Die Gartenlaube (1870)/Heft 1
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No. 1. | 1870. |
Die Strahlen der Nachmittagssonne fielen in einen geschmackvoll
angelegten blumenerfüllten Garten, und während sie auf der
grünen Sammetdecke der Rasenstücke, dem reichen Flor der Beete
spielten, zeigten sie beide in ihrer vollen entzückenden Frühlingspracht.
Auf den stattlichen Mann jedoch, der über die breiten
Kieswege dahinschritt, machte sichtlich die letztere keinen Eindruck,
und er schien um ganz anderer Dinge willen, als um
Sonnenschein und Blüthenflor, in den Garten gekommen zu sein,
wenigstens verrieth sein suchender Blick, daß er nach einem besonderen
Gegenstande spähete, und es zeigte sich bereits ein Ausdruck
leichter Ungeduld auf seinem Gesicht, als ihm derselbe immer
noch entging. Endlich fielen seine Augen auf eine Laube, die in
einer entfernten Ecke des Gartens angebracht war, und als müsse
er nun jedenfalls den Lohn seines Suchens finden, richtete er entschlossen
seine Schritte dorthin.
Seine Erwartung hatte ihn nicht getäuscht; auf einer Ruhebank, unter einem dichten Laubdach von Clematis und wilden Rosen, saß ein junges Mädchen, das hier vielleicht für seine Träumereien, denen es ganz hingegeben zu sein schien, ein ungestörtes Asyl gesucht hatte. Dieselben stimmten aber offenbar weder zu ihren Jahren, noch zu der sonnigen Umgebung, denn es lag ein ernster, fast schwermüthiger Ausdruck auf ihren lieblichen Zügen. Der Herr, welcher an der Laube stehen geblieben war, hatte sie schon einige Augenblicke schweigend und forschend betrachtet, ehe sie ihn bemerkte; als sie dann aber aufblickte, sagte sie freundlich: „Ah, Sie sind es, Herr Doctor!“ und stand auf, um ihm zum Gruß die Hand zu bieten.
„Man sagte mir, daß ich Sie im Garten finden würde, Fräulein Eva,“ entgegnete er, „und da habe ich den Einbruch hier und in Ihre Gedanken gewagt – wollen Sie ihn mir vergeben?“
„Vergeben?“ lächelte sie. „Wissen Sie, daß ich in diesem Augenblick an Sie dachte, und daß ich – aber zuerst sagen Sie mir, ob Sie bei meiner Tante waren und wie Sie dieselbe gefunden haben!“
„Der Frau Räthin geht es gut, und ich werde sie in wenigen Tagen ganz aus meiner Cur entlassen können,“ erwiderte der Angeredete, indem er dabei das junge Mädchen nach ihrem Sitz zurückführte und selbst an ihrer Seite Platz nahm. Ihre Hand behielt er in der seinigen, und die Unbefangenheit, mit welcher sie ihm dieselbe ließ und, als er mit ihr sprach, zu ihm aufblickte, verrieth, daß sie ihm die Rechte eines alten Bekannten einräumte.
„Also Sie dachten an mich, Fräulein Eva?“ fuhr er fort – und es lag ein weicherer Ton in der Frage, als in jener Antwort – „aber dann waren Ihre Gedanken nicht freudiger Natur, denn Ihr Blick war traurig, als ich zu Ihnen trat!“
„O, es mischten sich viele Erinnerungen hinein,“ entgegnete sie. „Es ist heute der Geburtstag meines Vaters, an welchem er vor einem Jahre noch bei mir war. Wenige Monate später leiteten Sie mich an sein Krankenlager, nachdem die Nachricht von seiner Erkrankung mich von dem Besuch bei der Freundin heimgerufen hatte. Ich sah ihn in der Stunde zum letztenmal, denn in derselben Nacht noch starb er.“
„Ich weiß, ich weiß!“ sagte der Doctor, bemüht, seiner eigenen Bewegung Herr zu werden, als er auf die fallenden Thränen des jungen Mädchens sah. „Sein Tod kam auch mir überraschend – eine unerwartete Wiederholung des Schlaganfalls – in wenig Augenblicken war Alles vorüber!“
„Und mich weckte die Nachricht, daß ich keinen Vater mehr habe,“ entgegnete sie traurig.
„Armes Kind!“ flüsterte er und sah mit tiefer Theilnahme auf sie nieder.
„Ich hätte ihn nur einmal, o, nur noch ein einziges Mal sprechen mögen,“ fuhr sie fort. „wenn auch nur um eines schweren Räthsels willen, das mir seine letzten Worte auf die Seele gewälzt haben, und welches ich mir immer noch nicht zu lösen vermag.“
Er erwiderte nichts und sie bemerkte den Schatten von Unruhe nicht, der einen Moment über seine Züge flog. Plötzlich aber wandte sie ihm ihr volles Gesicht zu und sagte „Ich weiß nicht, wie es kommt, daß mein Herz in dieser Stunde so offen ist wie noch nie seit meines Vaters Tode; vielleicht, weil ich noch nie wieder so allein mit Ihnen geredet habe, der Sie meines Vaters Freund waren und – mir auch jenes Räthsel lösen könnten. Nein, nein, unterbrechen Sie mich nicht; ich muß Ihnen in dieser Stunde sagen, was mich so lange gequält hat, denn ich weiß, daß ich Ihnen Alles vertrauen darf.“
„Das dürfen Sie!“ sagte der Doctor warm.
„Nun denn: als ich meinen Vater wiedersah und weinend an seinem Bette kniete, sagte er mit seiner schwachen Stimme, indem er mir beide Hände aufs Haupt drückte: ‚Vergiß nie, dem Doctor [2] Reinhard zu danken, ihn zu lieben als unseren theuersten Freund, denn er hat unser Glück, meine Ehre gerettet!‘“
„Es waren fieberhafte Gedanken, Phantasien eines schwerkranken, sterbenden Mannes, die er in gesunden Stunden nie wiederholt haben würde!“ rief der Doctor in unverkennbarer Aufregung.
„Nein, nein! Er war in dem Augenblick nicht als ein Sterbender anzusehen, vielmehr bei vollem, klarem Bewußtsein; und ich hätte auch damals eine Erklärung seiner Worte vernommen, wenn Sie nicht hinzugetreten wären und dem Vater jede Erregung, jedes weitere Wort verboten hätten. Mich selbst aber führten Sie hinaus, und ich habe ihn lebend nicht wieder gesehen. Darum aber sind Sie mir jetzt die Erklärung schuldig geworden, Doctor, und Sie müssen mir sagen: was bedeuten jene Worte? Ich muß Ihnen ja danken können, wie es meines Vaters Wille war,“ fügte sie bewegt hinzu.
Er war aufgestanden und trat jetzt vor sie hin, indem er ihr beide Hände hinreichte. „Eva,“ rief er, „Sie sind mir keinen Dank schuldig! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß es nur eine krankhafte Einbildung war, welche Ihren Vater dazu brachte, mich als einen Retter seiner Ehre hinzustellen; dieselbe war so rein und makellos wie die Ehre des besten Mannes, und es ist Niemandem in der Welt eingefallen, sie anzutasten. Darum verscheuchen auch Sie jeden Gedanken, der einen Zweifel an ihm hervorrufen könnte, denn ein solcher wäre eine Versündigung an seinem Andenken!“
Sie sah ihm mit innigem Ausdrucke in’s Gesicht. „Das Bild meines Vaters lebt heilig in meinem Herzen, aber seit seinem Tode hatte sich ein Nebel davor gelegt, der mich die theuren Züge nicht immer klar erkennen ließ, und wenn ich Ihnen denn keinen andern Dank schuldig sein soll, so danke ich Ihnen wenigstens dafür, daß Sie diesen Nebel verscheucht haben. Ich werde Ihnen das nie vergessen!“
„Und doch möchte ich, daß Sie dies Alles vergäßen, Eva, daß überhaupt von gar keinem Danke gegen mich die Rede wäre, denn wissen Sie, daß ich gekommen bin, um etwas ganz Anderes von Ihnen zu hören!“
Sie sah ihn eben so erstaunt wie erwartungsvoll an; er aber nahm auf’s Neue ihre Hand und fuhr mit bewegter Stimme fort: „Eva, seit dem Tode Ihres Vaters ist das Haus Ihrer Tante Ihre Heimath geworden – könnten Sie den Gedanken fassen, auch diese Heimath wieder zu verlassen, um dafür einem Manne anzugehören, dessen Herz seit Ihrem Kindesalter für Sie schlägt?“
Ihre stumme Frage lag in ihren Augen, ihre Hand aber zitterte in der seinigen.
„Eva, ich selbst bin der Mann, der sie liebt, dessen höchster Wunsch es ist, Sie sein nennen zu dürfen, und der Sie in dieser Stunde fragt: können, wollen Sie ihm Ihre Hand reichen?“
Einen Augenblick stand sie erschrocken, fast gelähmt von seiner Erklärung, die ihr so gänzlich unerwartet und ungeahnt entgegengebracht wurde. Sie hatte in dem viel älteren Manne, der das Doppelte ihres achtzehnjährigen Lebens zählen mochte, stets nur eine Art väterlichen Freundes erblickt, wie sie denn ja auch wußte, daß er ihrem eigenen Vater freundschaftlich nahe gestanden, sie hatte ihm ihre großen und kleinen Angelegenheiten vertraut und sich in ihrer Rechnung auf seinen Schutz, seine Theilnahme nie betrogen. Und nun stand dieser Mann plötzlich als ein Bittender vor ihr, stellte sich gewissermaßen unter sie, indem er von ihrer Entscheidung sein Lebensglück abhängig machte! Sie war gar nicht fähig, das Alles zu fassen, und er sah, wie ihre Wangen bleich wurden. Ihr Schweigen machte ihn besorgt, und mit erregter Stimme fuhr er fort:
„Habe ich mich getäuscht, Eva, als ich Ihr Herz frei wähnte und deshalb wagte, um Sie zu werben, oder fühlen Sie in sich nicht die Möglichkeit, mich lieben zu können, so sprechen Sie Ein Wort, und ich trete zurück, denn ich will Ihr Glück, wie ich das meine will!“
Sie hatte sich, während er sprach, gesammelt und wagte jetzt zum ersten Male die Augen gegen ihn aufzuschlagen; sie sah die seinigen auf sich gerichtet, diese ernsten Augen, die jetzt einen wunderbar warmen und weichen Ausdruck hatten, und es war ihr, als ginge in diesem Moment ihr Herz auf und in demselben ein neues, nie gekanntes Gefühl. – Warum sollte sie diesen Mann, der besser und edler war als alle Menschen, die sie kannte, seit ihr Vater gestorben war, nicht auch mehr lieben können als alle anderen Menschen, fast wie sie den Vater selbst geliebt hatte? Auch ein flüchtiger Gedanke an die Worte des Sterbenden zog wieder durch ihre Seele: war jetzt nicht der Augenblick gekommen, wo sie beweisen durfte, daß ihr sein Wille heilig sei?
„Reden Sie, Eva, besitzt ein anderer Mann Ihre Neigung?“ fragte des Doctors tiefe Stimme auf’s Neue.
„Nein,“ entgegnete sie, immer noch in halber Verwirrung, „sie ist mein freies Eigenthum, und –“ sie stockte.
„Nun?“ fragte er gespannt.
Statt der Antwort legte sie ihre Hand in die seinige.
„Sie wollen sich mir geben, Eva?“
„Ja!“ sagte sie leise.
Er machte eine Bewegung, als ob er sie in seine Arme ziehen wollte, aber er bezwang sich und sagte nur mit einer Stimme, die vor innerer Bewegung fast zitterte: „Nein, Eva, Sie sollen, Sie dürfen sich nicht übereilen mit Ihrer Entscheidung! Es wäre unrecht, sie in dieser Stunde, die Sie, wie ich mir sagen muß, überrascht hat, von Ihnen zu fordern. Ich gebe Ihnen so viel Zeit zur ruhigen Prüfung Ihres Herzens, wie Sie verlangen, und werde keinen Versuch machen, Sie zu gewinnen, wenn Sie mir sagen, daß Sie mich nicht lieben können; dagegen fordere ich Ihre ganze, ungetheilte Liebe, wenn Sie einmal das bindende Wort gesprochen haben; ich darf sie fordern für die Hingabe meines eigenen ganzen Lebens. Vor allen Dingen seien Sie daher aufrichtig gegen mich wie gegen sich selbst, ob nicht vielleicht das Bild eines anderen Mannes in Ihrem Herzen Platz gefunden hat, das sich von dem meinigen nicht verdrängen ließe!“
Sie lächelte und erröthete zugleich. „Die Versicherung kann ich Ihnen geben – denn daß ich als vierzehnjähriges Mädchen einmal in kindischer Weise für meinen Vetter Adalbert geschwärmt habe, werden Sie mir nicht anrechnen wollen!“
„Für Ihren Vetter?“ fragte er, sichtlich unangenehm betroffen, „und er?“
„Ach, das war’s ja eben!“ sagte sie halb lachend; „er sah mich gar nicht an, hatte keine Ahnung davon, wie seine kleine Cousine ihn bewunderte, und nur Augen für erwachsene Damen, bei denen der schöne junge Marine-Lieutenant denn auch Glück genug machte!“
„Aber wie ward es, seit auch Sie eine erwachsene Dame geworden sind, Eva?“
„Nun, seit der Zeit habe ich längst verlernt, an ihn zu denken,“ sagte sie leichthin; „wir haben uns auch gar nicht wiedergesehen, denn als er – es war kurz vor dem Tode meines guten Vaters – wieder hier zum Besuch bei seiner Mutter war, befand ich mich, wie Sie wissen, bei der Freundin.“
„Und ist es wahr, daß er auch jetzt hier erwartet wird?“ fragte er hastig.
„Sein letzter Brief meldete seine bevorstehende Rückkehr von der Expedition nach den asiatischen Gewässern, welche er mitgemacht hat. Ich kann aber kaum sagen, daß ich mich auf seine Ankunft freue, denn was ich von ihm hörte, konnte mich nicht sehr für ihn einnehmen; seine Wildheit und sein Uebermuth sollen keine Grenzen gekannt haben – und mir ist, als wäre das Leben nur schön, wenn man es ruhig und im vollen Vertrauen auf einen sicheren, starken Schutz genießen kann.“
„Den sollen Sie bei mir finden, Eva!“ konnte er sich nicht enthalten, mit aller Wärme des Gefühls auszurufen, unterdrückte dann aber augenscheinlich andere Worte, die sich ihm noch auf die Lippe drängen wollten. Nur in seinen Augen mochte man lesen: „möchte ich Dich bald in diesem Schutz bergen können!“ Dann reichte er ihr zum Abschied die Hand und sagte:
„Ich widerrufe nicht, Eva, daß Sie ruhig prüfen und überlegen sollen; aber wenn Sie in sich zur Entscheidung gekommen sind, so zögern Sie nicht, dieselbe auszusprechen!“
Sie blickte ihn klar und freundlich an, wie sie denn ihre Ruhe längst wiedergefunden hatte. Eigentlich begriff sie kaum noch, weshalb sie jetzt das Wort der Entscheidung nicht aussprechen sollte, da sie ja innerlich bereits fest entschlossen war; aber er wollte es so, und da sie überhaupt gewöhnt war, sich seinem Rathe, seiner Meinung unterzuordnen, wollte sie sich auch nun seinem Willen fügen.
Sie sah ihm nach, als er über den Kiesweg dahinschritt, und freute sich über die stattliche Erscheinung, den männlich festen [3] Gang; sie dachte auch an die allgemeine Achtung, ja Verehrung, in welcher der Doctor vor der Welt stand, und fragte sich, was diese Welt wohl sagen würde, wenn sie von der Verlobung erführe; sie hörte schon die Stimmen, welche sie glücklich priesen, und fühlte sich stolz und demüthig zugleich in dem Gedanken, daß dieser bedeutende Mann gerade sie erwählt hatte, daß sie sich als seine Braut ansehen durfte. Braut?! – sie lächelte unwillkürlich bei dem Worte und dachte an ihre frühere Vorstellung, als müsse damit ein Zustand voll märchenhafter Ekstase, gewissermaßen ein ganz verändertes Dasein verbunden sein. Nun war sie selbst Braut geworden, ohne selbst recht zu wissen, wie, aber die Welt ihr darum geblieben, was sie vordem gewesen, wenn auch alles so schön und gut war, daß sie fast nicht mehr begriff, warum sie nicht längst geahnt und gewußt hatte, daß alles so kommen müsse. „Er ist so gut und liebt mich so sehr!“ wiederholte sie sich mit einer Rührung, die ihr die Thränen in die Augen trieb. Ihr Herz sehnte sich nach Mittheilung, aber zu Hause, das fühlte sie, durfte sie noch nicht von der Sache reden, um so viel weniger, als der Zustand der Tante, welche kaum von einer bedeutenden Krankheit genesen war, jede Aufregung verbot. „Zum Vater!“ sagte sie leise, ergriff das Hütchen, welches neben ihr lag, und entschlüpfte unbemerkt durch ein Seitenpförtchen des Gartens, um zu dem nicht fernen Ruheort zu gelangen, wo das Herz unter dem grünen Rasen schlummerte, das ihr einst das theuerste auf der Welt gewesen war.
Fast eine Stunde später kehrte sie in das Haus ihrer Tante zurück, wo sie von einer Dienerin mit der Bemerkung empfangen wurde, daß schon viel von der Frau Räthin nach dem Fräulein gefragt worden sei und Eva gebeten würde, gleich in deren Zimmer zu kommen. „Es ist Besuch da!“ fügte sie verschmitzt lächelnd hinzu, „aber ich darf nicht verrathen, wer es ist!“
Als Eva nicht ohne eine gewisse Spannung in das Zimmer der Tante trat, erhob sich von deren Seite aus dem Sopha ein junger Mann in der blitzenden Uniform der königlichen Seeofficiere und trat ihr mit raschen Schritten entgegen, indem er ihr, ohne ein Wort zu sprechen, die Hand bot.
„Vetter Adalbert!“ rief sie überrascht und sah in ein Paar dunkle Augen, die in unverkennbarer Rührung auf sie gerichtet waren, während die schönen Züge des jungen Mannes vor innerer Bewegung zuckten.
„Ich freue mich, daß Sie mich willkommen heißen, Eva, freue mich, Sie hier zu sehen im Hause meiner Mutter!“ sagte er, und dann war es, als erinnere er sich einer schmerzlichen Beziehung, die in seinen Worten liegen konnte, denn er bückte sich rasch und mit den Worten: „Verzeihen Sie mir!“ auf ihre Hand nieder und küßte sie.
Daß er auf diese Weise ihres Verlustes gedachte, that ihr wohl und sie erwiderte: „Ich selbst erkenne es als ein Glück an, daß ich nicht ganz verwaist zurückblieb, als mein guter Vater starb, daß es noch Herzen gab, die Sorge und Liebe für mich hatten!“
„Die giebt es, und sie sollen Ihnen nie fehlen, Eva! Ich kenne nichts, was mir so heilig und so theuer wäre, als Ihr Glück!“
Etwas überrascht sah sie zu dem jungen Manne auf, der mit auffallender Wärme, fast einer gewissen Heftigkeit des Gefühls gesprochen hatte, die sie ihm nach ihren eigenen Erinnerungen wie nach dem, was ihr später erzählt worden war, kaum zugetraut hätte; doch schnitt die Anrede der Tante, welche lächelnd und gerührt der Begrüßung zugeschaut hatte, ihre Entgegnung ab.
„Das nenne ich eine Ueberraschung, Eva,“ sagte sie heiter, „welche uns Adalbert bereitet hat. Ich erwartete ihn erst in Wochen, und plötzlich steht er vor mir, ohne seine Ankunft mit einem Worte gemeldet zu haben!“
„Ich bekam unerwartet schnell Urlaub, als wir von unserer Expedition zurückkehrten,“ versetzte er, „und da trieb es mich natürlich, auf der Stelle abzureisen, um so schnell als möglich Dich und Eva wiederzusehen und –“ er vollendete nicht und ging nur ein paarmal hastig durch’s Zimmer.
Es lag überhaupt etwas seltsam Unruhiges in seinem Wesen, eine kurz abgebrochene Hast in seinen fernen Fragen und Antworten, so daß die Mutter ein paarmal verwundert den Kopf schütteln mußte und selbst die Bemerkung nicht zurückhalten konnte: „So warst Du sonst nicht, Adalbert! Welche Veränderung nur mit Dir vorgegangen ist?“
Er lachte gezwungen: „Nun ja, es verändert sich Manches in der Welt und in den Menschen selbst, und ich habe ein ganzes Jahr – und noch dazu auf der öden See – Zeit gehabt, diese Erfahrung auch an mir zu machen; aber man lernt dann auch, was noch zu thun bleibt, nachdem man etwa so und so viel von seinem Schicksale in die Schanze geschlagen hat!“
Die Mutter begriff ihn nicht und bemerkte nur, daß er einen Augenblick düster vor sich hinblickte. Auch Eva entging der Ausdruck in seinen Zügen nicht; es war ihr peinlich in seiner Nähe, und sie benutzte einen Vorwand, um sich aus dem Zimmer zu entfernen. Er folgte ihr mit den Augen, und als seine Mutter, die ängstlich an ihnen hing, wahrnahm, daß sie wieder milder blickten, sagte sie: „Wie gefällt Dir meine Eva, Adalbert?“
„Sie ist sehr schön – und, wie mir scheint, eben so liebenswürdig!“ entgegnete er.
Sie lächelte befriedigt und fast triumphirend: „Nun, dann ist in Deinem Geschmack doch wenigstens eine gute Veränderung vorgegangen; denn weißt Du, daß Du noch vor einem Jahre behauptetest, solche blonde Schönheiten könnten Dein Herz nie fesseln, und wenn die Eva noch zehnmal schöner wäre, als wir sie Dir schilderten, würde sie in Deinen Augen der schwarzlockigen Emilie Waldow, welcher Du damals huldigtest und die allerdings in Allem das gerade Gegentheil von Eva ist, nicht das Wasser reichen können?“
Eine jähe Röthe überflog das Gesicht des jungen Mannes und er rief aus: „Ich bitte Dich, Mama, schweig davon – das ist ja Alles längst vorüber und muß vergessen bleiben! Erzähle mir lieber von dem, was unsere Unterhaltung ausmachte, als Eva hereintrat, von den Umständen, unter denen sie in dieses Haus kam, von dem traurigen Ereigniß, das sie zur Waise machte!“
„Nun ja, Adalbert! – Daß ihr Vater in Folge eines Schlaganfalls starb, der ihn um Tage nach Deiner Abreise traf, schrieb ich Dir, meine ich, schon damals.“
„Ich weiß – ich weiß!“ entgegnete er hastig – „ich erhielt die Nachricht am Tage unserer Einschiffung und konnte erst von England aus antworten. Doch fehlten in Deinen Briefen noch manche Details – so zum Beispiel sagtest Du nicht, ob man jenen Schlaganfall des Onkels einem besonderen Ereigniß – etwa einer heftigen Gemüthsbewegung zuschreibe.“
„Deine Frage bringt mich auf die eigenen Gedanken zurück, welche damals durch eine Aeußerung angeregt wurden, die ich zufällig vernahm. Als ich nämlich am Abend jenes unglücklichen Tages zu meinem Schwager in’s Zimmer trat, hörte ich, daß dieser zu dem Doctor Reinhard, der ihn seit dem Anfalle nicht wieder verlassen hatte, sagte: ‚So bürgen Sie mir dafür, Doctor, daß unser Verdacht, die ganze Sache verschwiegen bleibt?‘ worauf dieser erwiderte: ‚Mit meinem Ehrenwort!‘ Ich habe nachher oft an diese Worte denken müssen und später auch gewagt, den Doctor Reinhard um die Bedeutung derselben zu fragen, da ich sie unwillkürlich in Verbindung mit irgend einer Gemüthserschütterung brachte, die meinen Schwager betroffen haben konnte; aber er wich mir aus und versicherte nur, sie hätten rein persönlichen Angelegenheiten gegolten, die zwischen ihm und dem Verstorbenen bestanden, wie er denn ja auch diesem sein Wort gegeben habe, darüber zu schweigen. So habe ich es aufgegeben, nach einer besonderen Veranlassung seiner Erkrankung zu forschen.“
Adalbert hatte schweigend den Mittheilungen seiner Mutter zugehört, und es war fast, als führe er aus einer Art Zerstreuung auf, als er jetzt die Frage hinwarf: „Was ist dieser Doctor Reinhard eigentlich für ein Mensch?“
„Er ist als ein ausgezeichneter Arzt anerkannt und als ein vortrefflicher Mensch allgemein verehrt!“ entgegnete die Mutter warm. „Ich selbst habe ihn seit des Onkels Tode zu meinem Hausarzt angenommen, weil ich durch die aufopfernde Pflege, welche er meinem armen Schwager widmete, mich ganz für ihn eingenommen fühlte, und in meiner eigenen Krankheit habe ich alle Ursache gehabt, mich meiner Wahl zu freuen, die anfänglich auch halb unserer Eva zu Liebe geschah, die an ihm einen treuem väterlichen Freund hat.“
„Eva!“ rief der junge Mann, und es schien der Mutter, als habe er Eile, auf diesen Gegenstand zurückzukommen. „Wie ertrug sie den Tod des Vaters?“
„Das arme Kind! Sie war gänzlich niedergebeugt und hätte wie verloren in der großen weiten Welt dagestanden, wenn der [4] Doctor und ich uns ihrer nicht mit Rath und That angenommen hätten. Mich bekümmerte dabei auch, daß die Aussichten für ihr äußeres Schicksal sich so traurig gestalteten; denn wie ich Dir schon in meinem späteren Briefe schrieb, stellte sich nach meines Schwagers Tode heraus, daß er keineswegs so vermögend gewesen war, wie alle Welt – und ich kaum ausgenommen – ihn gehalten hatte. So blieb eigentlich der Ruhm, daß er ein pflichttreuer, gewissenhafter Beamter gewesen war – an den städtischen Cassen, die er verwaltete, fehlte, wie ich Dir schon damals schrieb, keines Hellers Werth – das einzige Erbtheil seiner Tochter. Von der ganzen Hinterlassenschaft wäre nichts für sie übrig gewesen, wenn Du nicht großmüthig ihr das ganze Vermögen von dreitausend Thalern, das Dein Onkel als Dein Vormund für Dich verwaltete, zugewiesen hättest.“
Der junge Mann hatte, während sie sprach, sein Gesicht abgewandt, kehrte sich jetzt aber plötzlich zu ihr um und sagte mit einer gewissen Rauhheit: „Laß das, Mama, davon darf kein Wort gesprochen werden! Für mich war das Opfer nicht groß, denn Du weißt, daß die Erbschaft des Vetters, die mir gerade um die Zeit so unerwartet zufiel, mich sechsfach so reich machte. Ueberdies hätte dem Rechte nach Eva zu gleichen Theilen von ihm erben müssen, denn er war ihr so nahe verwandt wie mir, und sein Testament also im Grunde eine Ungerechtigkeit. Es ist aber doch Alles nach meinem Willen gegangen, daß Eva nichts von der ihr gewordenen Schenkung erfahren hat?“
„Sie weiß nichts davon,“ sagte die Mutter, „und hält das kleine ihr gebliebene Vermögen einfach für das Erbtheil ihres Vaters. Der Vormund ging gern auf die Clausel ein, wenn sie ihm auch auffallend war, und eben so wenig fand das Gericht Grund, sie zu beanstanden, während es leicht war, die Sache vor Eva selbst geheim zu halten, da ihr ja jede Geschäftskunde, wie jeder Einblick in die Angelegenheiten ihres Vaters fehlt. So hat Niemand außer dem Doctor davon erfahren.“
„Der Doctor und immer wieder der Doctor!“ rief Adalbert ungeduldig und es schien fast, als wolle er noch eine weitere Bemerkung hinzufügen, die er aber unterdrückte, als Eva in diesem Moment wieder in’s Zimmer trat. Bei ihrem Anblick leuchtete in seinen Augen wieder etwas von der Rührung des ersten Wiedersehens auf und seine Stimme ward weich, als er mit ihr sprach.
Unwillkürlich dachte sie dabei an eine andere Stimme, deren weicher Ton sie heute auch so überrascht hatte, und das Bild des Freundes trat lebhaft vor ihre Seele. Sie verglich es mit der glänzenden Erscheinung des Vetters und fragte sich, weshalb der Eindruck, den ihr dieselbe machte, kein eigentlich wohlthuender war, wenn sie sich auch gestehen mußte, daß seine körperlichen Vorzüge das schlichte Aeußere des Doctors tief in den Schatten stellten. Selbst seine Augen, so schön sie waren und so theilnehmend sie auf ihr ruhten, beängstigten sie fast durch das Feuer, welches in ihnen glühte und das sie nahezu unheimlich fand. Auch seine Unterhaltung vermochte sie nur stellenweise anzuziehen. Wenn er von seinen Reisen erzählte, wenn er in interessanter Weise von fremden Ländern und Völkern, die er kennen gelernt hatte, sprach, wenn er mit großer Lebendigkeit die Schrecknisse jenes entsetzlichen Orcans schilderte, der seinem Schiffe fast den Untergang gebracht hatte, hörte sie mit beinahe athemloser Theilnahme zu, und ihr Blick hing dann wie gebannt an seinem Munde. Sobald er dann aber in seiner seltsamen Weise wieder absprang und eine jener Aeußerungen that, die auf einen tiefen Zwiespalt seines Innern schließen und fast glauben ließen, daß er sich mit Welt und Leben zerfallen fühle, fand sie sich förmlich abgestoßen und es überkam sie eine Art Schüchternheit, selbst Bangigkeit vor ihm. „Gottlob, daß Reinhard nicht ist wie Adalbert!“ klang es in ihrem Innern. „Wie fern ist sein ruhig klares Wesen dieser leidenschaftlichen, zerfahrenen Natur!“ Dann wieder fragte sie sich, wie die beiden Männer sich gegen einander verhalten würden, ob je auf Freundschaft und Harmonie zwischen ihnen zu hoffen sei, und weil ihr inniger Wunsch sich auf dies Ziel richtete, sah sie mit großer Spannung einer Begegnung Beider entgegen.
Schon der nächste Tag sollte dieselbe herbeiführen. Der Doctor hatte der Räthin, als seiner Patientin, den gewöhnlichen Morgenbesuch zu machen, und ohne etwas von der Anwesenheit ihres Sohnes zu wissen, trat er in’s Zimmer.
„Herr Doctor Reinhard – mein Sohn Adalbert!“ stellte die Räthin die beiden Herren einander vor und Eva, die beim Eintritt Reinhard’s unwillkürlich erröthet war, blickte erwartungsvoll von Einem zum Andern, fühlte sich aber betroffen durch die auffallende Kälte, welche Beide in die hergebrachte Begrüßung legten.
An mein Vaterland.
Kein Baum gehörte mir von deinen Wäldern,
Mein war kein Halm auf deinen Roggenfeldern,
Und schutzlos hast du mich hinausgetrieben,
Weil ich in meiner Jugend nicht verstand,
Und dennoch lieb’ ich dich, mein Vaterland!
Wo ist ein Herz, in dem nicht dauernd bliebe
Der süße Traum der ersten Jugendliebe?
Und heiliger als Liebe war das Feuer,
Nie war die Braut dem Bräutigam so theuer,
Wie du mir warst, geliebtes Vaterland!
Hat es auch Manna nicht auf dich geregnet,
Hat doch dein Himmel reichlich dich gesegnet;
Seit ich zuletzt auf deinem Boden stand,
Doch schöner ist, als Palmen und Citronen,
Der Apfelbaum in meinem Vaterland.
Land meiner Väter, länger nicht das meine!
Nie wird dein Bild aus meiner Seele schwinden,
Und knüpfte mich an dich kein lebend Band,
Es würden mich die Todten an dich binden,
Die deine Erde deckt, mein Vaterland!
Wie deine Fortgewanderten dich lieben,
Bald würdest du zu Einem Reiche werden,
Und deine Kinder gingen Hand in Hand
Und machten dich zum größten Land auf Erden,
Sheboygan (Wisconsin). Konrad Krez.
„Im Anfange des letzten Jahres“ (Nr. 8, 1868), schreibt uns der Dichter, der jetzt in Sheboygan im Staate Wisconsin lebt, „druckten Sie ein Gedicht von mir, ‚Entsagung und Trost‘, aus dem Freiligrath’schen Album in Ihrer Gartenlaube ab. Seitdem habe ich so viele Beweise von Anerkennung, die ich Ihrem Blatte verdanke, aus Europa, Amerika und sogar aus Australien erhalten, daß ich vielleicht nicht ohne Grund glaube, die Veröffentlichung des beiliegenden Gedichtes würde den Lesern der Gartenlaube nicht unangenehm sein. Es ist der Ausdruck des Gefühls eines alten Achtundvierzigers.“
Daß ich die Schweiz wählte, um einige freigemachte Sommertage zu verleben, außerhalb des im August herzlich langweiligen Berlin, hatte seinen guten Grund. Ich glaubte, der Bergluft zu bedürfen, und Freund Girtanner hatte mich eingeladen, die Ausstellung lebender Vögel der Schweizeralpen zu besichtigen, welche er in Verbindung mit seinen Freunden Wild und Stölker veranstaltet, in der Absicht, naturwissenschaftliche Kenntniß in der Vaterstadt St. Gallen zu fördern. „Sie, der Sie alle Thiergärten Europas kennen,“ schrieb er mir, „werden nicht viel sehen, immerhin aber Manches, was Ihren Beifall finden dürfte. Meine Mauerläufer
[5][6] sind natürlich auch mit ausgestellt.“ Das wirkte. Ich hatte in Griechenland und Spanien vergeblich ausgeschaut nach diesem Vogel, dem reizendsten, harmlosesten Kinde der Alpen, dessen milde Schönheit mich, so oft ich die todte Hülle betrachte – warum soll ich es nicht sagen – eigenthümlich ergreift, ja, förmlich rührt. Jetzt sollte ich den Vogel lebend, in Gefangenschaft, hoffentlich sogar in der Freiheit sehen: – also auf, nach St. Gallen!
Die Ausstellung bot weit mehr, als ich erwartet hatte; denn die alpine Vogelwelt war trefflich vertreten. Vom Bartgeier an bis zum Steinhuhn herab fehlten nur wenige Arten. Und das will etwas sagen, wenn man bedenkt, daß die drei genannten Männer, vielbeschäftigte Aerzte, aus eigenem Antriebe die Ausstellung geschaffen, mit eigenen Mitteln zwei- bis dreihundert Vögel zusammengebracht, gefangen, vom Ei an aufgefüttert, verschrieben, monatelang eigenhändig gepflegt hatten, ohne bestimmte Aussicht auf Erfolg, ohne im Entferntesten an Ersatz ihres Aufwandes an Zeit, Mühe und Geld zu denken. Jeder von ihnen hatte sich’s über tausend Franken kosten lassen, um den Landsleuten eine Freude zu bereiten, den Unkundigen ein „Schutz den Vögeln“ in der allverständlichsten Weise zuzurufen. Das war echt schweizerisch gedacht und gehandelt; schweizerisch aber war es auch, daß man den wackeren Männern den großen Saal des Schulgebäudes zur Verfügung gestellt hatte, ohne sich vor dem ketzerischen Geruche, in welchem die Naturwissenschaft verdientermaßen steht, zu scheuen oder zu fürchten.
Ich will hier keine Schilderung dieser Ausstellung geben, auch keine Vogelnamen nennen; es genüge zu sagen, daß erstere mit großem Verständniß hergerichtet, künstlerisch geschmückt war und lebhaft besucht wurde, sowie, daß ich unter den Gefiederten viele alte Bekannte und liebe Freunde antraf, aber auch neue Bekanntschaften machte. Wie sehr mich der Käfig mit den beiden Mauerläufern fesselte, fühlt mir wohl nur der Fachmann nach, welcher weiß, daß vor Girtanner’s Berichten über diesen Vogel dessen Naturgeschichte dürftiger war, als die jedes anderen Alpenvogels. Im allerhöchsten Grade aber fesselte mich die schlichte Erzählung meines Freundes, wie er die gleichsam unnahbaren Vögel in seine Gewalt gebracht, und ich wäre am liebsten schon am nächsten Tage mit ihm aufgebrochen, um Ort und Stelle der Geschichte zu besuchen, hätte der neidische, seit Tagen mit Regenwolken verhüllte Himmel es gestattet.
„Beruhigen Sie sich,“ sagte Girtanner, „bei Bad Pfäffers, gerade dort, wo die Felsenwände sich über der wildbrausenden Tamina zusammenschließen, unmittelbar hinter dem Badehause, sehen Sie den Vogel ganz gewiß; auch in der Nähe der Teufelsbrücke auf dem Gotthard dürften Sie schwerlich vergeblich suchen; – freilich, beim Wildkirchli hätten wir ihn ganz bestimmt zu Gesicht bekommen!
Ich spähte vergeblich an der erstbezeichneten Stelle, suchte umsonst alle Wände des Taminathales ab, kam bei den geputzten Bade- und Reisemenschen, deren fade Himmelei mich ununterbrochen störte, in den entschiedensten Verdacht, ein deutscher Professor zu sein; – der „Murspecht“ sei vorhanden, sagten befragte Hirten, Straßenarbeiter und andere Weltweise, ließe sich aber manchmal in vierzehn Tagen nicht sehen etc. Auch beim ersten Besuche der Teufelsbrücke erging es mir nicht nach Wunsch, und erst, als ich, die Rastzeit der Gefährten in Andermatt benutzend und auf das Wort des kundigen Nagler vertrauend, zur Brücke zurückging, gewahrte ich den lieblichen Vogel, hängend an einer kleinen Capelle, deren fratzenhafte Bilder von mir unbekannten, unzweifelhaft aber höchst bedeutsamen Heiligen vorher meinen Geschmack empfindlich verletzt hatten, gleichsam zum Beweise, daß die Urbilder besagter Fratzen ihre Werkthätigkeit selbst auf Ungläubige zu erstrecken vermögen. Die Capelle steht seitdem unvertilgbar vor meinem geistigen Auge; die Fratzen sind vergeben und vergessen: an ihrer Stelle hat sich mir eingeprägt das freundliche Bild des – Felsenwiedehopfes, „Mauerläufer“ oder „Alpenspecht“ genannt.
Ja, ein Wiedehopf mit Kletterfüßen, nicht aber ein Specht oder Läufer ist dieser seltsame Vogel, das Urbild einer besonderen Sippe und Familie, verbreitet über die Hochgebirge Europas und Asiens, einem Schmetterlinge vergleichbar in seinem Wesen, in seinen Bewegungen, und wie dieser im Flug erst seine volle Pracht entfaltend, ein Wiedehopf, trotz aller hochgelahrten systematischen Auseinandersetzungen der Altmeister, Meister und Lehrlinge unserer Wissenschaft: das sah ich mit dem ersten Blicke und glaubte damit vollen Lohn für meine Ausdauer erzielt zu haben, so lächerlich unbedeutend dieser Gewinn auch scheinen und sein mag.
Nur in beträchtlicher Höhe über dem Meere, auf den Alpen, Pyrenäen, Karpathen, den spanischen und griechischen Gebirge wie auf dem Himalaya lebt der Mauerläufer, paarweise ein ausgedehntes Gebiet bewohnend und dasselbe tagtäglich mehrere Male durchstreifend, und nur vom Gestein liest er sich seine Nahrung ab: Kerbthiere verschiedener Arten, Spinnen, deren Eier und Puppen. Man sieht ihn schwankenden Fluges wie einen Schmetterling von einer Stelle zur andern flattern, hier sich anhängen, die großen bogig gekrümmten Nägel der langen Zehen, mit denen er eine umfangreiche Fläche zu umklammern vermag, an das Gestein heften, bei jedem Schritte oder Sprunge wie aus Uebermuth die Flügel zuckend lüften, und mit dem seinen sanft gekrümmten Schnabel alle Ritzen der Felsenwand untersuchen. Nirgends hält er sich längere Zeit auf einem und demselben Flecke auf, durchsucht aber gründlich die Stelle, zu welcher er heran flog, und kümmert sich nicht im Geringsten darum, welche Lage er zu ihr einnehmen muß. Unterhalb des vorspringenden Gesimses hängt er sich mit derselben Sicherheit fest wie oberhalb oder am senkrechten Abfalle desselben, bezüglich der ganzen Felsenwand, über breite Steine gleitet er mit derselben Sicherheit weg, immer mit den Flügeln zuckend, als könne er es gar nicht lassen zu zeigen, wie prachtvoll das beim Sitzen größtentheils versteckte Purpurroth der Flügel gegen das zarte Aschgrau des Kleingefieders, das Mattschwarz (im Winter Grauweiß) der Kehle, der Schwingen und des Schwanzes absticht. Heitere Fröhlichkeit scheint der fast ununterbrochen ausgestoßene Lockruf zu bekunden, vertrauensselige Sicherheit oder schmetterlingshafte Harmlosigkeit die Art und Weise, wie er auftritt. Man weiß nicht, soll man sich mehr ergötzen an all’ dem oder mehr gefesselt werden durch ein geistiges Sichausmalen des stillen Lebens und seiner Schicksale da oben in der hehren Alpenwelt mit ihrer gewaltigen Herrlichkeit und ihrem grausigen Elende. Inmitten des Roseggletschers im Pontresinathal, auf Agagliouls, einer von Eismeeren umgebenen Felseninsel, lebt jahraus jahrein ein Pärchen dieses Vogels und fristet doch sein Dasein, ohne daß wir das Wie zu begreifen vermögen. Was mag es zu ertragen haben in den langen Winternächten; wie eifrig mag es flattern und klettern während des kurzen, oft genug sonnenlosen Tages, um sich dieses Tages Nahrung zu gewinnen! Allerdings geschieht es regelmäßig, daß Winterkälte und Winternoth den Mauerläufer in das tiefere Land herabdrücken; er erscheint z. B. in jedem Winter regelmäßig an den Nagelfluhwänden bei, an den Kirchenmauern in St. Gallen; doch scheint es, als ob von vielen sich nur wenige bewegen ließen, die heimathliche Höhe mit der nicht selten ungastlichen Niederung zu vertauschen, und ehe noch der Föhn vom kommenden Frühling zu reden begonnen, sind auch diese wenigen bereits wieder unten verschwunden und zu den Hochbergen zurückgeflogen.
Solchen Vogel mußte ich mehr als einmal sehen, mindestens noch mehr über ihn erfahren; die herzliche Einladung der liebenswürdigen Gastfreunde in St. Gallen, auf dem Rückwege noch einmal hier vorzusprechen und das Wildkirchli zu besuchen, kam mir daher um so willkommener. Girtanner geleitete uns als kundiger Führer zum ersehnten Orte. Während die Uebrigen Auge und Herz an der herrlichen Landschaft weideten, suchte ich die Felsenwände ab, bis ich den Vogel wieder erspäht, und während Jene ruhten, kletterten wir zu der Stelle, über welcher hoch an der Felsenwand das Nest mit dem damals sehr jungen, nunmehr ausgewachsenen und ausgefärbten Gefangenen Girtanner’s gestanden. Ich besichtigte Alles, jeden Stein, so zu sagen, und bewunderte den Mannesmuth meines Freundes fortan noch mehr als sein aufopferndes Streben, sich und Anderen Kenntniß der Alpenthiere zu erwerben.
„Hier war es, wo wir lange rathlos standen; hierher stellten wir die zusammengebundenen Leitern, dorthin die Sennen; und –“
„Aber, liebster Girtanner, nur nicht so ohne Vorwort! Sie haben mir zwar die Geschichte Ihrer Heldenthaten bereits mitgetheilt; hier jedoch, auf diesem classischen Boden, muß ich den Bericht nochmals von Anfang bis zu Ende hören. Erzählen Sie, bitte, noch einmal.“
Er sagte zu, ging mit mir zum Wildkirchli zurück, sammelte beim Veltliner die zerstreuten Gefährten und begann:
„Sie wissen, daß ich mir schon vor einigen Jahren einen [7] Käfig zimmerte, leimte und ausschmückte, wie er, meines Erachtens, einem Mauerläufer zusagen mußte, mit künstlich nachgeahmtem Felsgestein, Vorsprüngen, Winkeln, Ecken und Schlupflöchern – nun, Sie haben den Käfig ja gesehen. Das war lange bevor ich den ersten „Murspecht“ erhielt; Sie wissen, wie.“
„Gewiß,“ unterbrach ich ihn, „es war der Vogel, welchen Sie in einem Beichtstuhl der Domkirche fingen; ich habe Ihnen ja bereits gesagt, wie sehr gedachter Beichtstuhl seitdem meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ich möchte sagen in meiner Achtung gestiegen ist.“
„Nun,“ fuhr er fort, „dieser Vogel starb zu unser Aller Leidwesen, und der Käfig stand wieder leer wie vorher. Ich hatte inzwischen Bekanntschaft gemacht mit allen Sennen auf dem Säntis, denen ich ein Verständniß für meine Absicht zutrauen durfte. Anfangs Juni 1867 erhielt ich Nachricht von dem Neste, dessen Standort ich Ihnen gezeigt habe, und zwar durch Niemand Anderen als unsern Wirth. Die Kunde lautete, daß es wohl möglich sein dürfte, zu dem Neste zu gelangen. Es galt nur, den richtigen Zeitpunkt für die Aushebung zu treffen, da starkbebrütete Eier für mich unbrauchbar sein mußten und allzuflügge Junge mir auch nicht genehm sein konnten; ich trug deshalb unserm Aelpler auf, das Benehmen der alten Vögel am Nistplatze zu beobachten, sich namentlich den Tag zu merken, an welchem die Alten zum ersten Male Atzung zutragen würden: denn an ein Einsehen in das Nest war hier, wie Sie sich selbst überzeugt haben, nicht zu denken. Acht Tage nach diesem durch Beobachtung festzustellenden Zeitpunkte soll das Ausnehmen der Jungen geschehen, inzwischen das Nöthige an Leitern, Tauen etc. herbeigeschafft werden. Die erwartete Nachricht traf zur günstigsten Zeit ein; wir konnten die Ausführung unseres Unternehmens auf den 30. Juni, einen Sonntag, festsetzen, und gerade an diesem Sonntage sollte ein Sängerfest gefeiert werden, welches uns voraussichtlich von allen unnützen Zuschauern befreien mußte.
Noch flimmerten die Sterne, als ich mich am Morgen dieses denkwürdigen Tages auf den Weg machte. Vier Stunden später befand ich mich an Ort und Stelle, viertausend sechshundert Fuß über dem Meere, auf dem schmalen Felsgesimse, welches wir vorhin betraten, am Rande des gähnenden Abgrundes, in welchen wir hinabsahen. Ueber mir, an der überhängenden Felswand, flogen die alten Mauerläufer, Atzung zum Neste tragend, ab und zu.
Angesichts der Felswand kam ich bald zurück von meinem ursprünglichen Plane, mich an einem Seile an der ungefähr dreihundert Fuß hohen Wand von oben herabzulassen. Ich würde, mindestens zehn Fuß vom Neste entfernt, in der Luft geschwebt haben. Also blieb nur ein Zusammenbinden der vier Leitern übrig, welche unsere Gehülfen, kräftige Sennen, ungefähr anderthalb Stunden weit herbei oder richtiger heraufgeschleppt hatten. Das Zusammenbinden war bald geschehen; anders verhielt es sich mit dem Aufstellen. Beim ersten Versuche, bog sich die über siebenzig Fuß hohe Maschinerie fast bis zum Boden herab. Es fehlte eben an Platz zum Handanlegen, überhaupt an jedem Anhaltspunkte. Die starken Alpknechte, gewöhnt, centnerschwere Heubürden stundenweit auf halsbrechenden Pfaden dem Schober zuzuschleppen, erlahmten bei der Aufgabe, diese Leiterverbindung aufzurichten. Wir müssen uns endlich entschließen, diese zuerst in den Abgrund zu versenken und von ihm aus an Seilen emporzuziehen, Zoll um Zoll, Fuß um Fuß. Nach unsäglichen Mühen von der einen, unermüdlichen Bitten und Anfeuern von der anderen, durch mich vertretenen Seite, gelingt es die Spitze der beiderseits mit Haltseilen versehenen Leiter bis in die Nähe des Nistplatzes zu schieben. Bis in die Nähe – das will sagen, nicht weit genug! Eine fünfte Leiter heraufschaffen zu lassen von den bereits unwillig gewordenen Leuten? Unmöglich! Wir müssen uns anders helfen. Mein Blick fällt auf einen Rettungsanker in Gestalt eines riesigen Sägebockes. Dieser wird herbeigeschleppt, mit einem Ende an dem unter der überhangenden Wand angebrachten Heuschober angebunden, mit den Füßen des anderen hart am Rande des Abgrundes in den Boden eingerammt, in das feste Querstück hier ein, dort ein Loch für die Füße der Leiter ausgemeißelt. Nochmals hebt man das Leitergerüste und verbindet es mittels Stricken fest mit dem Sägebocke.
Wer sollte um eines Vogels willen sein Leben auf das Spiel setzen; wer konnte mir über Stand und Lagerung des Nestes in der Felsenspalte genaue Nachricht geben, wie ich es wünschte; wer war genugsam vertraut mit der Behandlung so zarter Geschöpfe? Niemand anders als ich selber! Ich besann mich nicht. Der Pfad vor mir ist schmal und sehr schwankend, der Abgrund hinter mir – doch an ihn denke ich nicht – aber der blaue Alpsee tief, tief unten glänzt herauf, als wolle er mir winken – Albernheit; ich glaube wirklich, ich verspüre etwas wie Gefühlsüberschwenglichkeit in mir: vorwärts! Mit äußerster Vorsicht betrete ich die Leiter; zaghaft fast hebe ich einen Fuß um den andern; leise setze ich ihn auf die höhere Sprosse allein mit jedem Tritte nehmen die Schwingungen der Leiter zu, so straff auch die Sennen die Haltseile anspannen; ich bedarf der vollsten Anstrengung aller Muskeln, um nicht rückwärts weggeschleudert zu werden. Doch die Höhe von etwa fünfzig Fuß ist schon erreicht, das Ziel nahe; – wenn nur die Leiterverbindung besser sein wollte! Aber das erbärmliche Machwerk schwankt immer mehr, immer ärger, wird förmlich lebendig; es knackt, knarrt, ächzt und knirscht aller Enden, über, unter mir – ‚herunter, schnell herunter!‘ kreischen die rauhkehligen Sennen auf: zu spät – denn ich habe den Rückweg bereits aus freien Stücken angetreten.
Was nun? Denken Sie sich meine Niedergeschlagenheit! Alles vergeblich! Es ist zum Verzweifeln. ‚Ja, wenn das Geisbübli von jener Alpe hier wäre,‘ meint einer der Sennen, ‚für den Burschen wäre das eine Kleinigkeit, ein Vergnügen!‘ Die Worte sind Musik in meinen Ohren; es wird hin und her geredet, und das Ergebniß ist der Beschluß, eine Gesandtschaft zu dem kleinen Ziegenkönig zu schicken.
Nach langem, langem Harren erscheint der Ersehnte, ein schmächtiger Knabe von etwa zwölf Jahren mit gewecktem Gesicht, aus welchem ein gefahrtrotziger Zug unverkennbar hervorleuchtet. Er läßt sich den Fall vortragen, besieht und betastet die Leitern, erkundigt sich genau nach der Art und Weise der Zusammenfügung, schaut prüfend in die Höhe, gleichgültig in die Tiefe, und erklärt, die Vögel herabholen zu wollen. Beim Anhören der ernstesten Ermahnungen, mit äußerster Vorsicht verfahren zu wollen, wirft er den Kopf in den Nacken, ohne eine Silbe zu antworten, bindet sich schweigend die Schachtel, in welcher er die Brut bergen soll, um den Leib, winkt den Sennen, auf ihre Posten zu gehen, und betritt die Leiter. Er steigt nicht, sondern klettert wie eine Katze aufwärts; die Leiter biegt sich kaum unter der geringen Last; er hat die Höhe erreicht, ehe wir es geglaubt. Tückisches Geschick: die Leiter ist zu kurz. Doch nicht für ihn. – Stumm aus Furcht, ihn zu stören, sehen wir mit Entsetzen, wie er bis auf die drittoberste Sprosse klettert, den Felsen packt, sich auf die Zehen stellt und nun mit der Rechten blindlings über sich in die Höhle greift. ‚Ich finde Nichts,‘ ruft er zu uns hernieder; trotzdem tastet er weiter. Reiser fallen uns auf die Köpfe; viermal birgt er Etwas in der Schachtel; dann tritt er still den Rückweg an. Wir athmen hörbar auf; über die verwetterten Gesichter der Sennen zuckt es wie ein Lichtstrahl; meine Gewissensbisse mildern sich und machen einer ausgelassenen Freude Raum: der furchtlose Knabe steht wieder auf festem Grunde! Helle Jodler erschallen aus allen Kehlen und klingen wider von den Felsenwänden. In meiner Hand ruht das zierliche Nest mit vier munteren, aber noch sehr zarten Jungen.
Der Abend ist gekommen; die Felsen werfen lange Schatten; ich trete den Heimweg an. Hier, auf unseren Plätzen sitzen die Männer, den Held des Tages in ihrer Mitte, und erquicken sich an dem wohlverdienten Veltliner; ihre Jodler erreichen mich noch, als ich mit meinen Pfleglingen schon im Dunkel des Bergwaldes verschwunden bin.“
„Liebster Girtanner, dieser Bericht darf nicht blos in den Verhandlungen Ihrer Gesellschaft erscheinen! Sollte es nicht möglich sein, Jemand zu finden, welcher hier an Ort und Stelle Felsenwand und Leiter und Sie, die Sennen und das Geisbübli treu und wahr zeichnen wollte?“
„O, das würde der wackere Rittmeyer uns wohl zu Gefallen thun; auf eine Fußwanderung von St. Gallen bis zum Wildkirchli kommt es ihm, einem unserer tüchtigsten Bergsteiger, wahrhaftig nicht an!“
„Damit würde er mir allerdings eine große Freude bereiten; aber nicht blos mir allein, sondern gewiß noch Vielen. Denn sein Bild und Ihre Erzählung behalte ich nicht für mich: sie sind schon jetzt beide für die ‚Gartenlaube‘ bestimmt.“
[8]Es wäre eigentlich jetzt genug über den Todten geschrieben und gesagt. Seitdem Schlagintweit-Sakunlünski in der der Kölnischen Zeitung den Schillerschen Vers:
Wie er sich räuspert und wie er spuckt,
Das habt Ihr ihm glücklich abgeguckt!
in so glänzend einfacher Tiroler Handschuhkrämer-Naivetät zur Berechtigung gebracht hat, ist eigentlich Alles erschöpft und gar Nichts mehr zu sagen. Der Artikel hat mir abermals den Beweis geliefert, daß, wenn eine Geisterwelt existirt, was ich trotz Perty stark bezweifle, doch kein Zusammenhang zwischen ihr und der Erde stattfinden kann. Bei dem Gefühle, so fürchterlich von indischen Elephantenfüßen platt in Grund und Boden gestampft zu werden, hätte Humboldt’s Seele in einem immensen Schmerzensschrei ausbrechen müssen, der die ganze Atmosphäre erfüllte hätte, wie der Trompetenstoß zum jüngsten Gerichte – denn Humboldt’s Geist umfaßte ja, nach Aller Versicherung, beide Welten. Man hat aber Nichts gehört, weder hier noch in Amerika, also. … Wie dankbar bin ich Chr. Ritter von Schlagintweit-Sakunlünski, dem ich seinen ganzen Russen-Titel von Herzen gönne, obgleich Kladderadatsch in seiner irreverentiösen Weise ihn immer nur Schnabelweid zu nennen pflegte! Kennen wir doch erst jetzt Humboldt recht, seitdem wir den deutschen Mann in seiner innersten Häuslichkeit gesehen, seitdem wir erfahren haben, wann er den Frack und zu welcher Stunde nach mittlerer Berliner Zeit er die Halsbinde, die weiße, umlegte. That er dasselbe auch, wenn er in Paris war, zu derselbe Stunde oder trug er der Längen-Differenz zwischen beiden Metropolen der Intelligenz Rechnung? Diese Frage scheint mir außerordentlich wichtig, zumal da sie ein Streiflicht auf Humboldt’s specielle Befähigung zur Astronomie werden dürfte, die von mancher Seite her in Zweifel gestellt wurde, und deshalb möchte ich zu ihrer Lösung einen kleinen Beitrag liefern.
Es war im Januar 1845. Im Laufe des Sommers hatte ich Agassiz in Neuenburg, mit dem und Desor ich fünf Jahre lang in diesem traurigsten aller Krähennester zugebracht hatte, verlassen, um in Paris meine Wohnstätte aufzuschlagen. Agassiz stand ebenfalls im Begriffe, Neuenburg, das damals noch preußisches Fürstenthum war und durch die Lieferung von Kammerdienern und Gouvernanten aus den niederen, von Diplomaten aus den höheren Ständen eng mit dem Hofe in Berlin zusammenhing, den Rücken zu kehren und nach Amerika zu wandern – seine Schulden trieben ihn über das Meer – der Goethe’sche Vers:
Widersacher, Weiber, Schulden,
Ach! kein Ritter wird sie los!
hatte stets strenge Anwendung auf ihn gefunden.
Unser Leben in Neuenburg war einfach und doch vielfach bewegt. Tags über arbeiteten wir, wenigstens Desor und ich, wie zwei junge Leute nur arbeiten können, die Kraft, Interesse und Muth haben – oft, wenn eine Lieferung abgefertigt, eine des Tags über gemachte Untersuchung geschlossen und zu Papier gebracht werden sollte, bis tief in die Nacht hinein. Abends fand man sich in einer für das damalige Fürstenthum liberalen Gesellschaft, dem cercle des marchands. Dort gab es seltsame Typen: les trois mousquetaires, drei alte Junggesellen, die sich zusammengethan hatten und gemeinschaftliche Wirthschaft führten, um einander gründlich zu ärgern – eine Anzahl von Räthen, die wir spottweise so getauft – der Commercienrath, ein dicker, witziger Kaufmann; der Studienrath, ein Professor aus Deutschland, den der hitzige Neuenburger Wein zu früh unter die Erde brachte; der Medicinalrath, ein Apotheker mit höhreren wissenschaftlichen Bestrebungen, die stets wieder in der Latwerge zu Boden fielen. Eine über Alles komische Figur war der Stadtrath, ein Mitglied jener Oberbehörde der Stadt, die aus neun Personen bestand, aber den bizarren Titel führte: „Messieurs les quatre minstraux“, wie der Volkswitz behauptete, weil sie, obgleich neun an der Zahl, doch nur für Vier Verstand hätten. Der Stadtrath hatte die Special-Mission, unglückliche gefallene Mädchen im Augenblicke, wo das Kind geboren wurde, zu fragen, wer der Vater desselben sei. Nannte die von Schmerzen und der Anwesenheit einer Magistratsperson Gequälte einen Namen, so galt das für einen geschworenen Eid und der Betreffende mußte zahlen; hielt sie aber standhaft aus und schwieg, so war das Kind ein „enfant du Prince“ (Fürstenkind) und der Fürst von Neuenburg, d. h. der König von Preußen mußte die Kosten seiner Erziehung auf seine Civilliste nehmen. Das war so eines von den vielen Stückchen Mittelalter, die in dem Musterfürstenthum üppig neben dem barbarischen Gesetzbuche der peinlichen Halsgerichts-Ordnung Kaiser Caroli des Fünften, der Carolina criminalis und anderen Ueberlieferungen fortwucherten und gegen die wir Fremde beständigen Kampf und Spott unterhielten. Wenn der Stadtrath unruhig im Zimmer auf und ab ging, dicke Wolken aus seiner langen Pfeife dampfte, unwirsche Antworten gab und bis Mitternacht ausharrte, während er sonst regelmäßig mit dem Glockenschlage Zehn nach Hause ging, so wußte man, daß seine Amtsthätigkeit in Anspruch genommen werden sollte, und dann war der Neckereien kein Ende.
Ich könnte Tage lang erzählen von dem mitteralterlichen Unsinn, der dort herrschte und der uns reichlichen Stoff zur Unterhaltung bot. Die Stadt hatte nicht einmal sechstausend Einwohner, aber nichtsdestoweniger einen „Großen Rath“ von, glaube ich, hundert Mitgliedern, die sich alle Montage feierlich in kurzen Hosen, seidenen Strümpfen, mit einem Mäntelchen und weißen Bäffchen, wie Pfarrer ausgestattet, zur Sitzung begaben und ihre Verhandlungen so geheim hielten, daß nicht einmal der Kanzleidiener in den Saal durfte, sondern das jüngste Mitglied die Thüre öffnen und, was Jener brachte, entgegen nehmen mußte. Und sie waren so stolz auf ihr Bürgerthum von Neuenburg, daß, als Agassiz fast zu gleicher Zeit Bürger von Neuenburg und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Paris wurde, man lebhaft darüber discutirte, welches die größere Ehrenbezeigung sei, und fast einstimmig zu dem Schlusse kam, da schon viele Gelehrte Akademiker, aber bis dahin noch Keiner Bürger von Neuenburg geworden sei, so müsse Letzteres doch einen weit höheren Werth besitzen.
Außer den Abwechslungen, welche Excursionen, größere Reisen auf die Gletscher, Besuche von Fremden und Wissenschafts-Genossen brachten, waren es besonders Briefe von Humboldt, welche uns in eine gewisse Aufregung brachten. Jedesmal, wenn die Casse von Agassiz die bedenklichste Ebbe zeigte und keine Aussicht auf andere Hülfe am Horizonte sich sehen ließ, wurde ein Angstruf an Humboldt erlassen, der dann mit gewohnter Gutmüthigkeit alle Segel aussetzte, um unter irgend einem mehr oder minder plausiblen Grunde seinem Souverän einige harte Thaler zu erpressen. Beihülfe zur Untersuchung fossiler Fische, zu Expeditionen auf die Gletscher, Extra-Gratificationen kamen hie und da, oft aber blieben sie auch aus und Humboldt vertröstete dann auf bessere Zeiten und bessere Launen des Monarchen. Kam nun ein solcher sehnlich erwarteter Brief, so wurde der Bann und Hinterbann der Schriftgelehrten aufgeboten, ihn zu entziffern. Lupen und Vergößerungsgläser wurden über die Krakelfüße gehalten, die von einer Ecke des Briefes in die andere krabbelten, und wenn die Prophetengabe unseres Dreiblattes nicht zur Lesung der Hieroglyphen ausreichte, so wurden andere Freunde zu Rathe gezogen – , ein Geographe, der unter Karl Ritter studirt und aus dessen Heften französische Lehrbücher zusammengestoppelt hatte, oder der Bibliothekar Monvert, der mit vier Anekdoten, die er erb- und eigenthümlich besaß und meisterhaft erzählte, seit vierzig Jahren ein unentbehrlicher Erheiterer aller großen Diners der höheren Gesellschaft war. So kam denn endlich, oft erst nach tagelangen Mühen, das Entzifferungsgeschäft zu Stande, bei welchem regelmäßig, zur Entschuldigung des Gönners, angeführt wurde, daß er sich bei seinen Reisen auf Orinoco in Ermangelung eines Tisches daran gewöhnt habe, auf dem Knie zu schreiben. Freilich kam es uns nicht in den Sinn, uns die Frage zu stellen, warum deshalb die Handschrift so unleserlich sein müsse, und wir hätten dies doch um so leichter thun können, als in ganz Frankreich, in allen Hörsälen der Collèges wie der Facultäten, keine Tische vorhanden sind und nur auf dem Knie geschrieben wird.
Manchmal mögen wir wohl bei der Arbeit, die uns ein solcher Brief machte, geflucht haben – aber im Ganzen stand uns doch Humboldt’s Bild als das eines hülfreichen, wohlwollenden [9] Mannes vor dem Geiste, der für seine Freunde und Günstlinge (und zu diesen gehörte Agassiz in hohem Grade, was er ihm auch jetzt damit vergolten hat, daß er ihn dem puritanischen Publicum Neu-Englands als einen Gläubigen darzustellen sich nicht entblödete) Alles that, was ihm nur irgend möglich war, jede Gelegenheit benutzte, ihnen nützlich und förderlich zu sein; der mit ängstlicher Pünktlichkeit jeden erhaltenen Brief beantwortete und seiner Antwort stets eine gutmüthige und doch witzige und erheiternde Fassung zu geben verstand. Ohne ihn persönlich zu kennen, hatten sich doch diese Züge, wie die seines Portraits lebhaft in unser Gedächtniß geprägt. Zuweilen kam auch eine Anfrage von ihm über diesen oder jenen Punkt, den Agassiz’s Arbeiten speciell behandelten, und diese Anfragen waren stets so klar und bestimmt gefaßt, daß man wohl sah, er sei vollkommen im Stande, die ganze Tragweite der Antwort zu ermessen.
Zu dem Bilde sollten bald neue, unerwartete Züge sich gesellen. Ich kam im August 1844 nach Paris mit wenig Aussichten und noch weniger Geld, aber mit dem festen Vorsatze, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich hatte einige Empfehlungen, und Bericht-Erstattungen über die Sitzungen der Akademie der Wissenschaften für die Cotta’sche Allgemeine Zeitung hielten mich wenigstens finanziell über dem Wasser. Auch hatten meine Arbeiten über die Entwicklungsgeschichte der Forellen und der Kröten mir die Wege gebahnt. Ich quartierte mich in dem alten Hôtel garni der Rue Copeau, gegenüber der Pitié und dem kleinen Pförtchen des Pflanzengartens ein, das heute seine Bestimmung ebenso wie die Straße den Namen geändert hat.
Damals war es das Rendez-vous aller fremden Naturforscher. An der Table d’hôte präsidirte Straus-Dürkheim, der die berühmte Monographie des Maikäfers gemacht hatte, weshalb er meist kurzweg der Maikäfer genannt wurde, mit einem grünen Lichtschirme über den Augen auf dem kahlen Schädel. Jeden neuen Ankömmling zerrte er mit Gewalt in sein Studirzimmer, zeigte ihm einen Sessel à la Louis quinze, in dessen Sitzpolster links eine große Vertiefung sich zeigte, und bewies ihm haarscharf, daß man nur dann Anatomie der Insecten treiben könne, wenn man einen solchen Sessel habe, so wie er darin sitze, so die rechte Hand aufstütze und so die linke. Die Zimmer im Hôtel hatten ihre besonderen Namen nach den Naturforschern, die darin gewohnt hatten – Johannes Müller, Meckel, Rudolphi, Matteucci, Agassiz, Kohn waren da in bunter Reihe vertreten. Ich kam bald in ersprießliche Thätigkeit und Lage.
Die Akademie der Wissenschaften war damals in zwei Parteien gespalten; das Haupt der einen war Alexander Brongniart, ein altes kleines Männchen, früherer Mitarbeiter Cuvier’s für den geologischen Teil; die andere Partei stand unter der Führung Arago’s. Nur einige Wilde, unter ihnen Blainville, waren unberechenbar. Die Brongniartisten waren der Regierung Ludwig Philipp’s zugethan – die Anhänger Arago’s gehörten zur Opposition. Mit den Ersteren war ich durch Milne-Edwards, der mir stets viel Freundschaft erwies, in Berührung gekommen; mit Arago war ich durch den edeln Martin de Strasbourg, der uns auf dem Aargletscher besuchte, bekannt geworden. Gingen Brongniart und Arago Hand in Hand, namentlich bei Wahlen, so konnte der Candidat auf beiden Ohren schlafen; waren beide Führer nicht einig, so wurden die hitzigsten Treffen geliefert. Arago, ein echter Provençale in diesem Stücke, konnte meinen Namen nie behalten und aussprechen; da er aber einmal, wenn auch ohne Resultat, aus Schiller’s Tell Deutsch zu lernen versucht hatte, so fand er den Ausweg, mich „Geßler“ zu nennen.
Bei dieser Lage der Sache war es begreiflich, daß Humboldt in der Akademie einen so unbeschränkten Einfluß ausübte, wie er ihn nicht hätte haben können ohne seine persönliche Bekanntschaft mit den beiden Parteiführern und mit allen älteren Größen, welche die Akademie damals noch zählte. Mit Arago dutzte er sich, was in Frankreich eigentlich nur unter Schulgenossen stattfindet; ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Mit Brongniart war er, von Cuvier her, auf dem intimsten Fuße; mit Biot, Gay-Lussac, Chevreuil verband ihn langjährige Freundschaft. So kam es denn, daß die Wahlen zur Akademie nicht in Paris, sondern, wie mir ein Freund sagte, in Berlin gemacht wurden; die Candidaten empfahlen sich zuerst bei Humboldt, und wenn sie besondere Günstlinge von ihm waren, kam dieser selbst nach Paris, um für sie einzustehen. Da nun jeder Franzose, sobald er mit Wissenschaft sich zu beschäftigen beginnt, sich Sessel in der Akademie als Zielpunkt nimmt und alle Mittel in Bewegung setzt, um zu demselben zu gelangen, so war die Gunst Humboldt’s von Jedem gewünscht und gesucht. Ich bin häufig von ganz jungen Leuten, die erst in zwanzig Jahren vielleicht hoffen konnten, dies Ziel zu erreichen, gefragt worden, ob ich mit Humboldt bekannt sei, und wenn ich dies verneinte und sogar offen bekannte, daß ich mein Verhältniß zu Agassiz nicht benutzt habe, um ihm persönlich näher zu treten, schüttelten sie den Kopf und ihre Mienen deuteten ziemlich verständlich an, daß sie mich für einen vernagelten Gesellen ansahen.
Es war damals eine lebhafte Candidatenjagd um einige erledigte Sessel und namentlich um einen Platz in der Section für Zoologie. Ein Candidat für die Akademie ist das geplagteste Thier, das man sich vorstellen kann. Schon mehrere Monate vor der Wahl miethet er einen Wagen für den ganzen Tag und fährt von Morgens früh bis nach Mitternacht in den Straßen umher, um Besuche ohne Zahl abzustatten. Er hat einen oder zwei Freunde, die für ihn arbeiten; diesen erstattet er täglich Bericht über seine Fortschritte und nimmt Verhaltungsmaßregeln entgegen. Er muß nicht nur allen Mitgliedern der Akademie Besuche abstatten, sondern auch deren Verwandten und Freunden, die für ihn ein gutes Wort einlegen könnten; er muß sich aus einem Salon in den andern stürzen, überall liebenswürdig sein, dort die Dame des Hauses, hier eine alte Jungfer gewinnen, mit welcher irgend eine der alten Perrücken eine Partie Domino zu spielen pflegt; er muß jedem seiner Gönner nicht nur seine Verdienste und Ansprüche auseinandersetzen, sondern ihm auch die Lection so lange wiederholen, bis er sie auswendig und Anderen aufsagen kann. Damit nicht genug! Der Candidat setzt auch alle wissenschaftliche Segel auf; er läßt eine Liste seiner Arbeiten und seiner Verdienste drucken, liest womöglich in jeder Sitzung eine neue Abhandlung, um die Augen auf sich zu ziehen, und bestürmt zu diesem Zwecke nicht nur Präsidenten und Sekretäre, sondern auch vor ihm eingeschriebene Redner, damit sie ihm ihren Platz abtreten; kurz, er ist Hans Dampf in allen Gassen. Am Ende einer solchen Campagne ist der Candidat hohläugig und abgemagert wie ein Schemen, und erreicht er endlich den Sessel, so fällt er erschöpft hinein und hat zuweilen für sein ganzes zukünftiges Leben genug.
Seit Jahren lebte am Pflanzengarten der Zoologe Valenciennes ein stilles gemüthliches Pflanzenleben. Er war ein guter, dicker, kurzathmiger Mann, der lieber gut und viel aß, als arbeitete, in den Alleen des Gartens in Pantoffeln und einem grauen Hausrocke umherschlenderte, einen unerträglich schreienden Ara fütterte und alljährlich mit großer Mühe einen Band eines großen Werkes über Fische zur Welt brachte, für dessen Redaction ihn Cuvier einst als Mitarbeiter angenommen hatte. Verstand hatte er gerade genug, um eine Species von einer andern unterscheiden und nothdürftig beschreiben zu können, freilich in einem fürchterlichen Französisch, dessen Fehler landläufig geworden waren. Er hatte auch für Humboldt einige zoologische Artikel zu dessen Reisewerk bearbeitet – Grund genug, daß dieser, den man überhaupt einer gewissen Schwäche für Mittelmäßigkeiten beschuldigte, ihn ganz besonders in sein Herz geschlossen hatte. Mein Weg zur Sammlung für vergleichende Anatomie, in der ich arbeitete, ging gewöhnlich an Valenciennes’ Wohnung vorbei – er stand dann meist, pustend und blasend, im Hausrocke bei seinem Papagei und fütterte diesen mit den Resten des Frühstücks. Eines Tages rennt mich ein schwarzgekleideter Herr beinahe um. Ich blicke auf – es ist Valenciennes, schnaubend wie ein Butzkopf. Frack und Hosen waren sehr eng, die Augen standen ihm vor dem Kopfe.
„Was haben Sie?“ rufe ich erstaunt.
„Ach! Sie sind es!“ sagte er. „Steht da draußen ein Wagen?“
„Ja, an der Ecke!“
„Adieu,“ ruft er, „ich muß fort!“
Einige Schritte weiter stoße ich auf meinen Freund Lemercier, den Unterbibliothekar des Pflanzengartens, der mich ganz besonders in’s Herz geschlossen hatte, weil ich manchmal die Gefälligkeit hatte, ihm deutsche Büchertitel in’s Französische zu übersetzen.
„Wissen Sie denn, was los ist?“ frage ich; „Valenciennes hat mich eben fast umgerannt. Er war ungemein aufgeregt und stürzte zum Garten hinaus, als wenn es brennte!“
„War er im Frack?“ fragte Lemercier.
[10] „Ja wohl!“
„Dann muß Savigny sehr krank sein!“
„Freilich wohl – man sagt, er liege im Sterben!“
„Da haben Sie es – Valenciennes beginnt seine Visiten, noch ehe sein Vorgänger todt ist,“ ruft Lemercier. „Er ist wahrhaftig im Stande, zu dem Sterbenden zu fahren und ihn um seine Stimme zu bitten!“
In der That starb Savigny, das letzte Mitglied jener berühmten wissenschaftlichen Expedition, welche Bonaparte nach Aegypten begleitet hatte, wenige Tage darauf. Für Paris war der Mann schon lange todt – er lebte, blind und nervenkrank, auf dem Lande, unfähig zu jeder geistigen Anstrengung, verkommen und so arm, daß ihm die Akademie, deren Mitglieder außer einer jährlichen Pension noch Präsenzgelder für jede Sitzung beziehen, diese Gelder, vielleicht tausend Franken im Jahre, fortbezahlen ließ, wie wenn er bei jeder Sitzung anwesend wäre. Das war der Lohn eines der scharfsinnigsten Forscher, dem zuerst die fruchtbringende Lehre von der Uebereinstimmung der Mundtheile der kauenden Insecten (wie Käfer und Heuschrecken) mit denen der saugenden (Schmetterlinge, Fliegen und Wanzen) und von der Umwandlung jener in diese durch allmähliche Metamorphose zu danken ist.
Strafpredigt für Eltern, Lehrer und Schulvorsteher.
Der Weg für die Menschheit zur wahren Freiheit und edelsten Humanität, zur Vernunft und reinsten Sittlichkeit führt durch die Schule. Dieser Weg wird sich aber noch sehr in die Länge ziehen, wenn das Volk nicht weit energischer für die Schule und die Lehrer eintritt, wenn es nicht erfolgreicher für die Unabhängigkeit der Schule und die naturwissenschaftliche Bildung der Lehrer kämpft, als dies zur Zeit geschieht. „Nur wer die Schule hat, hat die Zukunft“, und nur aus Dem, was eine Gemeinde für ihre Bildungsanstalten und ihre Lehrer thut, läßt sich auf den Culturzustand und den Humanitätsgrad derselben schließen. – Was die meisten unserer jetzigen Schulen aus den Menschen in geistiger, körperlicher und moralischer Hinsicht machen, ist nichts weniger als erfreulich und nur damit zu entschuldigen, daß die häusliche Erziehung der Kinder der Erziehung durch die Schule schwer zu überwindende Hindernisse in den Weg legt. Daher kommt es denn auch, daß Tugenden, wie man sie von dereinstigen Republikanern und Materialisten verlangt, nämlich Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung, echte Menschenliebe und Ehrgefühl bei klarem Verstande, nur bei Wenigen zu treffen sind und daß zur Zeit Egoismus, Eitelkeit, Herrschsucht und Sclavensinn, Aberglaube, Neid und Mißgunst das Thun und Treiben der meisten Menschen bestimmen. Wie wenig ferner die meisten Schulen dem Volke vom Denken und von den in der Natur, sowie im menschlichen Körper herrschenden Gesetzen beibringen, zeigt sich recht deutlich an den vielen Ausgeburten des Unverstandes, die bei der jetzigen Menschheit so vielen Anklang finden und zu denen der Wunderglaube, der Spiritismus, die Phrenologie, die Homöopathie, der Vegetarismus, die schablonenartige kaltwasserwickelnde Naturheilkünstelei, die Geheimmittelkrämerei, der Communismus und Lassalleanismus etc. gehören.
Jedenfalls ist es sehr schmachvoll, daß die allermeisten Menschen in der Schule so gut wie nichts, oder wirklich nichts, vom Baue, Leben und Pflegen ihres eigenen Körpers lernen und deshalb weder ihr eigenes, noch ihrer Mitmenschen und Nachkommen leibliches Wohl zu schützen und zu fördern im Stande sind, ja auch nicht einmal Interesse an diesem Wohle haben. Anstatt sich die Köpfe über die Größe, Breite, Form und Richtung der Rückenlehne an der Schulbank zu zerbrechen, sollten die Lehrer vor allen Dingen die Einrichtung und das Getriebe im menschlichen Körper kennen zu lernen suchen, um ihren Schülern eine richtige Anleitung zum Gesundbleiben geben zu können und um endlich selbst einzusehen, daß auch bei den zweckmäßigsten Schuleinrichtungen die Schüler doch Schaden an ihrer Gesundheit erleiden müssen, wenn die Lehrer nicht von denjenigen Apparaten des Kindeskörpers genaue Kenntniß haben, die beim Schulunterrichte zum Arbeiten gezwungen werden und unter denen der Apparat für die geistige Arbeit, das Gehirn nämlich, das am meisten zu berücksichtigende ist. Wer der Meinung sein sollte, daß der Erwachsene schon nachträglich sich Das noch aneignen kann und wird, was ihm in der Jugend an Wissenswerthem zur Verstandesbildung vorenthalten wurde, der befindet sich in einem großen Irrthume. Der Unsinn, der Aberglaube, der einmal im Kopfe (Gehirne) eines Erwachsenen von Jugend auf steckt, ist darin so fest gewurzelt, daß er weder durch Vernuftgründe, noch durch Thatsachen wieder herauszuschaffen ist. Ebensowenig legt aber auch der Erwachsene seine Charakterfehler, die der Jugendzeit entstammen, leicht wieder ab. Und deswegen eben muß für die körperliche und geistige Erziehung des Menschen durch das elterliche Haus und die Schule so zeitig als möglich eine feste und bleibende Grundlage für die Zukunft geschaffen werden.
Was für die Zukunft des Kindes häusliche Erziehung thut, kann man daran erkennen, daß für die Eltern der Moment, in welchem sie ihre Kinder zum Schulbesuche für reif halten, der ist, wo die Frau Mama zornig in die Worte ausbricht: „Mit Dir ungezogenem Schlingel ist es aber auch gar nicht mehr auszuhalten, mit Dir ist nicht mehr fertig zu werden!“ „Dir werden sie’s in der Schule schon lehren“ (nämlich das Artigsein). Soll es dann dem Schlingel in der Schule mit dem Stocke wirklich gelehrt werden, so schimpfen schließlich die lieben Eltern noch über die Strenge der Schule und des Lehrers. Daß die Kinder aber gar nicht anders als ganz verzogen in die Schule kommen können, weiß die Erziehung derselben von Seiten der Mutter schon in den ersten Lebensjahren fertig zu bringen. Das Kind ist kaum auf die Welt gekommen, so wird ihm schon durch das Schaukeln, Wiegen und Umhertragen, was es sehr bald, wie später überhaupt alles ihm Behagende, durch Schreien zu erzwingen weiß, Eigensinn, Trotz und Herrschsucht anerzogen, und es dauert nicht lange, so sind die Eltern und die ganze Verwandtschaft durch falsche Nachgiebigkeit zu Sclaven des Kindes geworden. Alle Unarten werden sodann beim unfolgsamen Kinde damit entschuldigt: „Das Kindchen hat ja noch keinen Verstand“, und das wird ja schon besser werden, „wenn nur erst der Verstand kommt.“ Als ob der Verstand zu einer gewissen Zeit in den Menschen hineinführe und, wenn er wirklich ein menschenwürdiger sein soll, nicht vom ersten Tage des Lebens an im Gehirne nach bestimmten Regeln ganz allmählich durch Gewöhnung entwickelt werden müßte. – Ja, die ersten Anfänge strafbarer Laster (des Lügens, Stehlens) finden die Eltern meistens sehr nett, denn das Kind ist dabei „gar so pfiffig und possirlich“. Wird dann später dieses Kind als Dieb bestraft, so wehklagen die dummen Eltern über ihr unglückliches Geschick, das sie mit ungerathenen Kindern heimgesucht hat und was sie sich doch selbst bereitet haben. Nur aus den Erziehungsfehlern, welche in der ersten Lebenszeit des Kindes von den Eltern, zumal von den Müttern, gemacht werden, geht die Charakterverderbniß hervor, die später Eltern und ihre Kinder so unglücklich macht. Man lasse sich doch endlich einmal darüber belehren, daß dem Menschen von Natur zwar ein Organ gegeben ist, mit dessen Hülfe er verständig, sittlich und willensstark werden kann, daß er aber dieses Organ, das Gehirn nämlich, dazu erst gewöhnen muß.
Das gesunde, gehörig eiweiß-, fett- und phosphorhaltige Gehirn hat zwar die Fähigkeit, geistig thätig sein zu können, allein diese geistige Thätigkeit muß in ihm erst erweckt und herausgebildet werden, von Haus aus besitzt es dieselbe nicht. Und dies geschieht mit Hülfe der Eindrücke auf das Gehirn, welche von der Außenwelt durch die Sinnesorgane und Sinnesnerven, von den Empfindungsorganen unseres eigenen Körpers aber durch die Empfindungsnerven in das Gehirn hineingeschafft werden. Vom Eingeborensein eines bestimmten Glaubens, Wissens und Könnens in das Gehirn, von Gut oder Bös, von Schön oder Häßlich ist gar keine Rede. Verbrecher werden ebenso wenig wie edle Menschen geboren, immer nur erzogen, und deshalb wird auch jeder echt menschlich fühlende Gebildete den Verbrecher stets nur als einen Unglücklichen ansehen, der weit weniger für sein Verbrechen [11] verantwortlich zu machen ist, als seine ersten Erzieher. Man mache deshalb Personen, die der menschlichen Gesellschaft schaden, wohl für diese unschädlich, aber wende die Todesstrafe nicht an ihnen an. – Was und wie das Gehirn später arbeitet, ist immer nur die Folge früherer Eindrücke und Eingewöhnungen. Es läßt sich deshalb der Mensch mit Hülfe dieser Bildungsfähigkeit seines Gehirns durch Gewöhnung zu allem Möglichen erziehen.
Wie nun die ganz falsche moralische Erziehung des Menschen in seiner frühesten Jugend von Seiten der Eltern die Hauptschuld an der weit verbreiteten Charakterlosigkeit und dem moralischen Verfalle bei der Mehrzahl der jetzigen Menschen trägt, so ist auch dem elterlichen Hause weit mehr als der Schule die Schuld an dem erbärmlichen Gesundheitszustande der meisten Erwachsenen zuzuschreiben. Es ist allerdings Thatsache, daß die Kinder im Schulalter einer Anzahl ganz bestimmter Krankheiten so oft und so leicht unterliegen, daß man diese Uebel recht wohl „Schulkindkrankheiten“ nennen darf. Aber ganz mit Unrecht will man diese Krankheiten „Schulkrankheiten“ taufen und der Schule die alleinige oder doch die Hauptschuld an ihrem Entstehen beimessen, während sie doch eigentlich aus dem elterlichen Hause stammen. Das Verbrechen der Schule hierbei besteht nur darin, daß sie theils der Verschlimmerung jener Schulkindkrankheiten nicht energisch entgegentritt, sondern diese sogar durch unpassende Behandlung der Schüler begünstigt, theils daß sie die Schüler nicht mit jenen Krankheiten und den dagegen anzuwendenden Maßregeln bekannt macht. Es würde übrigens für die Kräftigung der Menschheit sicherlich von großem Vortheile sein, wenn man in den Schulen anstatt oder doch neben den geistlichen Schulinspectoren wissenschaftlich gebildete ärztliche Schulvisitatoren anstellte. Auch könnte es gar nicht schaden, wenn die Herren Kriegsminister, die doch so viele gesunde Menschen zu Soldaten brauchen, die Herren Cultusminister einmal über den schlechten Gesundheitszustand der Schüler interpellirten.
Die Schulkindkrankheiten sind, wenn auch nicht lebensgefährlich, doch insofern sehr beachtenswert, als sie für das ganze spätere Leben des Schülers große und bleibende Nachtheile haben und hindernd in das Fortkommen desselben eingreifen können. Sie betreffen vorzugsweise das Gehirn und Nervensystem, den Sehapparat, das Rückgrat und das Blut in seiner Beschaffenheit und seinem Laufe. Unter ihnen stehen obenan: Die Kurzsichtigkeit und die Rückgratsverkrümmung; erstere, die mehr bei Knaben vorkommt, soll vorzugsweise durch die unzweckmäßigen Subsellien (Tische und Bänke), die falsche Beleuchtung und die übermäßige Anstrengung des Gesichtssinnes veranlaßt werden; die letztere, welche mehr bei Mädchen angetroffen wird, soll der falschen Körperhaltung, hauptsächlich in Folge unpassender Subsellien, ihre Entstehung verdanken. Es scheint, daß die Bücherbeschäftigung mehr den Augen der Knaben, die weibliche Handarbeit mehr dem Rücken und Brustkasten der Mädchen schadet. – Die Blutarmuth mit der es viel zu leicht genommen wird und die für’s ganze Leben einen großen Schwächezustand hinterlassen kann, sucht vorzugsweise die Mädchen heim und hat gewöhnlich große Muskelschwäche mit Schiefwerden, sowie Schwachsichtigkeit und nervöse Leiden (Kopfschmerz, Schwindel, Ohrensausen, Epilepsie, Veitstanz) in ihrem Gefolge. Sie soll theils das Erzeugniß von Ueberanstrengungen der Organe, besonders des Gehirns, der Sinneswerkzeuge und der Musculatur (beim Still- und Geradesitzen) sein, theils der schlechten Schulluft in den mit Schülern überhäuften Zimmern ihr Entstehen verdanken – Hirn- und Nervenaffectionen, wie: Kopfschmerz, Schwindel, Ohrensausen, Epilepsie, Veitstanz, sollen durch falsches und übermäßiges Arbeiten des Gehirns, zumal wenn diesem die gehörige Menge Blutes und Sauerstoffs fehlt, erzeugt werden. Sie schleppen sich, wenn ihnen nicht energisch entgegengetreten wird, weit in das spätere Leben hinein. – Sogenannte Congestionen nach Kopf-, Hals-, Brust- und Unterleibsorganen, welche Kopfschmerz, Schwindel, dicken Hals und Kropf, Nasenbluten, Athmungs- und Verdauungsbeschwerden veranlassen können, sollen vorzugsweise mechanischer (passiver) Art sein, d. h. durch erschwerten Rückfluß des Blutes zum Herzen in Folge falschen Sitzens mit vorgebeugter Haltung des Körpers entstehen. Sie kommen um so leichter zu Stande, wenn enge Kleidungsstücke den Hals, die Brust und den Bauch zusammendrücken und so auf Blutfluß und Athmung hemmend einwirken. Manche nehmen auch eine active Congestion mit vermehrter Herz- und Gefäßthätigkeit (Erweiterung der Pulsadern), und zwar in Folge von angestrengter Hirnthätigkeit und von Reflexen des Gehirns und der Hirnnerven auf die Herznerven und das Gefäß-Nervensystem an. Diese Art von Congestion soll erzeugen: Kopfweh mit geröthetem Gesicht und rothen Ohren (besonders bei Mädchen), Nasenbluten (besonders bei Knaben und vorzugsweise in den oberen Classen), dicken Hals (der in den Ferien oft verschwindet) und Kropf (Schulkropf) in Folge der Erweiterung der Halsadern. – Katarrhen, besonders im Athmungsapparate, sind Schulkinder deshalb so häufig unterworfen, weil sie sich einer sehr wechselnden Temperatur in der Schulstube auszusetzen gezwungen sind und die Luft, welche sie hier einathmen, meist nicht die reinste ist. – Außer diesen genannten, vorzugsweise als Schulkind- und Schulkrankheiten bezeichneten und der falschen Behandlung des Kindes in der Schule zugeschriebenen Leiden, treten am Schulkinde auch noch Uebel auf, die es vom Hause in die Schule mitbringt oder die ihm von Mitschülern mitgetheilt werden. Die genannten Krankheiten sollen später ausführlich behandelt werden.
Um nun einzusehen, daß die Krankheiten, deren Entstehung man ganz mit Unrecht und rücksichtslos der Schule zuschiebt, weit mehr im elterlichen Hause verschuldet werden, braucht man nur den Lebenslauf des Kindes von seiner Geburt an bis in die Schuljahre hinein zu verfolgen. Anstatt des naturgemäßesten Nahrungsmittels, der Milch, wird dem Säugling viel zu früh eine (zu mehl- und zuckerreiche) Nahrung gereicht, die weder der Kräftigung der Knochen und Muskeln, noch der des Gehirns und der Nerven zusagt. Noch sind seine Knöchelchen nicht gehörig knochenhart und sein schlaffes mageres Fleisch nicht musculös genug, so wird das Kindchen schon aus dem Wickelbette genommen und muß aufsitzen, wird stundenlang von einer unerfahrenen Wärterin nur auf einem Arme herumgetragen, muß sich vorzeitigen und anstrengenden Steh- und Gehversuchen unterwerfen und wird im Stühlchen (mit keiner oder unpassender Lehne) beim Spielen viel zu lange zum Aufrechtsitzen gezwungen. Daß bei diesem Maltraitiren der Wirbelsäule und der Rückenmuskeln, wobei das Kind fast stets zusammenhockt und sich hier und da hin beugt, das Rückgrat seine gerade Richtung behalten kann, ist unmöglich. Hierzu kommt noch, daß die Eltern dem Kinde Alles mit dem „schönen“ d. h. rechten Händchen machen lassen und daß dieser vorwiegende Gebrauch der rechten Hand und des rechten Armes an der Brustwirbelsäule stets eine schwache Krümmung nach rechts erzeugt. Diese rechtseitige Ausweichung der Brustwirbelsäule erklärt auch, neben der falschen Körperhaltung beim Schreiben etc., die Häufigkeit der Rückgratsverkrümmungen auf dieser Seite, welche sich zu den linkseitigen wie 100 : 2 verhalten.
Mit vorschreitendem Wachsthume wird zu Hause das Kind viel zu unkindlich behandelt und in seiner Gesundheit (besonders in seiner Blutbeschaffenheit und Ernährung) geschädigt: durch falsche Nahrung (erhitzende Getränke, wie starken Kaffee oder Thee, Bier und Wein, schwerverdauliche Speisen und reizende Kost), unregelmäßiges Essen (Naschen), Mangel an Schlaf (langes Aufbleiben, zumal in Gesellschaften und an öffentlichen Orten, zu zeitiges Frühaufstehen), schlechte Luft (besonders im Schlafzimmer), unzweckmäßige und zu dünne Kleidung (enge Leibchen und Unterkleider), vernachlässigte Hautreinigung (durch warme Bäder), Nichtberücksichtigung krankhafter Erscheinungen (besonders von Katarrhen, Husten, Appetitlosigkeit, Abweichungen im Stuhlgange). Beschäftigt sich das kleine Kind mit Malen, Zeichnen, Schreiben u. dgl., so wird weder darauf gesehen, wie dasselbe dabei sitzt, noch in welchem Lichte (ob in grellem oder unzureichendem Lichte) es dies treibt. In späterer Zeit wirken noch die vielen Privatstunden, das häufige Lesen unterhaltender oder belehrender Bücher mit kleiner Schrift, die engen kleinen Noten, die feinen Handarbeiten (Perlenstickerei) etc. schädlich auf die Augen und das Rückgrat, da meistens das Sitzen und das Licht dabei von den Eltern nicht controllirt wird. Kurz, würde man die Kinder bei ihrem Eintritte in die Schule von einem ärztlichen Schulinspector untersuchen lassen, so würde sich ergeben, daß diejenigen Krankheiten, welche während des Schulbesuchs am Schulkinde immer deutlicher hervortreten, schon bei der Aufnahme des Kindes in die Schule in ihren Anfängen vorhanden waren. Eltern und Lehrer müssen demnach diesen Krankheiten gleiche Aufmerksamkeit widmen und Hand in Hand gegen dieselben ankämpfen.
Wer wüßte nicht vom alten Dessauer und kennte nicht wenigstens einzelne Züge aus seinem Leben als Held und Mensch? Der populäre „alte Schnurrbart“, für dessen lebhaftes und stürmisches Temperament sich selbst der rührendste Choral unserer Kirchenmusik in den Dessauer Marsch umwandeln, und jeder Kirchenliedertext, mochte er nun: „Wie schön leucht’ uns der Morgenstern“, „Alle Menschen müssen sterben“, oder gar „O Haupt voll Blut und Wunden“ – lauten, sich der Marschmelodie anschmiegen mußte, die unbekümmert um Orgel und Gemeinde im tiefen Basse ertönte; dieser neben dem alten Fritzen und dem alten Blücher fortlebende Volksheld ist zugleich der Held verschiedener epischer und dramatischer Dichtungen geworden und im deutschen Volke eine stets willkommene Figur. Wie viele haben sich an seinem Heldenthum begeistert; wie viele wieder mit ihm für die schöne Apothekerstochter Anna Louise Föhse geschwärmt, die der Kaiser, nachdem Fürst Leopold sie „ohne jegliche adelige Zuthat“ zum Altare geführt hatte, schließlich nothgedrungen in des Reiches Fürstenstand erhob, um den Skandal, daß das Haus Dessau sich mit seinem Volke vermähle, zu mindern, weil es denn doch nicht gelang, den jungen Eisenkopf von einem einmal festgefaßten Entschlusse abzubringen. Und hat Fürst Leopold von Dessau wohl seine Wahl bereuen dürfen? Sein musterhaftes, biederes, echt deutsches Familienleben spricht dagegen, derb ging es zuweilen bei dem Alten her, aber nicht minder herzlich, und als die Annalise im Februar 1745 das Zeitliche segnete, da war Leopolds Schmerz wild und ungestüm. Der rauhe Krieger weinte wie ein Kind, und diese Thränen gaben das herrlichste Zeugniß für das fromme und musterhafte Leben dieser Tochter aus dem Volke.
Nicht minder groß und schön äußerten sich Leopold’s menschliche Eigenschaften in der Liebe zu seinen Kindern. Seine fünf Söhne bildeten seinen Stolz, die Töchter seine Freude und den Gegenstand seiner steten, rührenden Sorgfalt. Als seine Tochter Louise, die regierende Fürstin von Bernburg, im Jahre 1732 tödtlich erkrankt war und den einzigen Wunsch laut werden ließ, den geliebten Vater noch einmal an der Spitze seines Regimentes zu sehen, da beeilte sich Leopold, dieses Verlangen einer echten Soldatentochter zu erfüllen. An der Spitze seiner braven Grenadiere marschirte er von Halle nach Bernburg und stellte sie daselbst im Schloßhofe auf. Da erschien am Fenster droben die todtkranke bleiche Fürstin, deren Anblick des rauhen Kriegers Vaterherz zerriß. Schluchzend commandirte er zu den Uebungen des Regimentes, denen die Fürstin vom Fenster aus zusah. Als nachher die ermüdeten Soldaten bewirthet wurden, da vermochte der gebeugte Leopold es nicht zu seinem kranken Kinde hinaufzugehen, sondern er setzte sich allein auf das Geländer der Saalbrücke, um sich auszuweinen. Da betete er denn auch nach seiner Weise, aber gewiß aus Herzensgrunde: „Lieber Gott, ich bin kein solcher Lump, der Dir bei jeder Hundsfötterei beschwerlich fällt; ich komme nicht oft und will auch sobald nicht wiederkommen, aber nur diesmal hilf mir und laß mein armes Kind gesund werden ...“ Leopold mußte die Tochter nach wenigen Tagen sterben sehen und marschirte mit seinen Soldaten, ernst und schweigend, wie in einem Leichenzuge, nach Halle zurück.
Auch seinen Erbprinzen Wilhelm Gustav verlor der alte Dessauer im Jahre 1738 durch den Tod. Die Geschichtsbücher lehren uns „unvermählt und unbeerbt“, allein mit Unrecht. Der Erbprinz war in des Vaters Fußstapfen getreten und hatte Herz und Hand einer Tochter aus dem Volke, der Brauerstochter Sophie Herre, geschenkt. Der Prinz mochte Ursache haben, bei dem Alten für seinen Thronfolger nicht mehr dieselben Ansichten herrschend zu finden, denen derselbe für sich mit seinem Eisenkopfe Geltung verschafft hatte, denn er breitete über seine Verheirathung, über seine Frau und Kinder den Schleier strengsten Geheimnisses. Erst als der alte Dessauer erschüttert am Sterbebette seines Erbprinzen stand, entdeckte dieser ihm das Geschehene und empfahl seine Wittwe und Waisen der Sorge und Verzeihung des Vaters, der sie in schmerzlicher Rührung zusagte. Er hat auch Wort gehalten, denn er erkannte die Ehe an und ernannte die Wittwe seines Sohnes und seine Enkel zu Grafen und Gräfinnen von Anhalt.
Doch zurück zu noch früheren glücklicheren Zeiten, ehe der Tod dem Fürsten Leopold so tiefe Wunden schlug.
Es war an einem schönen Herbsttage, als die Fürstin Anna Louise mit ihrem Töchterchen Wilhelmine an einem Fenster des Schlosses in Dessau stand und der Heimkehr des Fürsten von der Jagd wartete. Leopold pflegte von der Jagd stets einen Wolfshunger mitzubringen, und die Fürstin ließ bereits einen tüchtigen Imbiß bereit halten, weil Geduld bekanntlich nicht zu Leopold’s Haupttugenden gehörte. Endlich wirbelten die Trommeln und der Fürst fuhr in den Schloßhof. Die junge Prinzessin enteilte der Mutter und lief dem Vater in den Schloßhof entgegen, wo er eben noch Befehle ertheilte.
Fürst Leopold hatte eine gute Jagd gemacht und war wohlgelaunt und in froher Stimmung, wie selten. Seinen Jägerhut zierte ein Eichenzweig, der noch im prächtigsten Grün schimmerte. Seine Augen leuchteten auf, als er das liebliche Kind erblickte, das ihm froh entgegenhüpfte.
„Ach liebes Väterchen,“ rief die Prinzessin, „wie spät kommst Du heim und wie ermüdet wirst Du sein! Die Mutter wartet schon auf Dich mit dem Imbiß!“
„Ei,“ sagte der Alte guter Dinge und beugte sich zärtlich zu dem Kinde nieder, „der wird jetzt um so besser munden, und er ist auch ehrlich verdient worden.“
„Väterchen, der schöne Zweig, wie schön! O, schenke mir den Zweig!“ bat das Kind, das jetzt den nickenden Eichenzweig auf des Fürsten Hut gewahrte.
„Den Zweig – ja so, recht gern, mein Kind,“ sagte der Vater voll seltener Milde, indem er den grünen Schmuck vom Hute nahm; „doch was willst Du mit dem Zweige allein, der morgen verwelkt ist? Ich schenke Dir Mosigkau dazu, mein Freigut, das soll Dir eine Erinnerung sein an den heutigen glücklichen Waidmannstag.“ ...
Die kleine Prinzessin freute sich an jenem glücklichen Tage des Eichenzweiges, des Spielwerks, mehr, als des fürstlichen Geschenkes, dessen Werth sie noch nicht begriff. Tauschte doch ein glückliches Kindergemüth, das jeden Werth nach seinem Vergnügen daran zu berechnen pflegt, wohl gern jedes Freigut für ein begehrtes Spielwerk aus! Aber Prinzessin Wilhelmine wuchs zur Jungfrau empor und lernte das kostbare Geschenk des Vaters schätzen. Gern und oft weilte sie später in Mosigkau und ließ es freigebig verschönen. Eine starke Stunde von Dessau liegt das freundliche Dorf in einer moosigen Aue, von welcher es den Namen empfing, so recht geschaffen zum stillen Asyle.
Da Prinzessin Wilhelmine unvermählt blieb, wohl aber den Beruf in sich fühlte, noch etwas mehr zu thun, als blos eine Prinzessin, welche ihren Stand repräsentirt, darzustellen, so ließ sie in Mosigkau einen parkartigen Garten anlegen und denselben mit einem Schlosse krönen, welches man anfänglich für ein Lustschloß hielt. Nach Vollendung dieser Anlagen gründete sie in Mosigkau ein Stift für unverheiratete Damen adeligen Standes. Sechs Kanonissinnen und eine Aebtissin erhielten Schloß und Garten zu ihrer Verfügung und fanden auch für ihre sonstigen Bedürfnisse eine anständige Versorgung. An den sogenannten Capiteltagen tragen die Stiftsdamen den Orden der Stiftung: am blauen Bande den silbernen Stern mit einem Eichenzweige. Auch das Siegel der Stiftung, mit welchem mancher Act stiller Wohlthätigkeit versiegelt wird, erinnert durch den Eichenzweig an den glücklichen Waidmannstag und das Geschenk des Fürsten Leopold, durch welche der Grund zu einer wohlthätig wirkenden Stiftung gelegt worden ist.
Prinzessin Wilhelmine hing mit Liebe an ihrer Stiftung und pflegte sie wie ein Kind. Sie selbst blieb die Protectorin derselben und weilte gern in ihren Räumen, die sie ihr Leben lang schmückte und verschönte. Werthvolle Oelgemälde und andere Kunstwerke schmückten den Saal des Schlosses, dessen Thüren in den mit reicher Orangerie ausgestatteten Garten führen, und das neben ihm gelegene Capitelzimmer, in welchem auch ein lebensgroßes Oelbild der Gründerin selbst Aufnahme fand; und ringsum an den Wänden kann man noch heute die kunstvoll gearbeiteten Lehnstühle bewundern, welche Prinzessin Wilhelmine damals mit ihren Damen unter ernsten und heiteren Gesprächen gestickt hat, bis der Tod der Prinzessin dieses schöne Verhältniß löste. ...
Allein die Zukunft ihrer Stiftung war von ihr glänzend gesichert
[13][14] worden. Außer dem Freigute Mosigkau selbst hatte die Prinzessin noch mehrere Güter in Anhalt, und ein Capital in Geld als Stiftsvermögen festgestellt. Dadurch ist es gekommen, daß die Stiftung nicht nur bis heute fortblüht, sondern daß sogar die Zahl der Kanonissinnen beträchtlich vermehrt werden konnte.
Die Prinzessin selbst hatte noch vor ihrem Tode eine Nachfolgerin als erste Aebtissin von Mosigkau ernannt und ihre Nichte, die älteste Tochter des verstorbenen Erbprinzen Wilhelm Gustav und seiner morganatisch angetrauten Frau, die Gräfin Sophie von Anhalt, dazu erwählt. –
Mehr als dreißig Jahre im neuen Jahrhundert sind vergangen, da treten wir wiederum in das Fräuleinstift zu Mosigkau. Die Schöpfung der Fürstin blüht so ziemlich unverändert im sechsten Jahrzehnte – nur die Personen darin sind andere geworden und genießen ihre Segnungen.
In dem mit einer Allee aus Orangenbäumen besetzten Hauptwege des Schloßgartens lustwandelte an einem Herbstnachmittage eine Dame, deren schwarzes Haar und feine Züge ihr Alter von sechszig Jahren zu verneinen schienen. Sie sah überhaupt wie eine Erscheinung aus einem andern Zeitalter aus. Ihr schwarzes Kleid trug den Schnitt des vorigen Jahrhunderts, nicht minder der schwarze Ueberwurf, den die behandschuhte Rechte leicht zusammenhielt. Ein blauer Hut in seltsam alterthümlicher Form mit wogender blauer Feder bedeckte, etwas nach links geneigt, das dunkle Haar und gab der Trägerin ein halb malerisches, halb phantastisches Ansehen, das gar sehr verschieden war von den Moden dieser Zeit.
Doch die Dame wußte dieses entweder gar nicht oder kümmerte sich nicht darum. Stolz und hoch aufgerichtet schritt sie auf dem mit feinem Kiese bedeckten Wege hin und her, erwiderte freundlich die ehrfurchtsvollen Grüße der Dorfbewohner, welche zum Schlosse gingen oder aus ihm kamen, und zog sich endlich ermüdet in einen kleinen Pavillon japanischen Styles zurück, um auf bereitem Ruhesitze zu rasten.
Auch Bücher lagen darin zur Lectüre bereit. Die Dame ergriff eines derselben auf’s Gerathewohl und blätterte darin – es war „Götz von Berlichingen“. Aber sie las nur wenige Zeilen, da sanken ihr Hand und Buch nieder und ihre Augen schienen in das Unendliche zu schweifen. Die Goethe’sche Dichtung hatte schöne, heilige Erinnerungen in ihr wachgerufen. Kaum zehn Jahre war es her, seit ihr jugendlicher Freund Wilhelm Müller, der Dichter der Griechenlieder, mit diesem selben Buche in der Hand vor ihr gesessen und ihr die Dichtung des Altmeisters vorgelesen hatte. Und wie hatte er sie gelesen! Das war nicht Lesen mehr, das war ein Mitleben gewesen – bei der Schlußscene waren Thränen seinen Augen entstürzt und seine Stimme war gebrochen. … So hatten sie einen heilig schönen Augenblick gefeiert! Wie hatte sie diesen jungen Dichter verehrt, und nun lag er mit gebrochenem Herzen schon fast ein Jahrzehnt in der Gruft, während sie, die ältere Freundin, welche gehofft hatte, dereinst von ihm betrauert zu werden, noch immer lebte, einsamer als jemals. Auch ein anderer Dichter, ein Freund von ehemals, o damals mehr als Freund! war Jenem nach wenigen Jahren gefolgt, und nur sie lebte immer noch. Was sollte sie noch allein auf Erden? War es denn nicht genug der Sühne, daß sie jetzt seit beinah vierzig Jahren in diesem Stifte weilte? – Doch, sie durfte ja noch einen Beruf erfüllen. Die Wahl des Ordenscapitels zur Aebtissin hatte sie kürzlich aus ihrer abgeschlossenen Einsamkeit herausgerissen. Sie war zwar überrascht, daß man ihren Jahren noch diese Bürde auferlegen wollte, aber sie nahm sie an mit den Worten: „Ich hatte mit der Welt abgeschlossen; nun aber tritt mir unerwartet dieser Beruf entgegen. Ich sehe ihn als einen Beruf von oben an.“ ...
Am Ausgange des Schloßgartens hielt ein Wagen still. Herrschaftliche Diener öffneten den Wagenschlag und halfen einem Paare beim Aussteigen. Es war ein stattlicher Herr in den besten Mannesjahren und von höchst distinguirtem Aeußern mit einer jungen und reizenden Dame. Der Herr winkte dem Diener, bei dem Wagen zu bleiben, der auf der Dorfstraße weiter fuhr, und trat mit seiner Begleiterin in den Garten.
Wer war das stattliche Paar, das hier in der Einsamkeit lustwandelte, das aber wohl geeignet gewesen wäre, selbst in dem glänzendsten Salon Aufsehen zu erregen?
Es war ein drittes Ehepaar aus dem fürstlichen Hause Anhalt, welches nur die Liebe, nicht aber die Gleichheit des Standes mit einander verbunden hatte. Prinz Georg von Dessau, der Bruder des regierenden Herzogs, hatte sich mit dem schönen Fräulein von Erdmannsdorf verbunden, welche vom Herzoge zur Gräfin von Reina ernannt wurde. Weniger nachsichtig als ihr Gemahl, der nicht vergessen hatte, daß seine Urgroßmutter die Tochter eines Apothekers gewesen war, zeigte sich die Herzogin Friederike, eine königliche Prinzessin von Preußen. Fräulein von Erdmannsdorff war vorher Kammerdame der Herzogin gewesen, und diese soll von einer Ohnmacht überrascht worden sein bei der Kunde, daß sie die seitherige Kammerdame in Zukunft als ihre Schwägerin zu begrüßen hätte. …
Die neue Gräfin Reina sollte es bald erkennen müssen, welches Opfer sie gebracht hatte, als sie die Liebe des Prinzen erhörte und seine Hand annahm. Nur diese Liebe ihres Gemahls eben versüßte ihr Alles – der Prinz bewies sich ihres Opfers würdig. Die Tafel seines herzoglichen Bruders stand dem Prinzen offen, allein der Gräfin nicht, und er hat sie nicht mehr besucht; die herzogliche Loge des Hoftheaters erschloß sich dem Bruder des Herzogs, aber nicht seiner Gemahlin: Prinz Georg miethete sich eine Privatloge, in welcher er fortan mit seinem geliebten Weibe zu sitzen pflegte, bis er endlich dieses Etikettentrödels überdrüssig wurde und seinen Wohnsitz in Dresden aufschlug, wo er erst vor wenigen Jahren gestorben ist.
Zu der Zeit, von welcher hier die Rede ist, lebte das Paar noch in Dessau, brachte aber wöchentlich mehrere Nachmittage in Mosigkau zu, wo der Prinz und seine Gemahlin an der Aebtissin eine treue Freundin besaßen.
Diese verließ den japanischen Pavillon, als sie die erwarteten Gäste des Weges daherkommen sah, und ging ihnen entgegen.
Wie seltsam nahm sich die ganze Erscheinung der Aebtissin neben der modernen Gräfin aus, wie wenn zwei Jahrhunderte neben einander gestellt worden wären! Es blieb den Bewohnern von Mosigkau kaum zu verdenken, wenn sie die Aebtissin, welche ihnen so treue Fürsorge weihte, trotzdem eine alte wunderliche Dame nannten, die sich wegen einer unglücklichen Liebe allerlei Sonderbares in den Kopf gesetzt hätte. Die Masse entscheidet ja immer nach dem, was sie gerade sieht.
„Frau Aebtissin,“ rief der Prinz ihr begrüßend zu, „wir kommen pünktlich, wie Sie es gefordert. Doch welche Ueberraschung bereiten Sie uns heute! Ein Concert in Mosigkau! Wollen Sie die schönen alten Zeiten wieder heraufzaubern, da nicht nur die Verbannten des Dessauer Hofes, sondern der Hof selbst öfter hierher kam und dort drüben im Theater mit seinen natürlichen Waldcoulissen die Stiftsdamen und die Cavaliere des Hofes Komödie spielten?“
„Wobei Sie stets eine tüchtige Actrice gewesen sein sollen!“ fügte die Gräfin hinzu.
Die Aebtissin schüttelte leicht das Haupt, während ein kurzes Lächeln wie ein Sonnenstrahl über ihre Züge flog, geweckt von freundlichen Erinnerungen.
„O nein,“ sagte sie dann, „lassen wir das Vergangene vergangen sein. Mein Concert gilt einem besondern Zwecke. Sie wissen, daß wir einmal im Jahre, am zweiten April, den Todestag der hohen Gründerin unseres Stifts, durch einen Privatgottesdienst im Saale des Schlosses feiern. Ich habe ihn ziemlich vierzig Male mitgefeiert und jedesmal den Klang der Orgel schmerzlich vermißt. Mein Concert gilt der Einweihung eines Orgel-Positivs, welches in Zukunft diesen Mangel ersetzen soll.“
Der Prinz und seine Gemahlin freuten sich dieses schönen Gedankens und wandelten mit der Aebtissin langsam dem Schlosse zu, wobei diese ihnen noch mittheilte, daß noch verschiedene Gäste als Zuhörer und als ausübende Künstler erwartet würden.
Sie schritten durch den freundlichen, blumengeschmückten Saal mit seiner reichen Sammlung von Oelgemälden hindurch, die Treppen empor, nach der Wohnung der Aebtissin. In einem Vorzimmer hing, gerade über der Eingangsthür zum Zimmer, ein Portrait des Dichters Matthisson in Oel gemalt. Wie gewöhnlich, wenn sie dieses Gemach durchschritt, ruhte der Blick der Aebtissin einen Augenblick lang auf des Dichters sanften edlen Zügen … durch die geöffnete Thür traten sie in ihr „Heidenthum“.
So nämlich nannte sie das erste ihrer beiden Wohnzimmer. Die Verzierungen desselben mahnten wirklich an das classische Heidenthum. Wo es der Geschmack erlaubte, da waren Nachbildungen der classischen Plastik aufgestellt worden. Dort rechts ein ägyptischer Apisdienst, links eine klagende Niobe, weiter ein [15] Amor mit Psyche, ein Prometheus etc. Die Flügelthüren zum zweiten Zimmer standen stets geöffnet, und eine halbhohe Gitterthür mit vergoldeten Spitzen, die von lebendigem Epheu umrankt wurde, diente mehr als Grenzzierde, denn als Verschluß.
Im zweiten Zimmer betrat man das „Christenthum“ der Aebtissin. Doch schmückten dasselbe nicht nur ein schönes Christusbild und mehrere Scenen aus der heiligen Geschichte, sondern auch die Portraits von Schiller und Goethe. In der Mitte des Gemaches standen zwei weiße Säulen, zwischen ihnen ein Ruhesopha. Aus den Fenstern genoß man einen anmuthigen Blick über den Schloßgarten, der dieses Zimmer besonders verschönte.
Am Abend versammelte sich eine zahlreiche Gesellschaft im Bildersaale des Schlosses. Außer den Stiftsdamen waren von der Aebtissin Gäste aus Mosigkau, der Umgegend und aus der Residenz zu dem Concerte eingeladen worden, mit welchem das neue Orgel-Positiv der Stiftung eingeweiht werden sollte. Nachdem die Aebtissin und ihre prinzlichen Gäste erschienen waren und im Vordergrunde Platz genommen hatten, wurde die Thür zum Capitelzimmer geöffnet und das unter derselben aufgestellte Positiv ward sichtbar. Der Lehrer des Ortes eröffnete das Concert mit einem Präludium und Choral auf demselben.
Dann folgten weitere Vorträge eingeladener Künstler. Concertmeister Haase aus Dresden ließ seine Violine mit Meisterschaft erklingen, die Opernsänger Krüger und Diedicke aus Dessau reihten Gesangsvorträge an. Letzterer hatte die letzte Nummer des Programms und fand rauschenden Beifall. Er verbeugte sich, bereit, noch einen Vortrag anzureihen. Plötzlich ertönten, der Aebtissin unerwartet, wohlbekannte, doch seit vielen, vielen Jahren verklungene Accorde – mit Beethoven’s bezaubernder Musik sang Diedicke’s schmelzender Tenor die Adelaide von Matthisson. Eine fast unheimliche Stille, wie Schwüle vor dem Gewitter, breitete sich über den Saal – unwillkürlich eilten die Blicke Aller zu der Aebtissin hin, die still, mit leise vorgeneigtem Haupte dasaß, ganz in die Töne versunken. In die Töne nur?
„Einst, o Wunder! erblüht auf meinem Grabe
Eine Blume der Asche meines Herzens;
Deutlich schimmert auf jedem Purpurblättchen:
Adelaide.“
Die Töne verklangen – es blieb ringsum feierliche Stille. Selbst der Sänger wich nicht vom Platze, obgleich das Concert beendigt war. Die Aebtissin schien ganz in sich zusammengesunken, in Erinnerungen verloren. Die Anwesenden ehrten still den heiligen Tempeldienst eines Herzens. Endlich richtete sie sich empor – und das Leben erwachte wieder. Ihre Züge trugen den Ausdruck seelischer Heiterkeit, seligen Friedens. Mit bewegter Stimme dankte sie dem Sänger, der ihr eine Ueberraschung bereitet hatte, die tief in die heiligsten Erinnerungen ihres Herzens griffe. Und welche Erinnerungen waren dies, und wer war die Dame? – Die alte Aebtissin selbst war die von Dichter und Componist so unsterblich verherrlichte, sie war einst in der Jugend Glück und Schönheit die angebetete Adelaide!
Wir stehen vor einem kleinen, aber tieferschütternden Drama. Im letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts bekleidete Friedrich Matthisson, der vorher Lehrer am Basedow’schen Philanthropin gewesen war, bei der geistvollen Fürstin Louise von Dessau die Stellung als Vorleser und Reisebegleiter. Auf einer Reise nach Süddeutschland und der Schweiz befand sich auch das siebenzehnjährige Fräulein Annette von Glafey im Gefolge der Fürstin. Auf dieser Reise lernten Matthisson und Annette sich kennen und lieben. Wohl um den Adel der Geliebten in ihre Verherrlichung zu verflechten, las er aus ihrem Namen den poetischen „Adelaide“ heraus, und so wurden unter diesem ihr von nun an die Liebesblüthen des Dichters geweiht. Allein der Adel seiner Adelaide, mit welchem Matthisson also poetisch gespielt hatte, sollte bei ihrer Rückkehr in die Heimath sehr prosaisch zwischen die beiden Herzen treten. Die Liebe seiner hochgebornen Tochter zu einem gewöhnlichen bürgerlichen Pfarrerssohn, wie Matthisson, empörte den Stolz des Herrn Hofmarschalls von Glafey. „Eine standesgemäße Heirath oder Eintritt in das Fräuleinstift zu Mosigkau,“ so hieß die Alternative, welche Annetten von ihm gestellt wurde. Annette wählte das Letztere. Sie begrub ihre Liebe in der Einsamkeit von Mosigkau, um sie nicht verrathen zu müssen, denn den Schatz ihrer Erinnerungen konnte man ihr so nicht rauben, den durfte sie mit sich nehmen in ihr klösterliches Dasein. Sie hoffte auf eine baldige Erlösung durch den Tod; aber man stirbt leider nicht schnell am gebrochenen Herzen, das sollte auch sie erfahren. Sie lebte und lebte von Jahr zu Jahr, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Alles sah sie um sich her in die Gruft sinken – auch den geliebten Freund, der lange Zeit in Württemberg gelebt hatte, dessen König ihn in den Adelstand erhob, bis er sein treues Weib verlor und in Wörlitz, wenige Stunden von Mosigkau, seinen Lebensabend verlebte und an einem Märztage 1831 die müden Augen für immer schloß.
Annette von Glafey lebte noch immer. Ein paar Jahre später wurde sie, die fast Sechszigjährige, zur Aebtissin gewählt. Tausende und aber Tausende empfindsamer Herzen sangen Matthisson’s und Beethoven’s Adelaide, ohne zu ahnen, daß diejenige, der einstmals diese süße Liebesklage des deutschen Dichters erklungen war, noch in dem unbekannten Stifte zu Mosigkau als Greisin weile. Endlich, nach einem klösterlichen Leben von mehr als sechszig Jahren, nahte auch der achtzigjährigen Aebtissin der erlösende Engel mit der umgestürzten Fackel am 4. Mai 1858. In feierlichem Zuge wurde die Leiche von Mosigkau nach Dessau übergeführt, um in der Familiengruft beigesetzt zu werden. Die Glocken läuteten in den Dörfern, durch welche der Trauerzug sich bewegte; der wohlthätigen Aebtissin von Mosigkau folgte die Theilnahme der Bevölkerung, flossen die Thränen der Armuth nach – aber nur wenige wußten davon, daß dieser düstere Sarg die Ueberreste von Matthisson’s Adelaide barg, die einst im jugendlichen Alter einen deutschen Dichter zu den köstlichsten Schöpfungen seines Genius begeistert, selbst jedoch, unter der scharfen Ruthe des Standesvorurtheils, ein verlornes Liebes- und Lebensglück in dem kleinen Mosigkau begraben hatte.
Wie man Deutsche in Italien behandelt. Es war an einem der
letzten Tage des verflossenen Novembers. Mild und warm schien die Sonne
auf die gesegneten Fluren der Riva di Ponente, und zu der herrlichen
Terrasse der Villa Pallavicini in Pegli, auf der ich im Anschauen der unvergleichlichen
Scenerie, die von dort sich entfaltet, verloren stand, drangen
mit dem leichten Luftzuge, der hin und wieder vom Meere her lässig wehte,
ganze Wogen des köstlichsten Rosenduftes aus den unten liegenden Gärten
herauf.
Da fiel etwas laut klatschend vor mir auf den weißen Marmorboden nieder, unwillkürlich bückte ich mich – es war ein Band von Baedeker’s Italien, diesem ewigen Reisebegleiter aller in Italien wandernden Deutschen.
Schon stand aber auch der Eigenthümer des Buches, ein hochgewachsener kräftiger, blonder junger Mann vor mir, der seine deutsche Abkunft nicht verleugnen konnte. Der Ton seines Dankes, mit dem er das Buch entgegen nahm, verrieth den Norddeutschen; ich konnte den Accent von jenseits des Harzes natürlich auch nicht verleugnen; eine gegenseitige Selbstvorstellung erfolgte, und bald wanderten wir lebhaft plaudernd zusammen durch die märchenhaften Wunder, die hier eine ausschweifende Phantasie, unterstützt von unbeschränktem Reichthum, aufgehäuft hat.
Diese in der ganzen Welt einzig dastehende Villa Pallavicini näher zu beschreiben, ist heute nicht der Zweck dieser Zeilen. Nach dreistündiger Wanderung durch ihre Herrlichkeiten winkte uns endlich die Ruhe bei einem guten Diner, welches wir zusammen in der Bahnhofsrestauration von Michel in Pegli einnahmen und zu dem sich noch ein weitgereister, sehr liebenswürdiger älterer Herr, ein Amerikaner, eingefunden hatte. Wir sprachen lachend davon, mit welchem Stolze er hinter seinem Namen das U. S. (United States) in das Fremdenbuch der Villa Pallavicini eingezeichnet hatte und wie mein Landsmann natürlich nicht gezögert, hinter seinem Namen nicht minder stolz ein N. B. (Norddeutscher Bund) einzutragen, und ich sprach den Herren gegenüber denn doch meine auf meiner gegenwärtigen Reise in Italien gemachte Erfahrung aus, daß man als Deutscher jetzt erst im fremden Lande sich zu fühlen beginne und daß man doch von den Italienern ganz anders behandelt würde als vor dem Jahre 1866.
„Leider habe ich da einen ganz eclatanten Beweis vom Gegentheil in der Tasche,“ sagte mein Landsmann, „und wenn es den Herren recht ist, so werde ich Ihnen einige wenige Zeilen vorlesen, aus denen Sie mit Entrüstung vernehmen werden, was Alles heutzutage noch möglich ist und wie man in diesem gesegneten Lande gegen Deutsche verfährt. Wenn Sie erlauben, beginne ich ohne weitere Einleitung und behalte mir lediglich vor, noch einige Erläuterungen zu geben, aus denen hervorgehen mag, in welcher Beziehung ich zu dem eigenthümlichen Vorfall stehe.“
Er nahm aus seiner Brieftasche ein Papier und begann zu lesen wie folgt:
„Wir Endesunterzeichnete, auf einer Reise nach Rom begriffen, dabei Bologna passirend, gingen am 9. September 1869 vor das Stephansthor dort, um uns einen daselbst befindlichen schönen Palast anzusehen. Nachdem wir das Bauwerk betrachtet hatten, setzten wir uns an der Straße in das Gras, um zu frühstücken. Zwei Carabinieri, die vorbeigingen, kamen zu uns heran und fragten nach unseren Pässen, und nachdem sie diese für richtig und gut befunden hatten, nach Waffen. Vor unserer Abreise hatten [16] wir uns jeder zur Bewaffnung mit einem kleinen Dolchmesser versehen, und nicht ahnend, daß dieselben in Italien verboten seien, hielten wir ihnen diese lachend hin. Sie sehen und confisciren war bei den Carabinieri eins; doch erklärten wir uns damit nicht einverstanden und gingen, da wir die Messer auf unsere Bitten nicht zurückerhielten, mit ihnen nach Bologna in das Bureau derselben zurück. Einer ihrer Officiere schrieb dort unsere Namen, Alter etc. auf und schickte uns in Begleitung von zwei Mann nach der Präfectur. Hier steckte man uns in einen finstern, feuchten Kerker, wo sich außer uns noch drei zerlumpte Individuen befanden.
Es dauerte ein, zwei Stunden und wir wurden nicht freigelassen, wir lärmten an der Thür, aber erst halb elf Uhr Abends wurde geöffnet, doch nicht zur Freiheit, wie wir geglaubt, sondern wir wurden jetzt erst in das ‚eigentliche Gefängniß‘, in den ‚Carcer Torrone‘ geführt. Hier mußten wir uns, nachdem der Vorsteher unter verschiedenen groben Redensarten unser Signalement aufgenommen, bis auf das Hemde entkleiden, um uns visitiren zu lassen, dann wurden wir ungeachtet alles Protestirens und Sträubens Jeder in einen andern Kerker abgeführt.
Hier mußten wir ruhig volle vierzehn Tage lang sitzen, stündlich unsere Freiheit erwartend, ehe wir nur zu Protokoll vernommen wurden, und auch dann erfuhren wir noch nicht, was eigentlich mit uns geschehen sollte. Erst am 29. September, also nach zwanzig schrecklichen Tagen, erhielten wir eine Vorladung vor das Tribunal zum 13. nächsten Monats, des October.
Alle Bitten, die wir während dieser Zeit an das Personal richteten, um den Präfecten zu sprechen, waren umsonst. Die Briefe, die wir geschrieben, gingen nicht ab; und welche Behandlung erfuhren wir während der ganzen fünf Wochen! Welcher Aufenthalt, welches Essen!
Noch nicht der italienischen Sprache mächtig, waren wir mit den größten Verbrechern der Provinz zusammengesperrt. Rinau mit einem Bandenführer Marani, der vierundsechszig Einbrüche und mehrere Morde begangen hatte; Schultz mit einem gewissen Vecchio, der ihm mehrfache Anträge à la Zastrow machte, kurzum, wir waren mit den gemeinsten Creaturen zusammen gesperrt, die sich ihrer Schandthaten noch rühmten und freuten, und wir wurden von ihnen gehänselt und gefoppt.
In Kerkern ohne Fenster, dem Wind und Regen zugänglich, ohne
jegliches Zerstreuungsmittel, wie Lecture u. dgl., fünf Wochen hindurch
täglich von zwei kleinen Brödchen und einer schlechten Wassersuppe lebend,
mußten wir bis zum 13. October harren, an welchem Tage wir in Ketten,
respective in Daumschrauben wie die furchtbarsten Verbrecher gefesselt, von
zwei bewaffneten Carabinieri vor das Tribunal geführt wurden. Hier
wurden wir, wie der Bericht einer italienischen Zeitung über unsere Verhandlung
sagt, ‚gemäß den Grundsätzen der Wissenschaft und der Gesetze
freigesprochen‘; wir wurden dann herausgelassen, mußten uns unsere Pässe
und unsere Effecten zusammen suchen und konnten gehen. Wir wandten
uns nach Florenz, wo der Herr Gesandte, entrüstet über die uns widerfahrene
Behandlung, so freundlich war, ein Protokoll darüber aufzunehmen
und die italienische Regierung auf Schadenersatz zu verklagen. Von Florenz
fuhren wir nach Rom, wo man uns Arbeit zugesagt hatte; leider fanden
wir, daß dieselbe, da wir so lange nichts hatten von uns hören lassen,
anderweitig vergeben worden war. Auch in Neapel, wo wir Beschäftigung
zu finden hoffen durften, fand sich nichts, und so fuhren wir denn mit
dem Rest unseres Geldes nach Genua und Mailand.
Alexander Koch, J. Rinau, E. Schultz,
Bautechniker. Monteur. Bautechniker.“
So weit hatte mein Landsmann gelesen, dann faltete er das Blatt wieder zusammen.
„Wenn das Alles Wahrheit ist, so ist das wahrlich stark!“ rief der Amerikaner erregt und schlug auf den Tisch.
„Es ist die reine Wahrheit,“ sagte der Vorleser. „Die jungen Leute haben den Vorfall genau so niedergeschrieben, wie er sich wirklich ereignet hat. Die Bologneser Zeitung, welche über die fragliche Tribunalssitzung berichtete und die sich im höchsten Grade entrüstet über dieses barbarische Benehmen Fremden gegenüber äußerte, habe ich zu Hause bei meinen Papieren. Ich selbst habe die Pässe und die übrigen Papiere der jungen Leute in Händen gehabt, und wir haben sie sehr genau geprüft.“
„Es giebt in Italien viele Leute, die auf den gefüllten Geldbeutel ihrer eigenen Landsleute speculiren, ich selbst habe darin ganz eigenthümliche Erfahrungen in Rom gemacht,“ sagte der Amerikaner mißtrauisch.
„Und ich in Florenz,“ mußte ich leider hinzusetzen.
„Ich kann Sie versichern, meine Herren, daß hier jeglicher Gedanke an eine unwürdige Mystification schwinden muß,“ rief der junge Norddeutsche erregt aus. „Ich traf bei einem Spazierritt, den ich Anfangs dieses Monats November in der Umgegend von Lugano machte, drei junge, bescheiden aber doch sehr anständig aussehende Leute, deren Aeußeres die Deutschen nicht verkennen ließ. Ich war es, der sie zuerst anredete, und erst nach längerer Unterhaltung gestanden sie mir ihre Verhältnisse. Sie gaben sich zuerst, ihren ärmlichen Verhältnissen entsprechend, für deutsche Maurergesellen aus, und erst später, als sie mehr und mehr Vertrauen zu mir gewannen, wurden aus den ursprüglichen Maurergesellen zwei Bautechniker und ein Mechaniker, alle Drei sehr unterrichtete und sehr liebenswürdige Leute. Mein Entschluß, den Landsleuten zu helfen, stand natürlich sogleich fest, dennoch bin auch ich seit meinem längeren Aufenthalte in der Fremde gewitzigt genug geworden, und so behielt ich mir die eingehendste Prüfung ihrer Papiere vor, und zu dieser wurde nebst mehreren Gästen des Hôtels Park, Deutschen gleich mir, auch der menschenfreundliche, vielerfahrene Besitzer desselben zugezogen.
Es ergab sich Alles, wie ich erzählte, die Bologneser Zeitung hatte das Verfahren gegen die jungen Deutschen als ein barbarisches, der Nation wenig Ehre machendes bezeichnet, die Aussichten, welche die jungen Leute in Rom auf angenehme Engagements gehabt hatten, waren vollständig ruinirt durch das unvorhergesehene Zuspätkommen um anderthalb Monate, die Behandlung, welche unsere Landsleute im Gefängniß erdulden mußten, war nach ihren eigenen Aussagen, die ich zu bezweifeln nicht den geringsten Anlaß habe, und die mir sogar im Gegentheil eine verhältnißmäßige Ruhe und bewundernswerthe Objectivität zu haben schienen, eine geradezu schauderhafte, wie sie bei uns nicht den furchtbarsten Verbrechern zu Theil wird, ihre Mittel waren natürlich durch den Kerkeraufenthalt – sie mußten, wenn sie nicht verhungern wollten, die schlechtesten Lebensmittel zu enormen Preisen bezahlen – durch die zwecklosen Reisen nach Rom und Neapel vollständig aufgezehrt, so daß sie schon von Mailand aus zu Fuß die Weiterreise in die Heimath antreten mußten, weil sie die dritte Eisenbahnclasse nicht mehr bezahlen konnten.“ –
„Und das Resultat? Wie endigte die Affaire?“ fragte der Amerikaner.
„Wir schossen natürlich zusammen im Hôtel Park, Niemand schloß sich aus, und so konnten wir die armen Menschen, die wohl für’s Leben an ihre Fahrt nach Italien denken werden, doch bis nach Bern spediren, wo ihnen die preußische Gesandtschaft die Mittel zur Heimkehr in’s Vaterland gewähren wird. Ich habe mir aber das, was ich Ihnen vorgelesen, von den jungen Leuten aufzeichnen und unterschreiben lassen, lediglich weil ich es für die Pflicht jedes anständigen Deutschen halte, nach allen Kräften dahin zu wirken, daß diese schändliche Geschichte durch die gesammte deutsche Presse geht. Denken Sie nur, wenn Ihnen etwas Derartiges passirt wäre, oder es wären drei Engländer gewesen, anstatt dreier Deutscher, welcher Schrei der Entrüstung wäre durch die amerikanische oder englische Presse gelaufen! Sie hätten Flotten nach Genua, Livorno, Neapel und Venedig geschickt. Das thun wir nun nicht, aber ich denke denn doch, daß seit 1866 die Zeit gründlich vorbei ist, wo der Deutsche im Ausland schutz- und rechtlos war und nach Belieben maltraitirt werden konnte. Daß die jungen Leute zu ihrem guten Recht kommen, daß sie entschädigt werden für die Opfer, die sie an Zeit, Geld und Gesundheit gebracht haben, dafür wird unser Gesandter in Florenz schon Sorge tragen.
Aber dafür, daß so etwas überhaupt jemals sich wiederholen kann, dafür bürgt nicht eine den armen Opfern gereichte Entschädigung, nicht die mögliche, doch wohl in sehr entfernter Aussicht stehende Bestrafung derjenigen Organe der Stadt Bologna, deren Faulheit, Lässigkeit, oder wie Sie es sonst nennen wollen, die jungen Leute, ohne sie anzuhören, in den Kerker steckte und gleichgültig darin schmachten ließ, sondern dafür bürgt allein der stärkste Ausdruck der allgemeinen deutschen Entrüstung, der sein Echo in der italienischen Presse finden wird und muß. Ist das der Fall, erfährt man nicht nur in Bologna, sondern in ganz Italien, daß die Behörden in Bologna sich gegen Deutsche auf die schändlichste, unverantwortlichste und unerhörteste, eines civilisirten Staates vollkommen unwürdige Weise benommen haben und dafür zur Rechenschaft gezogen worden sind, so werden sich italienische Carabinieri in Zukunft wohl hüten, junge deutsche Künstler, auch wenn dieselben zu Fuße reisen, zu arretiren, noch weniger wird man es wagen, je wieder Deutsche in der schmählichen Weise zu behandeln, wie dies die Behörden in Bologna zu ihrer Schande gethan haben. Und dazu muß jeder Deutsche die Hand bieten. Ich habe nur meine Ankunft in Nizza abwarten wollen, um an mehrere größere deutsche Zeitungen zu schreiben.“
„Das ist gar nicht nöthig,“ bemerkte ich, „eine einzige erfüllt den von Ihnen erstrebten Zweck viel sicherer und das ist die Gartenlaube. Wollen Sie mir die Aufzeichnungen der jungen Leute überlassen, so will ich diese mit der einfachen Erzählung des Vorganges, wie wir uns hier in Pegli so zufällig zusammengetroffen haben, einschicken, und ich bin überzeugt, die Gartenlaube wird es ebenso wie Sie und ich als Ehrenpflicht betrachten, diese Deutschen angethane Schmach zu veröffentlichen. Nur durch ihre Vermittelung kann das erreicht werden, was Sie vorhin bemerkten, nicht aber durch eine politische Zeitung, deren Wirkung jenseits ihrer Provinz schon aufhört.“
Das geschah aber zu Pegli bei Genua am 29. November 1869. Für die Richtigkeit der obigen Angaben steht mein Gewährsmann mit seinem bei der Redaction der Gartenlaube deponirten Namen ein; für die Richtigkeit meiner Niederschrift, so weit ich selbe aus dem Munde meines Landsmanns vernommen habe, bürge ich selbst mit meiner Namensunterschrift.
München, 14. December 1869.
Der Student auf Ferien. Mit Abbildung. Und es werden wohl
die ersten Ferien sein, die der Fuchs im Elternhause zubringt, denn Hund
und Pfeife, Wasserstiefel und Verbindungsband stehen dem sammetröckigen
Bruder Studio noch so neu, es sieht Alles noch so wohlgehalten aus,
wie bemoostere Häupter es nicht zur Schau tragen können. Auch im
langen Gesichte der väterlichen Verwunderung spricht sich der Eindruck des
Neuen dieser Erscheinung aus; gelehrte Philister sind ja überhaupt gleich
mit ihrem Erscheinen bei der Hand, wenn ein ungewohnter Geist quer durch
die Linien ihrer alten Regeln fährt, während der weibliche und kindliche
Theil der Familie das neue Bild nimmt wie es ist und sich nicht nur
über den Sohn, über den Bruder, sondern auch über die Tabaksrauchringel freut, die er so behäbig als schön in die Luft zu blasen versteht.
Jedenfalls sind wir dem Künstler, W. Simmler in Düsseldorf, Dank
schuldig dafür, daß er uns zu Zuschauern einer so anmuthigen Familienscene gemacht hat.
Inhalt: Doctor Reinhard. Novelle. – An mein Vaterland. Gedicht von Konrad Krez in Sheboygan (Wisconsin). – Um eines Vogels willen. Von Brehm. Mit Abbildung. – Begegnungen mit Zeitgenossen. Von Carl Vogt. Nr. 1. A. v. Humboldt. – Schulkindkrankheiten oder Schulkrankheiten? Strafpredigt für Eltern, Lehrer und Schulvorsteher. I. Von Bock. – Mosigkau und Adelaide. Von J. M. – Blätter und Blüthen: Wie man Deutsche in Italien behandelt. Von C. Dempwolff. – Der Student auf Ferien. Mit Abbildung.
- ↑ Die weite Entfernung und Erkrankung der geehrten Verfasserin des angekündigten Romans: „Aus eigener Kraft“ verhinderte das rechtzeitige Eintreffen der Druck-Revisionen und zwingt uns die genannte Erzählung erst mit Nr. 3 beginnen zu lassen. Wir freuen uns dagegen durch diesen Zwischenfall die vielfach ausgesprochenen Wünsche der Monatsheft-Abnehmer nach geschlossenen Erzählungen für dieses Mal erfüllen zu können und zwar durch die reizend durchgeführte Novelle einer unsern Lesern wohlbekannten Feder. D. Redaction.