten wir nicht auch den Rosen der übrigen Aussteller unsere volle Anerkennung zu Theil werden lassen. Eine Gruppe von fünfzig wurzelechten Rosen der Varietät Souvenir de Malmaison des Herrn Otto aus Altona, sodann die Trauerrosen von der Varietät Bourfault von Johann von Ehren in Nienstädten bei Altona, ferner ein Rosenbeet der Herren Soupert und Notting in Luxemburg, vorzugsweise in Remontante-Rosen bestehend und außerdem zahlreiche sehr prächtige Exemplare berühmter französischer Varietäten enthaltend, ferner das geschmackvoll arrangirte Rosenbeet des Herrn Jürgens aus Nienstädten mit gegen eintausend Exemplaren niedriger weißer und zartrother Varietäten – dies dürften die hervorragendsten Leistungen auf diesem Gebiete sein, und lobend zu erwähnen sind schließlich auch die Bourbon-, Thee- etc. Rosen der Gärtnerei des Herrn Wigand in Eisenberg, die beiden Gruppen von fünfundsiebenzig Rosen des Herrn Westenius aus Hildesheim und die Gruppe von hundert Rosen des Pomologenvereins in Boskoop in Holland.

Nimmt die Rose von vornherein die Aufmerksamkeit eines jeden Blumenfreundes in hohem Grade in Anspruch, so bietet sie hier ein vorzugsweise reiches Material zu anregenden Betrachtungen. Hier gruppiren sich mit Geschmack und Verständniß alle Formen und Farbenschattirungen, alle Größen und Füllungsgrade, von der Riesengestalt der Rose Anna von Diesbach oder der Baroneß Prevost bis zur winzigen Rose Louise Darzens; von der schneeigen Weiße der Aimée bis zum Dunkelpurpur der Rose Alfred de Rougemont, vom lichten Rosa der Louise Odier bis zum Dunkelroth der Kaiserrose von Marokko, vom bläulichen Purpur der Rose Alphons Damaizin bis zum strahlenden Gold des Maréchal Niel. Und unter ihnen allen strahlt in köstlichster Pracht die Königin aller, die in Form und Farbe hochvollendete Centifolie mit allen ihren Varietäten.

Nicht Jedermanns Liebling ist die Georgine, obwohl ihre Farbenpracht die zahlloser anderer Blumen bei Weitem übertrifft. Hier kommen sie uns in einem Glanze und einer Pracht entgegen, wie sie der Jahreszeit entsprechend sind. Wir können uns nicht enthalten, wenigstens den Neuheiten für das Jahr 1870 des Herrn Sieckmann in Köstritz, Fürstenthum Reuß, unsere Aufmerksamkeit zu schenken, unter denen wir die Georginen E. Marlitt, Goldelse, Graf Bismarck, Freiherr von Beust, Dr. Giskra, Dr. Berger, Präsident Grant etc. in prachtvollen großblumigen Exemplaren erwähnen wollen, gleichviel, ob sie es vorzüglich gewesen, um deren willen ihr Aussteller den ersten Preis erhalten hat.

Auch die Fuchsien zeigen zahlreiche neue Sorten, welche bis dahin im Handel noch nicht existiren und unter denen wiederum die hochstämmigen Exemplare des Herrn Harms im prachtvollsten Farbenschmelz alle Anerkennung verdienen.

Mit wohlthuenden Gefühlen schweift der Blick über das ganze Terrain der Ausstellung und haftet hier und da gern ausruhend an einzelnen schönen Gegenständen. Von dem lieblich saftgrünen Rasen heben sich in geschmackvollen Formen Gebilde ab, welche man schlechthin als „Rasen-Decorationen“ zu bezeichnen pflegt. Es sind symmetrisch geordnete Figuren, Sterne, Riesenblätter, Rondele, Boskets, Rosetten und dergleichen bildend, wie sie eben die Gartenkunst unserer Zeit liebt und schön herzustellen weiß. Ihre Füllung besteht in den sogenannten Teppichpflanzen, die, mannigfaltig verschieden, durch ihre vielfarbigen Blätter geschmackvolle Zusammenstellungen ermöglichen. In ähnlicher, jedoch abweichender Weise ist eine schwimmende Insel in Form eines riesigen und geschmackvollen Sterns zusammengesetzt, in dessen Mitte ein riesiger Cycla revoluta (jenes herrliche Palmengewächs, mit dessen Zweigen man namentlich in Sachsen die Särge zu schmücken pflegt) hervorragt.

Unter den anmuthigen Spielereien – so dürfen wir sie fast nennen – mit denen in unserer Zeit die Gartenkunst sich beschäftigt, verdienen die Farrngruppen vorzugsweise Beachtung. Diese zierlichen Gebilde, deren volkstümliche Namen, als: Frauenhaar-, Streifen-, Tüpfel-, Schild-, Vogelnest-, Hirschhorn-Farrn (Platycerium grande, in einem prächtigen Riesen-Exemplar, zum Preise von fünfzig Thaler, ausgestellt von Herrn Gireout, Garteninspector in Sagan) etc, neben den lateinischen Bezeichnungen und zugleich mit der Liebhaberei an diesen Gewächsen überhaupt immer mehr in alle Kreise der Gebildeten dringen, sind hier ebenfalls äußerst zahlreich vertreten.

Nicht minder schön und absonderlich in ihrer Eigenthümlichkeit erscheinen die Cactus-Gewächse, welche auf dieser Ausstellung unter Anderen in einer geradezu unübertrefflichen Sammlung von Charles Pfersdorfs aus Paris in hundertneunundfünfzig Sorten vorhanden sind, und ebenso die wunderniedlichen Miniaturpflanzen zur Zimmer-Decoration in geschmackvollen Etageren.

Auch die in Töpfen cultivirten einheimischen und fremdländischen Waldbäume, die Miniatur-Zierbäume und -Sträucher mit bunten Blättern und dergleichen, welche neuerdings noch immer beliebter geworden, gehören, streng genommen, in diese Rubrik. Daß sie aber in der jetzigen Gartencultur keinen geringen Rang einnehmen, davon zeugt der Umstand, daß ihre Aussteller, unter Anderen Ohlendorff in Hamburg, mehrfach den ersten Preis für schöne Leistungen auf diesem Gebiet davongetragen haben. Noch mannigfaltiger und wichtiger erscheint aber die neuerdings auch bedeutend erweiterte Cultur der Coniferen oder Nadelholzgewächse aller Art, unter denen auf dieser Ausstellung die herrlichen riesengroßen Araucarien, die zu den beliebtesten Decorationsbäumen der Gegenwart gehörenden Andentannen oder Andenfichten gelten müssen, und unter welchen die unübertroffenen des Herrn Jean Berschaffelt aus Gent in Belgien mit Recht mit dem ersten Preise belohnt wurden. Für eine sehr schöne Araucaria Cunninghami erhielt auch Herr Egide Rossels aus Löwen in Belgien dieselbe Auszeichnung.

Für den Liebhaber ist eine Gruppe von fünfundzwanzig sehr verschiedenartigen Arten Epheu in Töpfen von Herrn Choné aus Berlin erwähnenswert. Der größte Theil dieser Exemplare ist in der Blüthe begriffen, und abgesehen von der an sich schon so beträchtlichen Verschiedenheit der Blätterform und -Färbung bei den einzelnen Varietäten, kommt nun auch noch die sonderbare Erscheinung zur Geltung, daß die Blätter jedes blühenden Epheus ihre bisherige Gestalt verändern und in eine mehr und mehr gerundete übergehen.

So feiert denn wiederum die Industrie und Gewerbthätigkeit hier ein hohes Fest, welches zu den erhebendsten Erscheinungen gehört, die eine friedensvolle segensreiche Thätigkeit der Menschenarbeit hervorzurufen vermag, und welches jeden Menschenfreund mit Jubel und Entzücken, mit Respect vor dem menschlichen Geist erfüllen muß.

Als in den letzten Tagen der Pariser Weltausstellung, nächst den noch herbeigeströmten zahllosen fremden, Hunderttausende von Landleuten aus der Umgebung das ermäßigte Entrée benutzten, als dann zugleich sämmtliche Gemeindeschulen von Paris ihre kleine schaulustige Bevölkerung in die ungeheuren Räume ergossen, als dann sämmtliche Maschinenwerke der Ausstellung von den kolossalen Mahlwerken bis zu den kleinsten Modellen herab in Bewegung gesetzt wurden, als dann die großen und kleinen Glockenwerke ihre ehernen Stimmen erhoben, die ganze Mannigfaltigkeit der musikalischen Instrumente, von winzigen Spieluhren bis zu gewaltigen Orgelwerken hinauf, dazu erschallten, als der weitschweifende Blick über dem ungeheuren Menschengewimmel den bunten Schmuck der Fahnen und Flaggen vom milden Hauch in Bewegung gesetzt überschaute, als er keinen noch so geringen Punkt entdecken konnte, auf welchem nicht irgend ein Werk des Friedens in seiner vollen Wichtigkeit zur Geltung kam – da konnte der Menschenfreund wohl die Kanonen und Menschen-Vernichtungswerkzeuge mindestens für kurze Zeit vergessen und, frei aufathmend, aus vollem frohen Herzen einstimmen in die hehre Jubelfeier des beglückenden Menschenthums. Doch nur zu bald wurde man damals daran erinnert, daß diese Feier der Industrie vielleicht nur ein Todtenfest sei – daß über diese ganze freudige und segensreiche Thätigkeit friedlicher Menschen wahrscheinlich nur zu bald die brandenden Wogen zusammenschlagen würden eines furchtbaren blutigen Völkerkrieges, unter dessen Wunden zuckend und wimmernd die Industrie ihre gegenwärtigen Triumphe bald genug vergessen müßte.

Jetzt ist es anders. Als ein schönes ungetrübtes Friedensfest haben wir die Hamburger Ausstellung jubelvoll zu begrüßen. Ist sie auch nur auf ein beschränktes Gebiet abgegrenzt, so dürfen wir dieses doch als eines der wichtigsten in der ganzen Menschenthätigkeit ansehen. Man schmäht unsere Gegenwart, man fühlt sich beängstigt und gedrückt in ihrer Unsicherheit und ihren [626] Schwankungen zwischen Kriegs- und Friedensaussichten. Doch wie unrecht thun jene Aengstlichen! Eine Zeit, welche immer wieder neue Ausstellungen dieser Art, neue Friedensfeste im vollsten Sinne des Worts hervorzurufen vermag, in welcher selbst zu einer abgegrenzten Ausstellung Theilnehmer und Schaulustige aus allen Welttheilen und den fernsten Zonen einkehren und ihr einen wirklichen internationalen Charakter verleihen, sie läßt wahrlich keine wirkliche Todtenfeier der Industrie mehr befürchten. Denn selbst wenn ein Volk in gerechtem Grimme seine Ketten abschüttelt, wenn das Schwanken und der Sturz eines mächtigen Tyrannen mancherlei Erschütterungen in weiten Kreisen hervorbringt, selbst wenn von Zeit zu Zeit noch immer wieder das Unseligste des Menschentreibens, der Krieg, zur Ausführung kommt, selbst dann wird die Industrie jederzeit das kräftigste Heilmittel sein, welches die Wunden der Menschheit verharschen macht, und ihre immer auf’s Neue gefeierten Jubelfeste sind die herrlichsten Triumphe,

welche die Cultur und Civilisation über die Rohheit und Barbarei zu erringen vermögen.
Karl Ruß.     




Blätter und Blüthen.

Die siamesischen Zwillinge haben in der letzten Zeit durch ihr erneutes öffentliches Auftreten wieder so viel von sich sprechen gemacht, und es ist über dieselben so viel theils gegründetes, theils ungegründetes Gerede im Umlauf, daß es für die Leser der Gartenlaube gewiß von Interesse sein wird, etwas Zuverlässiges und von einer wissenschaftlichen Autorität Herrührendes über dieselben zu vernehmen. Der nachfolgende getreue Bericht findet sich in dem neuesten Hefte der in London erscheinenden Zeitschrift für Menschenkunde und rührt her von Herrn Dr. Beigel, einem deutschen Arzte in London und einem der Vicepräsidenten der Londoner Anthropologischen Gesellschaft, welche Gesellschaft seit der kurzen Zeit ihres Bestehens schon soviel Dankenswerthes für den Fortschritt der Lehre vom Menschen geleistet hat. Die siamesischen Zwillinge sind nun allerdings ein Naturwunder, aber kein solches, welches, wie so Viele meinen, eine Ausnahme von den gewöhnlichen Gesetzen des anatomischen und physiologischen Geschehens macht, sondern dessen Merkwürdigkeit nur in dem seltenen Zusammentreffen einer Reihe zufälliger Umstände besteht. Die Erscheinungen, welche Herr Beigel an dem seltsamen Brüderpaar beobachtet oder constatirt hat, sind vielmehr alle genau so, wie sie nach den allgemeinen Regeln der Vorgänge im lebenden und speciell menschlichen Körper erwartet werden mußten. Zunächst leidet es nach Beigel keinen Zweifel, daß die verbundenen Brüder zwei unter einander ganz verschiedene und in jeder Hinsicht getrennte Wesen sind. Sie sind verschieden in ihren Gefühlen, ihren Meinungen, ihrem körperlichen Befinden etc., und das einzige Gemeinsame besteht darin, daß sie sich seit achtundfünfzig Jahren daran gewöhnt haben, so zu handeln, als ob sie Eins wären. Der Eine ist bisweilen krank, der Andere nicht; der Eine hat Hunger, der Andere nicht; der Eine ist schläfrig, der Andere nicht; der Eine hat das Verlangen, gewisse Bedürfnisse zu befriedigen, der Andere nicht. Ihr Puls oder Herzschlag geht oft sehr verschieden. Jeder bewegt seine Glieder willkürlich für sich. Der Eine spielt die Violine, der Andere die Flöte. Sie sind verheirathet und haben neun erwachsene Kinder. – Die gegenseitige körperliche Verbindung Beider besteht in einer knorpeligen Verlängerung und übermäßigen Ausbildung des sogenannten schwertförmigen Fortsatzes der beiderseitigen Brustbeine, welche Verlängerung ein festes, aber einigermaßen nachgiebiges, mit Haut überzogenes Band von ungefähr sieben Zoll Länge und von der Dicke eines Armes von einer Brust zur andern bildet; doch besteht dabei jede Brusthöhle gesondert und abgeschlossen für sich. Eine solche Verbindung mit vollständiger Entwicklung zweier Individuen ist überaus selten, und ist bis jetzt in früherer Zeit erst einmal, und zwar im sechszehnten Jahrhundert, beschrieben worden.

Vom physiologischen Standpunkte aus bieten die Zwillinge eigentlich wenig Interesse, und die einzig wichtige Beobachtung in dieser Hinsicht bildet die genauere Bestimmung desjenigen Punktes des Verbindungs-Bandes, wo Beide eine gemeinschaftliche und wo sie eine gesonderte Empfindungsfähigkeit haben. Genau in der Mitte des Bandes nun besteht ein Zwischenraum von ungefähr einem halben Zoll Breite, wo die Brüder einen darauf angebrachten Eindruck, z. B einen Nadelstich, gemeinsam empfinden; darüber hinaus aber tritt jederseits gesonderte Empfindung ein.

Es besteht kein Zweifel darüber, daß eine chirurgische Trennung beider Brüder sehr leicht und ohne wesentliche Lebensgefahr für dieselben vorgenommen werden könnte; alle ärztlichen Autoritäten, welche man deshalb consultirt hat, stimmen hierin überein. Nur wäre wohl zu befürchten, daß Beide nach der Trennung einige Schwierigkeit empfinden würden, für sich zu handeln und ohne die gewohnte Unterstützung des Anderen zu gehen. Die Brüder selbst weisen jedoch jeden Vorschlag einer Trennung entschieden zurück – aus Gründen des Gelderwerbs. Sollte freilich – was aller Wahrscheinlichkeit nach geschehen wird – Einer vor dem Anderen sterben, so müßte die im Leben zurückgewiesene Trennung nothwendiger Weise noch nachträglich vorgenommen werden. Dr. L. Büchner.     




Dank und neue Bitte nach Nordamerika. Daß die trauernde Mutter (Nr. 29 der Gartenlaube) ihren Sohn, den Capitain Großmann, im Dienst des Indianer-Departements wiedergefunden, haben wir bereits in der Kürze berichtet. Wir fühlen uns verpflichtet, auch unsern öffentlichen Dank den Herren auszusprechen, welche sich so theilnehmend und aufopfernd um die Erkundung des jetzigen Aufenthaltsorts und der Adresse des Vermißten bemüht haben. Herr J. C. Hesse in Washington theilte uns aus dem Kriegs-Departement direct die dermalige Adresse mit; Herr Emil Burmester in Omaha, St. Nebraska, verschaffte sich dieselbe im Hauptquartier des commandirenden Generals des Platte-Departements; Herr J. Ende, der selbst den ganzen großen Unionskrieg mitgemacht, benutzte seine Stellung bei der Buchhandlung des Herrn Niedfeld, eines Agenten unseres Blattes in Washington, Herrn Großmann die betreffende Nummer der Gartenlaube zuzusenden; der jetzt im Kriegs-Departement zu Washington beschäftigte Capitain Hugo Kandler fügte seinen Nachrichten über Großmann zugleich die überraschende Bemerkung bei, daß er als Schriftsetzerlehrling im Jahre 1852 an der ersten Nummer der Gartenlaube mit gearbeitet. Ihnen Allen unsern Dank und dem Letztern noch besondern Gruß.

Aber auch drei neue Bitten müssen hier Platz finden. Eine Wittwe, Frau Lisette Wagner, welche gegenwärtig in Augsburg lebt, hat seit Februar 1867, wo ihr Sohn Karl Wagner aus Ulm, nachdem er glücklich den großen Krieg mitgemacht, ihr aus Chicago seine Abreise zur Rückkehr in die Heimath schrieb, keine Nachricht mehr von ihm erhalten. „Ich bin zwar auf Alles gefaßt, nur Eines möchte ich gewiß sein, Leben oder Tod; die peinliche Ungewißheit zehrt Einem Leib und Leben auf“ – so schreibt die arme Mutter, zu deren Beruhigung gewiß unsere Leser und Freunde in der neuen Welt wiederum ihr Möglichstes thun.

Die zweite Bitte geht von einer Schwester aus, die ihren verschollenen Bruder sucht: Gustav Vogel aus Leipzig, welcher im Februar 1867 aus Neu-Braunfels in Texas das letzte Lebenszeichen von sich gegeben.

Endlich hat ein Elternpaar („ein alter kranker Mann und eine blinde Frau“) seit dem 11. October 1861 keine Nachricht von seinem Sohn August Rippenhausen, der vor etwa zwölf Jahren als Steinhauer aus dem Hannöverschen auswanderte und zuletzt Koch in einem größern Hotel zu San Jose in Californien war.




Die deutsche Nordpol-Expedition, sagt der „Morning Herald“, habe bis jetzt nichts Anderes entdeckt, als daß viel Eis bei Grönland anzutreffen sei. Das sei nichts besonderes Neues, welche wissenschaftliche Form man auch der Entdeckung geben möge. Seitdem arktische Expeditionen das Interesse verloren, welches ihnen früher der Untergang der Franklin’schen Expedition verliehen, sei die Sucht nach Nordpol-Entdeckungen auf eine Linie mit dem Afrika-Reisefieber zu stellen. Aber das Innere Afrika’s könne doch einmal für civilisatorische Zwecke nutzbar gemacht werden, während oben im Norden nichts zu holen sei und nichts geschaffen werden könne, als ein Name für ein bisher unentdecktes Cap oder eine neue Eispassage. Eine englische Ansicht! – –




Berichtigung. Aus Partenkirchen erhalten wir als Berichtigung zu dem in Nr. 34 veröffentlichten Artikel über die dortige Kunstschnitzerschule die Notiz, daß nicht sieben Stunden wöchentlich der Erlernung der Schnitzerei gewidmet sind, sondern factisch jeden Tag eilf, also wöchentlich sechsundsechszig Stunden, während für den Zeichenunterricht allerdings sieben Stunden festgesetzt sind.




Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen. Die Verlagshandlung.     


An größeren Novellen sind angenommen und kommen zur Veröffentlichung:

 Ad. von Auer: Jedem das Seine. – Herman Schmid: Die Türken in München. – Wilh. von Hillern, geb. Birch (Verfasserin des „Arztes der Seele“): Aus eigener Kraft.
 Außerdem: Bilder und Erinnerungen von Fr. Hecker, Fortsetzung. – Meine Begegnung mit Mazzini, von Ludmilla Assing. – In einer Spiritistenversammlung. – Beiträge von Bock, Brehm, L. Büchner, Carl Vogt etc. etc. – Illustration von Kaulbach: Humboldt und der Kosmos. – Fräulein Tinne auf der Reise durch die Sahara, von Gentz. etc. etc.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Schummer