Die Gartenlaube (1874)/Heft 19
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No. 19. | 1874. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Die fürstliche Frau hemmte secundenlang ihre Schritte; sah es doch aus, als falle aus den Lüften ein schwarzer Schleier verdüsternd über die strahlende Erscheinung; die schöngebogenen Brauen zogen sich finster zusammen. Dort die milchweiße, silberbestreute Robe, die wie ein Mondstrahl unter all’ den bunten Toiletten flimmerte, schien sie sehr zu befremden; die Frau Herzogin theilte offenbar die allgemeine Verwunderung über das Erscheinen der jungen Frau am heutigen Abende, aber sie schritt sofort weiter, winkte huldvoll grüßend nach allen Seiten, bevorzugte den so lange ferngebliebenen Hofmarschall, indem sie ihm die Hand zum Kusse reichte und ihn in gnädiger und schmeichelhafter Weise auf’s Neue willkommen hieß, und machte es mit glänzender Gewandtheit möglich, im langsamen Vorüberschreiten eine lange Reihe der Eingeladenen mit einigen passenden Worten zu beglücken. Der edelsteinbesetzte Fächer in ihrer Hand sprühte einen bunten Funkenregen, und die gelben Gazewogen schwebten über der nachrieselnden Atlasschleppe wie ein leichtaufsteigendes Dunstgewölk, das die Sonne vergoldet. So stand sie plötzlich vor Liane.
„Ei, sieh da! Wir haben gemeint, die gelehrte Einsiedlerin von Schönwerth sei den geselligen Freuden so abhold, daß eine directe Einladung zu unserem harmlosen musikalischen Abende gar nicht gewagt worden ist,“ sagte sie kaltblütig und gleichsam entschuldigend, daß die junge Frau eigentlich nicht eingeladen sei.
Liane wurde dunkelroth und sah erschrocken zu ihm auf, der sie hierhergebracht hatte; aber es schien, als bemerke er den Verdruß nicht, der die fürstliche Dame so unfein werden ließ.
„Hoheit, man läßt Ausnahmen gelten, wenn große Wandlungen an uns herantreten,“ sagte er in seinem gefürchteten, in Spottlust förmlich getränkten Tone; „aus dem Grunde habe ich die Baronin veranlaßt, mich heute zu begleiten – wir reisen in den nächsten Tagen ab.“
„Wirklich, Baron Mainau?“ rief die Herzogin freudig überrascht. „Diese Orientreise kreist in Ihrem Blute wie ein Fieber. Ich glaube, Sie würden sie antreten, und wenn die Welt in Flammen stünde. … Gut denn! Sie werden endlich reisemüde und dann vielleicht auch ein wenig – umgänglicher zu uns zurückkehren.“ Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt; aber gerade, weil sie eben die Bestätigung erhalten, daß die glühend ersehnte Katastrophe in den nächsten Tagen unwiderruflich eintreten werde, empörte sie doppelt die stolze Ruhe und Zuversicht, mit welcher diese junge Frau neben Mainau verharrte. Stand sie nicht mit einem Fuße bereits auf dem Heimwege, der sie nie wieder nach Schönwerth zurückbringen sollte, die Geschiedene? Und doch fiel es ihr nicht ein, die Hand zurückzuziehen, die so fest, „so auf ihr gutes Recht pochend“ auf Mainau’s Arme lag.
„Sie werden sich freuen, Ihr stilles Rudisdorf wiederzusehen?“ fragte sie mit einem feindseligen Seitenblicke nach den verhaßten feinen Fingerspitzen.
„Ich habe die Reise nach Rudisdorf aufgegeben, Hoheit,“ versetzte Liane beklommen und verlegen; es war ihr peinlich, Das auszusprechen, aber der directen Frage gegenüber gab es kein Ausweichen.
Die Herzogin wich unwillkürlich zurück; die graciös gehobene Hand mit dem Fächer glitt schlaff an der knisternden Atlasrobe nieder. „Wie? Sie bleiben?“ – Ein spöttisches Lächeln zuckte um die entfärbten Lippen. „Ah, ich verstehe! Sie sind großmüthig und wollen unsern guten Hofmarschall nicht verlassen,“ setzte sie rasch hinzu, wobei sie huldvoll das Haupt gegen den alten Herrn neigte, der allmählich näher gekommen war. Er hatte, trotz des stark summenden Geräusches im Saale, mit gespanntem Ohre doch jedes Wort erfangen. Jetzt fuhr er in zürnendem Schrecken empor:
„Hoheit, ich muß unterthänigst bitten – Ihr alter getreuer Hofmarschall hat mit[WS 1] diesen Entschließungen durchaus nichts zu schaffen,“ erklärte er, im feierlichen Proteste die Hand auf das Herz legend.
„Das ist wahr; der Onkel hat dabei gar keine Stimme gehabt,“ bestätigte Mainau vollkommen ruhig und ziemlich laut. Fast schien es, als spräche er zu den Umstehenden und nicht zu der Herzogin. „So sehr ich auch stets wünschen muß, ihn in treuen, fürsorgenden Händen zurückzulassen, in dem Falle stehe ich mir doch selbst am nächsten. Ich konnte mich nicht zur Trennung entschließen; deshalb hat meine Frau in ihrer selbstlosen Güte eingewilligt mit mir zu gehen.“
Das klang so selbstverständlich, so ernst und würdevoll, als habe sich dieser Mund nie in verletzendem, frivolem Spotte verzogen, als habe es nie eine Zeit gegeben, wo er die schlanke, schweigende Frau an seiner Seite mitleidslos den bösen Zungen, der gehässigsten Beurtheilung überlassen, ja, sie in dieselbe hinein gedrängt.
Die Herzogin setzte plötzlich ihren hastig und rauschend entfalteten Fächer in Bewegung, als sei es erstickend schwül im weiten Saale geworden. „Also eine neue Caprice, Baron
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: „mii“
[300] Mainau?“ sagte sie, vergeblich bemüht, ihrer Stimme einen spöttisch heiteren Klang zu geben. „Bisher haben Sie eifersüchtig Alles von sich gewiesen, was den Nimbus des interessanten Reisenden irgendwie schmälern konnte – Sie wollten allein Märchenprinz sein. … Und nun auf einmal dieses Erscheinen an der Seite einer modernen Lady Stanhope – nicht übel! Das muß verblüffen, ganz besonderes Aufsehen erregen.“
„Sicher nicht lange, Hoheit,“ sagte Mainau ruhig lächelnd, „da ich mit meiner ‚Lady Stanhope‘ nicht im Oriente reisen, sondern auf meinem einsam gelegenen Gute Blankenau in Franken leben werde.“
Serenissima wandte sich ab und gab mit einer sichern Bewegung das Zeichen zum Beginne des Concerts. Wer sie näher kannte, zitterte. Mit diesen unnatürlich weit geöffneten Augen in dem todtenhaft weißen Gesichte, mit den streng zusammengezogenen Lippen und dem fast brutal entschlossen vorgeschobenen Kinne gab sie nie einer Bitte Gehör, war sie nie einer sanfteren Regung zugänglich.
Die herzogliche Capelle spielte meisterhaft, und die Primadonna sang hinreißend. Ihre Hoheit, die Frau Herzogin, gab selbst das Signal zum rauschenden Applaus und überhäufte die fremde Sängerin in den Pausen mit Beweisen ihrer Huld und Gnade. Es verlief Alles so glatt, so scheinbar zwanglos und doch die festen Linien der Etiquette innehaltend, daß Liane meinte, nur ihr treibe die innere qualvolle Unruhe, eine ahnungsvolle Bangigkeit das Blut fiebernd durch die Adern. Sie konnte das bleiche Medusenprofil der Herzogin nicht ansehen, ohne heiß zu erschrecken. Dort, inmitten einer Officiersgruppe, seltsam den Glanz der Gala-Uniformen unterbrechend, saßen zwei schwarze Gestalten, der Hofmarschall und der Hofprediger. Die junge Frau hätte aus den Zügen des alten Herrn fast lesen können, was er, leidenschaftlich erregt, seinem Nachbar unablässig zuflüsterte und in das Ohr zischelte; aber sie wandte in aufquellendem Zorne die Augen weg. Der Priester fixirte ungescheut und so dämonisch ausdrucksvoll ihr Gesicht, als schwebe ihm jenes furchtbare „Ich werde Alles dulden, schweigend, ohne Gegenwehr; aber abschütteln werden Sie mich nicht“ auf den Lippen. … Sie fürchtete ihn nicht mehr. Der hoch gewachsene Mann, der neben ihrem Sitze mit verschränkten Armen an der Wand lehnte, beschützte sie; er war mächtig und willensstark genug, die Viper, die zerstörend nach seinem häuslichen Glücke züngelte, zu zertreten. … Hätte sie nur erst diesen Saal mit den geschmückten Menschen im Rücken gehabt! Aber die Erlösungsstunde schlug noch nicht. Die wundersame Mähr, daß Mainau mit seiner jungen Frau nach Franken übersiedeln wollte, war wie ein Losungswort von Mund zu Mund geflogen, und nun, nach dem Concerte, strömten die Wißbegierigen herbei, um aus dem Munde der Betreffenden selbst die Bestätigung zu hören. Und dann wurde Mainau die Auszeichnung zu Theil, mit der Frau Herzogin den Ball zu eröffnen.
„Bitte, führen Sie mich in den anstoßenden Saal!“ befahl sie, den Walzer unterbrechend, in welchen sich die Polonaise aufgelöst hatte. „Zu viel Gaslicht und zu viele Menschen! Die Hitze ist wahrhaft tropisch.“
Sie traten über die Schwelle. Die anderen Paare flogen weiter in wirbelndem Reigen.
„Sie spielen Ihre neue Rolle unvergleichlich, Baron Mainau,“ sagte die Herzogin halblaut, während sie im Weiterschreiten mehreren erschrocken emporspringenden Herren zuwinkte, sich nicht stören zu lassen – sie thaten sich gütlich am Büffet.
„Darf ich erfahren, wie das Stück heißt, das der Hof aufführt und bei welchem ich mitwirke, ohne es zu wissen?“ versetzte er, auf den leichten, frivolen Ton eingehend, den sie angeschlagen.
„Mephisto!“ Sie hob graciös drohend den Fächer. „Nicht wir spielen; dazu sind wir zu gedrückt, zu müde und unelastisch – Dank den aufreibenden inneren Kämpfen. Wir haben auch nicht die Gabe, wie der geniale Baron Mainau, einen mächtigen Impuls immer wieder so wirksam, so packend auf die Scene treten zu lassen. … Soll ich Ihnen wirklich sagen, daß man sich drüben im Saale zuraunt, es sei heute der zweite Act des ‚Drama mit der Rachetendenz‘ ausgeführt worden?“
Bei diesen Worten betraten sie den Wintergarten. In raschem Weitergehen hatten Beide nicht bemerkt, daß in dem letzten, anscheinend leeren Salon dennoch zwei Menschen saßen, der Hofmarschall und sein Freund, der Hofprediger. Sie hatten Fruchteis und Champagner vor sich stehen; aber ein aufmerksames Auge hätte sehen können, daß das Eis zerschmolz und der köstliche Sect unberührt verschäumte.
Mainau zog mit einer raschen Wendung seinen Arm an sich, so daß die Hand der Herzogin ihre Stütze verlor und herabsank. … Sie waren allein unter Palmen, unter einem grünen Regen tropischer Schlingpflanzen, der von der Glasdecke niedersank. Wie die vom Wunderbaume mit Gold überschüttete Aschenbrödelgestalt stand die schöne, blasse Frau in gelbem Atlaskleide da, dem das blendende Gaslicht metallisch glitzernde Farbenströme entlockte.
„Vollständig gekühlte Rache hat keinen zweiten Act; sie stirbt wie die Biene in dem Augenblicke, wo sie den Stachel eingesenkt,“ sagte Mainau mit leicht erblaßtem Gesichte.
Die Herzogin sah ihn mit funkelnden Augen an. „Ah, Pardon! Da haben sich also die guten Leute da drüben geirrt,“ sagte sie, die schönen Schultern emporziehend. „Nun denn, ein anderes Motiv! Das aber, was Sie uns in augenblicklicher, eigensinniger Laune octroyiren möchten, glaubt man Ihnen so wenig, wie man im Stande ist, zu denken, der prächtige Granatbaum dort mit seinen glühenden Blüthen fühle Neigung, im – Gletschereis zu wurzeln. … Mag Ihnen diese blonde Gräfin Juliane mit ihrer studirten Denkermiene, ihrem mühsam aufgepfropften Bischen Männerwissen imponiren, in Wirklichkeit geliebt wird eine solche Frau nie.“
„Sie sprechen von jener Leidenschaft, die auch ich einmal empfunden,“ versetzte Mainau in hartem, eiskaltem Tone. Es empörte ihn, den geliebten Namen von diesen Lippen aussprechen zu hören. „Wie wenig Wurzel gerade sie schlägt, hat sie am schlagendsten dadurch bewiesen, daß sie so vollständig – sterben konnte.“
Die Herzogin fuhr aufstöhnend zurück, als habe er eine todbringende Waffe gegen sie gezückt.
„Ist es so, wie Sie sagen,“ fuhr er unerbittlich fort, „daß eine solche Frau selten geliebt wird – wohl mir! Dann werde ich Qualen, die ich früher nie gekannt, und die jetzt oft an mich herantreten, die Qualen der Eifersucht, allmählich wieder von mir abschütteln können. … Und nun will ich Euer Hoheit sagen, weshalb ich heute in Begleitung ‚dieser blonden Gräfin Juliane‘ hier bin. Es ist kein Act der Rache, sondern der Buße, der öffentlichen Abbitte meiner beleidigten Frau gegenüber.“
Die fürstliche Dame lachte so überlaut und krampfhaft, als sei sie wahnsinnig geworden.
„Verzeihung!“ rief sie wie athemlos, wie halb erstickt vor Lachen, „aber das Bild ist zu drastisch. Der kühne Duellant, respective Raufbold – Pardon! – der tapfere Soldat, der gefürchtete Spötter und Leugner aller Frauentugend – bußfertig vor der Gräfin mit den rothen Flechten! Nach Jahren noch wird man sich amüsiren über den Löwen, der sich fromm vor dem Spinnrocken niederduckt.“
Er trat einen Schritt zurück. Ueber dieser Stirne schwebte die gefeierte Krone der Herrscherin; in ihre Hand war es gelegt, für den minderjährigen Landesfürsten zu entscheiden über Leben und Tod, Wohl und Wehe im Volke – und da stand sie vor ihm, in bacchantischem Gelächter sich schüttelnd, baar selbst der Würde, die die einfachste Frau aus dem Volke zu bewahren versteht.
„Hoheit, der Duellant, respective Raufbold, braucht nicht viel wirklichen Muth,“ sagte er mit finsterer Stirne, „weit mehr Willenskraft und innere Ueberwindung kostet es z. B. dem Spötter Mainau, dem frivolen Frauenverächter, die innere Umkehr zu bekennen, den ‚guten Leuten dort drüben‘ zu zeigen, daß der eifrige Fürsprecher der Convenienzehe keinen innigeren Wunsch hat, als – die eigene Frau zu erobern. Aber diese Sühne schulde ich ‚der blonden Gräfin Juliane‘, dem reinen Mädchen mit der enthusiastischen Künstlerseele, mit den unerschrockenen, eigenen Gedanken. … Ich habe mir die Buße auferlegt, ehe ich mir gestatte, mein neues Glück mir anzueignen.“
Der Fächer war den Händen der Herzogin entfallen; er schaukelte funkelnd an der feinen Kette, die vom Gürtel niederhing. Mainau den Rücken zuwendend, stand die schöne Frau [301] vor einem vollblühenden Orangenbaume und zupfte hastig an den Blüthen, als gönne sie diesen schönbelaubten Zweigen nicht, auch nur eine einzige Frucht zu tragen. … Sie war still geworden; kein Laut kam von ihren Lippen, in dem nervösen Spiele der Hände aber lag etwas wie unterdrückte Verzweiflung, und da kam ihm doch eine Regung von Bedauern.
„Ich möchte, ich könnte alle Tollheiten meines Lebens ungeschehen machen,“ sagte er weiter; „es ist da so Vieles, dessen ich mich schämen muß, weil es gegen Edelmuth und Rittersinn verstößt. … Meine innerste Natur werde ich freilich nicht ändern. Ich hasse, die mich hassen, und ‚die Milch der frommen Denkungsart‘ wird mir nie die Pulse sänftigen, aber deswegen bereue ich doch, wo ich zu wild in der Rache gewesen bin. … Hoheit, ich wünsche lebhaft, daß auch da Ruhe und Glück einziehen möchten, wo ich einst Fluch und Unheil herabzubeschwören gesucht habe.“
Die Herzogin fuhr mit einem total veränderten Gesicht herum. „Ei, wer sagt Ihnen denn, mein Herr von Mainau, daß ich nicht glücklich bin?“ fragte sie den Baron mit höhnischer, kalter Stimme. Sie reckte ihre üppige Gestalt empor und sah plötzlich aus, als stehe sie vor dem Thronsessel und ertheile einem Untergebenen Audienz. Die Herrscherhaltung gelang, nicht aber der Herrscherblick; aus den schwarzen Augen brach das furienhaft wilde Feuer des tiefgereizten Weibes. „Glücklich? Ich bin es! Ich darf meinen Fuß auf den Nacken Derer setzen, die ich glühend hasse, denn ich habe die Macht. Ich kann vernichtend da eingreifen, wo man den Traum von Glück und Seligkeit träumt, denn ich habe die Macht. … Mächtig sein, heißt glücklich sein für den stolzen, ehrgeizigen Frauengeist. Merken Sie sich das, Freiherr von Mainau! Ihr frommer Wunsch war vollkommen überflüssig, wie Sie sich sagen werden.“
Sie schritt nach dem Ausgange; aber an der Schwelle blieb sie stehen, und durch die lange Reihe der offenen Thüren zeigend, wandte sie den Kopf über die Schulter zurück. „Da kommt sie, mild und bleich wie eine kühle Mondnacht,“ sagte sie, und ihre kleinen, weißen Zähne blitzten unter der im diabolischen Lächeln hoch emporgezogenen Oberlippe. „Wahrhaftig, Baron Mainau, Sie sind zu beneiden. … Aber Eines möchte ich Ihnen rathen: Gehen Sie nicht nach Franken! Sicilien ohngefähr möchte die Temperatur haben, in der sich das Anfrösteln von so viel strenger Tugend und selbstbewußter Weiblichkeit ertragen läßt.“
Liane kam an der Seite eines Kammerherrn, mit welchem sie die Polonaise getanzt, langsam wandelnd daher. Die Herzogin verließ den Wintergarten, während Mainau auf die Schwelle desselben trat, um seine Frau zu erwarten. An der gegenüberliegenden Thür blieb das näherkommende Paar stehen, um die rasch, mit hochgehobenem Kopfe und stolzem Nacken heranschreitende Herzogin vorüber zu lassen; aber dicht vor der jungen Frau blieb sie stehen.
„Liebe Frau von Mainau,“ sagte sie mit etwas belegter, aber vollkommen fester Stimme, „man wird Sie uns entführen. … Sie sind in der That berufen, Mann und Haus mit ‚linden und doch starken Armen‘ zu umfassen. Halten Sie fest, damit Ihnen das Phantom nicht dennoch entschlüpft in dem Augenblicke, wo Sie es am sichersten zu umschließen wähnen! Der Schmetterling muß fliegen – es ist seine Lebensbedingung. … Und nun Glück auf den Weg, schöne Braut!“ Mit leichter Grazie hob sie ihre weißen Arme, und die krampfhaft geballten Hände öffnend, ließ sie einen Regen zerdrückter, fast unkenntlich gewordener Orangenblüthen über Schultern und Arme der jungen Frau niederrieseln.
Sie nahm den Fächer wieder auf. „Herr von Lieven, ich wünsche den nächsten Galopp mit dem Grafen Brandau zu tanzen,“ wandte sie sich mit lauter, voller Stimme an den Kammerherrn.
Er flog davon, um den schönen, schlanken Lieutenant zum Tanz mit Ihrer Hoheit „zu befehlen“. Leicht mit dem Fächer grüßend, rauschte die fürstliche Dame an der sich verneigenden jungen Frau vorüber und begab sich in den Concertsaal zurück.
„Der Schmetterling fliegt nicht mehr – sei ruhig!“ sagte Mainau heiter lächelnd, indem er Liane über die Schwelle des Wintergartens an sich heranzog und sie mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit an seine Brust drückte. „Er ist überhaupt nie Schmetterling aus wirklicher Neigung gewesen, und hätte er seine Liane gleich gefunden, so brauchte er jetzt nicht so viel tolle, verzweifelte Streiche zu bereuen.“
Sie wand sich scheu und schweigend aus seinen Armen und deutete nach dem anstoßenden Salon zurück; sie hatte die beiden Herren in der Ecke sitzen sehen; jetzt hörte sie, wie sie aufstanden und der Herzogin in den Saal folgten.
„Ach, da sind Sie ja – wo haben Sie denn gesteckt, Herr Hofmarschall?“ fragte die stolze Fürstin; Graf Brandau stand vor ihr und beugte seine hohe Gestalt fast bis zur Erde, während der Hofmarschall sichtlich beklommen in ihre Nähe trat. „Man hört ja wunderliche Dinge. Baron Mainau will nach Franken übersiedeln; werden Sie mitgehen?“
Der Hofmarschall prallte vor Entsetzen zurück. „Ich, Hoheit?“ rief er mit alterirter Stimme. „Eher in die Gruft! Eher will ich von Haus zu Haus betteln gehen, als auch nur noch einen Tag im Zusammenleben mit meinem – entarteten Neffen verbringen! … Ich bleibe in meinem Schönwerth, und wenn Euer Hoheit dann und wann einen Sonnenstrahl der Huld und Gnade in das einsame Leben eines alten, treuen Dieners werfen wollen, indem Sie Schönwerth nach wie vor als Ziel der Spazierritte wählen –“
„Herr von Mainau,“ unterbrach sie ihn frostig mit harter Stimme, wobei sie ihre Hand auf den Arm des Grafen Brandau legte, „ich höre, der Sturm hat heute Nacht Ihre prächtige Musa umgebrochen – sie war es ja hauptsächlich, wie Sie sich erinnern werden, die mich immer wieder in das Thal von Kaschmir gezogen hat – vorüber, vorüber! … Zudem muß ich Ihnen gestehen, daß ich bis zu dieser Stunde das Grauen nicht los werde in der Erinnerung an die gräßliche Pulvergeschichte, durch welche der Erbprinz und sein Bruder um ein Haar auf Ihrem Grund und Boden verunglückt wären. Sie werden begreifen, daß Jahre vergehen müssen, ehe ein Mutterherz solche Schrecknisse überwindet.“
Von der Tribüne erbrauste ein feuriger Galopp, und die schöne Herzogin flog, nach einem hochmüthigen Kopfneigen gegen den vernichteten Höfling, im Arm ihres Tänzers dahin – „seltsam wild und aufgeregt“, wie sich einige alte, scandalsüchtige Damen in das Ohr zischelten. Der Hofmarschall aber sah ihr mit aschbleichem Gesichte und schlotternden Knieen einen Augenblick wie versteinert nach. Unfaßlich, unerhört! … Erhoben sich nicht die stolzen Vorfahren in der Ahnengruft und stießen mit den Händen nach ihm? That sich nicht die Erde auf, um ihn, den Unseligen, den Gebrandmarkten, zu verschlingen? Er war in Ungnade gefallen, er, der Leib und Seele dem Bösen verschrieben hätte, um nur nie ein solches Unglück zu erleben! Und da war es, ohne sein Verschulden, und hing wie eine schwarze Wetterwolke über seinem Haupte! Und nach zehn Minuten kreiste „die köstliche, die unbezahlbare Neuigkeit“ auf den Lippen der Neider und Mißgünstigen, und hundert Augen und Finger richteten sich schadenfroh auf den gestürzten Hofmarschall; er verschwand aus dem Saale.
Bald nach dem Glaswagen des Hofmarschalls fuhr auch die Equipage mit den Apfelschimmeln am Portale des herzoglichen Schlosses vor.
„Meine Mission ist erfüllt – nun darf ich die Braut heimführen,“ flüsterte Mainau Liane zu, indem er sie in den Wagen hob.
Er saß wieder droben und lenkte das Gespann, und sie lehnte in der Wagenecke; aber nicht, wie damals, als unscheinbare, graue Nonne mit der Kälte und Resignation im Herzen – über die weißen Atlaspolster breitete sich das kostbare, einst verschmähte Brautkleid; aus dem Haare zuckte der grünfunkelnde Strahl der Smaragden, und die schönen, klugen Augen der jungen Frau verfolgten aufglänzend jede Bewegung der prächtigen Männergestalt, der gegenüber sie den Widerstand des verletzten Stolzes, der kalten, strengen, trotzigen Zurückhaltung nun so vollständig aufgegeben.
Es war eine warme, lautlose Mondnacht, durch die sie fuhren. Das bleiche Nachtgestirn schwebte droben, eine über das dunkle Blau hingerollte Silberkugel; aber zwischen Himmel und [302] Erde wogte jenes glänzende Flimmern, das schleierartig die Contouren verwischt. Dort hinter dem regungslosen Parkteiche ballten sich die majestätischen Lindenwipfel des Maienfestes zu dunklen, gestaltlosen Massen; in ihrem Schatten verschwand das Fischerdörfchen so spurlos, als habe eine Riesenfaust die fürstliche Spielerei auf den Grund des Gewässers versenkt. … Liane wußte nicht, daß dort zum ersten Male ihr Name vor der Herzogin genannt worden war, daß man „die Gräfin mit den rothen Flechten“ unter jene Linden beschworen hatte, um sie ein jahrelang genährtes Rachewerk wider Willen ausführen zu lassen. Dennoch wandte sie, in sich hineinfröstelnd, den Kopf weg; der ungeheure, nachtschwarze Baumcomplex und die bleifarbene, todtenstille Wasserfläche gaben ein gespenstiges Bild. Die junge Frau hatte ohnehin mit unheimlichen Empfindungen zu kämpfen. Sie wußte, daß in dem Glaswagen, der weit vor ihnen Schönwerth zurollte, auch der Hofprediger saß; er war dem Hofmarschall wie sein Schatten gefolgt. Sie hatte ihn vom Garderobezimmer aus einsteigen und den Schlag zuwerfen sehen. … Dieser entsetzliche Priester war bereits da, wenn sie das Schönwerther Schloß zum letzten Male betrat; er hatte in der That die Kühnheit, die zähe Beharrlichkeit, mit der das Raubthier seinem Wilde auf der Ferse folgt. … Eine heiße Angst überlief sie, als der Wagen den Wald verließ und in das liebliche, von Mondlicht erfüllte Schönwerther Thal hinabbrauste. Dort unten flog eben die Equipage des Hofmarschalls hin; man sah die Glasfenster aufblinken, ehe sie hinter dem Maßholderbusch verschwand. Liane mußte all ihren Muth, ihre Vernunft aufbieten, um Mainau nicht zu bitten, daß er an Schönwerth vorüberfahre und sie noch in dieser Nacht nach Wolkershausen bringe. …
In dem Augenblicke, wo der Wagen vor dem Schlosse hielt, stand Frau Löhn, wie aus der Erde gewachsen, am Schlage. „Seit einer Stunde ist Alles vorüber, gnädige Frau,“ flüsterte sie mit fliegendem Athem. „Der mit dem geschorenen Kopfe ist vorhin auch wieder mitgekommen. Er ist im Stande und verlangt mir heute Nacht noch die Schmucksachen für den alten Herrn ab; das erste Mal ist’s auch so gewesen.“
„Ich komme,“ sagte Liane. Sie sprang aus dem Wagen, während Frau Löhn über den Kiesplatz nach dem indischen Hause zurückkehrte. Jetzt trat ein schwerer, ein furchtbarer Moment an die junge Frau heran: sie mußte Mainau den Vorgang an Onkel Gisbert’s Sterbebette mittheilen; sie mußte ihm Alles sagen, was sie wußte, dann sollte er mit ihr hinübergehen und das verhängnißvolle, kleine, silberne Buch selbst an sich nehmen.
Er hatte die Beschließerin nicht bemerkt und führte Liane ahnungslos nach ihren Appartements. Beide prallten zurück, als sie aus dem blauen Boudoir in den anstoßenden Salon traten – auf dem Tische, inmitten des Zimmers, brannte eine Lampe, und daneben stand der Hofmarschall, aufrecht, in kerzengerader Haltung, nur die Rechte leicht auf die Tischplatte stützend.
„Verzeihen Sie, gnädige Frau, daß ich in Ihre Räume eingedrungen bin,“ sagte er mit monotoner, kalter Höflichkeit. „Aber es ist zehn Uhr vorüber. Ich war im Zweifel, ob Ihr Gemahl geneigt sein würde, mir heute noch einige Augenblicke, behufs einer Auseinandersetzung, zu gewähren, und da es geschehen muß, so habe ich es vorgezogen, ihn hier zu erwarten.“
Mainau ließ den Arm seiner Frau fallen und trat mit festen Schritten auf den alten Herrn zu. „Da bin ich, Onkel! Ich wäre auf Deinen Wunsch auch sehr gern hinaufgekommen. Was hast Du mir zu sagen?“ fragte er gelassen, aber mit der Haltung eines Mannes, der nicht gewillt ist, sich irgend eine Ungehörigkeit bieten zu lassen.
„Was ich Dir zu sagen habe?“ wiederholte der Hofmarschall mit unterdrückter Wuth. „Vor allen Dingen möchte ich mir den Titel ‚Onkel‘ verbitten. … Du hast, wie Du heute Morgen selbst sagtest, zwischen Dir und Deinen Standesgenossen das Tischtuch zerschnitten. Ich stehe aber zu ihnen mit Kopf und Herzen, mit Gut und Blut; der Riß trennt Dich mithin auch von Deinem Vatersbruder, unwiderruflich und für immer.“
„Ich werde den Verlust zu tragen wissen,“ versetzte Mainau mit tieferblaßtem Gesichte, aber ruhiger, klarer Stimme. „Die Zukunft wird zeigen, was Du gewinnst, indem Du alles auf eine Karte setzest. Ein sogenannter guter Freund raunte mir in aller Eile zu, als ich das herzogliche Schloß verließ, Du seiest um meinetwillen eclatant in Ungnade verfallen“ – bei dem so ruhig ausgesprochenen Wort „Ungnade“ hob der Hofmarschall aufschreckend die Hände, als wolle er die Bezeichnung der furchtbaren Thatsache hinter die Lippen des Sprechenden zurückdrängen – „eine solche erbärmliche, kleinliche Revanche, an einem Unbetheiligten verübt, kann höchstens Ekel erregen, und Du hast nichts Eiligeres zu thun, als Deine einzigen Verwandten abzuschütteln, mit Allem zu brechen, was Deinem Leben, Deiner einsamen Zukunft in Wirklichkeit einen Zweck, einen Halt zu geben vermag? Und das muß unerbittlich zur Stunde, noch in dieser Nacht geschehen, damit Du morgen in der Frühe Deine völlige Lostrennung von ‚den Tiefgefallenen‘ rapportiren und um Gotteswillen die Wiederkehr der herzoglichen Gnade erbitten kannst?. … Was verlierst Du denn an –“
„Was ich verliere?“ schrie der Hofmarschall. „Das Augenlicht, die Lebensluft! Ich sterbe, wenn diese – diese fürchterliche Ungnade auch nur Monate andauert. … Wie Du darüber denkst, ist Deine Sache – ich scheere mich nicht darum.“ Er taumelte, unfähig sich länger auf den Füßen zu halten, in den nächsten Lehnstuhl.
Mainau wandte ihm in unverhohlener Verachtung den Rücken. „Dann bleibt mir freilich kein Wort mehr zu sagen,“ murmelte er achselzuckend. „Ich hatte gemeint, noch einmal an die großväterliche Liebe für Leo appelliren zu müssen –“
„Aha, da sind wir ja bei dem Punkte angekommen, der einzig und allein mich vermocht hat, noch einmal mit Dir zusammen zu treffen. … Mein Enkel, das Kind meiner einzigen Tochter –“
„Ist mein Sohn,“ unterbrach ihn Mainau, sein Gesicht ihm voll zuwendend, mit tiefer Ruhe. „Er bleibt selbstverständlich bei mir.“
„Mit nichten! … Für die erste Zeit magst Du ihn nach Franken schleppen – das kann ich freilich nicht verhindern; aber schon nach einigen Monaten wirst Du erfahren, was es heißt, Mächtige im weltlichen und im geistlichen Regimente brüsk herauszufordern.“
Wieder einmal ein Bild aus dem bairischen Hochlande, eine Capuzinerpredigt zu Birkenstein. Dieses Oertchen liegt im Miesbacher Gericht, ganz nahe bei dem Dorfe Fischbachau, an den Füßen des almenreichen Breitensteins, der ein Nachbar des gefeierten Wendelsteins ist. Unten im Thale fließt die Leizach, ein rascher Bergbach, der von Bairisch-Zell herausrinnt. Gegen Abend, über dem Romberg drüben, fluthet der rühmlichst bekannte Schliersee, an welchem Schliers, das alte Dorf, liegt. Wer eine gute Karte zur Hand hat, wird das betreffende Oertlein nach diesen Angaben leicht zu finden wissen, wer nicht so wohl versehen, der muß sich mit dem Bewußtsein begnügen, daß er jetzt in die Gegend zwischen der Isar und dem Inn geführt wird.
Diese Gegend ist eigentlich das bairische Arkadien. Land und Leute sind hier noch eines alpenhaften Schlags. Ersteres, das Land nämlich, wird dieses Gepräge wohl immer bewahren, obwohl die neu erstehenden Villen, Fabriken und Hüttenwerke dem bäuerlichen Aussehen der Landschaft doch etwas Eintrag thun. Wie es nachgerade mit den Leuten gehen wird, ist eine andere Frage, doch muß man zugestehen, daß sie trotz des Fremdentrosses, der jeden Sommer durch ihre Thäler wimmelt, bisher noch immer nicht merklich aus der Art geschlagen sind. Hier ist der Ursitz des Haberfeldtreibens, jenes bäuerischen Vehmgerichts, das, einst so geachtet und gefürchtet, erst in den letzten Zeiten zu roher Ausgelassenheit heruntersank und vor wenigen Jahren mit sanfter Gewalt unterdrückt wurde.
Seit etlichen Jahren geht eine Eisenbahn von München
[303][304] über Holzkirchen nach Miesbach und Schliers. Der bewegliche Münchener genießt jetzt das lang ersehnte Vergnügen, in drei kurzen Stunden mitten im bairischen Hochlande zu sein. Doch sprechen wir zunächst von Miesbach, dem trefflichen Markte an der Schlierach.
Wer ein altes Oertlein in junger Blüthe zu sehen wünscht, der muß eigentlich nach Miesbach gehen. Da ist in den letzten Jahren, seit nämlich die Eisenbahn an dem Markte vorüberzieht, ein schwer zu zählender Haufe neuer Häuser aus dem Boden gewachsen, fast alle im zierlichen Alpenstile, alle mit sanft gesenkten Dächern, mit grünen Altanen, mit grünen Fensterläden, alle so jugendlich, so heiter und lachend, daß man sie kichern zu hören glaubt. Wie sich von selbst versteht, haben sich auch die Gasthäuser und die Wohnungen für die Sommergäste in dieser Zeit entsprechend gemehrt und vergrößert. Jetzt herrschen da in den schönen Monaten noch die biedern Münchener, welche die Nähe, die Billigkeit des Ortes und die gute Luft anzieht, doch werden auch andere anständige Deutsche, ja sogar Engländer und Amerikaner zugelassen. Socialer Herd und Horst des aufstrebenden Fleckens ist aber der Frau Waitzinger ehrenwerther Gasthof, welcher an dem schönen Marktplatze steht. Frau Waitzinger theilt mit ihrer berühmten Collegin, der Frau Ruch, genannt Tiefenbrunner, zu Kitzbichel, den guten Ruf, eine treffliche Wirthin zu sein – mit dieser theilt sie aber auch einen leisen Widerwillen gegen ihr eigenes, nämlich gegen das schöne Geschlecht, wie es jetzt die Welt durchläuft, ein Gefühl, an das ich mich, wenn ich Wirthin wäre, vielleicht auch bald anschließen würde. Wenn den Herren, heißt es, in der Frühe die Schuhe gewichst oder geschmiert sind, so hört man den ganzen Tag nichts mehr von ihnen, die Damen aber läuten alle fünf Minuten. Frau Ruch-Tiefenbrunner sieht ihren Schwestern aus Berlin, Hamburg oder Bremen, wenn sie im Reisewagen daherrollen, von Weitem schon an, ob sie viel oder wenig Prätensionen machen werden. Besorgt sie Ersteres, so spricht sie einfach: Kein Quartier, und dreht sich um, auch wenn das ganze Haus noch leer wäre.
Um aber wieder in unser Miesbach zurückzukehren, so hat man in neuerer Zeit gefunden, daß daselbst eine vortreffliche Luft wehe; namentlich überarbeitete Geschäftsleute und Staatsmänner, die an geschwächten Nerven leiden, erhalten hier rasch wieder die alte Frische. Mit Stolz erzählt man, daß ein berühmter Professor der Würzburger Hochschule einst, an seinem Wiederaufkommen fast verzweifelnd, so schwach bei Frau Waitzinger angekommen sei, daß man ihn in seine Stube tragen mußte, und dennoch drei Wochen später so rüstig auf die rothe Wand, über sechstausend Fuß hoch, gestiegen sei, daß ihm selbst jüngere Leute kaum nachkommen konnten. Hierher und nur hierher, meint man, sollte unser Bismarck kommen – nur hier würde er seine Kraft und Schlagfertigkeit wiederfinden, an welcher dem ganzen deutschen Reiche so viel gelegen ist. Wenn man nur eine Zeitung fände, die ihn darauf aufmerksam machen wollte! – Auch der ehrwürdige Clerus hiesiger Gegend würde auf seine Anwesenheit nicht störend einwirken, da er Charaktergröße nicht nur an sich selber, sondern auch an Anderen zu ehren weiß.
Von Miesbach fährt man in einer starken Viertelstunde nach Schliers am Schliersee, der zweiten Hauptstation, der wir einige Aufmerksamkeit erweisen müssen.
Der Stamm, der diese idyllische Gegend bewohnt, ist ein Kernvolk; schlank und hochgewachsen, im Ganzen wohlgestaltet, hält der Schlierser wie die Schlierserin sehr viel auf ein sauberes Feiertagsgewand und weiß sich überhaupt gut zu präsentiren. Er ist ehrlich und menschenfreundlich, auch viel weniger roh, als der Bauer im Flachlande. Er theilt zwar die cholerische Natur der Bajuvaren überhaupt, allein er ist auch versöhnlich. Am Sonntag Abend, wenn das Nationalgetränk zu wirken beginnt, kommt es zwar nicht selten zu heftigen Reden, welche leicht zu Thätlichkeiten führen; allein die handelnden Personen des Dramas stechen nicht mit dem Messer zu, wie anderswo, sondern hauen sich ein paar Püffe um die Ohren, setzen sich dann wieder zusammen und gehen in alter unerschütterter Freundschaft auseinander.
Die Untugenden, die man diesem Völklein vorwerfen möchte, fallen nicht schwer in’s Gewicht. So soll es z. B. etwas bequem sein und die Ruhe der Arbeit merklich vorziehen, allein da Getreidebau nicht getrieben wird und die Viehzucht weniger anstrengt, so hat man sich hier auch nicht so zu plagen, wie im Unterland. Die viele Muße erlaubt in der That ein menschenwürdiges Dasein und giebt selbst Raum für literarische Beschäftigung. Man wendet hier nämlich manche Stunde an die Zeitungen, und die Postexpedition zu Schliers giebt täglich über fünfzig Blätter aus. Auch die Gartenlaube ist da nicht unbekannt. Manche bäuerliche Hofherren in dieser Gegend kaufen sich sogar Bücher und lesen sie – ein Brauch, der in der Stadt so selten vorkommt, daß er auf dem Lande um so mehr überrascht.
Für eine andere Untugend möchte man die etwas stark hervortretende Lebenslust ansehen. Zwar führt der Bauer annoch einen sehr einfachen Tisch, begnügt sich die ganze Woche, wie sein Hausgesinde, mit Milch- und Mehlspeisen, Butter, Schmalz und Brod, nimmt an Sonntagen im Wirthshause zwar gern ein Würstchen zu sich, weil dies die Sitte mild beurtheilt, hält sich aber von theuren Speisen, als z. B. von Kalbs- und Schweinebraten fern, weil ihr Genuß als eine Verschwendung gilt, die dem Landmanne nicht wohl anstehe. Das edle Trinkvergnügen wird dagegen an Sonn- und Feiertagen mit großer Beflissenheit sowie ohne bestimmtes Maß betrieben, und auch der Minderbemittelte nimmt daran redlich Theil, was ihm um so eher erschwinglich, als selbst der Tagelöhner täglich sich fast auf drei Gulden hinaufarbeiten kann.
Es ist in den jüngsten Zeiten aufgefallen, daß unsere Hochländer, die doch so frisch und aufgeweckt sind und nur liberale Zeitungen lesen, beim letzten Wahlkampf für’s deutsche Reich sich auf die Schattenseite stellten. In der Nähe betrachtet, sieht aber die Sache nicht so seltsam aus. Kaiser und Reich und die Hauptstadt Berlin, sie liegen dem Bauern noch ziemlich fern. Die letzten drei Jahre haben noch nicht viel vermocht gegen die Traditionen eines fast tausendjährigen Particularismus. Die Dinge, die sich im entlegenen Norden abspielen, sie erregen den Landmann nicht dergestalt, daß er sich bewogen fühlte, eine bestimmte Stellung zu ihnen einzunehmen. Er hätte am Ende auch liberal gewählt, wenn man zur rechten Zeit etwas dazu gethan hätte. So kam aber der Clerus den Liberalen zuvor, schlug mit Meisterschaft die große Trommel und rief: Nicht lutherisch werden! Dieses Mal haben es übrigens die Frauen durchgesetzt. Auf der Kanzel und im Beichtstuhl wurden die weiblichen Herzen durch den bevorstehenden Einsturz der katholischen Religion beängstigt, welcher nur beschworen werden könne, wenn die gläubigen Lande ihre gläubigsten Vertreter nach Berlin entsenden würden.
Vor dem Tage der Wahl gingen die geistlichen Herren noch von einem Hause zum andern, spielten die letzten Schrecknisse aus und ließen in den Händen der Hausfrau den rettenden Wahlzettel zurück. Die Frauen lagen dann den Männern an, setzten ihnen die politisch-religiöse Lage nach jenen Offenbarungen auseinander und baten sie schluchzend und weinend, nicht mit den Ketzern zu gehen, sondern zum Herrn Pfarrer zu halten, von dem der Wettersegen, Kindstaufe, Hochzeit und letzte Oelung abhänge. So gaben denn die meisten Männer nach und erklärten öffentlich, das heißt im Wirthshause: am Hausfrieden sei ihnen mehr gelegen, als an der Reichstagswahl. Auch den Wirthen wurde erheblich zugesetzt. Sie sind ohnedem schon lange das Augenmerk der ultramontanen Agitationen. „Wenn Ihr diese und diese Zeitung nicht abschafft,“ heißt es, „so werden wir Euer Herrenstübel nicht mehr mit unserm Besuche beehren, und wenn Ihr öffentlich zu den Liberalen haltet, so werden wir Euch heimlich in unaufsichtlichen Bann thun.“ Der Wirth hält auf sein Herrenstübel und auf sein Gewerbe natürlich auch viel mehr, als auf die Reichstagswahl, und so schließt er sich, obwohl widerwillig, dem großen Haufen an. „Als Staatsbürger,“ sagt er dann unter vier Augen, „bin ich liberal, aber als Geschäftsmann darf ich’s mit dem Pfarrer nicht verderben.“
Am kürzesten hat sich neulich ein Landmann folgendermaßen ausgedrückt: „Liberal sind wir wohl Alle, aber wählen thun wir schwarz.“ In den kleineren Städten und Märkten wird ohnedem jeder Gewerbsmann und jeder Händler bald den geistlichen Herren in die Hände gefallen sein, da die katholischen Casinos, die man überall gegründet hat oder zu gründen sucht, immer auch Handel und Wandel katholisiren und die Hartnäckigen, die nicht beigehen wollen, auch vom commerciellen Verkehre ausschließen.
[305] Ein angenehmer Gegensatz zu jenen Casino’s sind die Veteranenvereine, die jetzt allenthalben entstehen. Gewöhnlich vereinigen sich zwei oder drei Dörfer, stellen den Brüdern, die im letzten Kriege gefallen, im Friedhofe oder auch im grünen Walde ein Denkmal auf, ziehen zu dessen Enthüllung mit Musik und Fahnen hinaus, stellen sich in Parade auf, halten ihre Reden, setzen sich dann zusammen, toastiren auf Kaiser und Reich und schließen die Feier mit Gesang und Tanz, um sie nächstes Jahr in ähnlicher Weise zu wiederholen. Diese Vereine wären ein Band, das die reichsfreundlichen Kräfte im Lande trefflich zusammenhalten könnte, allein es ist nicht zu bemerken, daß ihnen die gebildeten Liberalen oder die Behörde irgend eine Ehre oder Aufmerksamkeit erweisen. Niemand scheint zu ahnen, welche Bedeutung ihnen mit geringer Mühe zu verleihen wäre.
„Nur nicht lutherisch werden!“ hallt es jetzt aus allen Winkeln der Kirche. Nur schade, daß wir’s schon sind oder wenigstens schon in einer ganz protestantischen Atmosphäre leben! Wir erinnern nicht an die mächtigen Ketzerschaaren in unserer Hauptstadt, aber auf dem Lande, ja selbst in Miesbach, in Schliersee, wo immer eine Fabrik, ein Hüttenwerk, eine größere oder kleinere Unternehmung ersteht, sind die Vorstände, die Verwalter, die Leiter, alle die, die gute einträgliche Stellen einnehmen, entweder aus dem protestantischen Franken, aus Württemberg oder aus Norddeutschland. Die katholische Erziehung in Altbaiern liefert diese Gattung nicht. In der dreihundertjährigen geistigen Erstarrung, welche die Jesuiten bekanntlich über das Land verbreitet, ist das Nationalgenie in der That etwas eingeschlummert. Bis zum Anbruche der Reformation ging Altbaiern auf den Wegen der deutschen Kunst und Wissenschaft freudig mit; seitdem die Väter Jesu in’s Land kamen, ist es in allen Fächern zurückgeblieben und vom Auslande abhängig geworden. König Max der Erste hat die Dickhaut nur Etwas aufgeschürft; Ludwig des Ersten Seltsamkeiten und Max des Zweiten Milde ließ sie gemüthlich wieder zuheilen. Altbaiern führt wohl sein Nationalgetränk in’s Ausland, aber geistige Erübrigungen hat es nie versandt. Es mußte vielmehr seine Blößen immer mit Berufungen decken. Unter den Kurfürsten führte man die Gelehrten und die Künstler aus Frankreich und Italien ein; unter den Königen fing man an, sie aus dem protestantischen Deutschland zu verschreiben. Letzteres war den frommen Patrioten immer ein Dorn im Auge; aber das sichere Mittel dagegen ist doch noch unheimlicher als das Uebel. Man müßte dem Volke nämlich die Augen öffnen, es etwas denken lehren, es innerlich und äußerlich erziehen, es an Kunst und Wissenschaft gewöhnen (denn der „ordentliche“ Altbaier weiß zur Zeit mit Liebig so wenig anzufangen wie mit Kaulbach), kurz, man müßte es geistig heben und eine andere geistige Luft schaffen, als es jetzt athmen muß. Dann würde es vielleicht selbstständig werden und keine Fremden mehr brauchen, vielmehr sogar eigene Celebritäten exportiren können. Aber wo käme nach einer solchen Hebung die jetzige Kirche mit allen ihren Mißbräuchen hin, wo die Infallibilität, die unbefleckte Empfängniß und die schönen, genußreichen Wallfahrten nach Birkenstein, nach Altenötting oder gar zum Judenmord in Deggendorf? Auch möchte wohl manches Kirchenlicht erwägen, daß jetzt noch die Flagge die Waare deckt, während die kritischen Augen einer späteren Zeit in seinem Wesen leicht Mängel entdecken möchten, die zum Besten der Kirche besser verhüllt bleiben. Darum lassen wir’s lieber beim Alten.
Unter solchen Betrachtungen sind wir nach Birkenstein gekommen. Dort steht also unter alten und jungen Birken eine Wallfahrtskirche, welche nach dem Muster des Heiligthums zu Loreto gebaut sein soll. Das heilige Haus zu Loreto ist aber dasselbe, in welchem Maria zu Nazareth wohnte, dasselbe, welches von den Engeln bekanntlich einmal aus Galiläa dahin getragen wurde, wo es jetzt die Pilger zur Andacht ladet. Ihren Ursprung verdankt aber die Kirche zu Birkenstein einem Traumgesichte, welches 1663 drei Männer zu Fischbachau, der Pfarrer, der Wirth und ein Bauer, zu gleicher Zeit erlebten. Es erschien ihnen nämlich die allerseligste Jungfrau und theilte ihnen mit, daß sie auf dem Birkenstein verehrt sein wollte. Dem frommen Wirthe mag wohl die heilige Mahnung am tiefsten zu Herzen gegangen sein, denn ein guter Wirth gedeiht nirgends besser als bei einer guten Wallfahrt. Und so kam nach manchen Hindernissen die Capelle zu Stande.
Unser heutiges kunstreiches Bild, das Herr L. Braun aufgenommen hat, zeigt uns die Capelle mit ihrem Thürmchen und dem hölzernen Umgang, der ihr vorgebaut ist. Vom Thurme weht eine Flagge, wahrscheinlich in den baierischen Farben; die Vorderseite des Kirchleins und die Tragbalken des Umgangs sind mit Blumengewinden verziert. Es scheint ein großes Fest, ein Frauentag, eine Kirchweih, ein Jubiläum gefeiert zu werden.
Vielleicht giebt es Leute, welche es für überflüssig halten, sich eigens aufzumachen und nach Birkenstein zu gehen, denn wenn Gott überall allmächtig und allgegenwärtig ist, warum soll er in Birkenstein noch mächtiger und noch näher sein als anderswo? Allein so ist die Sache nicht aufzufassen, sondern vielmehr ganz anders. Der liebe Gott ist nämlich dem katholischen Landvolke ein unbekanntes, tief im dunklen Hintergrunde schwebendes Wesen, mit dem es persönlich keinen Verkehr unterhält. Es wendet sich nur an seinen Hofstaat, an die allerseligste Jungfrau, gleichsam die Königin-Mutter, und an die lieben Heiligen. Daß diese nicht allmächtig sind, ist ziemlich gewiß; ob sie allgegenwärtig, ist eher zweifelhaft. Man bietet ihnen daher auf dieser Erde gewisse Heiligthümer an, die sie gleichsam als ihre Wohnung beziehen und wo sie immer sicher zu sprechen sind. Dort trägt man ihnen dann vor, was man auf dem Herzen hat, und bittet sie um ihre Verwendung bei dem unbekannten Gott.
Uebrigens trägt zur Blüthe der Wallfahrten auch die germanische Wanderlust bei. Nicht alle können nach Maria-Einsiedeln oder gar nach Loreto pilgern; aber ein Ausflug, der nur einen oder zwei Tage beansprucht, ist für Männlein und Weiblein leicht erschwinglich. Kommt also die schöne Sommerszeit, so erwacht die Sehnsucht nach der blauen Ferne, und der Bauer, die Bäuerin, die Söhne und die Töchter freuen sich auf eine Wallfahrt nach Birkenstein ebenso herzlich, wie sich ein gebildeter Berliner oder Hamburger auf den Rigi oder auf den Comersee freut.
Diese Wanderlust können wir auch aus den weiblichen Trachten, die das Bild uns bietet, mit ziemlicher Sicherheit herauslesen. Die ländlichen Schönen mit dem kegelförmigen Hütchen, welches eine Goldschnur einfaßt, sind freilich nicht weit her, da dies die jetzige Mode der Miesbacher Gegend ist; aber die Figur, die gerade unter dem Prediger steht, mit dem niedrigen Hute, von dem zwei breite Bänder wallen, sie mag schon eine halbe Tagereise weit gegangen sein, denn dieser Hut deutet auf die Gegend von Audorf oder Brannenburg im Innthal. Den Weitpreis unter den Anwesenden erhält aber jedenfalls die breitschulterige Person, die vorn im Grase sitzt. Die Grenadiermütze, die sie schmückt, ist nämlich eine sogenannte Schwazerhaube, ein uraltes tirolisches Wahrzeichen, das schon die Heldinnen von Anno Neun geführt. Leicht möglich, daß diese Dame in dieser Versammlung auch die Ehre der Alterspräsidentin ansprechen dürfte, denn die Schwazerhauben sind in Nordtirol jetzt fast verschwunden und werden als Andenken an die gute alte Zeit nur noch von hochbetagten Mütterchen getragen.
Auf der Laube steht ein Capuziner und predigt. Was mag er vortragen? Als August von Platen vor bald sechszig Jahren eines Sonntags nach Birkenstein gekommen war, wurde da auch gepredigt, und zwar von den Wunderkräften des heiligen Scapuliers und von den gräßlichen Qualen des Fegefeuers, aus welchen die heilige Jungfrau alle Samstage eine Anzahl Seelen zu erlösen pflege. Das Scapulier, die lodene Schulterdecke, die in ihre Ausläufern vorn bis auf die Füße heruntergeht, ist ein wichtiges Kleidungsstück in der Geschichte des Carmeliterordens. Ein Prior desselben soll nämlich zur Zeit der Hohenstaufen ein besonderes Exemplar aus den eigenen Händen der heiligen Jungfrau Maria und damit die Versicherung empfangen haben, daß, wer darin sterbe, der ewigen Strafe enthoben sei. Kein Wunder, daß sich viele Kaiser, Könige und andere Fürsten mit großen Kosten dieses Scapulier verschrieben, um darin den letzten Seufzer auszuhauchen.
In der katholischen Kirche, also auch in der Wallfahrt zu Birkenstein, ändert sich sehr wenig. Es ist daher wohl möglich, daß der Capuziner, den Herr L. Braun im vorigen Jahre dort gehört, wieder über das heilige Scapulier gepredigt hat. Solche Gegenstände sind auch die passendsten, denn sie geben kein Aergerniß. Spricht der Prediger dagegen über Keuschheit, [306] Mäßigkeit, Ehrlichkeit, christliche Liebe und Verträglichkeit, so findet man darin nur zu gern boshafte Anspielungen. Der Wirth, der Jagdgehülfe, der Krämer und andere Honoratioren mit ihren Gattinnen oder Liebchen fühlen sich leicht getroffen, und zuletzt zieht man gar noch Vergleiche zwischen den Worten und den Thaten des Predigers selbst. Also keine Moral! Nach der „Donauzeitung“ ist das altbairische Volk ohnedem das beste und edelste in der Welt, und es hieße also Eulen nach Athen tragen, wenn man von der Kanzel herunter Tugenden predigen wollte, die es theils nicht braucht, theils schon hat.
Unter den Bogen des Umgangs sieht der aufmerksame Beschauer auf dem Bilde auch zwei tragbare Beichtstühle, die an solchen Tagen, um im Innern der Kirche Raum zu schaffen, in’s Freie gestellt werden, so daß sich die Gläubigen ihrer Sünden in der kühlen Morgenluft, im Angesicht der grünen Alpen poetisch entleeren können. Die Ohrenbeichte soll übrigens für ältere Leute ganz unschädlich sein, was ficht ein altes Mütterchen einen alten Capuziner an! Unter den jungen Leuten ist’s aber nicht immer geheuer. Man sagt manchen jungen Caplänen nach, daß sie den blühenden Mädchen aus ihren reichen Erfahrungen manche anziehende, wenn auch nicht nothwendige Eröffnung machen, so daß die katholischen Mütter sich oft verabreden, ihre Töchter nicht in den Beichtstuhl zu lassen, bis sie verheirathet sind.
Rechts im Hintergrunde erscheint ein weichendes Paar, das erste, das Reißaus nimmt. Es wird ein Landmann und seine Frau sein, welche, im Beichtstuhle eben entsündigt, nun auch einer leiblichen Erfrischung nachgehen. Sie werden nicht weit zu wandern haben, denn das Wirthshaus liegt in erfreulicher Nähe. Es ist ein altes Sprüchwort: „Wo der liebe Gott eine Kirche entstehen läßt, setzt der Teufel ein Wirthshaus daneben“, allein dieser Spruch ist allzusehr pessimistisch und stimmt nicht zu den thatsächlichen Verhältnissen. Eher ließe sich sagen:
„Kirche und Wirthshaus sind innig verwandt,
Es knüpfet sie Beide ein himmlisches Band.“
Denn hätten die Wallfahrer nicht auch die Erquickung, die ihnen nach der Andacht das Wirthshaus bietet, im Auge, so kämen sie nicht so zahlreich zur Kirche, und kämen sie nicht so zahlreich zur Kirche, so fielen sie auch nicht so zahlreich in’s Wirthshaus ein. Dort aber gehen ihnen nach dem morgendlichen Gottesdienste die schönsten Stunden auf. Alle miteinander, die Väter, die Söhne, die Töchter, sie sitzen – ein fröhlicher Anblick – im schönsten Feiertagsgewande und in rosigster Laune beim Humpen und sprechen mit alpenhaftem Appetite den Würsteln, ja, heute sogar den Schweinshaxeln zu, die die gute Wirthin für diesen Tag hat reichlich vorbereiten lassen. Dabei geht ein heiteres Geplauder durch die Halle, und später kommt es wohl auch zu Gesang und Tanz. Da weitaus die Mehrzahl der Wallfahrer in der Nähe zu Hause ist, so zerstreut sich die Menge gegen Abend und wallt in munterem Zuge der Heimath zu, wo sie sich in süßen Erinnerungen schlafen legt, während an den großen Wunderstätten, wie zu Altenötting oder Deggendorf, wo die Wallfahrer aus größeren Fernen kommen und daher über Nacht zu bleiben pflegen, die Gensdarmerie all ihren Witz aufbieten muß, daß der christliche Gnadenort am späten Abende nicht zu einem heidnischen Paphos oder anderen cyprischen Heiligthume werde.
Im sogenannten technischen Personale der deutschen Schaubühne findet man zuweilen Persönlichkeiten von urkomischer Wirkung, die dem Gedächtniß, hat man sie im Leben nur einmal gesehen, unverwischbar sind. Fast Alle, die zu diesem Genre gehörten und die ich auf meiner langen Bühnenlaufbahn Gelegenheit hatte zu beobachten, deckt längst die gute Mutter Erde. Einige von ihnen verdienen ihrer Originalität wegen der Vergessenheit entrissen zu werden.
Als Knabe ward mir unter des berühmten Ludwig Devrient Zeiten Gelegenheit, bei der königlichen Bühne zu Berlin einen Mann kennen zu lernen, dessen originelles Thun und Treiben in seinem Amte als Theaterdiener mir unvergeßlich ist. Jeder, der dem königlichen Theater irgend wie nahe stand, wird sich des alten würdigen Zeger, vom Damenpersonal der königlichen Bühne kurzweg „Zegerchen“ genannt, wohl noch erinnern. Zu jener Zeit war Zeger schon ein hochbetagter Mann, der eine höchst interessante Vergangenheit hinter sich hatte. Seine subalterne Stellung bei der Bühne wußte er durch eine nicht nachzuahmende Würde und Wichtigthuerei Leuten gegenüber, die mit Gesuchen zum Generalintendanten kamen, zu bemänteln, doch behandelte er Niemanden unhöflich oder gar grob, im Gegentheil, sofort schnallte er diesen gegenüber die Protectionsmiene vor und that so, als ob er allein der Mann sei, der ihre Wünsche erfüllen könne. „Das wollen wir schon’s machen, mein lieber Mann. Ich und der Herr Generalintendant werden uns die Sache überlegen. Kommen Sie man morgen wieder!“
Nie sah man Zeger vor seinem Chef oder sonstigen Vorgesetzten kriechen oder Klatschereien hinterbringen. Der Alte ging seinen geraden Weg, doch lag in seiner Art zu reden eine gewisse Vertraulichkeit, die nicht den mindesten Schein von vorlautem Wesen an sich trug. Mich zeichnete der alte Zeger ganz besonders vor anderen Knaben meines Alters aus; ich war sein kleiner Protégé. Diese seine Vorliebe für mich brachte mich sehr oft mit ihm in Berührung. Durch kleine Dienstleistungen, die ich dem guten Alten herzlich gern that, erwarb ich mir immer mehr und mehr seine Gunst. Wo es etwas Besonderes gab, trieb ich mich im Opern- wie im Schauspielhause umher, und so sammelte sich Manches in meinem Raritätenkästlein, Gedächtniß genannt, von dem ich dann und wann etwas auskrame, um damit Andere zu erfreuen.
Es war mir gestattet mich mitunter im Vorzimmer des Generalintendanten, damals Graf von Röder, blicken zu lassen, um hin und wieder dem alten Zeger, der Vormittags darin Dienst hatte, einen Gang abzunehmen; stets empfing er mich dann mit den Worten: „Na, sackerlotscher Junge, bist Du da? Des is mir lieb, deß Du gekommen bist. Sollst für mich wohin gehen. Kann jetzt hier nich fort. Ich und der Chef müssen immer bei der Hand sind, sonst geht hier alles drunter und drüber. Da nimm die Rolle! Es ist die Lady Macbethen; trage sie zu Frau Krelingern! Sie soll mir den einzigen Gefallen thun und übermorgen die Macbethen spielen, denn wird geändert, nimmt das Gerenne und Gelofe für mich keen Ende;“ und damit schob er mich zur Thüre hinaus, der ich vor Stolz und Freude außer mir war, mit Frau Krelinger sprechen zu können, und mit der Rolle nach der Charlottenstraße Nr. 73 rannte. Wirklich hatte ich das Glück, die berühmte Tragödin persönlich zu sprechen und ihr die Rolle der Lady Macbeth zu übergeben, die sie versprach übermorgen zu spielen. Diese Nachricht überbrachte ich denn sofort triumphirend dem alten Zeger, der schmunzelnd zu mir sagte: „Siehst Du wohl, mein Jüngken, was Keener fertig kriegt, kriege ich fertig. Die Krelingern hat nich spielen wollen, hat es dem Chef rund abgeschlagen – nu spielt sie doch.“ Dabei steckte er mir als Botenlohn ein Galeriebillet zu der Abendvorstellung in die Hand.
Ich hatte die Erlaubniß, mich im Schauspiel wie in der Oper als Pagen oder sonstiges stummes Gesindel verwenden zu lassen, wozu auch die Affen in der Zauberflöte gehörten. Für solche Dienste gab es allabendlich zwei Groschen, die der Inspicient oder Statistengeneral, wie wir Jungens ihn nannten, Herr von Michelis, auszuzahlen hatte. Dieser Herr verdient, daß seiner hier vorübergehend gedacht wird. Herr von Michelis spielte, so lange er der königlichen Bühne angehörte, nur eine Rolle, den Samiel im Freischütz. Die hoffnungsvollen Herren Söhne des Herrn von Michelis, die sich auch, um Statisten zu machen, auf der Bühne umhertrieben, besangen den Herrn Papa folgendermaßen:
„Mein Vater soll auf Erden
Nichts mehr als Teufel werden.“
War im Opern- oder Schauspielhause eine Generalprobe, so sah man den alten Zeger, das schwarze Sammetkäppchen schief auf dem beschneiten Haupte, im ersten Coulissenflügel stehen, den Oberregisseur Stavinsky, der neben dem Souffleurkasten in einem [307] Sessel saß, mit seinen großen Augen unaufhörlich beobachten, als wenn er jeden Gedanken unter dessen Stirn entziffern wollte. Zeger hatte wirklich schöne Augen, auf die er sich nicht wenig einbildete, denn sie hatten, wie er selbst sagte, Aehnlichkeit mit den Augen des alten Fritzen. „Mein Großvater selig,“ erzählte er oft, „wenn der mich so auf seinem Knie reiten ließ und mir dabei in die Ogen sah, sagte immer: ‚Der Junge hat die ganzen Ogen von dem ollen Fritzen.‘“
Stavinsky trug stets ein großes spanisches Rohr mit einem Goldknopfe, mit dem er bei Proben bald hierhin, bald dorthin deutete, wenn etwas nicht nach seinem Sinne gemacht wurde; dabei zog sich dann seine hohe Stirn in düstere Falten, die Zeger sofort nachahmte, indem er zu irgend Jemandem, der gerade in seiner Nähe stand, sehr wichtig thuend sagte:
„Da! Das habe ich längst vorhergesehen, daß die Krelingern ihm das nicht recht macht. So was kann sie och nich; das müssen Sie einmal von meiner Tochter bei mir zu Hause sehen, die hat das weg. Ich und Stavinsky wissen gleich, wo der Hase im Pfeffer liegt. Wir kennen den Rummel. Was die dramatische Kunst anbelangt, will ich ’mal zwei Menschen, wie ich und Stavinsky, suchen, die so rinnjedrungen sind, er durch das Studium, ich durch das viele Sehen.“
Hatte Stavinsky den alten Zeger gerufen, so zog dieser sein Käppchen, ging mit dem sogenannten Trauerspielschritt gravitätisch zu dem Oberregisseur und fragte echt Berlinisch: „Wat befehlen Sie, Herr Stavinsky?“
Hatte Zeger Dienst im Vorzimmer des Generalintendanten, so zeigte er Leuten, die zum ersten Male mit ihm in Berührung kamen, seine wichtige Breitspurigkeit, ohne sie zu verletzen; vor solchen Leuten spielte er den allmächtigen Protector und that, als ginge Alles durch seine Hand. Niemandem konnte der gutmüthige alte Mann irgend etwas abschlagen, wenn es in seiner Macht lag, die an ihn gestellte Bitte zu gewähren. Dahin gehörte ganz besonders das schnelle Anmelden beim Generalintendanten. Wehe aber der Persönlichkeit, die ihm irgendwie Interesse erregte! Sie konnte sicher sein, mit der Meldung zuallerletzt an die Reihe zu kommen. Solch eine Persönlichkeit nahm er, um sich die Langeweile zu vertreiben, sofort für sich in Beschlag; sie fiel ihm zum Opfer. Mit freundlichem Lächeln reichte er so einem Opfer einen Sessel, und indem er sich diesem schmunzelnd gegenübersetzte, sagte er zu seinem Langeweilevertreiber:
„Haben Sie man Geduld! Sie kommen och an die Reihe. Der große Ludewig ist bei dem Chef drinn – der macht nich lange. Hören Sie ihn, wie er kräht? Das is ein Mensch? Was sage ich, Mensch? Ein Gott is er! So einen Künstler kann man mit der Laterne suchen – so einen findet man nicht mehr. Haben Sie ihn gestern als Franz Moor gesehen? Groß! Alle Hökerweiber auf dem Gensd’armenmarkt haben eine Gänsehaut bekommen, so schrecklich niederträchtig war er.“
„Habe den großen Devrient gestern als Franz gesehen und theile vollkommen Ihre Meinung,“ erwiderte schüchtern das Opfer und erhob sich dabei aus seinem Sessel.
Doch indem er sein Opfer schnell wieder in den Sessel drückte, sagte er: „Des is mir lieb, daß Sie derselben Ansicht sind. Bin ein oller Kunstkenner, der in seinem Leben Vieles gesehen hat.“
„Wollen Sie mich nicht dem Herrn Generalintendanten –“
„Melden?“ rief der alte Zeger. „Das versteht sich! Aber warten Sie man noch ein Bischen! Der Generalintendant loft Ihnen nich fort,“ und dabei drückte er sein Opfer, das sich abermals erhoben, wieder in den Sessel. „Zuerst müssen die vier Balletmädchen, die da am Fenster stehen und zusammen tuscheln, über Seite gebracht werden. Die Couleur kennen Sie nich. Sie wollen Zulage – kriegen sie och, denn unser alter König geht gar zu gerne in das Ballet. Das ist eine Sorte! Lasse ich die nich vor Ihnen rinn, giebt es hier einen Mordspectakel.“
Als die Mädchen in der Fensternische bei ihrer Berathung etwas allzu laut wurden, erhob sich Zeger von seinem Sessel, und voller Würde auf das vierblätterige Kleeblatt zuschreitend, rief er:
„Ruhig hier oben! Hier ist keen Balletsaal, wo Ihr dem Balletmeister Hoguet auf der Nase danzen könnt. Hier bin ich. Verstanden?“ Und sich wieder zu seinem Opfer wendend, sagte er, indem er es wieder in den Sessel drückte: „Was sagen Sie zu der Gesellschaft? Den Schlag könnte Einem die Bande an den Hals ärgern.“
Da trennte sich ein Blättchen vom Kleeblatte, hüpfte wie eine Elfe auf den Zehenspitzen gar zierlich zu dem alten Zeger, und ihm vertraulich die Schulter klopfend, sagte das Blättchen, ihn hold anlächelnd: „Papa Zegerchen thut uns nichts, der hat uns Alle viel zu lieb.“ Und damit sprang es in die Fensternische zu den Gefährten zurück.
„Na, was sagen Sie zu der Gesellschaft?“ fragte Zeger sein Opfer, es abermals in den Sessel drückend. „Schmeicheln kann die Sorte wie die Katzen.“
Da öffnete sich plötzlich die Thür des gräflichen Bureaus, und es erschien in derselben ein Mann, hell wie ein Prometheus, vom Sonnenglanze umstrahlt, dessen Kopf dichte dunkle Locken schmückten und dessen Augen, zwischen denen eine Adlernase thronte, glühende Funken zu sprühen schienen. Freundlich begrüßte er Alle, die sich im Vorzimmer befanden, und indem er dem alten Zeger vertraulich auf die Schulter klopfte, rief er:
„Na, Alter, wie habe ich Dir gestern als Franz gefallen?“
Schmunzelnd erwiderte Zeger: „Jottvoll! Das heißt: Sie waren niederträchtig – man konnte Ihre Schlechtigkeiten gar nicht mehr mit ansehen.“
„Das freut mich. Guten Morgen!“ Und damit ging der Mann mit dem Feuerblicke schnell zur Thür hinaus.
„Wissen Sie, wer das war?“ fragte er mit leuchtenden Augen sein Opfer. „Das war mein Ludewig, mein großer Ludewig Deverient. Mich fragt er jedes Mal, wie er mir gefallen habe. Auf mein Urtheil giebt er Alles. Der Ludewig is ein großer, großer Künstler. Wenn der einmal dahin geht, wo ihn keen Inspicient wieder zur Scene rufen kann, kommt so Einer nie wieder, und bei alledem ist er eine Seele von einem Menschen. So niederträchtig, wie er auf der Bühne ist, so gut ist er im Leben. Alles giebt er weg, wenn er auch selbst nichts hat.“
Da tönte die Glocke im Bureau des Chefs.
„Komm’ gleich wieder,“ ruft Zeger seinem Opfer zu und eilt in das Bureau des Generalintendanten, aus dem er sofort wieder erscheint und den Balletmädchen zuruft: „Rinn, Bande!“ Sie eilen schnell in’s Bureau des Generalintendanten. Und sich zu seinem Opfer wendend, sagte er: „Wenn die Bagage fertig ist, kommen Sie ran. Habe Sie dem Generalintendanten schon gemeldet,“ und setzte sich ihm behaglich wieder gegenüber. „Hier war das früher, noch unter Brühl’s*[1] Zeiten, ganz anders, mein lieber junger Mann. Wie Iffland noch Generaldirector war, gab es noch so eigentlich keenen königlichen Hoftheaterdiener, wie ich es gegenwärtig bin – noch lange nich; da wurden olle ausgediente Unterofficiere von der Garde mit langen Zöpfen commandirt, die etwas lesen und schreiben konnten; die mußten den Dienst besorgen. Ich bin der erste, wirklich studirte, angestellte königliche Hoftheaterdiener; dazu hat mir der Geheimerath Rust verholfen, dessen Famulus ich war, das heißt, ich barbierte ihn und leistete bei seinen Operationen allerlei Handleistungen. In seinem Hause habe ich mir die hohe Bildung zu eigen gemacht, denn da verkehrten alle großen Dichters. Im Jahre 1803 war Schiller bei Rusten zum Besuch; das war Ihnen ein lieber leutseliger Mensch! der echte Schwabe! keene Idee von Stolz. Auch Goethe kam zum Besuch – der war gerade das Gegentheil von Schillern, der reene Fürst! puh! der war stolz! Auch der Oberconsistorialrath Herder aus Weimar und Herr Wieland kamen zu Rusten. Diese ganze Dichtergesellschaft habe ich an der Nase gehabt, denn ich habe Alle barbieren müssen. Den Schiller sehe ich noch wie lebend vor mir; der hatte Ihnen ein Gesichte voller Sommersprossen, als wenn es ihm Einer aus Niederträchtigkeit mit gelbem Ocker bespritzt hätte.“
Plötzlich stürmten die vier Ballerinen mit einem „Guten Morgen, Papa Zegerchen!“ zur Thür des Bureaus und durch das Vorzimmer.
„Na nu man rinn, junger Mann! Nu sind Sie dran“ – damit schob er sein Opfer in das Bureau seines Chefs.
Zeger besaß während seiner langen Dienstzeit einen speciellen Freund, der in seiner Art ebenso originell war, wie er; dieser war der alte Hoftheaterfriseur Brenicke. Jeder Berliner von damals, der irgend wie dem Theater nahe gestanden, [308] wird sich dieser drolligen Figur noch erinnern. Brenicke trug Winter und Sommer einen hechtgrauen Anzug mit gleichen Gamaschen. Mochte es regnen oder schneien, mochte Sonnenschein oder Sturm herrschen, stets trug er sein graues Mützchen in der Hand auf seinem Rücken. Niemand hat Brenicken auf der Straße je mit bedecktem Kopfe gesehen. Aus den weiten Taschen seines Rockes sahen neugierig verschiedene Brenneisen in die Welt. Jeden Morgen zehn und Abends fünf Uhr sah man dieses originelle Männlein von der „Alten Schönhauser Straße“ nach dem Opern- oder Schauspielhause gehen. So hat der berühmte Maler Wilhelm Krüger unsern Brenicke auf einem Bilde verewigt, das sich gegenwärtig im Winterpalaste zu St. Petersburg befindet; es stellt eine große Parade „Unter den Linden“ vor Nicolaus dem Ersten von Rußland dar.
Brenicke gehörte schon unter Iffland dem königlichen Theater an und wurde erst unter dem Generalintendanten Herrn von Küstner pensionirt. Zeger, der alte verdienstvolle Regisseur Weiß und dieser Brenicke waren ganz besonders befreundet; sie gaben zusammen ein kostbares Trifolium ab. Obgleich Brenicke schon lange nichts mehr im Theater zu thun hatte, konnte er es nicht über’s Herz bringen, je eine Aufführung zu versäumen. War in beiden Häusern Vorstellung, so ging er aus dem einen in das andere, ordnete hier und da an den Frisuren der Damen etwas, und war solches geschehen, ging er in die Garderobe des alten Weiß, wo er entweder mit Letzterem eine Partie Schach oder, war Zeger zugegen, Präferenz spielte. Dieses harmlose Vergnügen wurde dem Trifolium durch ein Mandat des Generalintendanten bald zu Wasser gemacht.
Als Hermann Hendrichs in voller Jugendblüthe zum ersten Male die königliche Bühne als Don Carlos betrat, saß während der Vorstellung das Trifolium in der Garderobe, um sich an einer Partie Schach, die Weiß und Brenicke spielten, während Zeger interessevoll zusah, zu ergötzen. Weiß, im Costüm des Domingo, die hohe Stirn mit der Hand stützend, dachte eben einen siegverheißenden Zug zu thun, als plötzlich von unten herauf aus dem Zuschauerraum ein ungeheures Pfeifen und Trommeln erscholl. Weiß, im Zuge inne haltend, sagte: „Na, das ist doch zu toll von den Berlinern! So einen talentvollen Menschen wie den Hendrichs auszupfeifen! Was wollen denn die Berliner? Die jugendlichen Liebhaber und Helden wachsen nicht auf den Bäumen.“
Da wird plötzlich die Thür der Garderobe aufgerissen und der Inspicient ruft mit Stentorstimme: „Herr Weiß! Um des Himmels willen! Sie kommen ja! Das Publicum wüthet! Eine Mordpause!“
„Ach so!“ antwortete Weiß, indem er mit dem weiten Aermel seiner Mönchskutte das ganze Schachspiel zusammenfegte, „das galt mir.“
Und damit ging er gelassen zur Garderobe hinaus. Dieser Affaire wegen wurde dem alten Brenicke der Zutritt zur Bühne verboten. Mit jenem Verbote hat die Generalintendanz den alten Mann schach und matt gesetzt; Niemand sah das freundliche Männlein mehr Abends fünf Uhr hinter der „neuen Wache“ hervor kommen, um in’s Opern- oder Schauspielhaus zu gehen, sein Schach oder Präferenz zu spielen – der Tod setzte ihn bald darauf matt. Kurz nach ihm starb auch Zeger, von Allen geehrt und geachtet.
Vor einigen Jahren wurde mir das Glück zu Theil, den Frühling in der Schweiz zu verleben. Zu keiner Jahreszeit ist die Poesie der Berge holder und großartiger als im Lenze. Dann wird das Grün der Vegetation nicht vom Schnee und Eise der Bergesspitzen durch einen breiten Gürtel öden, grauen Gesteins getrennt, sondern jeder der stolzen Bergesriesen erscheint in der Majestät eines Gletschers, dem das weiße Gewand vom hohen Gipfel herab bis dicht und unmittelbar an das Grün der Föhren- und Lärchenwaldungen sich erstreckt. Man erkennt seine alten Freunde kaum wieder. Dieselben Berge, welche im August bedeutungslos und unschön erschienen, treten jetzt in vollen Prachten dem Besucher entgegen und entzücken durch die nun scharf hervorleuchtenden Einzelheiten ihrer Formen.
Und die Bäche, die Wasserfälle! Während der herbstlichen Reise hielten sie ebenso ihre Ferien wie der sie Besuchende. Jetzt aber sind sie in voller Arbeit. Rauschend und schwatzend schnellen sich die grünlichweißen Achen über das Steingeröll ihres Bettes. In mächtigen Garben gesellt sich zu ihnen das von der Höhe herabstürzende frischgeschmolzene Wasser, welches mit dem Tosen und Brausen des Jugendübermuthes seiner Fessel entrinnt und in’s Dasein tritt. Welche Umgebung ist ihm aber auch bereitet! Kaum ist der Schnee in dem Thale oder auf dem Bergeshange verschwunden, so zeigt sich ein Teppich des saftigsten Smaragdgrüns, und nach wenigen Tagen ist er mit Blumen übersäet. In allen Farben blühen sie hervor, leuchtend und strahlend im hellsten Farbenglanze. Fällt noch einmal eine leichte Schneedecke, so wird sie bald von der wirksamen Mittagssonne durchsichtig gemacht, und unter dem eisigen Schleier schauen vertrauensvoll und froh die Blumenaugen empor. Zauberhafte Schönheit!
Wer inmitten dieser Herrlichkeiten die reine Bergesluft einschlürfen darf, deß Auge schweift mit Entzücken von Bild zu Bild und saugt sich Kräftigung. Wenn irgendwo, so ist hier der Monat Mai ein Liebeskuß, der Erde aufgedrückt vom Himmel. Ich genoß diese Zeit am schönsten in Schuls (Graubünden), dem herrlich gelegenen Oertchen, welches oberhalb des tief unten in feuchter Schlucht dicht am Flusse gelegenen Curhauses Tarasp in schönster Umgebung und Aussicht erbaut ist. Nur das noch höher auf dem Bergesrücken aus höchst reizvoller Umgebung weit in das Land schauende Fettan kann mit ihm wetteifern; eine kleine, wohlhabende, von Touristen viel zu wenig gekannte und besuchte, zum klimatischen Aufenthalte vorzüglich geeignete Ortschaft. Vor meinem Fenster thronte das Kirchlein von Schuls hoch oben auf dem schroff aus dem Inn aufsteigenden Felsen. Die Glocke lud zur Kirche ein, und ich eilte, dem Rufe zu folgen, um der Aussicht von dem am Werkeltage verschlossenen Kirchhofe mich zu erfreuen. Dicht um die Kirche fanden sich Grabhügel ist engen Reihen. Sie schienen alle neu, denn noch hatte kein Rasen sie überzogen. Aber – kein Grab war verziert. Kein Kreuz, kein Denkstein verkündete des Schläfers Namen. Selten nur, auf wenigen Gräbern, blühten ausgehobene Wiesenblumen. Sollte die Bewohnerschaft so arm sein? Sollte sie der Pietät für ihre Todten entbehren? Daß das Letztere nicht der Fall war, hatte ich schon aus der anmuthenden Sitte erkannt, daß für jeden Gestorbenen in Schuls nicht nur die Hinterlassenen, sondern die Bewohner des ganzen Dorfes trauern. Die gesammte Gemeinde fühlte sich also als eine einzige große Familie. Um so mehr überraschte mich der schmucklose Zustand der Gräber.
Wie ward mir aber, als ich näher trat und auf der dunklen Erde der Grabhügel zahllose weiße Gegenstände im Sonnenlichte blinken sah. Es waren menschliche Gebeine! – Als ich später ein Grab graben sah, zeigte sich die Kirchhofserde an allen Stellen von Knochen durchsetzt. Knirschend fuhren Hacke und Grabscheit durch Schädel und Knochen. So kam es, daß auch die Oberfläche der Hügel dieselbe widerliche Beimengung zur Schau trug. Hier lag ein Stirnbein, dort ein Hinterhauptsbein, da ein halb zerbrochener Oberarm, daneben Stücke des Fußes. Alle Knochen waren von den Weichtheilen befreit, aber so wohlerhalten, als ob ein Anatom sie sorgfältig präparirt hätte. Zwischen den Knochen aber lagen Fetzen der Kleidung, hier ein Aermel von einer Männerjacke, weiterhin ein Stück des Beinkleides, und unten ragte ein Stiefelabsatz aus der Erde. Aus einem Grabhügel hing ein wohlerhaltenes Leinenband, blau mit weißen Streifen. Ich zog an dem derben, groben Bande. Da kam eine Schleife zum Vorschein, das andere Ende des Bandes, und nun hängt die noch fest gebundene Schleife mit beiden Enden an zwei langen Bändern aus dem Grabe. Ein altes Mütterchen belehrte mich, daß dies das Schürzenband eines jungen ihr wohlbekannten Mädchens gewesen, welches vor wenigen Tagen durch neue Benutzung des Grabes in seiner sogenannten „ewigen Ruhe“ gestört worden sei; sie habe die Verstorbene gekannt, und eine ihr ebenfalls bekannte Freundin habe der Entschlafenen damals den Liebesdienst der letzten Bekleidung erwiesen.
[309] Also die Knochen und Kleider bekannter Personen lagen und liegen noch zerstreut auf diesem angeblichen „Friedhofe“. Die weinende Wittwe sieht an den Kleidern ihres Gatten, daß seine Skelettheile es sind, mit denen muthwillige Knaben spielen. Der bekümmerte Vater erkennt an wohlerhaltenen Resten des Anzuges die von ihnen noch umhüllten Knochenreste seines verstorbenen Lieblings und muß sehen, wie Spaten und Fuß des Todtengräbers sie zertrümmern. Und diese herzlose Barbarei, diese kaum glaubliche Rohheit vollzieht sich inmitten einer paradiesischen Gegend, eines wunderbar schönen Stückleins Erde, vollzieht sich in einem kleinen Orte mit geringer Bevölkerung!
In Schuls sterben jährlich nur etwa zwanzig Personen. Da der Raum um die Kirche nur etwa dreihundertfünfzig Gräber gestattet, so wird in der kurzen Zeit von siebenzehn bis achtzehn Jahren jedes Grab wieder in Gebrauch genommen. Auch diese kurze Zeit hat im Anfange gewiß genügt, die daselbst begrabenen Leichen in „Verwesung“ überzuführen, denn der Begräbnißort ist der Sonne und dem Winde reichlich ausgesetzt, und so lange die Erde noch porös, das heißt für Luft durchgängig war, konnte zur Leiche genügende Menge Luft dringen, deren Sauerstoff sich mit dem Kohlenstoffe und Wasserstoffe der Körperbestandtheile verband, so daß neben Stickstoffgas nur Kohlensäure und Wasserdunst dem Grabe entströmten, und der Vorgang der Zersetzung keine schädlichen Dünste aushauchte. In allen neuen Kirchhöfen ist dies der Fall. Die Zersetzung geht schnell vor sich und hat die Form der „Verwesung“, das heißt einer langsamen Verbrennung unter der Erde.
Allein sobald mehr Leichen rasch hintereinander an derselben Stelle beerdigt werden, ändert sich das Verhältniß. Die Fäulnißstoffe verstopfen zum Theil die Poren der Erde; es kann weniger Sauerstoff eindringen. Ebenso, wie der gährende und theilweise faulende Schnupftabak schwarz wird und Humussäure enthält, so geht auch die Leiche nicht mehr in „Verwesung“, sondern in „Fäulniß“ (das heißt Zersetzung bei wenig Wärme und Sauerstoff, aber genügendem Wasser, oder Zersetzung im Wege der Verjauchung) über und bildet zum Theil aus ihren faulenden Stoffen schwarze Humuserde. Diese letztere nun zersetzt sich weiter und nimmt von dem eindringenden Sauerstoff einen Theil an sich, entzieht ihn also der in diese Humuserde begrabenen Leiche. Schließlich wird die Erde durch faulende Leichenbestandtheile „gesättigt“ und vermag nur noch wenig aufzunehmen. Die frühere poröse, lockere, helle Sanderde ist dann in eine fette, knetbare, dunkle, lehmartige Erdmasse umgewandelt, welche der Luft keinen Zutritt in das Innere gestattet. Deshalb umschließt sie zuletzt die Leichen und läßt sie in eine Art Käse (das sogenannte Leichenfett, Leichenwachs, Adipocire) sich umwandeln, erhält aber die Gestalt derselben und die Theile ihrer Bekleidung, wie man dies in gleicher Weise und aus dem gleichen Grunde in den humushaltigen fetten Torfmooren des hohen Nordens beobachtet hat, welche den Riesenhirsch und seine Jäger seit Jahrtausenden in ihrer Hülle aufbewahrt gehalten haben. Im kleinen Schuls konnte die Sättigung der Erde auf dem Friedhofe trotz günstigster Umgebungen verhältnißmäßig schnell erfolgen, weil die Schicht der Erde nur dünn ist und unter ihr das feste Gestein der Felsen sich breitet. In großen Städten erfolgt sie durch die Masse der Begrabenen unfehlbar; mögen die Bedingungen im Uebrigen so günstige sein, wie sie wollen, schließlich ist die Erde des Kirchhofes „gesättigt“.
Dann verläßt man wohl den Ort und sucht zum Begräbniß einen neuen aus. Aber bleiben deshalb die eklen Dünste für die Nachbarschaft aus, welche die mit Fäulnißstoffen durchsetzte Erde in die Luft haucht und dadurch den Genuß der Luft widerlich und gesundheitswidrig macht? Bleiben die Beimischungen der Fäulnißstoffe, Fäulnißproducte und Fäulnißerreger an das Brunnenwasser aus? Wir haben keine Wahl für Luft und Wasser, sondern wir sind gezwungen, diejenige Luft einzuathmen, welche gerade unseren Athmungsorganen zunächst ist; wir sind gezwungen, dasjenige unterhalb der Erdbodenfläche fließende Wasser (Grundwasser oder Unterwasser genannt) zu trinken, welches gerade dem saugenden Rohre unseres Brunnens oder unserer Wasserleitung zunächst war. Deshalb haben wir alle Mittel anzuwenden, um Luft und Wasser uns „rein“ zu erhalten.
Wenn wir aber faulende Leichen ihre Dünste in die Luft und ihre lösbaren oder abspülbaren Stoffe in das vorbeifließende Wasser abgeben lassen, so verpesten wir uns Luft und Wasser – und zwar verpesten wir uns dieselben durch Fäulnißerreger, welche zugleich für den lebenden Organismus Krankheitserreger sind.
Noch im Jahre 1840 konnte der geistvolle Arzt Professor Henle in Göttingen diese Krankheitserreger nicht direct nachweisen. Heute vermögen wir dies, und zahlreiche tüchtige Beobachter haben das Leben und Treiben dieser winzigen Unholde, sowie ihre Einwirkung auf den gesunden und kranken Menschen erforscht. Es besteht für Denjenigen, welcher diese Einzelheiten kennt, kein Zweifel über Macht und Einfluß dieser uns feindlichen kleinsten Organismen, über welche ich vielleicht später Mittheilungen bringe. Wenn trotz der feststehenden Thatsachen gelegentlich noch Zweifel laut werden, so liegt dies daran, daß die bisherige Schulbildung auf classisch-philosophischer Grundlage sich nicht günstig erweist für das naturwissenschaftlich geschulte Denken. „Thatsachen“, welche nicht in die gewohnten Vorstellungen sich ohne Weiteres einfügen lassen, werden von Manchem wie eine willkürliche „Annahme“ betrachtet und – zurückgewiesen. Aber nicht durch Folgerungen und Speculationen können Beobachtung und Thatsache widerlegt werden, sondern nur durch den Nachweis von Beobachtungsfehlern und von factischen Irrthümern. Dieser Nachweis kann eben nur durch neue Beobachtungen und Thatsachen geführt werden. Sind diese Unterlagen des neuen Beweises nicht vorhanden, so ist der hochmüthige Zweifel nur ein Denkfehler, oder ist, historisch betrachtet, ein ohnmächtiges Ankämpfen der alten lateinischen Mönchsschule, aus welcher unser classisch-philosophisches Gymnasium hervorging, gegen den frischen und vorurtheilslosen Geist der beobachtenden und experimentirenden Naturforschung.
Wer aber nicht gewaltsam Auge und Ohr verschließt, der erkennt die gewaltige Macht der Fäulnißerreger ebenso in den Typhusepidemien zu Islington (im Jahre 1870) und zu Armley (1872), wie in der Uebertragung des Milzbrandblutes und des Leichengiftes – der weiß, daß schon viele Epidemien, viele Tausende von Erkrankungen und Sterbefällen und unsagbares Elend, unsagbare Noth hervorgerufen wurden durch die Fäulnißerreger, vor denen eben der Einzelne sich nicht zu schützen vermag, weil er nicht freie Wahl hat in Bezug auf Wasser und Luft. Deshalb verlangt die öffentliche Gesundheitspflege, daß Wasser und Luft rein erhalten werden. Eines der hierzu anzuwendenden Mittel ist: die Leichen nicht langsam in der Erde faulen und Gift entwickeln zu lassen, sondern sie schnell durch Verbrennung zu zersetzen und unschädlich zu machen.
Die Leichenverbrennung ist kein neuer Gedanke. Bis zu den ältesten Tagen der Geschichte und bis zur vorhistorischen Zeit reicht die Sitte, die Körper der Geschiedenen dem Feuer zu überantworten. Eine der ältesten Nachrichten einer Leichenverbrennung liefert uns zugleich ein Beispiel treuester Gattenliebe. Artemisia, Gemahlin des Königs Mausolus von Carien, suchte ihren Schmerz über den Verlust des geliebten Lebensgefährten dadurch zu sänftigen, daß sie von seiner in Wein gestreuten Asche genoß, und daß sie für die Aschenurne eine prächtige Tempelhalle bauen ließ; letztere bekam nach dem Namen des Königs die Benennung „Mausoleum“ (das heißt: dem Mausolus zugehörig) und hält durch diese jetzt allgemein gewordene Bezeichnung für ein schönes Grabgewölbe die Erinnerung an jene Liebesthat fest bis auf unsere Tage. Während bei den Juden die Verbrennung der Leiche nur für Könige als besondere Ehrenbezeigung üblich war (1. Buch Samuel 31, V. 12, Jeremias 34, V. 5, und 2. Buch der Chron. 21, V. 19), war in Italien schon früh diese königliche Ehre Gemeingut aller Bürger geworden. Im alten Latium fand man unter der Lava eines vorhistorischen Ausbruchs des Berges Albanus noch in der Tiefe rohe Aschenurnen. Wie allgemein verbreitet die Verbrennung bei den Griechen war, erkennt man nicht nur aus den Schilderungen der Ilias über die Feuerbestattung des Patroklus und des Hektor, sondern mehr noch aus der Waffenruhe, welche Agamemnon und Priamus sich gegenseitig nach der Schlacht zum Verbrennen der Gefallenen zugestanden, wie dies in den heutigen Kriegen zum Zwecke der Beerdigung geschieht, und besonders aus den Worten des Nestor, der zur Verbrennung der Todten mahnt, um den Kindern die Asche heimzubringen.
[310] Im nördlichen und mittleren Europa war die Verbrennung der Todten allgemeiner Gebrauch. Außer durch sagenhafte Ueberlieferungen erfahren wir dies aus den großen Urnenfeldern mit nichtrömischen Aschenkrügen; wir besitzen dafür auch Zeugnisse von Zeitgenossen. So erzählt Eckehardt, daß noch 925 nach Christus die Ungarn bei ihrem Einfalle in Deutschland ihre
Todten verbrannten und daß Attila in vollem Reiterschmucke und in der Stellung eines Reiters den Flammen des Scheiterhaufens überliefert wurde. Ferner berichtet der Araber Ibn Forßlan, daß er als Gesandter bei den heidnischen Russen an der Wolga 922 nach Christus der Verbrennung eines Vornehmen beigewohnt habe. Man legte den Verstorbenen zuerst in ein Grab, bis die zur Feierlichkeit für nöthig erachteten Prunkgewänder gefertigt waren, und als dies nach zehn Tagen geschehen, zog man des Todten Schiff an das Land, setzte diesen auf eine mit prächtigen Teppichen bedeckte Bank, gab ihm Speise, berauschende Getränke und eine Anzahl getödteter Thiere, führte dann auf das Schiff ein Mädchen, welches sich freiwillig mit verbrennen lassen wollte, und nachdem sie vor dem Volke ein langes Lied gesungen und einen Becher Meth getrunken, wurde sie gleichzeitig erwürgt und erstochen. Nun verließen alle Lebenden das Schiff; der nächste Verwandte des Verstorbenen entzündete rückwärts den Holzstoß; Jeder aus dem Volke warf ein brennendes Holzscheit auf das Schiff, und bei heftigem Winde verbrannte dieses mit dem Holzstoße in kurzer Zeit. Hierauf wurde auf der Stelle, wo das Schiff gestanden, ein runder Hügel aus Erde errichtet, in dessen Mitte ein Buchenscheit mit dem Namen des Königs seinen Platz erhielt. Die Kurten verbrannten
[312] ihre Todten noch 1205, die Esthen 1225, und die Litthauer mußten den deutsche Rittern in einem Vertrage 1249 feierlich versprechen, daß sie als Neubekehrte von nun ab das Verbrennen der Todten unterlassen wollten.
Aus diesem Vertrage erfahren wir den Grund, weshalb auch in Deutschland die sonst allgemein gebräuchliche Sitte des Verbrennens verlassen wurde. Der Gebrauch galt als „heidnisch“. Das genügte, ihn bei den christlichen Priestern verhaßt zu machen. Mit derselben Urtheilslosigkeit, mit welcher fanatische Priester die Schriftdenkmale und Culturzeichen der Urbevölkerung des neu entdeckten Amerika zur großen Schädigung unserer Geschichtsforschung vernichteten, mit derselben Urtheilslosigkeit, mit welcher Bonifacius seinen Täuflingen den Genuß des Pferdefleisches untersagte, mit derselben Urtheilslosigkeit drang man auch auf Unterlassung der Feuerbestattung. Später erhielt geistige Trägheit und Denkfaulheit das den Urahnen gegebene Verbot in Kraft. Sollen diese Hemmnisse sich mächtiger erweisen als Vernunftgründe? Soll die Geistesarmuth einiger Urtheilslosen nach Jahrhunderten das für richtig Erkannte verhindern?
Die Verbrennung der Leichen ist ein Culturfortschritt, denn sie hindert, daß die Todten die Lebenden vergiften. Hierauf machte auch Professor Hermann Richter in Dresden aufmerksam, welcher sich das Verdienst erwarb, zuerst wieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand zu lenken (Gartenlaube 1856, Nr. 49).
Dieser Richter’sche Vorschlag erregte damals vielseitige Theilnahme und bezüglich der technischen Verwerthung von Verbrennungsproducten bei den Laien wie bei den Technikern Widerspruch. Er ist, so viel bekannt, niemals im Großen ausgeführt worden, und eine von mir unternommene Probe im Kleinen ermuthigte nicht zu weiteren Versuchen. Immerhin ist der Grundgedanke Richter’s, die Leiche mit Hülfe von Gas und Luft zu verbrennen, auch bei den neuesten Methoden wieder aufgenommen worden.
In Deutschland schien das Interesse an der Feuerbestattung nicht mehr rege zu sein. Aber in Italien arbeiteten zahlreiche Gelehrte an den Mitteln für die Ausführung des Verbrennungsverfahrens. Unter ihnen ist an erster Stelle Brunetti zu nennen, weil er die Ausführbarkeit seiner Methode bereits an sechs Leichen erprobt hat.
Brunetti, Professor der pathologischen Anatomie zu Padua, bedient sich zur Verbrennung eines Ofens, der die Form eines länglich viereckigen Kastens hat. Dem Erfinder bleibt das Verdienst, durch energisches Vorgehen nach einer Pause von Jahrhunderten nachgewiesen zu haben, daß man mit verhältnißmäßig wenig Brennmaterial einen menschlichen Leichnam verbrennen könne – aber nicht das Verbrennen allein ist unser Ziel, sondern es soll die Verbrennung auch so ausgeübt werden, daß der Pietät, welche wir der Hülle unserer geschiedenen Lieben schuldig sind, daß dem Gemüth der Hinterbliebenen das volle Recht gewahrt werde. Bei aller Unsauberkeit und Schädlichkeit hat das Vergraben in der Erbe doch eben den Vortheil, daß, so lange wir den Leichnam des Verwandten oder Freundes vor Augen haben, mit ihm in zartsinniger Weise verfahren wird. Freilich ändert sich das, sobald er den Mächten der Fäulniß im Schooße der Erde verfallen ist. Dort wird der Leichnam eine widerwärtige, scheußliche Carricatur. Aber die wenigsten Menschen wissen das, nur wenige haben es jemals gesehen; so gilt das „Begraben“ immer für ästhetisch nicht verletzend. Aber Brunetti’s Leichen werden geschmort und verkohlt; sie müssen angebunden werden, weil sie im Verkohlen Bewegungen ausführen – ein gräßliches Bild für unsere Phantasie. Jeder Fühlende lehnt diese Methode ab.
Prof. Gorini in Lodi veröffentlichte 1873 bei Gelegenheit der Einbalsamirung der Leiche seines geistreichen Landsmannes Mazzini Mittheilungen über eine neue Methode der Feuerbestattung. „Ich kenne,“ schreibt er, „eine Substanz, welche, auf eine äußerst hohe Temperatur gebracht, eine Flüssigkeit erzeugt, die in wahrhaft wunderbarer Weise in wenigen Augenblicken (?) eine Leiche, welche mit derselben behandelt wird, in ihre kleinsten Elemente auflöst. Wenn man dem Zerstörungsprocesse zuschaut, und die Leiche so äußerst schnell verschwinden sieht, so scheint es, daß die Flüssigkeit sich derselben bemächtige und sie buchstäblich auffresse. Kaum ist die Leiche“ (hier ist zu bemerken, daß Gorini noch niemals eine ganze Leiche auf ein Mal verbrannte, sondern nur Stücke derselben) „auf dieselbe gelegt, so schäumt letztere auf und erstere entbrennt lichterloh und geruchlos (?) und verwandelt sich gänzlich in ganz durchsichtige, ganz helle, gasige Substanzen, welche sich in Nichts (?) von der atmosphärischen Luft unterscheiden, mit der sie sich vermischen und in deren Schooß sie sich verlieren. In der Flüssigkeit bleibt nur die weiße Asche, und wenn man will, kann man diese mit Leichtigkeit durch Decantirung (Abklärung) oder Filtration aus der Flüssigkeit abscheiden.“
Die vorstehenden Worte sind die Uebersetzung der Darlegung des Erfinders, entnommen der sehr interessanten und empfehlenswerthen Schrift: „Ueber Leichenverbrennung als rationellste Bestattungsart“ von Wegmann-Ercolani (Zürich, Cäsar Schmidt, 1874). Gorini glaubt mit dem geringen Kostenaufwande von etwa 6 Francs, also 1 Thaler 18 Groschen, die Verbrennung durchführen zu können. Er glaubt es, aber er weiß es nicht aus Erfahrung. Niemand Anderes kann es wissen, da er die Substanz, welche zur Verbrennung dient, geheim hält. Was wollen wir bei wissenschaftlichem Fortschritte mit Geheimnißkrämerei? Wie soll man über diese Methode urtheilen, wenn man nicht weiß, durch welche Mittel sie erreicht wird, und daher die Erfolge nicht prüfen kann? Dazu kommt die unglaubhafte Angabe der „geruchlosen“ Verbrennung „binnen wenigen Augenblicken“. Diese Angaben stehen mit allen bisherigen Erfahrungen in Widerspruch.
Professor Polli in Mailand hat eine Verbrennung der Leichen durch Leuchtgas erdacht und von dem Mailänder Ingenieur Professor Clericetti den Apparat dazu construiren lassen.
So weit man dieses Verfahren nach Beschreibung und Abbildung beurtheilen kann, hat es alle Nachtheile des Brunetti’schen, also großen Zeitaufwand, da es nur die mäßige Hitze der gewöhnlichen Flamme benutzt, und unter Umständen nur eine „Verkohlung“, nicht vollständige „Verbrennung“ der Leiche liefert.
Diese Uebelstände zu beseitigen, wählte ich für Feuerbestattung die von Fr. und C. W. Siemens eingerichtete Regenerativ-Feuerung, welche, für technische Zwecke vielfach verwerthet, auf der Ausstellung in Paris 1867 mit dem Preise gekrönt, mir von allen mir bekannten pyrotechnischen Verfahrungsweisen die größte Aussicht auf Erfolg zu bieten schien. Lassen wir über den auf meine Veranlassung construirten Ofen Herrn F. Siemens in Dresden selber reden:
„Der ganze Apparat besteht aus drei voneinander getrennten Theilen. 1) einem Gaserzeuger zur Herstellung des zum Aufhitzen des Ofens nöthigen Gases, außerhalb des Gebäudes; 2) dem eigentlichen Ofen mit dem Regenerator und dem Verbrennungsraume innerhalb des Gebäudes (siehe Abbildung); 3) dem Schornsteine zur Abführung der Verbrennungsproducte.
Denken wir uns ein großes, schönes, dem Zwecke entsprechend gebautes Leichenhaus, in dessen Mitte, unsichtbar für die in demselben befindlichen Personen, der Ofen erbaut ist. Der Leichenconduct langt vor demselben an und tritt, nachdem der Sarg dem Wagen entnommen ist, in dasselbe, gleich wie jetzt in den Kirchhof, ein. Nachdem der Sarg auf einen Katafalk niedergesetzt und die übliche Ceremonie beendet ist, wird er in die Gruft hinabgesenkt. (Diesen Moment veranschaulicht unser Bild.) Kurz vor dem Niedersenken des Sarges wird der Deckel des Ofens geöffnet und, sobald Letzterer den Sarg aufgenommen, alsbald wieder geschlossen.
Die Manipulation der Leichenverbrennung mittelst erhitzter Luft würde folgende sein: der Gaserzeuger wird derart in Betrieb erhalten, daß durch die Füllvorrichtung in Intervallen von vier bis sechs Stunden eine Wiederanfüllung des consumirten Brennmaterials an Steinkohle, Braunkohle, Torf oder Holz stattfindet. Das gebildete Gas wird durch einen mit einer Regulirungsklappe versehenen Canal in den Regenerator geführt, wo dasselbe, mit einem ebenfalls regulirbaren Luftstrome zusammentreffend, in Flamme verwandelt wird. Die so gebildete Flamme durchstreicht die Regeneratorkammer, wodurch das darin aufgeschichtete Ziegelmaterial bis zur Weißgluth erhitzt und so erhalten wird. Die der Flamme anhaftende noch übrige Wärme dient dazu, den Ofen oder die Kammer, welche zur Aufnahme der Leiche bestimmt ist, noch bis zur schwachen Rothgluth vorzuwärmen, worauf die Flamme durch einen Canal in die Esse entweicht.
[313] Sobald sich der Ofen in dem oben beschriebenen Zustande befindet, kann der Proceß der Leichenverbrennung folgendermaßen vor sich gehen. Der Ofendeckel wird, wie die Abbildung darstellt, durch den den Ofen bedienenden Mann gehoben und der zu verbrennende Körper in die Verbrennungskammer versenkt, der Deckel wieder zugemacht und der Körper je nach der physischen Beschaffenheit desselben einer langen oder kurzen Zeit der Einwirkung der Rothgluth ausgesetzt. Nachdem dies geschehen, schließt man die Gasklappe, in Folge dessen nur Luft durch den Regenerator in den Verbrennungsraum gelangt. Diese wärmt sich im Regenerator bis nahe zur Weißgluth vor, in welchem Zustande dieselbe den vorgewärmten und theilweise ausgetrockneten Körper trifft, was eine schnelle Verzehrung aller verbrennbaren Theile desselben zur Folge haben wird. Die nichtverbrennbaren Knochentheile werden durch die Einwirkung der Hitze zersetzt, indem die Kohlensäure entweicht und der Kalk etc. als Pulver übrig bleibt. Es ist eine Vorrichtung getroffen dieses Pulver zu sammeln, um es in einer Urne oder einem anderen Gefäße den Angehörigen zur Beisetzung zu übergeben.“
Soweit Herr Siemens. – Einen ähnlichen Apparat, nach denselben Principien, hatte bereits früher Herr Steinmann in Dresden, Verfasser eines trefflichen Werkes über das Regenerativverfahren, entworfen. Ich gebe aber dem Siemens’schen wegen größerer Einfachheit und Zweckmäßigkeit den Vorzug, obgleich die Besserungen mit demselben noch nicht abgeschlossen.
Daß die von mir vorgeschlagene Regenerativfeuerung zum Verbrennen der Leichen günstig ist, haben Versuche an Thieren erwiesen. Ich will von diesen nur denjenigen eines völlig unparteiischen Zeugen erwähnen, des Sir Henry Thompson, Professor der Chirurgie in London, welcher, angeregt durch meine Wahl des Regenerativofens, mit einem solchen zu experimentiren Gelegenheit suchte und fand, der sich im Besitze des Herrn W. Siemens in London befand. Professor Thomson verbrannte unter Anderem ein Schwein von zweihundertsiebenundzwanzig Pfund Gewicht binnen fünfundfünfzig Minuten zu weißer Asche. Dabei nahm auch er, ebenso wie ich, wahr, daß kein irgendwie bemerkbares Gas durch den Schlot entwich; nicht eine Spur von Rauch wird sichtbar. Alles wird aufgezehrt.
Wir haben also in dieser Form der Verbrennung eine Art der Leichenbestattung gewonnen, welche wirklich ohne irgend welche Nachtheile für die Lebenden ist, und welche die theuren Reste lieber Verblichener in der schonendsten Weise, ohne sie mit irgend welchen fremden Stoffen zu mengen und in möglichst kurzer Zeit einer sicheren raschen Verwesung oberhalb der Erde übergiebt, statt sie der unsicheren, langsamen Verbrennung unterhalb der Erde auszusetzen, welche zu leicht in Fäulniß ausartet und dann den Lebenden Verderben und Tod bringt. Unschädlich ist die in der Urne eingeschlossene Asche, und doch ein Anhalt für treues Gedächtniß. Wer sollte nicht vorziehen, nach seinem Tode den Erdenbrüdern kein Gegenstand des Grauens und des Nachtheiles zu sein? Wer möchte nicht seine Lieben vor dem widerlichen langsamen Verfaulen in der Erde bewahren? Wer erkennt nicht, daß in jeder größeren Stadt mit dem Wegfalle des Friedhofes ein Capital gewonnen wird, welches Segen bringen kann, während es bisher nur Unheil verursachte?
Gewiß, im Interesse einer gesunden Finanzwirthschaft der Gemeinden, im Interesse der Pietät gegen unsere Todten, im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege, im Interesse der persönlichen Freiheit fordern wir das Recht der Feuerbestattung für Denjenigen, der dasselbe verlangt.
„Wir wollen nicht,“ sprach Professor Gottfried Kinkel in der Züricher Versammlung am 10. März, „wir wollen nicht eine neue Sitte mit Gewalt einführen. Wem’s gemüthlicher ist, im Schooße der Erde zu ruhen, dem soll sein Wille geschehen. Ich würde es grausam finden, wenn man dem Menschen den Tod schwer machen würde, indem man ihm sagt: Du mußt gegen Deinen Willen verbrannt werden. Aber es ist noch grausamer, wenn der Staat zu Dem, der sich lieber verbrennen lassen würde, sagt: Du sollst und mußt Dich auf diesem Miethacker begraben lassen, und wenn’s dem Staat einfällt, mußt Du Dich fortmachen und einen Andern an Deine Stelle treten lassen. Erst mit der Verbrennung werden wir unseren Todten eine gesicherte Ruhestätte bereiten.“
„Das Stück ist kraß,“ hört man in unserer Zeit nach einer Aufführung von „Kabale und Liebe“ manchmal ausrufen. Was würde erst ein großer Theil unserer nervenschwachen und blutarmen Generation empfinden, wenn er in die Umgebung versetzt würde, in welcher jenes Jugendwerk unseres großen Dichters entstand! Was würde er empfinden bei dem Anblick des Tyrannen Karl Eugen? Schubart hat uns in seiner „Fürstengruft“ ein portraitähnliches Bild dieses Despoten entworfen, der den Wohlstand seines Landes und das Glück zahlloser Familien in sträflichem Leichtsinne vernichtet hat.
„Beräuchert das durchlauchtige Gerippe mit Weihrauch wie zuvor,“ spricht der Dichter zu den Höflingen;
„Er steht nicht auf Euch Beifall zuzulächeln,
Und wiehert keine Zoten mehr,
Damit geschminkte Zofen ihn befächeln,
Schamlos und frech wie er.“
Auch bei den Schiller’schen Stücken fühlt man, daß dem Dichter kein anderes Vorbild vorgeschwebt haben kann, als dasjenige des württembergischen Despoten. Man erräth zwar diese schreckliche Gestalt nur hinter den Coulissen. Die Gründe, warum der Dichter keinen „Herzog“, keinen „Fürsten“ auf den Brettern erscheinen ließ, liegen zu nahe, als daß wir sie hier zu berühren brauchten, allein man fühlt es, daß das Vorbild jenes Staates, dessen Fürst und Minister Alles, was dem Menschen heilig, mit Füßen treten, nur in Württemberg gesucht werden kann.
„Gestern sind siebentausend Landeskinder nach Amerika fort,“ erzählt der Kammerdiener. „Es traten wohl so etliche vorlaute Bursche vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie theuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe. – Aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatze aufmarschiren und ließ die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen das Gehirn auf das Pflaster spritzen, und die ganze Armee schrie: Juchhe, nach Amerika!“
Allein nicht blos solche Vorgänge, auch die Hofscenen und Schilderungen der gesellschaftlichen Zustände gleichen der damaligen Umgebung des Dichters; in einzelnen Figuren tritt uns sogar die Wirklichkeit entgegen. Dieses Weib, das in Ferdinand einen Erretter aus dem Schmutze des Hoflebens sucht und mit ihm „in den äußersten Winkel der Welt“ fliehen will, erinnert an Vorfälle mit einzelnen Geliebten, namentlich an eine dieser Unglücklichen, die sich mit Entsetzen und Ekel von ihrem Gebieter hinwegwandte. Eine Venetianerin, verließ sie ihn, als sie mit ihm auf einer Reise nach Italien den Boden ihres Vaterlandes betreten hatte.
„Ich bin nicht mehr in Ihren Staaten,“ sagte sie, „sondern in Venedig. Ich habe nunmehr, Gott sei gelobt, meine Freiheit wieder. Ich bin sicher vor Ihren Mißhandlungen und trenne mich hier von Ihnen. Sind Sie das nicht zufrieden, so fordern Sie mich vor die Tribunale meines Vaterlandes, das mich schützen wird.“
Noch mehr erinnern uns einzelne Züge aus dem Bilde Ferdinand’s an einen wirklichen Vorgang.
Der Geheimerath von Volkstädt stand seit mehr als einem halben Jahrhundert in den Diensten des herzoglichen Hauses. Dem guten Manne wurde noch in späten Jahren eine Tochter geboren, welche zu einer blendenden Schönheit heranwuchs. Der Fürst sah sie, entführte sie, und ihr grauer Vater, der von dem Schicksale seines Kindes noch keine Ahnung hatte, mußte die furchtbare Schmach erleben, ihr nach wenigen Tagen auf einem Hofballe in hellblauseidenen Schuhen – dem Abzeichen der herzoglichen Geliebten – zu begegnen. Der alte Volkstädt bat um seine Entlassung und eilte mit seiner tiefgebeugten Gattin auf eines seiner Güter, um nicht Zeuge von Juliens Schande zu sein.
[314] Es dauerte nicht lange, nur wenige Wochen, und eine Andere reizte die Sinnlichkeit des Herzogs. Er beschloß, sich der Volkstädt durch ihre Verheirathung zu entledigen.
Auf einem einsamen Forsthause, zwanzig Meilen von Stuttgart, lebte ein junger Edelmann, Eduard von Schilling, der durch seinen trefflichen ehrliebenden Charakter die allgemeine Achtung genoß. Er lebte bei seinem Vater, dem achtzigjährigen Oberforstmeister von Schilling, der schon unter dem Großvater des Herzogs seine Laufbahn begonnen hatte. Dieser war der gewissenhafteste und rechtlichste, aber auch vielleicht der ärmste aller herzoglichen Beamten.
Eines Tages erhält Eduard den Befehl, sich zu dem Herzoge zu begeben.
„Hör’ Er,“ sagt der Herzog, „ich will Ihn versorgen.“
„Eure Durchlaucht sind sehr gnädig.“
„Ich will Ihn mit dem Fräulein von Volkstädt verheirathen. Er wird Jagdjunker und Seinem Vater adjungirt.“
„Wie, Ihrer Durchlaucht Geliebte? Bedenken Sie meine Ehre!“
„Von Seiner Ehre wird Er sich nicht satt essen.“
„Bedenken Ihre Durchlaucht meine Ahnen!“
„Sie sind todt.“
„Mein Wappen, die Verachtung der Welt!“
„Ist Einbildung.“
„Mein Gefühl empört sich.“
„Trink’ Er ein Glas Wein mehr.“
„Und mein Vater, Durchlaucht?“
„Muß wollen.“
„Gezwungen? Unmöglich!“
„Mit einem Worte, ich will es. Er muß. Und wenn Er sie nicht nimmt, so ist Er entlassen sammt seinem Vater, dann könnt Ihr sehen, wer Euch zu fressen giebt.“ –
Eduard von Schilling heirathete die Geliebte des Herzogs.
Der Herzog hatte auf seine Kosten für die Hochzeit die großartigsten Anstalten getroffen. Die Trauung fand in einem zu einer Capelle hergerichteten Gemache seines Schlosses statt. Eduard erschien in prächtiger Galakleidung, allein das heitere Grün seiner Jagduniform stimmte nicht zu dem matten Ausdrucke seiner edlen Gesichtszüge, zu den tiefen blauen Ringen, welche sein sanftes Auge umrahmten. Vor dem Altare erhielt die Braut, deren Gesicht eine tiefe Schamröthe überfloß, aus der Hand des Fürsten den Solitär, welchen sie an des Bräutigams Finger steckte. Ein prächtiges Souper schloß die kirchliche Feier.
Nach Mitternacht führte der Herzog das Paar zu der auf seinem eigenen Schlosse zubereiteten Brautkammer. Eduard machte eine tiefe Verbeugung und begab sich, nachdem sich der Fürst verabschiedet, nach einem nahe gelegenen Bedientenzimmer, wo er sich ein Lager auf einigen Stühlen herrichtete, indeß die Braut unter Thränen und Seufzern dem Morgen entgegenharrte.
Den anderen Tag machte er mit ihr seine Besuche, ohne auch nur ein einziges Mal ein Wort an sie zu richten. Als er ihr den Arm bot, berührte er zum letzten Mal in seinem Leben ihren Körper. Von diesem Unglückstage an würdigte er sie keines Blickes mehr. Sie wohnte mit ihm auf seinem Forsthause, allein er floh sie, und lag sie ermattet und von Fieberhitze gepeinigt auf dem Krankenbette, so stürzte er hinaus in die Wälder und suchte durch wilde Jagdfreuden den Wurm, der an seinem Herzen nagte, zu vergessen.
Julie war nicht so allen Gefühls baar, daß der Gemüthskummer ihres dem Wahnsinne zueilenden Gemahls spurlos an ihr vorübergegangen wäre, und ihr abgehärmtes Gesicht zeigte bald die tiefen Spuren der Reue, welche sie ergriff. Es dauerte nur wenige Jahre, und das Grab barg zwei Menschen, deren Existenz, sammt dem Glücke ihrer Angehörigen, die rohe Sinnenlust eines einzigen Menschen vernichtet hatte.
Wer erinnert sich nicht bei diesen einem Zeitgenossen nacherzählten Mittheilungen des Verhältnisses zwischen Schiller’s Ferdinand und Lady Milford und namentlich jener ergreifenden Scene, in welcher der jugendliche Held der fürstlichen Geliebten, die ihn heirathen will, seine Ehre, sein Wappen, seinen Stand als Officier entgegenhält?
Das eigentliche Charakterbild der Lady Milford hat unser Dichter unzweifelhaft der schönen Franziska von Hohenheim entnommen, der späteren Gemahlin Karl Eugen’s, einem Wesen, das bekanntlich, reich an Zügen edler Weiblichkeit, durch wohlthätiges Wirken die öffentliche Meinung mit sich auszusöhnen verstand und auch vor dem Richterstuhle der Geschichte seine Rechtfertigung erlangte. Indem Schiller den einzig und allein der Stimme seiner Ehre Gehör schenkenden Jüngling einem Weibe von trefflicher Charakteranlagen gegenüberstellt, gelangt er zu den ergreifendsten dramatischen Conflicten, in welchen sich seine ganze dichterische Größe offenbart.
„Die Wollust der Großen,“ rechtfertigt sich die Geliebte, „ist die nimmersatte Hyäne, die sich mit Heißhunger Opfer sucht. Fürchterlich hat sie schon in diesem Lande gewüthet, hat Braut und Bräutigam getrennt, hat selbst der Ehe göttliches Band zerrissen, hier das stille Glück einer Familie geschleift, dort ein junges unerfahrenes Herz der verheerenden Pest aufgeschlossen, und sterbende Schülerinnen schäumten den Namen ihres Lehrers unter Flüchen aus. Ich stellte mich zwischen das Lamm und den Tiger, nahm einen fürstlichen Eid von ihm in einer Stunde der Leidenschaft, und diese abscheuliche Opferung mußte aufhören.“
In der That wurde die schöne Franziska eine Wohlthäterin des Landes. So wie Karl’s frühere Jahre durch Ausschweifungen aller Art, Verschwendung und Prunksucht berüchtigt sind, so ist es auch gewiß, daß er sich unter dem Einflusse Franziska’s bemühte, durch Ordnung und eine weise Regierung seine furchtbare Vergangenheit einigermaßen wieder gut zu machen. Noch lange nach ihrem Tode seufzten die Bürger, wenn sie den Namen „Franziska“ aussprachen, und wünschten sich ihre gute Landesmutter zurück.
Die erste Nacht im Grabe.*[2] (Mit Abbildung, S. 310.) Es war noch Morgendämmerung, als mich der Herzensdrang nach einer stillen Feier zur Grabstätte unseres todten Meisters trieb. Gestern Abend haben sie ihn bestattet, den Wilhelm Kaulbach! Es war eine Feier, wie sie der Kampfgeist unserer geharnischten Zeit erforderte und wie sein eigenes Herz sie nicht anders hätte wünschen können. Wie ein Wallfahrtsheiligthum lag das Grab unter seinem Blumenbaldachin, umstanden von den erhabensten Priestern der Wahrheit und Schönheit und den tapfersten Rittern der Freiheit und des Rechts: ihnen gebührte der Altardienst bei dieser Feier des deutschen Genius. Und ringsumher in endlosen Kreisen lauschte voll Andacht das Volk als freie große Gemeinde der Verherrlichung eines Unsterblichen aus seiner Mitte. Es war Dämmerung geworden, ehe die Schaaren wie die vorüberbrausende Sturmfluth verronnen waren, und es war gut, daß die Nacht die Spuren bedeckte, die sie auf Tausenden von Gräbern hinterlassen hatten. Ueber sie hin schritt ich im Morgengrauen zur Schlummerstätte des Meisters. Die erste Nacht im Grabe – sie war kaum vorüber, und schon hatte die Liebe und Verehrung den kränzereichen Hügel mit neuen frischen Blumen geschmückt. Ebenbilder jener Goethe’schen Frauengestalten, die des Meisters Griffel verewigt hat, kamen aus der dunklen Umrahmung des Grabes mir entgegen; sie waren noch vor der Sonne hier gewesen mit den sinnigen Spenden ihrer Huldigung und ihres Dankes. So wie sie das theure Grab verlassen haben, so, dachte ich, mußt du es den Freunden der Gartenlaube vor Augen stellen, überwölbt von seiner Blumenlaube, von der Liebe geschmückt und begrüßt vom ersten Morgen, der über ihm aufging.
Frau „Selma“ in Br. Die sogenannten schwedischen Streichzündhölzchen sind zwar frei von der Zündmasse der gewöhnlichen Streichhölzchen, die bekanntlich in Leimauflösung etwa ein Zwölftel fein vertheilten Phosphor und salpetersaures Bleioxyd und Bleisuperoxyd enthält, etwas Blei haben sie aber doch, und wenn ein Kind auch ein bis drei solcher Zündhölzchen ohne Schaden in den Mund nehmen kann, so könnte eine größere Anzahl doch von unangenehmen Folgen sein. Dennoch empfehlen sie sich für Räume, wo muntere Kinder verweilen, von allen Zündhölzchensorten noch am meisten, weil sie, abgesehen von dieser äußerst geringen Gifthaltigkeit, sich nur auf der für sie besonders präparirten Reibfläche, welche rothen Phosphor enthält, entzünden, in Kinderhändchen also ohne diese Reibfläche weniger feuergefährlich sind. Da man aber die Erfahrung gemacht hat, daß größere Schachteln derselben bei raschem Oeffnen leicht explodiren, so ist immerhin im Beisein von Kindern sehr vorsichtig damit zu verfahren.
Frau Elisabeth. Ihre Frage können wir Ihnen nur brieflich beantworten. Also, bitte, Ihre Adresse!
Berichtigung. In Nr. 6 des laufenden Jahrgangs ist der Artikel „Amerikanische Unsterblichkeitspolicen“ irrthümlicher Weise mit der Unterschrift Eduard von Leyh statt Eduard Leyh zum Druck gekommen. Indem wir diesen Setzerfehler hiermit berichtigen, bedarf es wohl nicht der Erklärung, daß eine Fälschung gut bürgerlicher Namen in adlige niemals in unserer Absicht liegen kann. Mögen aber die Herren Autoren an diesem Beispiele ersehen, zu welchen Entstellungen die heute fast epidemisch gewordene Undeutlichkeit der Namensunterschriften führen kann!
- ↑ * Generalintendant vor Röder.
- ↑ * Selbstverständlich beschränkt die Gartenlaube ihre Todtenfeier Kaulbach’s nicht auf diese nur vorläufige Mittheilung; ein des großen Meisters würdiger Nachruf wird bald folgen.D. Red.