Die Gartenlaube (1874)/Heft 30

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1874
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[475]

No. 30.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Hugo hatte inzwischen seinen Bruder aufgesucht, den er im Gespräche mit dem Marchese Tortoni traf; die Beiden standen ein wenig abseits von der übrigen Gesellschaft.

„Nein, nein, Cesario!“ sagte Reinhold soeben abwehrend. „Ich bin ja vor Kurzem erst aus M. zurückgekehrt und kann unmöglich daran denken, jetzt schon wieder die Stadt zu verlassen. Vielleicht später –“

„Aber die Oper ist ja verschoben worden,“ fiel der junge Marchese im Tone der Bitte ein, „und die Hitze beginnt sich schon fühlbar zu machen. Sie wählen sicher in einigen Wochen irgend eine Villeggiatura. – Kommen Sie mir zu Hülfe, Signor Capitano!“ wandte er sich an den eben herantretenden Hugo. „Sie beabsichtigen gewiß auch, unsern Süden kennen zu lernen, und dazu bietet sich nirgends besser Gelegenheit, als in meinem Mirando.“

„Kennst Du den Marchese bereits?“ fragte Reinhold. „Da bedarf es also keiner Vorstellung mehr.“

„Durchaus nicht,“ versicherte Hugo übermüthig. „Ich habe mich bereits persönlich bei den Herren eingeführt, gerade als sie über Dich zu Gericht saßen, und ich machte mir dabei als unbekannter Zuhörer das harmlose Vergnügen, sie durch eingestreute Bemerkungen zu Angriffen gegen Dich zu reizen. Leider gelang das nur bei einem Einzigen, Marchese Tortoni dagegen nahm leidenschaftlich Deine Partei, ich mußte seine volle Ungnade fühlen, weil ich mir erlaubte an Deinem Talente zu zweifeln.“

Reinhold schüttelte den Kopf. „Hat er Ihnen auch schon wieder einen seiner Streiche gespielt, Cesario? Nimm Dich in Acht, Hugo, mit Deinen Neckereien! Wir stehen hier auf italienischem Boden; da pflegt man dergleichen nicht so harmlos aufzunehmen, wie in unserer Heimath.“

„Nun, in diesem Falle bedurfte es nur des Namens, um uns zu versöhnen,“ sagte der Marchese lächelnd. „Aber damit verlieren wir ja ganz den Faden des Gesprächs,“ fuhr er ungeduldig fort. „Ich habe noch immer keine Antwort auf meine Bitte. Ich rechne bestimmt auf Ihren Besuch, Rinaldo, selbstverständlich auch auf den Ihrigen, Signor.“

„Ich bin der Gast meinem Bruders,“ erklärte Hugo, an den die letzten Worte gerichtet waren. „Eine solche Bestimmung hängt wohl von ihm ab und – von Signora Biancona.“

„Von Beatrice? Wie so?“ fragte Reinhold rasch.

„Nun, sie ist bereits ungehalten darüber, daß meine Gegenwart Dich ihr so oft entzieht. Es ist sehr die Frage, ob sie Dich auf längere Zeit freigeben will, wie Marchese Tortoni es zu wünschen scheint.“

„Meinst Du, ich ließe mich so gänzlich von ihren Launen beherrschen?“ In Reinhold’s Ton verrieth sich eine auflodernde Empfindlichkeit. „Ich werde Dir wohl beweisen müssen, daß ich noch einen Entschluß ohne ihre Genehmigung fassen kann. Wir kommen, Cesario. Im nächsten Monate schon, ich verspreche es Ihnen.“

Ein Ausdruck heller Freude überflog das Gesicht des jungen Mannes bei dieser rasch und heftig gegebenen Zusage; er wandte sich verbindlich zu dem Capitain.

„Rinaldo kennt mein Mirando hinreichend und hat es stets bevorzugt; ich hoffe auch Ihnen, Signor, den Aufenthalt angenehm machen zu können. Die Villa liegt sehr schön, dicht am Meeresstrande –“

„Und einsam,“ sagte Reinhold mit einem eigenthümlichen Gemisch von Schwermuth und Sehnsucht. „Man kann da einmal wieder aufathmen, wenn man nahe daran ist, zu ersticken in der Salonatmosphäre. Die Gesellschaft geht zu Tisch,“ sagte er, dem Gespräch eine andere Wendung gebend, mit einem Blicke nach der Terrasse hinauf. „Wir werden uns wohl den Uebrigen anschließen müssen. Willst Du Beatrice zur Tafel führen, Hugo?“

„Ich danke,“ lehnte der Capitain kühl ab. „Das ist doch wohl Dein ausschließliches Recht. Ich möchte es Dir nicht streitig machen.“

„Deine Unterhaltung mit ihr war ja auffallend kurz, so viel ich bemerken konnte,“ warf Reinhold hin, während sie zusammen die Treppe zur Terrasse emporstiegen. „Was gab es denn zwischen Euch?“

„Nichts von Bedeutung. Ein kleines Vorpostengefecht, weiter nichts. Signora und ich haben gleich von vorn herein Stellung zueinander genommen. Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?“

Er erhielt keine Antwort, denn das Seidenkleid Signora Biancona’s rauschte bereits dicht neben ihnen, und in der nächsten Minute stand sie zwischen den Brüdern. Der Capitain verbeugte sich mit vollendeter Ritterlichkeit vor der schönen Frau. Es wäre in der That unmöglich gewesen, an der Art seines Grußes auch nur das Geringste auszusetzen, und Beatrice neigte [476] auch dankend das Haupt, aber der Blick, der dabei auf ihn niedersprühte, bewies hinreichend, daß auch sie bereits Stellung genommen hatte. In ihrem Auge flammte der ganze Haß der gereizten Südländerin, freilich nur einen Moment lang; im nächsten schon wendete sie sich um und legte ihren Arm in den Reinhold’s, um sich von ihm in den Saal führen zu lassen.

„Mir scheint, das war nicht mehr und nicht weniger als eine Kriegserklärung,“ murmelte Hugo, indem er sich den Beiden anschloß. „Wortlos, aber hinreichend verständlich! Die Feindseligkeiten sind also eröffnet – zu Befehl, Signora.“




Marchese Tortoni hatte nicht so Unrecht mit seiner Bemerkung; die Hitze begann sich trotz der frühen Jahreszeit schon sehr fühlbar zu machen. Zwar war die Saison noch nicht zu Ende, aber schon vertauschte manche Familie den Aufenthalt in der Stadt mit der gewohnten Villeggiatur im Gebirge oder am Meeresstrande, und die übrige Gesellschaft stand gleichfalls auf dem Punkte, sich früher als gewöhnlich nach allen Himmelsrichtungen zu zerstreuen, bis der Herbst sie wieder zusammenführte.

In der Wohnung Signora Biancona’s hatte man noch keine Anstalten getroffen, die auf eine baldige Abreise schließen ließen, und doch schien von einer solchen die Rede gewesen zu sein in dem Gespräche, das soeben zwischen ihr und Reinhold Almbach stattgefunden hatte. Die Beiden waren allein in dem glänzend und prachtvoll erleuchteten Salon der Sängerin; aber das schöne Antlitz Beatricens trug den Ausdruck einer unverkennbaren Aufregung. In die Kissen des Divans gelehnt, die Lippen zornig zusammengepreßt, zerpflückte sie achtlos eins der schönen Bouquets, die in reicher Fülle das Empfangszimmer der berühmten Künstlerin schmückten, während Reinhold mit finster umwölkter Stirn und verschränkten Armen im Zimmer auf- und niederging. Es bedurfte nur eines Blickes, um zu errathen, daß hier eine jener Sturmscenen stattfand, von denen Maestro Gianelli behauptete, daß sie zwischen den Beiden ebenso häufig seien wie der Sonnenschein.

„Ich bitte Dich, Beatrice, verschone mich jetzt mit ferneren Auftritten!“ sagte Reinhold mit vollster Heftigkeit. „Sie ändern nichts mehr an der einmal beschlossenen Sache. Marchese Tortoni hat mein Versprechen, und unsere Abreise nach Mirando ist auf morgen festgesetzt.“

„Nun, so wirst Du dieses Versprechen zurücknehmen,“ entgegnete Beatrice in gleichem Tone. „Du hast es ohne mein Wissen gegeben, schon vor Wochen gegeben, und doch hatten wir damals schon beschlossen, die diesjährige Villeggiatur im Gebirge zu nehmen.“

„Gewiß! Und ich werde Dich auch dort aufsuchen, sobald ich von Mirando zurückkehre.“

„Sobald Du zurückkehrst? Als ob Tortoni nicht wie gewöhnlich Alles aufbieten würde, Dich dort zu fesseln, und wenn Du nun vollends in Begleitung Deines Bruders gehst, so ist es wohl selbstverständlich, daß Du so lange, wie nur möglich, von mir ferngehalten wirst.“

Reinhold blieb plötzlich stehen, und ein finsterer Blick flog zu ihr hinüber.

„Willst Du nicht die Güte haben, dies bis zum Ueberdruß erschöpfte Thema endlich einmal bei Seite zu lassen?“ fragte er scharf. „Ich weiß bereits hinreichend, daß zwischen Dir und Hugo keine Sympathie besteht; aber er verschont mich wenigstens mit Auseinandersetzungen darüber und verlangt nicht, daß ich seine Sympathien und Antipathien theile. Uebrigens wirst Du zugeben, daß er Dir gegenüber niemals den Cavalier verleugnet.“

Beatrice warf das Bouquet bei Seite und erhob sich. „O gewiß, das gebe ich zu, und eben diese angenommene Ritterlichkeit ist es, die mich so empört. Diese liebenswürdigen Unterhaltungen mit dem ewigen Spottpfeile auf den Lippen, diese Aufmerksamkeiten mit dem Hohne tief im Auge, das ist so recht die deutsche Art, unter der ich so oft gelitten habe in Eurem Norden, die uns in den Kreis der sogenannten Gesellschaftsregeln bannt, die uns darin festzuhalten weiß, und wenn man noch so erbittert mit einander kämpft. Dein Bruder versteht das meisterhaft; den trifft nichts und verwundet nichts; Alles gleitet ab an diesem ewigen Spottlächeln. Ich – ich hasse ihn und er mich nicht minder.“

„Schwerlich!“ sagte Reinhold bitter. „Denn im Hassen bist Du eine Meisterin, die so leicht Keiner erreicht. Ich habe das oft genug gesehen, wenn Du Dich von irgend Jemandem beleidigt glaubtest. Das fluthet bei Dir gleich über alle Schranken. Diesmal aber wirst Du Dich erinnern, daß es mein Bruder ist, gegen den sich dieser Haß richtet, und daß ich nicht gesonnen bin, mir das erste kurze Zusammensein nach Jahren dadurch rauben zu lassen. Ich dulde keine Beleidigung und keinen Angriff gegen Hugo.“

„Weil Du ihn mehr liebst als mich,“ rief Beatrice ungestüm, „weil ich Dir nichts gelte neben Deinem Bruder. Freilich, was bin ich Dir auch –“ und jetzt war die Bahn gebrochen zu einer wahren Fluth von Vorwürfen, Klagen und Drohungen, die schließlich in einem Thränenstrom endigten. Die ganze Leidenschaft der Italienerin brach hervor; aber Reinhold schien dadurch zu nichts weniger als zur Nachgiebigkeit gestimmt zu werden. Er versuchte einige Male, ihr Einhalt zu thun, und als dies nicht gelang, stampfte er wüthend mit dem Fuße.

„Noch einmal, Beatrice, laß diese Auftritte! Du weißt, daß Du damit nichts bei mir ausrichtest, und ich dächte, Du hättest nun schon hinreichend die Erfahrung gemacht, daß ich nicht ein willenloser Sclave bin, dem ein Wort, eine Laune von Dir Befehl ist. Ich ertrage sie nicht länger, diese ewigen Scenen, die Du bei all’ und jedem Anlasse hervorrufst.“

Er trat stürmisch zum Balcon und, dem Gemache den Rücken zukehrend, blickte er hinab auf die Straße, wo sich das rege Leben und Treiben des Corso entfaltete. Im Salon hörte man noch einige Minuten lang das leidenschaftliche Schluchzen Beatricens, aber dann verstummte es, und gleich darauf legte sich eine Hand auf die Schulter des am Fenster Stehenden.

„Rinaldo!“

Halb widerstrebend wandte er sich um. Sein Blick begegnete Beatricens heißem, dunkelm Auge; noch stand eine Thräne darin, aber es war keine Thräne des Zornes mehr, und die eben noch so erregte Stimme hatte einen weichen schmelzenden Klang.

„Du sagst, ich sei eine Meisterin im Hassen. Nur im Hassen, Rinaldo? Du hast doch oft genug das Gegentheil erfahren.“

Reinhold wandte sich vollends zu ihr und trat vom Balcon zurück.

„Ich weiß, daß Du lieben kannst,“ entgegnete er milder, „heiß und voll lieben. Aber Du kannst auch quälen mit dieser Liebe; das muß ich täglich empfinden.“

„Und dieser ‚Qual‘ möchtest Du entfliehen, wenigstens auf einige Zeit?“

Aus ihrer Stimme sprach ein herber Vorwurf. Almbach machte eine ungeduldige Bewegung.

„Ich suche Ruhe, Beatrice,“ sagte er, „und die finde ich nun einmal nicht in Deiner Nähe. Du kannst nur in fortwährender Gluth und Aufregung athmen; beides ist Dir Lebensbedingung, und Du reißest Deine ganze Umgebung mit Dir in den ewig lodernden Feuerkreis Deines Wesens. Ich – bin müde.“

„Der Gesellschaft, oder meiner?“ fragte Beatrice mit wieder aufblitzender Heftigkeit.

„Kannst Du es denn nicht lassen, in jedem Worte einen Stachel zu suchen?“ fuhr Reinhold auf. „Ich sehe, daß wir heute wieder einander nicht verstehen. Leb’ wohl!“

„Du gehst?“ rief die Italienerin halb erschreckt, halb drohend. „Und mit diesem Abschiede für eine wochenlange Trennung?“

Reinhold, der schon an der Thür war, besann sich und kehrte langsam um.

„Ja so, ich vergaß die Abreise. Leb’ wohl, Beatrice!“

Aber so leicht sollte ihm der Abschied nicht gemacht werden. Signora Biancona hatte es längst verlernt, dem Manne dauernd zu trotzen, der es nun einmal verstand, ihren sonst so launenhaften Willen dem seinigen zu beugen, und als er sich ihr wieder näherte, da war es vorbei mit jedem ferneren Widerstande. Ihre Stimme bebte, als sie leise fragte: „Und Du willst wirklich allein gehen, ohne mich?“

„Beatrice –“

[477] „Allein, ohne mich?“ wiederholte sie leidenschaftlicher. Reinhold machte einen Versuch, ihr seine Hand zu entziehen, aber es blieb bei dem Versuche.

„Cesario erwartet mich auf das Bestimmteste,“ sagte er abwehrend, „und ich habe Dir schon einmal erklärt, daß Du mich nicht begleiten kannst –“

„Nach Mirando nicht,“ fiel Beatrice ein, „das weiß ich. Aber was hindert mich denn, den ursprünglichen Plan zu ändern und den ersten Sommeraufenthalt, anstatt im Gebirge, jetzt in S., der großen Villeggiatur aller Fremden, zu nehmen? Es liegt nahe genug bei Mirando, in einer halben Stunde trägt Dich das Boot zu mir herüber. Wenn ich Dir folgte – darf ich, Rinaldo?“

Er war unwiderstehlich, dieser Ton schmeichelnder Bitte, und noch unwiderstehlicher bat ihr Blick, Reinhold sah schweigend nieder auf die schöne Frau, deren Liebe, deren Besitz ihm einst als der höchste Preis des Glückes erschienen. Der Zauber übte noch immer seine alte Macht und übte sie gerade dann am stärksten, wenn er den Versuch machte, ihm zu entrinnen. In Worten ward die Gewährung freilich nicht gegeben, aber Beatrice sah es, als er sich zu ihr niederbeugte, daß sie diesmal gesiegt hatte. Als er sie eine halbe Stunde darauf wirklich verließ, war die Aenderung in ihrem Reiseplane eine beschlossene Sache, und der Abschied galt nicht einer Trennung von Wochen, sondern nur von Tagen.

Es dämmerte bereits, und der Mond stieg langsam empor, als Reinhold seine eigene Wohnung erreichte, die in einiger Entfernung, im freieren Theile der Stadt lag. Beim Eintritt in das Empfangszimmer fand er dort den Capitain, der seinem Diener soeben eine nachdrückliche Strafpredigt gehalten zu haben schien, denn Jonas stand vor ihm mit der Miene äußerster Zerknirschung, die sich in komischer Weise mit einem verhaltenen Ingrimm mischte, dem Worte zu leihen ihn wohl nur die Gegenwart seines Herrn abhielt.

„Was giebt es denn?“ fragte Reinhold etwas befremdet.

„Eine Inquisitionssitzung,“ entgegnete Hugo ärgerlich. „Seit Jahren schon mühe ich mich vergebens ab mit diesem verstockten Sünder und unverbesserlichen Weiberfeind, aber da hilft weder Lehre noch Beispiel. – Jonas, Du gehst jetzt augenblicklich hinauf zur Padrona, bittest um Verzeihung und versprichst künftig manierlicher zu sein. Marsch, hinaus!“

„Ich werde ihn schließlich noch nach der Ellida zurückschicken müssen,“ fuhr er zu seinem Bruder gewandt fort, nachdem Jonas das Zimmer verlassen hatte. „Da ist die Schiffskatze das einzige weibliche Wesen, das er um sich hat, und mit dem wird er hoffentlich noch auskommen.“

Reinhold warf sich in einen Sessel. „Ich wollte, ich hätte Deinen unverwüstlichen Humor, Deine glückliche Gabe, das Leben leicht wie ein Spiel zu nehmen. Ich habe das nie vermocht.“

„Nein, der Grundton Deines Wesens war immer elegisch,“ meinte der Capitain. „Ich glaube, Du hast mich nie recht als ebenbürtig betrachtet, weil ich nicht so ideal-romantisch alle Höhen erfliegen und alle Tiefen durchdringen konnte und mochte, wie Ihr Künstlernaturen. Wir Seeleute sind nun einmal auf die Oberfläche angewiesen, und wenn auch hin und wieder der Sturm die Tiefe aufwühlt, uns macht das nichts; wir bleiben eben oben.“

„Ganz recht,“ sagte Reinhold düster. „Bleibe Du auf Deiner hellen sonnigen Oberfläche! Glaube mir, Hugo, es ist nur Schlamm in der Tiefe da unten, wo man nach Schätzen suchte, und es weht ein Eishauch auf den Höhen da oben, wo man nur goldenes Sonnenlicht geträumt – ich habe Beides durchgekostet.“

Hugo blickte forschend auf seinen Bruder, der in dem Sessel mehr lag als saß, das Haupt wie todtmüde zurückgelehnt, während die düstern Augen weit hinaus schweiften über die Gärten der Umgebung und zuletzt an dem noch matt erhellten Horizonte haften blieben, wo soeben das letzte Tageslicht verschwand.

„Höre Reinhold, Du gefällst mir ganz und gar nicht,“ brach er auf einmal los. „Ich komme nach Jahren, um meinen Bruder wiederzusehen, dessen Name alle Welt erfüllt, dem das Schicksal alles gegeben, was es einem Menschen nur geben kann; ich finde Dich auf der Höhe des Ruhmes und Glückes – und da glaubte ich Dich anders zu finden.“

„Und wie denn?“ fragte Reinhold, ohne den Kopf zu heben oder das Auge von dem dämmernden Abendhimmel abzuwenden.

„Ich weiß nicht,“ sagte der Capitän ernst, „aber das weiß ich, daß ich schon nach vierzehn Tagen dieses Leben nicht mehr aushalte, das Du jahrelang geführt hast. Dieses ruhelose Stürmen von Genuß zu Genuß ohne irgend eine Befriedigung, dieses fortwährende Schwanken zwischen wilder Aufregung und tödtlicher Ermattung sagt meiner Natur nicht zu. Du solltest der Deinigen Zügel anlegen.“

Reinhold machte eine halb ungeduldige Bewegung. „Thorheit! Ich bin längst daran gewöhnt, und dann – das verstehst Du nicht, Hugo.“

„Möglich! Wenigstens bedarf ich noch keiner Betäubung.“ Reinhold fuhr auf; ein Blick flammenden Zornes traf den Bruder, der es versuchte, ihm so tief in’s Innere zu sehen, und der ganz unbeirrt fortfuhr:

„Denn nur Betäubung ist es, nach der Du Tag für Tag ringst, die Du überall suchst, ohne sie je zu finden. Gieb dieses Leben auf – ich bitte Dich, Du richtest Dich damit geistig und körperlich zu Grunde; Du mußt ja schließlich unterliegen.“

„Seit wann ist der lebensfrohe Capitain der Ellida denn zum Moralprediger geworden?“ spottete Reinhold mit dem herbsten Ausdrucke, der ihm zu Gebote stand. „Wer hätte vor Zeiten gedacht, daß Du mir in dieser Weise den Text lesen würdest! Aber gieb Dir keine Mühe mit meiner Bekehrung, Hugo! Ich habe die frommen Jugendideen ein für alle Mal abgeschworen.“

Der Capitain schwieg. Das war wieder der Ton verletzenden Hohnes, mit dem sich Reinhold unnahbar zu machen wußte, sobald ähnliche Gegenstände berührt wurden; dieser Ton, der jeden Einfluß unmöglich machte, in jede Jugenderinnerung wie ein Mißlaut hineinklang und das einst so warme Verhältniß der Brüder fremd und erkältend berührte. Hugo versuchte auch heute nicht, das zu ändern; er wußte, daß es vergebens sein würde. Sich abwendend, ergriff er ein auf dem Tische liegendes Buch und begann darin zu blättern.

„Ich habe ja noch kein einziges Wort von Dir über meine Werke gehört,“ begann Reinhold nach einem minutenlangen Stillschweigen von Neuem. „Du hast ja hier Gelegenheit gehabt, meine Opern kennen zu lernen. Wie findest Du sie?“

„Ich bist kein Musikkenner,“ sagte Hugo ausweichend.

„Das weiß ich, und eben deshalb lege ich Werth auf Dein Urtheil, weil es das des unbefangenen, aber scharfblickenden Publicums ist. Wie findest Du meine Musik?“

Der Capitain warf das Buch auf den Tisch.

„Sie ist genial und –“ er hielt inne.

„Und?“

„Zügellos wie Du selber. Du und Deine Töne, Ihr geht über jedes Maß hinaus.“

„Eine vernichtende Kritik,“ sagte Reinhold halb spöttisch, halb betroffen. „Gut, daß nur ich sie höre; im Kreise meiner Bewunderer würdest Du übel damit ankommen. Also etwas Genialität gestehst Du mir doch wirklich noch zu?“

„Wo Du selbst sprichst, ja!“ erklärte Hugo mit voller Bestimmtheit, „aber das geschieht selten genug. Stets überwuchert dieses fremde Element, das Deinem Talente die Richtung gegeben hat und es noch jetzt beherrscht. Ich kann mir nicht helfen, Reinhold, aber dieser Einfluß, dem Du von Anfang an gefolgt bist, den alle Welt als so erhebend preist, er ist kein heilbringender gewesen, auch für den Künstler nicht. Ohne ihn wärst Du vielleicht noch nicht so berühmt, aber unbedingt größer.“

„Wahrhaftig, Beatrice hat Recht, wenn sie in Dir den unversöhnlichen Gegner fürchtet,“ bemerkte Reinhold mit unverstellter Bitterkeit. „Freilich, sie setzt nur ein persönliches Vorurtheil bei Dir voraus. Daß Du nicht einmal ihren künstlerischen Einfluß auf mich gelten lassen willst, das möchte ihr doch neu sein.“

Hugo zuckte die Achseln. „Sie hat Dich ganz und gar in die italienische Art hineingezogen. Du stürmst immer, wo die Anderen nur tändeln, aber gleichviel! Warum schreibst Du nicht deutsche Musik? Doch was rede ich? Du hast ja der Heimath und all ihren Beziehungen für immer den Rücken gekehrt.“

[478] Reinhold stützte den Kopf in die Hand. „Ja wohl – für immer.“

„Das klang ja beinahe wie Sehnsucht,“ warf der Capitain hin, das Gesicht des Bruders scharf fixirend. Dieser sah finster auf.

„Was soll das? Denkst Du vielleicht, ich sehnte mich zurück nach den alten Ketten, weil ich in der Freiheit nicht das erträumte Glück gefunden? Wenn ich eine Annäherung versuchte, so –“

„Ah so, Du hast eine Annäherung versucht? An Deine Frau?“

„An Ella?“ fragte Reinhold, und es war wieder das alte Gemisch von Mitleid und Verachtung, das sich in seiner Stimme verrieth, sobald er von seiner Gattin sprach, „wozu hätte das wohl führen sollen? Du weißt doch, wie ich damals gegangen bin, es geschah im vollsten Bruche mit ihren Eltern, und da muß ein so beschränktes und abhängiges Wesen wie Ella natürlich in deren Verdammungsurtheil einstimmen, wenn sie sich überhaupt je bis zu einem eigenen Urtheil erhoben hat. War die Kluft zwischen uns früher weit, so ist sie jetzt, nach Allem was geschehen ist, endlos geworden. Nein, davon konnte keine Rede sein, aber ich wollte Nachricht von meinem Kinde haben. Ich ertrug es nicht länger, den Knaben fern zu wissen, ihn nicht sehen zu dürfen, nicht einmal ein Bild von ihm zu besitzen. Ich wollte Nachricht um jeden Preis, deshalb wählte ich den kürzesten Weg und schrieb an die Mutter.“

„Nun, und –?“ fragte Hugo gespannt.

Reinhold lachte bitter auf. „Nun, ich hätte mir die Demüthigung ersparen können. Es kam keine Antwort – das war freilich Antwort genug, aber ich wollte nun einmal wissen, wie es dem Kinde gehe; ich glaubte an die Möglichkeit eines Irrthums, eines Verlierens, an was glaubt man nicht in solchem Falle, und schrieb zum zweiten Male. Der Brief kam uneröffnet zurück“ – er ballte im wilden Zorne die Hand – „Uneröffnet! Mir das, mir! Es ist das Werk des Onkels, daran ist kein Zweifel. Ella hätte nie gewagt, mir das zu bieten.“

„Meinst Du? Da kennst Du Deine Frau nicht. Sie hat es allerdings ‚gewagt‘, und sie allein konnte es wagen; denn die Eltern sind todt, schon seit Jahren.“

Reinhold wandte sich rasch um. „Woher weißt Du das? Stehst Du noch in Verbindung mit H.?“

„Nein,“ sagte der Capitain ruhig. „Du kannst Dir wohl denken, daß die Stimmung, die in der Familie gegen Dich herrschte, zum Theil wenigstens auch auf mich übertragen wurde. Seit ich H. damals wenige Tage nach Dir verließ, habe ich es nicht wieder besucht, aber ich stehe noch in Correspondenz mit dem ehemaligen Buchhalter des Almbach’schen Hauses, der das Geschäft übernommen hat und es auf eigene Rechnung fortführt. Von ihm erfuhr ich Einiges.“

„Und das sagst Du mir jetzt erst, nach beinahe vierzehntägigem Zusammensein?“ rief Reinhold beinahe ungestüm.

„Ich habe selbstverständlich einen Punkt nicht berühren wollen, von dem es mir schien, daß Du ihn zu vermeiden wünschtest,“ entgegnete Hugo kühl.

Reinhold ging einige Male im Zimmer auf und nieder. „Die Eltern sind also todt? Und Ella und das Kind?“

„Ihretwillen brauchst Du nicht in Sorge zu sein. Der Onkel hat ein nicht unbedeutendes Vermögen hinterlassen, weit mehr, als man geglaubt.“

„Ich wußte, daß er viel reicher war, als er gelten wollte,“ sagte Reinhold rasch. „Und diese Gewißheit allein gab mir die volle Freiheit des Handelns bei meiner Entfernung. Ich war für Frau und Kind nicht nothwendig. Sie waren gesichert vor jedem Wechselfalle des Schicksals auch ohne meine Nähe. Aber wo sind sie jetzt? Noch in H.?“

„Consul Erlau wurde Vormund des Knaben,“ berichtete Hugo ziemlich kurz und gemessen. „Er scheint sich auch der jungen, wohl nun sehr vereinsamten Frau thätig angenommen zu haben, denn bereits nach Ablauf der Trauerzeit siedelte sie mit dem Kinde in sein Haus über. Dort lebten Beide noch vor einem halben Jahre; bis dahin reichen meine Nachrichten.“

„So?“ meinte Reinhold gedankenvoll. „Nun, da begreife ich nur nicht, wie Ella mit ihrer Erziehung und ihrer Persönlichkeit es möglich macht, in dem großartigen Erlau’schen Haushalte auch nur zu existiren. Freilich, sie wird sich ein paar Hinterzimmer eingerichtet haben, nie zum Vorschein kommen, oder trotz ihres Vermögens die Stelle einer Wirthschafterin übernehmen. Ueber dieses Niveau war sie ja nun einmal nicht hinaus zu bringen. Wäre das nicht gewesen, ich hätte viel, hätte Alles ertragen – um des Kindes willen.“

Er trat zum Fenster, stieß es auf und lehnte sich weit hinaus. Die Abendluft strömte kühl hinein in das schwüle Zimmer, wo jetzt ein längeres Stillschweigen eintrat, denn auch der Capitain schien keine Lust zu einer weiteren Fortsetzung des Gespräches zu haben; nach einer Weile erhob er sich.

„Unsere Abreise ist morgen sehr früh angesetzt; wir werden zeitig wach sein müssen. Gute Nacht, Reinhold!“

„Gute Nacht!“ antwortete Reinhold, ohne sich umzuwenden.

Hugo verließ das Gemach. „Ich wollte, diese Circe von Beatrice sähe ihn einmal in solchen Stunden,“ murmelte er, die Thür in’s Schloß werfend. „Sie haben gesiegt, Signora, und ihn an sich gerissen als Ihr unbestreitbares Eigenthum – glücklich haben Sie ihn nicht gemacht.“

Noch einige Minuten lang verharrte Reinhold unbeweglich an seinem Platze; dann richtete er sich empor und ging hinüber nach seinem Arbeitszimmer. Er mußte mehrere der Gemächer durchschreiten, um dorthin zu gelangen. Die Wohnung, die das ganze untere Stockwerk der geräumigen Villa einnahm, war nicht so glänzend wie die Signora Biancona’s und dennoch verschwenderischer eingerichtet; denn die Pracht, die dort vorherrschte, wurde hier zehnfach aufgewogen durch den künstlerischen Schmuck der Räume. Da hingen Gemälde an den Wänden, standen Statuen in den Fensternischen, deren Werth nur nach Tausenden berechnet werden konnte; da waren die herrlichsten Kunstschätze Italiens in meisterhaften Nachbildungen vorhanden. Wohin das Auge nur blickte, traf es auf Vasen, Büsten, Zeichnungen und Prachtwerke, die anderswo schon allein die Zierde eines Salons gebildet hätten und die hier, überall hin zerstreut nur als beiläufiger Schmuck dienten. Es war eine Fülle von Schönheit und Kunst, wie sie in dieser verschwenderischen Art eben nur ein Rinaldo um sich versammeln konnte, dem mit dem Ruhme auch das Gold in nie versiechender Fülle zuströmte und der gewohnt war, das letztere völlig achtlos wieder von sich zu werfen.

In der Mitte des Arbeitszimmers stand ein prachtvoller Flügel, das Geschenk eines begeisterten Verehrerkreises, der dem Meister ein sichtbares Zeichen seines Dankes hatte darbringen wollen; den Schreibtisch bedeckten Karten und Briefe, welche die ersten Namen im Reiche der Geburt und des Geistes trugen und die hier gleichgültig bei Seite geschoben waren, ohne daß der Empfänger den mindesten Werth darauf zu legen schien; von der Hauptwand aber blickte das lebensgroße Bild Beatrice Biancona’s herab, von berühmter Künstlerhand in genialster Auffassung und wahrhaft sprechender Aehnlichkeit gemalt. Sie trug das idealische Costüm einer ihrer Hauptrollen in den Opern Rinaldo’s, mit deren hinreißender Darstellung sie diese Werke erst zur vollen Höhe ihrer Berühmtheit emporgehoben hatte, mit der sie selbst erst zu einer Künstlerin ersten Ranges hinaufgestiegen war. Es war dem Maler gelungen, den ganzen berückenden Zauber, den glühenden Reiz des Originals in diesem Portrait zu verkörpern. Die schöne Gestalt schien sich in unnachahmlich graciöser Stellung halb dem Flügel zuzuwenden, und die dunklen Augen blickten mit täuschender Lebenswahrheit herab auf den Mann, den sie nun so lange schon in unlösbaren Banden hielten, als wollten sie ihn selbst hier, im Heiligthume seines Wirkens und Schaffens, nicht allein lassen.

(Fortsetzung folgt.)



[479] 
Mein Lebensbild.[1]


Professor Dr. Carl Ernst Bock.
Nach seiner letzten Photographie.


Am 21. Februar 1809 zu Leipzig geboren, wurde ich schon von früher Jugend an von meinem Vater, Prosector am Leipziger anatomischen Theater, in die menschliche Anatomie praktisch eingeführt und bekam sehr zeitig durch die zahlreichen Amputationen, denen ich nach der Leipziger Schlacht in einem Hospitale beiwohnen durfte, Neigung zur operativen Chirurgie. Ich übernahm deshalb, nachdem ich vom Jahre 1827 bis 1830 auf der Leipziger Universität Medicin und Chirurgie studirt hatte, die Assistentenstelle bei einem sehr geschickten und beschäftigten Wundarzte Leipzigs, sowie an der chirurgischen Station des Stadtkrankenhauses.

Als im Jahre 1830 von den Polen Aerzte für ihre Armee [480] gesucht wurden, begab ich mich, nach vorheriger Erlangung des Leipziger Doctorgrades, zu Anfang 1831 nach Warschau, erhielt hier als sogenannter Stabsarzt eine Abtheilung für innere und äußere Krankheiten in einem der größten Hospitäler und fand so Gelegenheit, die Cholera, den Typhus, Entzündungen und Verwundungen aller Art sattsam kennen zu lernen, sowie zahlreiche Operationen auszuführen. Nach der Uebergabe Warschaus an die Russen diente ich bei diesen noch einige Zeit in derselben Stellung als Stabsarzt und kehrte Ende 1831 nach Leipzig zurück. Hier habilitirte ich mich als Privatdocent und praktischer Arzt, wurde aber sehr bald (zu Anfang 1833) durch den Tod meines Vaters, welcher außer meiner Mutter und mir noch vier großentheils unerzogene Kinder ganz mittellos hinterließ, vorzugsweise in die akademische und leider auch in die literarische Laufbahn gedrängt, um die Hinterlassenen erhalten und die kleineren Geschwister erziehen zu können. Daß ich auf diese Weise schon im vierundzwanzigsten Lebensjahre die schweren Pflichten eines Versorgers einer größeren Familie übernehmen mußte und ich diese Pflichten durch zahlreiche Examinatorien und literarische Arbeiten auch zu erfüllen im Stande war, das scheint in mir einen ziemlichen Grad von Vertrauen auf eigene Kraft ausgebildet zu haben, ließ mich aber freilich nicht die Zeit und Geldmittel gewinnen, um wissenschaftliche Untersuchungen anzustellen und mir dadurch eine Stellung in der Wissenschaft erringen zu können. Denn so eingebildet bin ich nie gewesen, zu glauben, daß meine aus der Sorge um’s tägliche Brod entstandenen anatomischen Compendien (das Handbuch, das Taschenbuch und der Handatlas) der Anatomie – obschon sie in kurzer Zeit vier Auflagen[2] erlebten, für das Studium der Anatomie sehr brauchbar erfunden und in mehrere Sprachen übersetzt wurden – mir einen besonderen Namen unter den Männern der Wissenschaft gemacht hätten. Nur so viel kann ich, ohne anmaßend zu sein, von mir behaupten, daß ich durch das jahrelange Examinatoriengeben die Fähigkeit gut zu dociren erlangt habe.

Auch als mir 1839 eine außerordentliche Professur der Medicin (in den ersten Jahren ohne Gehalt, später mit einem kleinen Gehalte) ertheilt wurde, konnte ich die Wissenschaft nicht anders als zu meiner eigenen Fortbildung und zur Erhaltung meiner durch meine Verheirathung vergrößerten Familie betreiben.

So arbeitete ich, Examinatorien gebend und schriftstellernd, unter Sorge und Noth still und geduldig bis zum Jahre 1845, wo meine Ruhe und Duldsamkeit plötzlich einen gewaltigen Stoß dadurch erlitt, daß man mir die vorher angetragene und zugesicherte Stelle eines pathologischen Anatomen, auf welche hin ich längere Zeit tüchtig losgearbeitet hatte, ohne Weiteres und zu Gunsten eines jungen Begünstigten versagen wollte. Ich erlangte diese Stellung zwar, doch erst nach Bekämpfung verschiedener Hindernisse, wobei ich freilich mehrere Verstöße gegen die gute Lebensart und Artigkeit zu machen gezwungen war. Ich suchte mich nun in Wien und Prag ebensowohl in der pathologischen Anatomie wie in der Diagnostik so weit auszubilden, daß ich in diesen Zweigen der Medicin in Leipzig als Lehrer aufzutreten mich nicht zu scheuen brauchte, wie meine pathologisch-anatomischen und diagnostischen Werke allenfalls beweisen.

Bei dem Besuche der genannten österreichischen Universitäten und Hospitäler hatte ich nun aber einsehen lernen, wie weit wir damals in Leipzig in Bezug auf die praktischen Zweige der Medicin noch zurück waren, und, einmal aus meiner bescheidenen Ruhe aufgerüttelt, unternahm ich es, trotz aller Anfeindungen und Verdächtigungen, trotz der Drohungen mit Absetzung und bedeutender Geldopfer für Druckschriften, in noch vormärzlicher Zeit, wenn nicht als Reformator der Medicin, doch wenigstens als Vorkämpfer für die neuere aufzutreten, ohne aber dabei für mich selbst eine bessere Stellung erkämpfen zu wollen. Und es gelang mir nicht blos, der sogenannten physiologischen Medicin Eingang zu verschaffen, sondern auch zur Berufung Oppolzer’s nach Leipzig als Professor der Klinik und Primärarzt des Stadtkrankenhauses beizutragen. Jetzt war ich nun zwar zur Ruhe, aber nicht zu besseren Einnahmen gelangt, konnte noch ebenso wenig wie früher nur für die Wissenschaft leben und wirken und mußte fortwährend von Freund und Feind hören, daß ich bei meinen erfolgreichen reformatorischen Bestrebungen „doch nicht so grob zu sein“ und „das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten gebraucht hätte“. Als ob man Krebsschäden mit Rosenwasser curiren könnte!

Mit Oppolzer in sehr freundschaftlichem Verhältnisse lebend, vertrat ich während der mehrmaligen Abwesenheit desselben dessen Stelle, leitete während der beiden Cholera-Epidemien die Behandlung der Kranken im Hospitale und wurde nach der Berufung Oppolzer’s nach Wien vom Leipziger Stadtrathe zum interimistischen Primärarzte des Stadtkrankenhauses ernannt. Als solcher nahm ich in klinischen, streng physiologischen Vorträgen Gelegenheit, den Studirenden die von mir im Warschauer Hospitale gemachten Erfahrungen über die Heilprocesse der Natur bei Krankheiten mitzutheilen und zu zeigen, wie die allermeisten Krankheiten auch ohne die dagegen empfohlenen Arzneimittel, nur bei gehörigem diätetischem Verfahren heilen.

Durch die Besetzung der klinischen Professur in der Person Wunderlich’s ward ich natürlich von dieser praktisch-medicinischen Wirksamkeit im Hospitale wieder entfernt und auf die pathologische Anatomie (mit Sectionen und physikalischer Diagnostik) verwiesen, doch ließ mich Privat- und Consiliarpraxis nie zum bloßen Theoretiker werden (oder, wie manche meiner Collegen behaupteten, „zwar zum guten Diagnostiker, aber schlechten Therapeuten“). Von zeitraubenden wissenschaftlichen Entdeckungen konnte bei meiner pecuniären Lage noch immer keine Rede sein, da bei den gewaltigen Fortschritten der Medicin und Naturwissenschaften, sowie dem kostspieligen Leben in Leipzig schon viel dazu gehört, in der Wissenschaft und im bürgerlichen Leben seine Stellung gehörig zu behaupten. Die Erfahrungen aber, welche ich seit Jahren am Sectionstische und Krankenbette gemacht und die ich in meinem Lehrbuche der Diagnostik niedergelegt habe, werden, in Anbetracht meiner früheren compilatorischen Arbeiten, auch von Solchen entweder gar nicht beachtet oder über die Achsel angesehen, die wahrlich keine Ursache dazu hätten, wenn sie sich auch für Heroen in der Wissenschaft halten. Denn wer heutzutage durch das Mikroskop eine neue Zelle u. dgl. entdeckt oder mit der Redensart „das ist so“ und „das habe ich öfters gesehen“ Schwachköpfen zu imponiren versteht, wird gewöhnlich für etwas Rechtes angesehen.

Durch wissenschaftliche Entdeckungen zu nützen, versagten und versagen mir sonach meine Verhältnisse; es ging deshalb mein Streben dahin, wenigstens als Lehrer, aber nicht blos der Studirenden, sondern auch der Laien, durch Wort und Schrift nach meinen Kräften nützlich zu sein, da in mir die Ueberzeugung fest wurzelt, daß Krankheiten in der Zukunft auch nicht besser als jetzt und am allerwenigsten durch Arzneimittel geheilt, wohl aber recht gut durch eine naturgemäße Lebensweise verhütet werden können, und daß durch Belehrung des Volkes (vorzüglich der Jugend durch die Mütter und Lehrer) über die Natur und den menschlichen Körper ein verständigeres, willenskräftigeres, weniger abergläubisches, moralisch besseres und gesünderes, kurz ein glücklicheres Menschengeschlecht als das jetzige herangezogen werden könne.

So bin ich denn bei sanguinisch-cholerischem Temperamente und bei einer auf die Naturwissenschaften gegründeten materialistischen Weltanschauung durch meine Lebensumstände zu einem ziemlich willenskräftigen (nach Manchen „starrköpfigen“), protectionslosen, complimentenfeindlichen (nach Manchen „groben und rücksichtslosen“), mäßig-ehrgeizigen und uneigennützigen Manne geworden, der sich nicht so leicht imponiren und einschüchtern läßt, und dessen ganzes Streben dahin geht: durch Aufklärung und Belehrung zur Verbesserung und zum Glücklichwerden des Menschengeschlechts etwas beizutragen, sich selbst aber, so weit es noch möglich ist, zur wahren Humanität zu erziehen. Freilich verstehe ich unter wahrer Humanität nicht etwa Duldsamkeit und Aufopferung in jeder Beziehung, sondern nur vernunftgemäße und wirklich frommende Menschenliebe ohne krankhafte Sentimentalität. Daß ich unter den wissenschaftlichen Forschern einen Platz nicht habe, weiß ich, doch bin ich bei den Medicin Studirenden durch meine Lehrbücher und beim Laien durch meine populär-medicinischen Vorträge und Aufsätze, sowie bei den Turnern durch Gründung des Leipziger Turnvereins, nicht unbekannt und nutzlos geblieben. Wenn ich mich 1848 von allem politischen Treiben entfernt hielt, obschon ich früher bei der Leipziger Communalgarde eine höhere Charge und auch die Stelle eines [481] Stadtverordneten eingenommen habe, so liegt dies darin, daß ich dem Verlaufe und der Behandlung des damaligen politischen Uebels eine sehr schlechte Prognose stellen mußte. Feinde besitze ich eine hübsche Anzahl, jedoch auch genügende Freunde. Uebrigens war ich stets vollkommen zufrieden, wenn ich mich selbst zum Freunde hatte und diese Freundschaft zu verdienen glaubte.




Bock’s autobiographische Skizze reicht bis in die ersten fünfziger Jahre und wurde noch vor dem Erscheinen des „Buchs vom gesunden und kranken Menschen“ geschrieben. Klar und bestimmt findet sich in derselben bereits vorgezeichnet, wohin von nun an (nachdem erst noch 1854 sein jetzt vergriffener pathologisch-anatomischer Atlas erschienen war) Bock’s Interesse und enthusiastisches Streben sich vorzugsweise wendete. Durch die 1853 entstandene und sehr bald in die weitesten Kreise dringende „Gartenlaube“ bot sich ihm ein fruchtbares Feld, Vorurtheile und Aberglauben in großem Stile zu bekämpfen, die Ergebnisse der Wissenschaft dem Volke zugänglich zu machen und so durch Aufklärung und Belehrung zur Besserung und Beglückung der Menschen beizutragen. Er hat dies denn auch durch seine später vielfach nachgeahmten populär-medicinischen, hygieinischen und allgemein-naturwissenschaftlichen Arbeiten in durchgreifendster Weise gethan. Als eiserner Charakter, überzeugungstreu und muthvoll, hat er rücksichtslos gekämpft, nicht nur gegen Curirlaien, Geheimmittelschwindel, Homöopathie, sondern vor Allem gegen Veraltetes und Ueberlebtes in der Heilkunst selbst. Bock entwickelte dabei eine seltene Befähigung, jene weiten Schichten der Bevölkerung, welche wenig lesen und zumal für wissenschaftliche Belehrung unvorbereitet und schwer zugänglich sind, zu „packen“ und mächtig fortzureißen zur Erkenntniß. Unermüdlich wußte er immer neue Wege zu finden, neues Licht in altes Dunkel zu werfen, neue Waffen gegen tiefgewurzelte Vorurtheile zu schmieden und kräftig zu schwingen.

Angeregt durch vor Frauen und Lehrern gehaltene populäre Vorträge, und in der Absicht, „Müttern und Lehrern, in deren Händen die Zukunft kommender Geschlechter liegt und von denen vorzugsweise die körperliche, geistige und moralische Vervollkommnung des Menschengeschlechtes zu erwarten steht“, einen Wegweiser zur naturgemäßen (geistigen wie leiblichen) Pflege des Menschenkörpers zu geben, entstand das „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ (jetzt in neun Auflagen und hundertzwanzigtausend Exemplaren verbreitet und in viele fremde Sprachen übersetzt). Hier legte er vermöge seines großartigen Unterrichtstalents die Elemente der Lehren vom Bau und Leben des Menschen in klarster, faßlichster Weise nieder und zeigte, wie eine wissenschaftliche Gesundheitspflege das körperliche Wohl nicht nur wahren, sondern auch Schwächen des Organismus beseitigen oder doch mildern und Krankheiten verhüten kann.

Mit großem Nachdrucke und auf Grund systematischer Beobachtungen hob er die unendliche Wichtigkeit der Erziehung, besonders im frühesten Kindesalter hervor und gab in seiner schlichten, eindringlichen Weise, neben den Anleitungen zur körperlichen Pflege des Kindes, die werthvollsten Winke zu dessen geistiger Erziehung.

Indem er schließlich offen die Resultate der Erfahrungen bekannte, welche er als vorurtheilsfreier Beobachter am Krankenbett und Sectionstisch gemacht hatte, schmälerte er zwar nicht unbedeutend den Nimbus der Heilkunst, respective der ärztlichen Machtvollkommenheit, aber um so nachdrücklicher hat er damit auf die Nothwendigkeit einer an der Hand der Wissenschaft fortschreitenden Gesundheitspflege hingewiesen und den Schwerpunkt der ärztlichen Thätigkeit in die den Krankheiten vorbauenden, sie verhütenden Maßregeln, die Prophylaxis, gelegt.

Nicht allein die Gesichtspunkte des Gesundheitslehrers, welcher Krankheiten verhüten und naturgemäße Ansichten über die Pflege des gesunden und kranken Menschen verbreiten möchte, leiteten Bock, wenn er durch sein Buch vom Menschen und die Gartenlaube Kenntnisse über den menschlichen Körper im Volke ausstreute. Bock war kein einseitiger Fachgelehrter und betonte nicht nur die hohe Bedeutung der Naturwissenschaften für die Medicin, sondern erblickte in ihnen auch eines der wichtigsten allgemeinen Bildungsmittel. Ihm war es ein Kriterium des denkenden Menschen, ob man nach dem ursächlichen Zusammenhange in der uns umgebenden Natur frage. Das Bedürfniß nach Erkenntniß des großen Naturganzen und der dasselbe beherrschenden Gesetze wollte er in weiteren Kreisen wecken, da er dafür hielt, daß es in seiner Befriedigung nicht nur unverlöschlichen Reiz, sowie reinen Genuß gewähre, sondern auch sittlich veredelnd einwirke. Indem er nun zeigte, daß der Mensch innig der Natur verbunden und ihren Gesetzen unterworfen ist, daß seine Stellung in der Natur, nicht außer oder über ihr ist, beabsichtigte er das Interesse für diese Allmutter zu wecken und damit zur Veredlung der Gesellschaft beizutragen.

In dieser Zeit entstand auch ein kleines nicht veröffentlichtes Schriftchen, „Der Mensch der Zukunft bei materialistischer Weltanschauung“, über welches sich (1855) Ludwig Feuerbach, dem es durch einen Bekannten Bock’s vorgelegt worden war, folgendermaßen äußerte: „Sie erhalten hier das Manuscript des Herrn Dr. Bock zurück; ich habe es noch an demselben Abend, wo ich es erhalten hatte, bis spät in die Nacht hinein mit ebenso durch das Vorwort gespannter wie durch den Text befriedigter Erwartung durchgelesen. Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese so zu sagen persönliche Bekanntschaft des Herrn Dr. Bock; ich kannte denselben zwar längst aus einigen vortrefflichen kerngesunden populär-medicinischen Zeitungsartikeln, aber ich dachte nicht, daß ein Professor der pathologischen Anatomie so principiell und consequent denkt und gesinnt ist. Wie selten sind solche Menschen in unserer Zeit der Zerrissenheit und Charakterlosigkeit! Herr Bock behandelt den Kampf des Spiritualismus wider den Materialismus als Arzt, als Patholog, daher seine Ruhe, seine praktische Ansicht, daß das einzige Arzneimittel wider den Antimaterialismus nur die Erziehung ist. Ich stimme vollkommen bei. – –“

Obgleich noch als Universitätslehrer (bis zum Frühling 1873) thätig und neue Auflagen seiner Werke bearbeitend, zog er sich doch immer mehr aus seiner Stellung als pathologischer Anatom zurück, da er es für die Pflicht des ältern Gelehrten hielt, bei Zeiten jüngeren Kräften Platz zu machen. Dem Volke und der Schule wollte er die Thätigkeit seines Lebensabends widmen. So entstand 1865 der Volksgesundheitslehrer (jetzt in 6. Auflage à 30 und 25,000 Exemplaren) und 1868 das Schulbuch „Bau, Leben und Pflege des menschlichen Körpers“ (jetzt in 9. Auflage à 12 und 10,000 Exemplaren). Die in der „Gartenlaube“ erschienenen Artikel über geistige und körperliche Pflege des Schulkindes ließ er in erweiterter Form als Broschüre drucken und verbreitete sie in achtzigtausend Exemplaren unter den Lehrern Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz. Dankschreiben aus den verschiedensten Theilen Deutschlands (darunter sogar eines von einem katholischen Decan in Tirol), sowie vom Auslande gingen Bock zu. In Oesterreich und Ungarn verbreitete das Cultusministerium die Broschüre unter den Lehrern. Uebersetzt wurde sie in’s Russische, Polnische, Holländische, Italienische und Croatische.

Zu dem von Bock mit Nachdruck geforderten anthropologischen Schulunterricht, für welchen er bereits das Schulbuch ausgearbeitet hatte, fehlten billige Anschauungsmittel. Unter seiner Anleitung und Mitwirkung stellten in den letzten Jahren die Gebrüder Steger in Leipzig eine Sammlung plastisch-anatomischer Modelle her, welche sich durch Naturtreue und billigen Preis auszeichnen. Um letztern zu ermöglichen und so auch der Volksschule Lehrmittel zu schaffen, verzichtete Bock auf jeglichen Gewinnantheil. Es war eine seiner letzten und herzlichsten Freuden, als er einige Wochen vor seinem Tode in Wiesbaden die Nachricht erhielt, daß der vom preußischen Cultusministerium zur Weltausstellung nach Wien abgesandte Referent die Einführung der Lehrmittel in Preußen befürworten wolle.

So lebte er in letzter Zeit ein stilles, in sich selbst seine Befriedigung findendes Leben der Arbeit. Viel beschäftigten ihn die neuen Auflagen seines „Buchs vom gesunden und kranken Menschen“, welche einander rasch folgten. Den Fortschritten der Medicin wie der Naturwissenschaften überhaupt widmete er bis zuletzt großes Interesse. Auch den pädagogischen Bestrebungen, insbesondere dem Kindergarten, wandte er stete Aufmerksamkeit zu. Großen Genuß und hohe Befriedigung gewährte ihm in seinen letzten Lebensjahren das Studium der „Entwickelungs- und Abstammungslehre“. Im Gegensatz zu so vielen Fachgelehrten, welche in ihrer Specialität aufgehen und den Blick auf das große Naturganze verlieren, [482] fühlte er das lebhafteste Bedürfniß, den Zusammenhang der Naturerscheinungen zu erkennen. Begeistert und mit tiefem Verständniß nahm er die Früchte der geistvollen Arbeiten eines Darwin und Häckel in sich auf und begrüßte freudig die in jüngster Zeit sich häufenden Beweise für ihre Wahrheit.

Indem er den Geist den höchsten Fragen der Wissenschaft und den edelsten Bestrebungen der Menschheit zuwendete, wurde es Bock leicht, die Leiden der letzten Jahre gelassen zu ertragen. Ein durch Ueberanstrengung entstandenes Augenübel verhinderte ihn längere Zeit an anhaltendem Lesen wie Schreiben. Er mußte sich Alles vorlesen lassen und dictirte seine Arbeiten. In Folge früherer Lungenkrankheit seit Langem nur mit zwei Drittel Lunge athmend, traten allmählich weitere Veränderungen in dieser sowie im Herzen ein. Er erkannte seinen Zustand sehr genau und wußte, daß zur Genesung keine Aussicht mehr war. Im Mai 1873 verließ er Leipzig (nachdem er noch vorher die achte Auflage des Schulbuchs bearbeitet hatte), Erleichterung und gemüthliche Erhebung in den Wäldern Thüringens suchend. Mit bewunderungswürdiger Kraft ertrug er die qualvollsten Erstickungsanfälle und durchwachte halbe Nächte; er war noch im Stande, am Tage sich geistig zu beschäftigen und voll Heiterkeit und Humor mit Menschen zu verkehren. Lange hielt er sich durch seine eiserne Willenskraft aufrecht, bis die immer heftiger auftretenden Erstickungsanfälle häufiger wurden. Wochenlang war sein Leben in Gefahr; dann trat noch einmal Besserung ein.

Im October zog er nach Wiesbaden im Bewußtsein, daß die fortschreitenden organischen Veränderungen noch heftige Steigerungen seines Leidens in Aussicht stellten, wenn nicht durch andere Möglichkeiten ein rascheres Ende herbeigeführt würde. Mit völliger Ruhe sah er dem Unvermeidlichen in’s Auge. Er bearbeitete eine neue Auflage (die zehnte) des „Buches vom gesunden und kranken Menschen“, beschäftigte sich viel mit dem Studium der Entwickelungslehre und schrieb verschiedene Artikel für die Gartenlaube, welcher er bis zuletzt treue Anhänglichkeit bewahrte.

Am 16. Februar traten leichte Lähmungserscheinungen in den rechten Gliedmaßen ein; auch das Sprechen war erschwert. Am 18. begann sich die zunehmende Lähmung den Athmungsmuskeln und der Speiseröhre mitzutheilen. Er machte mit größter Gelassenheit auf die so charakteristischen Symptome aufmerksam und bezeichnete die bevorstehende Befreiung als ein Glück für sich. Mit Umsicht traf er verschiedene Anordnungen, welche für seinen gefaßten, klaren Geisteszustand Zeugniß ablegten. Er bestimmte, daß er in Wiesbaden und zwar in einfachster, stiller Weise, ohne Geistlichkeit beerdigt werde, in Begleitung seiner Kinder und eines alten Freundes, dem er dort wieder begegnet war. Dann trug er auf, „alle seine Freunde und Bekannte zu grüßen“ und fragte nach Tag, Datum und Stunde. Es war am 19. Februar gegen Abend. Den Kindern suchte er das Scheiden zu erleichtern und hatte für jedes Einzelne ein Abschiedswort.

Erschöpft ließ er sein müdes Haupt niedriger betten und schloß mit einem Lebewohl die Augen zum letzten Schlafe. Bis zu seinem letzten Worte bewahrte er, trotz schwer verständlicher Sprache und weit ausgedehnter Lähmung, eine Würde, wie sie nur bei vollständigem innerem Gleichgewichte bestehen kann. Ohne Kampf wurden die Athemzüge schwächer, seltener. Er schien zu schlafen, als sein Herz bereits stillstand. – –

Bock war ein Mann von seltener Klarheit und Energie des Gedankens, ein unerschütterlicher, selbstloser Charakter; durchdrungen von echter Menschen- und Wahrheitsliebe war es ihm eine innere Nöthigung, das Rechte und Gute zu thun, die Wahrheit zu suchen und sie zu bekennen. Die Interessen der Gesammtheit standen ihm stets höher als die eigenen; sie vermochten ihn allezeit über persönliche Heimsuchungen zu erheben. So bietet er ein leuchtendes Beispiel, daß man auf dem Boden der modernen Naturwissenschaft stehen, den Spiritualismus bekämpfen und doch die idealsten Grundsätze zur Richtschnur seines Lebens wählen und begeistert nach der Erkenntniß des Schönen, Wahren und Guten streben kann.

Alle seine Bestrebungen galten der guten Sache. Hatte er sein Ziel erreicht, so war er befriedigt, ob ihm Anerkennung gewährt oder versagt wurde. So genügte es ihm, daß sein mit seltenem Freimuthe und unerbittlich scharfer Kritik geführter Kampf für die Reform der Medicin in Sachsen ein siegreicher war und mit dem Sturze der alten Medicin endigte, wenn er auch von Seiten der Regierung keine andere Anerkennung fand, als mit Absetzung bedroht zu werden.

Als Arzt besaß Bock den Ruf eines ausgezeichneten Diagnostikers. Seine Behandlung bestand keineswegs, wie man ihm nachzusagen liebte, in „Nichts“, sondern machte von allen naturgemäßen Hülfsmitteln in streng individualisirter Weise Gebrauch. Als erste Eigenschaft des Arztes galt ihm wahre Humanität, welche sowohl Nachsicht wie erzieherische Strenge am rechten Orte zu üben weiß. Psychische Leiden und Schwächen entgingen ihm selten, und er behandelte sie als feiner Psycholog. – Unermüdlich war er für Ausbreitung von Kenntnissen zur Gesundheitslehre thätig; auch im geselligen Verkehre ergriff er jede Gelegenheit und schuf vielfach eine solche, um, ohne Ansehen der Person, Jünger für seine Grundsätze zu werben und aufklärend auf Lehrer, Mütter, Arbeiter etc. einzuwirken.

Im Herzen seiner Schüler, auf welche er, nicht nur durch die Macht seines seltenen Lehrtalentes, sondern auch durch die Würde seines Charakters und die entschiedene Bekämpfung des blinden Autoritätsglaubens, segensreichen Einfluß geübt hat, wird sein Andenken ein lebendiges bleiben. Wie er es verstanden hat, auf die Jugend einzuwirken, mögen folgende Zeilen aus dem Briefe eines seiner Schüler bestätigen: „Er war mir ein Lehrer, dem ich Wissen und Wollen verdanke, vor Allem das unverfälschte Bekenntniß, das ununterbrochene Erforschen der Wahrheit. Leider gehört dieses Bekennen nicht zum guten Ton, und darum gilt der Träger der Wahrheit für unklug, für schroff. Was er als Lehrer den Studenten gewesen ist und hätte werden können, wenn man ihn nicht daran gehindert hätte, was er aber als Lehrer des Volks gewesen ist – das führt ihn ein in die Hallen der Unsterblichkeit.“

Unter den Vorwürfen, die gegen Bock erhoben wurden, war wohl der häufigste: „er ist ein heftiger, rücksichtsloser, grober Mann.“ Kein Wunder! Ebenso, daß eine Anzahl theils erfundener Anekdoten, theils entstellter Vorgänge erzählt wurden zum Belege dafür. Nicht soll hier behauptet werden, daß er in seiner Polemik gegen gemeinschädliche Verkehrtheiten, Humanitätsheuchelei und Scheinliberalismus, die er allerwärts umherwuchern sah, seidene Handschuhe angezogen hätte, auch soll nicht verschwiegen werden, daß ihm unter Umständen Heftigkeit und eine gewisse Schroffheit eigen sein konnten. Ganz besonders schien es seinen Zorn zu reizen, wenn er dünkelvolle Unwissenheit und Anmaßung, inhumanes Benehmen (besonders gegen Untergebene) in sogenannten gebildeten Kreisen traf, denn hier pflegte er seinem Spott mit Vorliebe freien Lauf zu lassen oder seine Mißbilligung sehr deutlich auszusprechen.

Sehr verschieden führte er jedoch seine Streiche, je nachdem er nur Vorurtheil, Schlendrian, Unverstand u. dgl. oder bösen Willen, Gewissenlosigkeit und Heuchelei vor sich sah. Nicht selten war aber seine Derbheit gewissermaßen nur die Hand, die er vor sein Gesicht hielt, um seine eigene Rührung zu verbergen, denn er barg unter einer rauhen Schale ein reiches und tiefes Gemüth, von welchem sich Züge der größten Zartheit erzählen ließen. Er liebte es einmal nicht, Gefühle blicken zu lassen, geschweige mit denselben zu prunken. Der diese Zeilen schreibt, war Zeuge, wie ein Lehrer, dem Bock im tiefsten Elende wirksamen Beistand geleistet hatte, seinen überströmenden Dankgefühlen Ausdruck lieh. Bock zerdrückte sich Thränen im Auge und – verwies ihm fast rauh weiteres Danken. Hülfe spenden war ihm zur andern Natur geworden, und er hatte sich in den Ruf eines reichen Mannes gebracht, der er nicht war, weil er reichlich, oft und gern spendete.

Für Naturschönheit und Kunst hatte er ein feinsinniges Verständniß, und nächst der Arbeit waren sie in den verschiedenen Nüancen des Lebens seine Trösterinnen. Heiterkeit und Humor begleiteten ihn trotz aller Kämpfe und manch’ bitterer Enttäuschung durch’s Leben; auch während seiner Leidenszeit blieben sie ihm großentheils noch eigen.

Die Saat, die Bock für Volkserziehung und Volksaufklärung ausgestreut, sie wird aufgehen und noch fortwirken zu einer Zeit, wo sein Name nur noch von Einzelnen gekannt sein wird. Denn er stand im Dienste jener Mächte, welche nur mit der Menschheit selbst untergehen; er war ein Apostel der Erkenntniß, der Wahrheit und der Humanität.
C. E.
[483]
Aus dem österreichischen Klosterleben.
Nr. 1. Das Noviziat und der Aufenthalt im Seminar zu Prag.
Nach dem Tagebuche eines Wissenden von A. Ohorn.


Es ist nun schon eine Reihe von Jahren her, als ich an einem freundlichen Herbsttage gegen Abend durch den gewaltigen Thorbogen mit dem Thürmchen darauf in den Hofraum des Klosters hineinschritt, das meine Heimath werden, dem ich für Lebenszeit angehören sollte. Ich war damals ein junges Bürschlein von etwa neunzehn Jahren, sah überall Sonnenschein und blauen Himmel und betrachtete von dem exclusiv materiellen Standpunkte, den man mir aufoctroyirt hatte, das Kloster als eine vorzügliche Versorgungsanstalt. Ich werde das Gefühl nie vergessen, mit welchem ich mir das altersgraue, massive Gebäude mit seinen zwei gewaltigen Thürmen betrachtete, da ich über den grasbewachsenen Hof hinschritt, auf welchem es so still war bis auf das Plätschern eines einfachen Brunnens und so einsam bis auf einige Gänse, die sich melancholisch auf einem Beine wiegten. Es wurde mir fast ein wenig bange, da ich, Einlaß begehrend, die Glocke an der Pforte zog, die in das Convent führte.

Wie von Geisterhand bewegt, öffnete sich die Thür, deren Drücker mittelst eines Drahtes, den der Pförtner von seinem Zimmer aus in Bewegung setzte, gehoben wurde. Ich trat in eine weite Halle, mit rothem Ziegelstein gepflastert, hochgewölbt und mit Rundbogenfenstern versehen; an der Wand zur Linken hingen gewaltige Gemälde in dunklen, geschnitzten Rahmen, kunstlose Arbeiten, die, wie ich später erfuhr, ein längst verstorbener Laienbruder in seinen Mußestunden geschaffen. Durch das verglaste Sehloch in der Thür des Pförtners schaute ein neugieriges bleiches Gesicht nach dem Ankömmlinge; ich trat in das dunkle Gemach ein, präsentirte mich dem Bewohner, einem Laien (seines Zeichens ein Schneider), als Candidaten und erkundigte mich, an wen ich mich zunächst zu wenden hätte, da mein Magen wie mein Pedal naturgemäße, nicht abweisbare Forderungen an mich stellten. Der kleine gefällige Mann legte ein Ordenskleid, mit dessen Ausbesserung er sich eben beschäftigt hatte, bei Seite und erklärte mir, er wolle mich zunächst zu dem Pater-Secretär führen, der für das Weitere sorgen werde.

Wir gingen wieder hinaus durch die Pforte, welche blos angelehnt wurde, da der betreffende Geistliche nicht im Convente, sondern auf der Prälatur oder, wie man gewöhnlich sagte, „auf dem Hause“ wohnte. Die Prälatur macht den westlichen und südwestlichen Theil des gesammten Kloster- oder Stiftsgebäudes aus und enthält außer der Wohnung des Prälaten (des Abtes) die Wohnungen der sogenannten Officialen, nämlich des äbtlichen Secretärs, des Forstinspectors und des Provisors, einige Gastzimmer, einen Speisesaal, die Rentkanzlei, die Apotheke, die Küche und das sogenannte Küchenamt, ein Local, dessen Bekanntschaft ich bald machen sollte. Der Secretär, ein Mann mit freundlicher Protectormiene, empfing mich recht höflich, sorgte dafür, daß mein sterblich Theil im Küchenamte, einem saalähnlichen Gemache, in welchem weniger distinguirte Besucher, wie reisende Studenten und Andere, „abgefüttert“ werden, wieder in die richtige Verfassung versetzt wurde, ließ mir dann ein Zimmer auf der Prälatur anweisen, wo ich als Gast noch bis zu meiner eigentlichen Einführung in das Convent wohnen sollte, und stellte mich, nachdem ich noch alle mögliche Sorgfalt auf meinen äußeren Menschen verwendet, dem Abte vor.

Die Wohnung des Prälaten, in dessen Vorzimmer uns ein Lakai empfing, der uns auch zuvor anmeldete, zeigte nichts von klösterlicher Armuth; ich habe indeß den vorhandenen Comfort dem Manne nie übel genommen, weil ich ihn trotz alledem nie beneidet habe. Es war ein greiser Mann, der uns empfing, dem man aber seine achtzig Jahre nicht anmerkte; die Gestalt war hoch; die Wangen waren frisch gefärbt, die Augen hell. Eine schwere goldene Kette mit Kreuz lag auf der Brust; am Goldfinger der Rechten glänzte ein gewaltiger Ring. Mein Begleiter kniete nieder, und ich that es ihm nach; der greise Priester ertheilte uns gewohnheitsgemäß den Segen, und ich küßte, der erhaltenen Instruction zufolge, die segnende Hand; bei späteren Gelegenheiten berührten meine Lippen den geschliffenen Stein des Ringes. – Die Audienz war rasch vorüber, und ich hatte nun Ruhe bis zum Abendmahle, nachdem ich noch zuvor mich dem Prior vorgestellt hatte.

Er ist die erste Person innerhalb des Convents; mit ihm hatte ich späterhin weit mehr zu verkehren, als mit dem Abte. Der Prior war ein kleiner, fast kugelrunder Mann mit einem vollen, gerötheten Gesichte, auf welchem die breiteste Gutmüthigkeit saß, die ihm thatsächlich eigen war; er konnte nämlich keine Bitte abschlagen, und wir haben beinahe Alle uns das gelegentlich zu Nutzen gemacht - möge ihm die Erde leicht sein! – Er empfing mich recht freundlich, fragte mich aus über Dies und Das, und ich freute mich an seinem sorglosen Angesichte, das mir für meine nächste Zukunft und wohl auch für die entferntere ein günstiges Prognostikon schien. Meine Müdigkeit war wie weggewischt durch die Neuheit der Umgebung, die aufregend auf mich wirkte, und so überließ ich mich denn der Führung eines Klerikers, der mich aus freien Stücken angesprochen und mich zunächst mit den Räumlichkeiten des Convents bekannt machte. Es war ein großes, im Viereck errichtetes Gebäude, das einen gleichsam quadratischen Raum einschloß, welcher zu einem Garten hergerichtet war, in welchen man durch die ringsum laufenden hohen Bogenfenster sehen konnte. Er sah zur Zeit etwas vernachlässigt aus, und die graue massive Steinfontaine versagte den Dienst.

Der Fußboden des eigentlichen Convents war mit weißen Platten bedeckt. Die Hallen waren hoch und weit, und das Ganze machte den wohlthuenden Eindruck der Ordnung und Reinlichkeit. An den Wänden, zwischen den vielen mit Nummern versehenen Thüren, hingen große Bilder, das Leben des Ordensstifters – Wahrheit und Legende – darstellend, und gemalt größtentheils von dem bereits erwähnten Künstler. Die Wände des oberen Stockwerkes waren mit den Bildern der verstorbenen Prälaten in fortlaufender Reihe geschmückt. Diese Phantasiestücke schauten mit muthiger Verachtung jeder Kunst und mit einer Art legitimen Trotzes auf den kopfschüttelnden Besucher herunter. Mein Führer zeigte mir den mächtigen Speisesaal, nicht den unwichtigsten Theil des Convents, den neutralen Boden, auf welchem alle Parteien des gleichen Zweckes willen stehen. Die lange Tafel war gedeckt. Die blanken Biergläser standen in Reih und Glied. In den breiten Fensternischen sah man Spieltische, verschämt zwischen den langen weißen Vorhängen hervorschauend. An der einen Wand war eine Kanzel angebracht. In dieses Stillleben sahen die thatsächlich guten Portraits der letztverstorbenen Prälaten mit ernster Ruhe hinein.

Wir besuchten ferner den Capitelsaal, an dessen Wänden einfache Bänke ohne Lehnen standen. Auch befand sich hier ein schmuckloser kleiner Altar, und in der Mitte des Saales lag in einem vergoldeten Sarge der aus Holz geschnitzte, gleichfalls vergoldete Leib des Ordensstifters. Einst war die Statue des Heiligen aus gediegenem Silber gewesen, allein Josef der Zweite hatte sich dieselbe (wohl zu praktischeren Zwecken) ausgebeten, und so wurde sie durch eine werthlose ersetzt. Wir besichtigten noch das sogenannte Museum, das indeß wenig Bedeutendes bot, sowie auch die Gemäldesammlung, durchschritten die Bibliothek, die mehr angesehen als benutzt wird und in welcher ich vergebens mich umsah nach den neueren Werken deutscher Gelehrten und Dichter, und schlossen unsere Inspection in dem Oratorium oder Betsaale.

Zur Abendmahlzeit wurde ich nach dem kleinen Speisesaale der Prälatur abgerufen. Man betete leise, und Jeder setzte sich an seinen durch sein Alter bestimmten Platz. Es ging ziemlich still her, hauptsächlich nachdem der Prälat sich in das Lesen einer Zeitung (des österreichischen Volksfreundes) vertieft hatte, und nur das Studium der verschiedenen Physiognomien, sowie die Beschäftigung mit den aufgetragenen Speisen (eine Suppe und zweierlei Fleisch) und dem schneidigen kühlen Klosterbiere sicherten mich einigermaßen vor der Langeweile. Nach der Mahlzeit entfernte sich der Abt sogleich; ich verschwand gleichfalls ziemlich unbeachtet.

Der nächste Tag war ein Sonntag. An demselben fand [484] die Einführung statt. Nach dem Nachmittagsgottesdienst (Vesper) versammelten sich sämmtliche im Kloster anwesende Ordensmitglieder in dem kleinen Speisesaale und setzten sich um die lange Tafel. Die Candidaten – ich hatte noch einige Collegen erhalten – standen in feierlichem Schwarz in Reih’ und Glied vor derselben. Nach einer Ansprache seitens des Abtes und nachdem die zum Theil anwesenden Eltern der Candidaten ihren Kindern den Segen ertheilt, boten die Novizen des verflossenen Jahres ihren nunmehrigen Nachfolgern den Arm, um sie in feierlichem Zuge, dem sich alle Ordensmitglieder paarweise anschlossen, in die Kirche zu führen.

Pauken und Trompeten lärmten beinahe betäubend bei unserem Eintritte in die Hallen der schön angelegten, aber nicht eben geschmackvoll renovirten Stiftskirche, und spießruthenlaufend durch die Gasse der Neugierigen, kamen wir zu den Sitzen (Stallen), die für uns bestimmt waren. Die Orgel arbeitete sich endlich heraus aus dem Trompetengeschmetter und ging in die Melodie des schweren, getragenen, aber ergreifenden Hymnus über:

Veni creator spiritus,
Mentes tuorum visita,
Imple superna gratia,
Quae tu creasti, pectora.

Der Einführung in die Kirche und das betreffende Stallum folgte diejenige in die Klosterzelle, welche durch den Prior vorgenommen wurde: Ein kurzer Glückwunsch, ein dreimaliger Kuß, dieselbe Procedur multiplicirt mit der Anzahl der Ordensbrüder – und das neue Conventsmitglied war fertig bis auf das noch fehlende Ordenskleid. Auch dafür wurde Sorge getragen. Schon mit den letzten Brüdern erschien ein langer hagerer Mann, der mit geschwätziger Freundlichkeit sich als Schneidermeister vorstellte und ohne weitere Umstände Länge und Weite für sein Fabrikat sich abmaß, dabei aber das Gewissen des Einzelnen nach Kräften erforschte und durch Katechisiren sich über den Charakter eines Jeden klar zu werden bemüht war.

Nun erst kam ich dazu, mich in meiner neuen Behausung umzusehen Das Zimmer war hoch und gewölbt, der Anstrich einmal weiß gewesen, gegenwärtig aber grau; die Möbel von primitiver Nüchternheit wollten in Gestalt und Farbe schlechterdings nicht zu einander passen.

Mit der Einführung hatten wir die Pflichten der Novizen übernommen. Vor halb sechs Uhr Morgens galt es aufzustehen. Um drei Viertel rief das Glockenzeichen zur Morgenandacht in das Oratorium, wo nach einer kurzen Lesung aus einem Erbauungsbuche eine stille Meditation folgte. Mit dem ersten Schlage der sechsten Stunde polterten die Sitze; man erhob sich, um in die Kirche selbst zu gehen und hier die beiden ersten Horen (Prim und Terz) abzubeten, welche größtentheils aus Psalmen bestehen, die abwechselnd Vers um Vers von den beiden gegenübersitzenden Seiten des Chores fast durchaus verständnißlos (mit dem versöhnenden stillschweigenden Motto: Gehorsam ist besser als Opfer) recitirt werden. Das währte etwa eine halbe Stunde, dann kehrten wir in unsere Zimmer zurück, wohin uns ein Conventsdiener, welcher zugleich die Functionen unseres Stubenmädchens ausübte, den Kaffee brachte, der übrigens vorzüglich war. Diese Conventsdiener waren schlichte Menschen von gesunder Constitution, seichtem Verstande und meist mangelndem Mutterwitz, trugen lange, dunkle Röcke, besaßen aber die wesentliche Tugend der Treue und der Anhänglichkeit an das Haus.

Um acht Uhr fanden wir uns zur Erbauungsstunde in dem Zimmer unseres unmittelbaren Vorgesetzten, des Novizenmeisters, ein. Wenn wir nun mit unseren harmlosesten andächtigen Mienen um seinen runden Tisch saßen, so begann er aus einem alten Buche mit hochrothen Decken uns die lateinisch verfaßte Lebensgeschichte des Ordensstifters vorzulesen und zu interpretiren.

Um zehn Uhr rief die Glocke wiederum zur Kirche, zu der sogenannten Conventmesse, während welcher wieder zwei Horen (Sext und Non) in der schon erwähnten Weise abgebetet wurden. Nach dem Gottesdienste führte man uns gleich den zweiten Tag eine Anzahl Bauernknaben aus der Umgebung des Klosters vor, in die wir uns redlich zu theilen und an denen wir pädagogische Experimente zu machen hatten. Beide Theile waren froh, wenn um dreiviertel Zwölf die Glocke neuerdings zur Kirche rief, zur stillen Adoration vor dem Sanctissimum. Da knieten wir denn und sollten meditiren und beten – ich bin indeß fest überzeugt, daß die Meisten sehnsüchtig auf das Zeichen des Priors warteten, sich zu erheben.

Nun wimmelte es nach dem Refectorium, wo sich alle zum Convente gehörigen Brüder zusammenfanden und sich zu beiden Seiten des Tisches aufstellten.

„Benedicite!“ begann der Vorsitzende.

„Domnius!“ entgegnete der Chor.

Dann folgte das „Edent pauperes et saturabuntur“ (Die Armen werden essen und satt werden).

Arm war das Essen eben nicht zu nennen; es waren einschließlich der Suppe fünf Gänge – „Wer Vieles bringt, wird Manchem Etwas bringen,“ ist wohl das Motto des Küchenmeisters. Auch für den Trunk war gut gesorgt; jeder Noviz erhielt täglich acht, der Kleriker zehn, der Priester zwölf Biermarken, für jede derselben ein Glas Bier, deren drei etwa ein österreichisches Maß ausmachen; was nicht getrunken wird, wird durch einen (niedrigen) Geldbetrag wieder eingelöst. Während der Mahlzeit liest ein Noviz von der Kanzel herab aus Thomas a Kempis „Imitatio Christi“. Um zwei Uhr Nachmittags wurde die Vesper in dem Oratorium abgebetet, was bis gegen drei Uhr währte. Dann wurden wir Neuaufgenommenen mit den Novizen des vorigen Jahres, die noch diese Woche in ihrem Amte blieben, um uns praktisch in unseren Pflichtenkreis einzuführen, „ausgetrieben“.

Wir durften nämlich (auch in der Folge) nur in Begleitung des Novizenmeisters ausgehen, der sich weder um die Gunst des Wetters noch um die Wünsche und Launen der Einzelnen kümmerte, der mit seinen hohen festen Stiefeln ebenso lachend durch den oft zollhohen Koth schritt – „er weicht schon aus, wenn man darauf tritt“ – wie über die von der heißen Sommermittagssonne ausgebrannte glühende Erde. Wir sind dem guten alten Manne indeß nie gram geworden. Um fünf Uhr begannen wir bereits mit Nachhülfe um das „Matutinum“ mit seinen vielen Theilen in dem Brevier zusammenzusuchen. Es war das keine ganz leichte Arbeit, die wir auch ziemlich lange nicht recht begreifen wollten. Und wenn ein Theil des Chorgebetes überhaupt ermüdend ist und mit einem gewissen Unmuthe durchgekostet wird, so ist es das Matutinum, das bis gegen sieben Uhr währt. Es wird dabei der Kehle wie dem Verstande ziemlich viel zugemuthet.

Um sieben Uhr findet die Abendmahlzeit statt; nach derselben beginnt ein munteres Leben an den kleinen Spieltischen, nicht immer ganz harmlos, denn die erhitzten Gesichter und zuweilen erhitzten Gemüther sprechen nicht von Gemüthlichkeit. Um dreiviertel Neun ruft die Glocke zum letzten Male zur abendlichen Meditation in das Oratorium. Das Bier hat einschläfernd gewirkt, und die Häupter sinken rechts und links und horchen, bis der erste Schlag der neunten Stunde die Erlösung bringt. Nun kommt der Conventdiener; die Lampen verlöschen in den Gängen – es wird still.

Das ist ein Tag aus dem Leben des Novizen.

So roll’ ich ohne Unterlaß,
Wie Sanct Diogenes, mein Faß.

Acht Tage nach der Einführung fand die Einkleidung statt. Schon drei Tage zuvor begannen die geistlichen Exercitien, welche blos darin einen Unterschied von der übrigen Zeit brachten, daß der übliche Nachmittagsspaziergang ausfiel und wir das Gebiet des Conventes überhaupt nicht verlassen durften. Am Tage vor der Einkleidung wurde dieselbe erst probeweise durch den Conventsschneider vorgenommen, der sich an dem Werke seiner Hände zunftgemäß erfreute. Dann wurden die einzelnen Stücke des Gewandes säuberlich zusammengefaltet, in den Capitelsaal getragen und durch darauf gelegte Zettel mit Namen gekennzeichnet.

Am nächsten Morgen, bereits nach ein Viertel Sieben, standen wir Einzukleidenden vor der Thür des Capitelsaales in einem Aufzuge, der uns gegenseitig recht heiter machte. Die Beinkleider hatten wir in hohe weiße Strümpfe gestülpt; an den Füßen saßen schwarze Schuhe, die der Eine in Ermangelung eigener von einer Küchengrazie geliehen hatte; ein weißes Nachtjäckchen, über welches bei Einem und dem Andern die Hosenträger liefen, deckte den Oberleib, und von dieser negligémäßigen Harlekinade stach seltsam die geistliche Halsbinde ab, die wir bereits angelegt hatten. Zwischen der Prim und Terz fand die Einkleidung statt. Auf rothsammtenem Polsterstuhle saß der Abt an einem [485] Tische; auf den Bänken ringsum hatten in feierlichem Schweigen die Capitularen Platz genommen. Wir knieten in unserer exquisiten Tracht in einer Reihe vor dem Tische, dem Abte gegenüber, welcher nun der Form gemäß aus einem alten Rituale seine Fragen stellte:

„Was suchet Ihr? – Seid Ihr frei, nicht verlobt, nicht verheirathet? – Seid Ihr nicht Sclaven? – Seid Ihr nicht mit heimlicher Krankheit behaftet? – Habt Ihr keine Schulden?“

Die Antworten waren uns Tags zuvor bereits eingelernt worden, und wir sagten dieselben nun im Chore herunter. Nun knieten wir einzeln nacheinander vor dem Abte nieder, wurden des Rockes, den wir über dem Nachtjäckchen trugen, entkleidet, zum Zeichen, daß nun der alte Mensch ausgezogen werde, wurden angethan mit dem neuen Menschen, d. i. dem Ordensgewande, und erhielten den Namen eines Heiligen, unter welchem wir von nun an eigentlich hier existirten; der Familienname gerieth beinahe ganz in Vergessenheit. Unter dem Gesange des Salve regina stolperten wir nun – das ungewohnte lange Gewand schlug um Knöchel und Kniee – mit den Anderen in die Kirche zur hora tertia, nach deren Beendigung wir vor dem Frühstück noch dem Abte als junge Ordensleute vorgestellt wurden. Ein Handkuß, ein huldvolles mahnendes Wort, noch ein Handkuß, und wir stolperten die Treppen wieder hinab nach dem Convent.

Regelmäßig und fast unterschiedlos verläuft ein Tag des Noviziatjahres um den andern. Eine kleine Abwechselung brachten blos die sogenannten haustus, anständiger bezeichnet die concursus fratrum, in das gewohnte Leben; es sind dies gesellige Zusammenkünfte der Brüder im Refectorium, welche mit Kartenspiel und Zechen begangen werden. Sie beginnen nach der Vesper, dauern den Nachmittag über, werden durch das Matutinum unterbrochen und nach der Abendmahlzeit ohne Ende fortgesetzt. An diesem zweiten Theile derselben, wenn ich so sagen kann, betheiligen sich hauptsächlich nur die jüngeren Brüder, Novizen und Kleriker, und es war oft seltsam genug, wenn es mitten in der Nacht in den Hallen des klösterlichen Speisesaales erklang:

Im Krug zum grünen Kranze,
Da kehrt’ ich durstig ein –

oder wenn das sonore „Gaudeamus igitur!“ von den jugendlichen Mönchsgestalten gesungen wurde, die wohl Alle beinahe über das Stadium der Nüchternheit bereits hinaus waren. – Gelegenheit zu einem derartigen haustus bot das Fest eines bedeutenden Ordensheiligen, ein hohes Kirchenfest, Geburts-, Namens-, Wahl-, Infulationstag des Abtes, irgend ein besonderer Vorgang im Kloster selbst, wie die feierliche Ordensprofeß oder auch das Begräbniß eines der Brüder, sowie die Auction des Nachlasses des Letztern, welche im Refectorium vorgenommen wurde.

Wenn einer der Brüder starb – ein Ereigniß, das mich wenigstens anfangs stets mächtig ergriff, da dem Sterbenden meistens keine Freundeshand das brechende Auge schloß und er oft ziemlich einsam auf dem Bette lag –, so rief die Chorglocke die Brüder zu dem Todtengebete in die Kirche. Der Leichnam selbst wurde in den Capitelsaal gebracht, und der hölzerne vergoldete Leib des Stifters mußte zeitweilig seinen Platz räumen. Hier lag der Leichnam in einem einfachen Sarge allein, von den Brüdern meist verlassen, bis man am dritten Tage ihn von da hinaustrug nach dem nahen Friedhofe. Man sang den Psalm miserere auf diesem letzten Wege kalt und theilnahmlos, scharrte den Todten nach den abgethanen vorgeschriebenen Gebeten ein, schaufelte die Erde zu, und bald wucherte das Unkraut auf dem Hügel und schwankte um das armselige Holzkreuz, das nicht einmal den Namen des Todten trägt, so daß häufig, wenn Jemand kommt, der den Abgeschiedenen geliebt, er seine Ruhestätte nicht finden kann, Ob hier der Grundsatz der Armuth das reiche Kloster leitet? Ich glaube es nicht. „Ihm ist wohl“ sagen sie Alle, und Mancher denkt dazu: „Uns ist besser,“ besonders wenn er Aussicht hat, in des Verstorbenen gute Stelle einzurücken. Nach etwa drei oder vier Wochen wird des Verstorbenen Nachlaß in dem Refectorium unter den Brüdern versteigert und der Erlös unter alle im Kloster selbst lebenden Priester mit der Verpflichtung vertheilt, je acht Tage lang abwechselnd die Conventsmesse zu celebriren.

Ein Jahr und ein Tag muß vergehen seit der Einführung, dann ist das Noviziat überstanden, und der Noviz wird durch Ablegung der einfachen Gelübde auf drei Jahre – eine Ceremonie, welche ohne besondere Feier fast in wenigen Augenblicken abgethan ist – Kleriker. –

Der Kleriker ist nun der unmittelbaren Zucht des Novizenmeisters entwachsen, in seinen Spaziergängen nicht mehr an denselben gebunden, darf aber auch jetzt noch nie allein, sondern nur in Begleitung eines Collegen ausgehen; es ist das eine Art gegenseitigen Ueberwachungssystems, das aber ziemlich zwecklos ist, da sich fast stets Gleich und Gleich gesellt. Während der Schwerpunkt der Thätigkeit des Novizen im Chorgebete liegt, ist es Hauptpflicht des Klerikers, den theologischen Studien obzuliegen. Zu diesem Behufe mußten dieselben nach Prag gehen, dem Sitze des competenten Bischofs, respective Erzbischofs, und sich an der theologischen Facultät dieser Stadt inscribiren lassen. Der Orden besaß keine Filiale in Prag, und so wurde denn einer der ärmeren Orden angegangen, uns gegen eine ansehnliche Vergütung in Wohnung und Kost zu nehmen. Das geschah denn auch, und so reisten wir eines schönen Morgens mit dem Segen des Abtes und auf Kosten des Klosters in ziemlich freudiger Stimmung ab, hielten einen halben Tag Rast in einer größeren Stadt, in welcher mehrere der Ordensbrüder fungirten, und langten am nächsten Tage in den Vormittagsstunden in der Hauptstadt Böhmens an.

Wir standen bald an der Pforte des erwähnten Klosters der gastfreundlichen Bettelmönche. Wir traten ein. Der Pförtner, ein Laienbruder, empfing uns, um uns nach dem Zimmer des Pater Guardian zu führen. Der Pater Guardian, ein stattlicher, wohlgenährter Mann mit keineswegs geistlosen Zügen, war nicht allein; wir hatten gestört, zum Glück nicht in frommer Betrachtung, sondern – im Kartenspiel. Man wies uns die für uns bestimmten Zellen, welche auf Kosten unsers Klosters in Stand gesetzt waren, an, machte uns mit der Hausordnung bekannt und überließ uns unserem Schicksale und unsern Studien.

Da wir die theologischen Vorlesungen gemeinsam mit den Zöglingen des erzbischöflichen Seminars besuchten, so kann ich es mir nicht versagen, dieses Institut etwas näher zu beleuchten. Es steht zu der theologischen Facultät in inniger Beziehung.

Gegenüber dem Altstädter Brückenthurm der Prager Karlsbrücke steht ein mächtiges Gebäude, wohl eines der imposantesten der böhmischen Hauptstadt, ein Jesuitenbau mit nicht weniger als fünf bedeutenden Höfen, in welchem Kunst und Wissenschaft ihren Tempel aufgeschlagen haben, denn es umschließt zwei Kirchen, eine schöne Capelle, ein Gymnasium, die kaiserliche Universitätsbibliothek, die Sternwarte, die Malerschule, die Hörsäle der philosophischen Facultät, die erzbischöfliche Buchdruckerei, das sogenannte Convict und, was uns hier zunächst berührt, auch das Priesterseminar und die theologische Facultät. Wenn wir neben der Clemenskirche durch das mächtige Thor eintreten und an der Pforte, die uns zur Linken ist, anläuten, so gelangen wir in die Räume, in welchen die junge Priesterschaft für den Bedarf der Prager Erzdiöcese gezogen, vielleicht besser verzogen, jedenfalls aber „gedrillt“ wird. Die Hallen sind freundlich, gelbgetüncht; breite Steintreppen führen nach dem ersten und zweiten Stockwerke; in den Nischen an der Treppe stehen große steinerne Heiligenbilder, und die Säle sind fast durchgehends geräumig und hoch, wie man ja überhaupt den Jesuiten den Ruhm lassen muß, daß sie zu bauen verstanden, das Imposante mit dem Praktischen zu verbinden wußten und so jene Bauten aufführten, die länger stehen werden als der Orden selbst und die heute vielfach zu Staatszwecken verwendet werden.

Die Zahl der Zöglinge hat in den letzten Jahren sehr abgenommen; es liegt das zum großen Theile im Geiste unserer fortschrittlichen Zeit, in dem Ankämpfen gegen alles Klerikale, und das schreckt gar manchen jungen Mann von einer Laufbahn ab, die ihm wenig materiellen Vortheil, dagegen sehr leicht Spott und Verachtung bringt.

Die Erziehung ist, wie schon erwähnt, eine nahezu jesuitische. Die Seminaristen, gewöhnlich Alumnen genannt, haben ihre gemeinsamen Studir- und Schlafsäle, sowie ein gemeinsames Refectorium. Die Kleidung, die sie beständig tragen müssen, besteht aus einer schwarzen Tuchklerik, um welche eine violette Binde geschlungen ist; letztere wird durch eine schwarze ersetzt, wenn der Alumnus die erste höhere Weihe erhalten hat, was erst im vierten Jahre seines Aufenthaltes im Seminar geschehen kann.



[486]
Ein gefeiertes Wirthshaus.


Culturgeschichtsbild.


Es wird bald so weit kommen, daß wir in unseren lieben deutschen Landen mit allem Dampf des Riesenverkehrs der steigenden Vertheuerung des Lebens nicht entweichen können und uns manchmal nach einem stillen Winkel sehnen, um uns wenigstens geistig in Zeiten mit einfacheren Bedürfnissen zurück zu versetzen. Heute überkommt mich ein solches Gefühl, und um so mehr freue ich mich, durch eine äußere Veranlassung in eine Vergangenheit und an einen Ort geführt zu werden, wo Beides, der große, aber weit mühseligere Verkehr unserer Altvordern und zugleich die Einfachheit ihrer Reisezehrung, uns vor Augen tritt. Denn unsere Abbildung zeigt uns eines jener alten Wirthshäuser an den Heerstraßen, welche auf weiten Strecken die einzigen Gebirgsübergänge bildeten. Da mußten, in hoher Waldöde, Fürsten und Bettler unter demselben Dache fürlieb nehmen, da nächteten mit ihren Rossen die Fuhrleute wie die Ritter, da hielten der Pilger und der Landsknecht Rast, da waren Obdach und Mahlzeit für Hoch und Niedrig nicht so unterschieden, wie heutzutage, aber auch die Kosten nicht.

Ein solcher Gebirgsübergang war Jahrhunderte lang zwischen Thüringen und Franken die Straße über Judenbach und den Sattelpaß.

Judenbach ist ein langgestrecktes Gebirgsdorf des Meininger Oberlandes zwischen Coburg und Gräfenthal, zwei Stunden nordöstlich von der weltbekannten Spielwaarenfabrikstadt Sonneberg. „Sattelpaß“ nennt man eine tiefe brückenartige Einsenkung auf der Grenze von Thüringen und Franken, wo der Judenbacher Bergrücken an das Thüringer Hauptgebirg stößt. Durch die Natur des Gebirges war dies ein schwerer und zugleich leicht zu vertheidigender Uebergang und als solcher schon im Alterthum anerkannt. Die militärische Besetzung dieses Punktes hatte später nur die Bewachung des Thores und des Schlagbaums, die hier zum Behufe der Zoll- und Geleitseinnahme die Straße sperrten, zum Zweck. Der wachhaltende Corporal mußte über den dortigen Verkehr Wochenberichte nach Meiningen liefern. Wie naiv die Auffassung dieser Mannschaften über den Grad von Wichtigkeit der Ereignisse der Zeit war, verräth ein Bericht vom October 1806, wo es heißt: „In den verflossenen 8 Tagen ist nichts Neues vorgefallen. 25,000 Franzosen sind bloß durch den Paß gezogen und haben übrigens Mönchröden in Brand gesteckt.“ Das war also „nichts Neues“. – Beim Sattelpaß ist nach und nach ein Oertchen entstanden, das denselben Namen führt.

Ueber Ursprung und Einrichtung solcher Straßenwirthshäuser verdanke ich eine gründliche briefliche Belehrung einer anerkannten Autorität in thüringisch-fränkischer Landes- und Culturgeschichtsforschung, dem Geheimen Hofrath Professor G. Brückner in Meiningen, der in seiner „Landeskunde des Herzogthums Meiningen“ ein bis jetzt schwerlich übertroffenes Musterwerk in dieser literarischen Specialität geliefert hat. Seine Mittheilungen werden dankbar im Folgenden benutzt.

Schon unter den Römern führten bekanntlich Handelszüge vom Süden Deutschlands nach dessen Norden. Mit Naturnothwendigkeit bildeten sich hierbei und hierfür feste Verkehrsstromwege mit festen Stationen. Eine dieser Verkehrsbahnen führte von Nürnberg nach Erfurt und stand schon unter dem besonderen Schutze Kaiser Karl’s des Großen, durch welchen letztere Stadt im Jahre 805 zum Haupthandels- und Stapelplatz für die Sorben bestimmt und mit sehr fördersamen Privilegien und Stapelgerechtigkeiten bedacht worden war; von da aus brach der Handelszug sich weitere Bahnen nach Norddeutschland und zu den nordischen Meeren.

Von dieser Heer- und Handelsstraße ging ein Strang, von Bamberg aus abgezweigt, nach Coburg und von da über den südöstlichen Thüringerwald. Auf den Gebirgsübergängen, namentlich auf den Uebergängen über hohe breitrückige Gebirge, wie dies im südöstlichen Thüringerwalde der Fall war und noch ist, war die Errichtung von Schutzpunkten und Ruhorten mit zweckentsprechenden Wirthshäusern ein zwingendes Bedürfniß. Das Zweckentsprechende der Einrichtung derselben war natürlich bedingt durch das Bedürfniß jener Zeit, und darum muß ein Einblick in ihr Inneres und ihre Umgebung uns ganz besonders anziehen.

Den Hauptnerv solcher Straßenwirthshäuser bildete ein quadratischer Hofraum mit seitlichen Pferde- und Viehställen und Futterscheunen, denn hier lag der Hochquell der Einnahmen. Es war eine alte Heerstraßenregel: die Straßenthiere gehen den Passanten vor. Diese Regel, der sich Kaiser und Wagenknechte fügten, hat sich in ihrer Menschlichkeit und Rentabilität bis jetzt erhalten, wie man in jedem Wirthshaus, wo Fuhrleute einkehren, beobachten kann. In zweiter Linie kam erst das Gasthaus, das sich durch ein Thierschild oder das Drudenflinner als ein solches kennzeichnete. Der niedrige Hauptstock desselben bestand aus Fachwerk, das hohe spitzzulaufende Dach bedeckten grauweißliche Schindeln. In diesem (unteren) Stocke betrat man zuerst den Hausern, das heißt einen geräumigen Vorplatz mit festgestampftem Lehmfußboden. Von diesem Hausern aus führten Thüren in die einzige und darum sehr große Gaststube, dann in einige Kammern und Nebengemächer und in die nach ihrer Wichtigkeit würdig ausgeweitete Küche. Auf der Treppe nach oben gelangte man wieder zu einem geräumigen Vorplatze mit Thüren in eine Mansardengaststube und mehrere Bodenkammern.

In der Wirths- oder Gaststube fallen uns zunächst die kleinen Schiebefenster und der große Ofen auf, zwei Hausstücke, welche gegenwärtig die entgegengesetzten Dimensionen angenommen haben. Die Größe des Ofens war schon dadurch gerechtfertigt, daß er der einzige im ganzen Hause war; alle übrigen Räume, selbst wenn das Haus ein zweites Stock und in demselben eine „gute Stube“ für „die großen Herren“ besaß, waren nicht heizbar. Desto stattlichere Reisigbündel, Holzscheite und Baumknürze nahm der schwarz-, manchmal auch grünkachelige Riese in sich auf; hatte er doch nicht bloß Menschen zu wärmen, sondern auch ihre nassen Gewänder zu trocknen, denn dazu waren die Stangen da, die oben um den Ofen herum in ihren an der Decke befestigten Leisten hingen. Um den Ofen in Sitzhöhe zog sich die Ofenbank, deren Lehne die warmen Kacheln selber waren; aber an den Wänden hin liefen die Wandbänke mit getäfelten Lehnen und vor denselben standen die Langtische mit weißgescheuerten Tischplatten auf ihren stämmigen, gekreuzten Beinen mit den durch Querhölzer stark verschränkten Füßen. Die ebenbürtigen Stühle mit den so oft verhängnißvoll gewordenen wuchtigen Beinen sind bekannt genug. An der Gegenwand der Hauptfront der Stube befand sich das meist dreifachige Kammbrett, auf welchem die zur Begastung dienenden Trinkgeräte paradirten, vornehmlich die ansehnlichen Bierkannen in Gestalt bemalter, weiß und blau geflammter Steinkrüge mit Zinndeckeln, Weingläser in hoher Kelchform, ferner zinnerne und irdene mit Reimsprüchen auf dem Rande verzierte Teller und Schüsseln. Unter dem Kammbrette machte der lederne Großvaterstuhl sich breit, auf welchem der Gastwirth der Ruhe pflegte.

In der Küche waltete die Wirthin, stolz auf ihre Vorrathsschränke, namentlich auf den Küchenschrank mit den Geschirren von Kupfer und Zinn, und auf ihren Herd mit dem großen Koch-, Schlacht- und Waschkessel. – Nicht weniger stolz war sie aber auch auf ihre Betten im Herrenstübchen. Befaßte dasselbe auch nur wenige Mobilien, so fielen die zwei großen zweischläferigen Himmelbetten mit ihren festgefüllten und hochaufgebauten Unter- und Deckbetten desto mehr in’s Auge. Für Leute, die nicht zu den „großen Herren“ gehörten, standen in den Kammern Betten bereit, und in Zeiten starker Einkehr mußten auch, besonders für die Wanderer aus den unteren Volksschichten, Strohbündel auf dem Fußboden die Bänke der Wirthsstube oder Heuboden und Pferdestall zum Nachtlager gut thun. Auf diese Weise konnte ein von außen unansehnliches Gebäude eine große Anzahl von Menschen zugleich beherbergen.

Gerade so war auch das alte Judenbacher Wirthshaus beschaffen. Was mag im Laufe der Zeiten auf den hohen Wogen des Verkehrs und des Völkerschicksals hier vorübergezogen sein! Welcher Reichthum von socialen Bildern thut sich vor uns auf! Kriegsschaaren und Waarenzüge, Magnaten und Vasallen, Kaufleute und Priester, Bärenführer und Abenteurer zogen wie im Mittelalter, so in der spätern Zeit von Norden nach Süden, von Süden nach Norden durch Judenbach, bald allda übernachtend, [487] bald nur rastend. „Hätten vor Zeiten“ – klagt mit Recht G. Brückner – „die an den großen Heerstraßen gelegenen Wirthshäuser Tagebücher geführt, so könnten sie eine fesselnde reiche Fundgrube für mercantile und politische Verhältnisse des Volkslebens bieten, was ohne Zweifel werthvoller wäre, als die chronologischen Aufzeichnungen der alten Städte-Annalen von Schnee und Regen, Nebel und Reif, Hagel und Heuschrecken.“ Freilich zeigen die „Sattelpaß-Berichte“ auch, wie diese Tagebücher manchmal ausgesehen haben würden. Immerhin ist Brückner’s Wunsch gerechtfertigt durch den Werth des Wenigen, das uns von der Judenbacher Verkehrsgeschichte erhalten ist. In einem Heftchen „Kleine Chronica von Judenbach“ – gedruckt in diesem Jahre – das als Festgabe zu einer weiter unten zu erwähnenden nahen Feierlichkeit erschienen ist, lesen wir unter Anderm: „Anno

Staffelberg. Vierzehnheiligen. Mupperg. Neustadt. Kulmberg. Mönchröden. Veste Coburg.
 Banz. Sonneberg.
Das Judenbacher Luther-Wirthshaus auf dem Schönberg bei Sonneberg.
Originalzeichnung von L. Hutschenreuther zu Lichte in Thüringen.

1457 passirte Herzog Wilhelm der Tapfere Judenbach und verzehrte mit seinem Gefolge acht Groschen.“ Zwei Menschenalter später – „1516 den 26. und 27. Juni kam der Bischof von Regensburg durch Judenbach und verzehrte auf seiner Reise von Coburg bis hierher acht Gulden zwölf Silbergroschen anderthalben Pfennig“, ein Anzeichen, daß schon damals die geistlichen Herren größere Ansprüche an das Irdische stellten, als die Weltleute.

Uebrigens ist der Verkehr hier noch älteren Datums. Von Kaiser Otto dem Ersten (936 bis 973) an, der mehrmals in Saalfeld Reichstag hielt, sind manche deutsche Reichskronenträger und viele Reichsfürsten mit großem Gefolge, und selbst Könige des Auslandes die Judenbacher Straße gezogen. So nahm 1474 König Christian der Erste von Dänemark auf seiner Fahrt nach Rom seinen Weg über Saalfeld, Gräfenthal, Judenbach und Coburg. Denselben Weg schlug zwei Jahre später Herzog Albrecht von Sachsen auf seiner Pilgerreise nach Jerusalem ein. Aber auch Kaiser Karl der Fünfte kam mit Alba nach der Mühlberger Schlacht (1547) vor das Judenbacher Wirthshaus, und auch sie sind, wie Jeder, der die Bergfahrt überstanden, schwerlich ohne Imbiß und Trunk dort vorübergezogen. Den gefangenen Kurfürsten Johann Friedrich den Großmüthigen hatten die spanischen Hakenschützen wenige Tage vorher desselben Weges geführt.

In des Volkes Gedächtniß lebt aber von all den Gästen Judenbachs nur Einer von Geschlecht zu Geschlecht fort: Martin Luther. Schon im Jahre 1518, und zwar am 14. April, kam er, der im Jahre zuvor seine fünfundneunzig Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg angeschlagen hatte, auf seiner Reise nach Heidelberg zum Convent der Augustiner gegen Abend nach Judenbach und traf daselbst mit dem kursächsischen Rath und Kammerherrn Pfeffinger zusammen, der mit ihm im Wirthshause übernachtete und für ihn und seine Begleiter die Zeche mitbezahlte. Weil sich keine Fahrgelegenheit fand, kam Luther am folgenden Abend sehr müde in Coburg an.

Zur selben Zeit passirte der Ablaßkrämer Tetzel Judenbach auf seiner Reise nach Rom.

Und in demselben Jahre, am 26. October, betrat Luther abermals die Gaststube des Judenbacher Wirthshauses, und wieder als ein sehr müder Mann, denn er kam von seiner Flucht aus Augsburg, wo er, wie er selbst erzählt, „in der Nacht ohne Hosen, Stiefel, Sporn und Schwert“ auf das Roß gestiegen war, das Doctor Staupitz ihm verschafft und auf dem er den bösen Ritt bis gen Wittenberg gemacht hat. „Wie ich den ersten Abend in die Herberge kam, war ich so müde, stieg im Stalle ab, konnte nicht stehen, fiel straks in die Streue.“ –

[488] Zwölf Jahre darnach, und zwar wiederum an einem 14. April, kam der Reformator, dessen Wort längst die ganze deutsche Welt bewegte, dieselbe Straße daher, aber diesmal im Geleite gar hoher und mächtiger Herren, die zur letzten geistigen Vertheidigung des „Evangeliums“ nach Augsburg zogen. Nachdem Luther in der Schloßkirche zu Torgau über das Wort Jesu „Wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater“ gepredigt hatte, brach, gestärkt durch solch Gotteswort, der Kurfürst Johann „der Beständige“ zur Reichstagsfahrt auf. Zu seinem Gefolge gehörten außer seinem Sohne, dem Kurprinzen Johann Friedrich (später „der Großmüthige“) und Dr. Martin Luther, die Mitreformatoren Melanchthon, Justus Jonas, Spalatin, Johann Agricola und Andreas Osiander; an Fürsten, Grafen und Rittern Fürst Wolfgang von Anhalt, Herzog Franz von Lüneburg, die Grafen Albrecht und Jobst von Mansfeld, Graf Ernst von Gleichen und ein Herr von Wildenfels; ferner fünf kurfürstliche Räthe und die beiden Kanzler Dr. Brück und Dr. Beier; außerdem siebenzig Edelleute mit hundertsechszig berittenen Knechten, sämmtlich mit Schießzeug bewaffnet und in lederfarbener Kleidung. Die Reise von Torgau bis Coburg nahm vierzehn Tage in Anspruch; am Gründonnerstag gelangte der stattliche Zug von Gräfenthal durch Judenbach bis Neustadt; dort predigte Luther am Charfreitag und am Sonnabend Abends zog er in die Veste Coburg ein.

Am 5. October holte der Kurfürst mit seinem Gefolge Luthern zur Heimreise ab, und so kam der Reformator an diesem Tage zum vierten Male nach Judenbach.

Wenn für die beiden Bergvesten Wartburg und Coburg es als geschichtliche Ehre gilt, „Lutherburgen“ genannt zu werden, wer will es den Bewohnern Judenbachs und der weiten Umgegend verargen, wenn sie mit demselben Stolz von ihrem „Lutherwirthshaus“ sprechen? Und wie durch ein Wunder ist das alte Holzblockhaus, das so viel Großes gesehen, durch all die Jahrhunderte von Krieg und Brand glücklich erhalten worden bis diesen Tag. – Da aber der Verkehr längst sich andere Bahnen gebrochen, da namentlich, als Sonnebergs industrielles Aufblühen eine Straßenverbindung mit dieser Stadt, die vorher abseits der alten Heerstraße gelegen war, zur Nothwendigkeit machte, die neue Poststraße von Coburg über Sonneberg und Wallendorf nach Saalfeld gebaut wurde, so verödete die alte Straße über Judenbach und den Sattelpaß so vollständig, daß auch das alte Wirthshaus für die Bewohner keine Bedeutung mehr hatte. Es sollte in jüngster Zeit abgebrochen und gänzlich beseitigt werden.

Diesem letzteren Loose, gänzlich beseitigt, d. h. vernichtet zu werden, ist jedoch das schicksalreiche Gebäude entrissen worden. Ein Sonneberger Kaufherr, A. Fleischmann, brachte das alte Gasthaus, natürlich ohne die ehemaligen Goldgruben der Stallungen und Scheunen, an sich und beschloß, diesem „Lutherwirthshaus“ eine neue Stätte anzuweisen, wo der Blick in die Nähe und Ferne auf’s Innigste harmonire mit der geschichtlichen Bedeutung des alten Hauses und seiner Gäste aus der Reformationszeit. Unsere Abbildung führt den Leser an Ort und Stelle. Wir stehen auf dem Schönberg, einem im Osten von Sonneberg am weitesten in die fränkische Ebene hervortretenden Ausläufer des Thüringer Waldgebirgs. Hier hat die Natur die Grenze zwischen Thüringen und Franken, zwischen Nord- und Süddeutschland gezogen. Hinter uns beginnt die Thüringer Art der Berge und der Menschen, und vor uns breitet das prächtige Frankenland sich aus und begrüßt uns mit seiner ersten Ebene voll üppiger Fruchtbarkeit und dem Reiz seiner wechselvollen Hügellandschaften, begrenzt von den weitherschauenden Häuptern der Rhön, der Mainberge und des Fichtelgebirgs. Nur der nahe Mupperg bei der Nachbarstadt Neustadt, die von der Eisenbahn von Sonneberg nach Coburg berührt wird, beansprucht mit seiner Höhe von mehr als dritthalbtausend Fuß noch Thüringer Bergwürde. Vierundzwanzig Ortschaften kann ein scharfes Auge hier zählen; aber es sieht noch mehr. Wie vor vierthalb Jahrhunderten stehen hier heute noch die Grenzmarken des Glaubenshaders vor uns: hier der siegende Protestantismus mit seinem treuesten Zeugen, der Veste Coburg auf fernem Hügel; der Geist, der dort waltete, besiegte die Klöster des Landes, von denen wir Mönchröden am Fuße seines Kulmbergs vor uns sehen; ja, in Oberlind, dessen Kirchthurm links vom Wirthshausdache aus der Ebene heraufwinkt, hat Luther selbst die erste evangelische Gemeinde an der Grenze Thüringens und Frankens gegründet. Aber ebenso fest sehen wir dort links vom breiten Rücken des Mupperg auf und an den Höhen des Mains die Burgen der alten Kirche stehen. Dort ragen die Thürme von Banz, dem ehemaligen Benedictinerkloster, und die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen unter dem kühn geformten Staffelberg verkündet noch heute mit Missionen und Processionen die ungeschwächte Macht der katholischen Kirche.

So erblickt der Wanderer, der am kleinen Schiebfenster der Gaststube dieses Hauses gen Süden schaut, noch immer dasselbe Bild des deutschen Zwiespalts, das vielleicht dem Martin Luther an demselben Fensterlein vor dem geistigen Auge stand.

Unsere Leser werden gern zugestehen, daß die Rettung des alten Judenbacher Lutherwirthshauses und die Versetzung desselben an diese Stelle mehr als gerechtfertigt sind, daß Beides die Anerkennung Aller verdient, die dem schweren Kampf der Gegenwart nicht gleichgültig – oder gar schadenfroh – zusehen, sondern uns beistimmen, daß die Erinnerung an die erste Reformationszeit und ihre unerschütterlichen Helden in den Massen des Volks nicht oft und packend genug geweckt werden kann. Das alte Lutherwirthshaus auf dieser Höhe hat eine solch’ erweckende Kraft, und darum haben wir Beides unseren Lesern in Bild und Wort vorgeführt.

Mit der Einweihung des alten Wirthshauses auf seiner neuen Stelle ist in den ersten Tagen des August ein Volksfest verbunden, ebenfalls ein selbstständiges Unternehmen des Herrn A. Fleischmann, für welches Gelehrte, Dichter und Künstler bereits fleißig vorgearbeitet haben. Gedruckt liegt vor uns, außer Einladung und Programm, ein „Festspiel“, ein „Wettkampf der Meistersinger vor dem Kurfürsten“ und die oben erwähnte „Chronica von Judenbach“, die das Geschichtliche der Feier vertreten, die schon der beschränkten Oertlichkeiten und der gedrückten Geschäftsstimmung wegen keine großen Dimensionen annehmen soll; etwa ein Dutzend fliegende Blätter, in Geist, Stil und Ausstattung des Reformationszeitalters für einen „jahr margkt“ zu Judenbach und ein „Preiß schießen“ auf dem Schönberg, bei welchem auch Tetzel mit seinem Ablaßkram zu erscheinen hat und bei welchem weder der Doctor Eisenbart noch der Bänkelsänger der „großen Morithat“ wird fehlen dürfen, gehören zu den heiteren Partien dieser Lutherwirthshaus-Weihe. Möge der Ernst der Zeit dem gesunden deutschen Humor für dieses Volksfest einen recht guten Tag frei geben!

Friedrich Hofmann.




Die Zigeuner am Eibsee.


Eine ethnographische Berichtigung von Fritz Keppler.


Am Fuße der mit unnahbar steilen Wänden nach Norden abfallenden Zugspitze liegt in waldstiller Einsamkeit der großartigste und wildeste unter den Seen des bairischen Hochlandes, der Eibsee, aus dessen stahlblankem Spiegel alle Schauer der Wildniß den staunenden Wanderer anstarren. Ein mit Föhrenwald bewachsener Gebirgszug, hinter dessen sammetgrünem Dunkel jähe Felsenwände und zerklüftete Kalkklippen marmorweiß hervorschimmern, umschließt mit ringförmigen Krümmungen die schwarzgrün schimmernde Fluth; hinter ihm, im Süden und Südosten, ziehen sich ohne Unterbrechung von der Zugspitze bis zum Waxensteine meilenlange und meilenhohe Felsenwände hin, die alle kahl, grau und unzugänglich sind; ihre glatte, gleichförmig graugelbe Fläche wird zuweilen, wo die Felswand weniger steil abfällt, von großen mattblinkenden Schneefeldern unterbrochen; im Westen erhebt sich in ungeheuren Wellenbergen dahinragend, vom Kramer bis zum Frieder sichtbar, der gewaltige Gebirgszug, der das Loisachthal vom Graswangthale scheidet; im Norden ragt der bronzeglänzende Gipfel des Frickens und die Doppelpyramide des [489] Krottenkopfs aus dem gleichmäßigen Dunkel des Fichtenwaldes empor, während ferne im äußersten Osten die kalkweiße Spitze des Hochwärner’s im grellen Sonnenlichte glänzt.

Neun Inseln erheben sich über das düstere, unheimliche Gewässer. Die größeren sind völlig mit üppigen Büschen glühender Alpenrosen überwachsen, die den felsigen Boden wie mit einem purpurnen Teppich überziehen, in den vereinzelte blaue und gelbe Blumen eingewebt sind; über ihre dichten Sträucher erheben verkrüppelte Föhren und Birken und spärliche Lärchen die knorrigen Kronen. Die kleineren sind kahl, öde, todt; kein Baum verstreut Schatten; keine Staude, kein Grashalm säumt den Rand der Klippe; nur riesige Felsblöcke, die Eisgang und Sturmfluth wirr übereinander geschichtet, bieten der zürnenden Welle ihre verwitterten Stirnen.

Der größten dieser Inseln gegenüber, da, wo die Welle des Sees sich an der Felsenwand der Zugspitze bricht, liegt eine einsame Hütte, die letzte Menschenansiedlung an der Grenze der Steinwüste. Aus ihrem verfallenen Schlote steigen dünne, weiße Rauchwölkchen zum tiefblauen Himmel empor, der in wolkenloser Klarheit auf die Wildniß herniederlacht. Das armselige Haus ist halb zerfallen. Wind und Wetter haben seine Tünche verwischt, Rauch und Ruß es geschwärzt; Thür und Laden schlottern in den Angeln; Sparren und Schindeln sitzen locker in den Fugen; Schwellen und Dielen, Balken und Bohlen sind vermodert und veraltert. Große zerrissene Fischernetze hängen unordentlich an den Wänden des Hauses umher und sind auf den vor der Hütte aufgeschichteten Holzklötzen und ‑Scheitern zum Trocknen ausgebreitet. Zwei verwahrloste Kähne liegen auf dem Ufer, wenige Schritte vor der Thür des Hauses. Hinter Diesem, gegen die Zugspitzwand hin, ist ein kleines Fleckchen Land urbar gemacht und umzäunt, auf dem einige verkümmerte Kartoffelpflanzen ihr kärgliches Dasein dem unwirthlichen Boden abringen.

Eine Schaar barfüßiger und barhäuptiger Kinder spielt vor der Hausthür; ihre plumpen Gestalten sind nur nothdürftig in ärmliche, vielfach geflickte Kleider gehüllt, ihre Gesichter sonnenverbrannt, rund und breit, mit groben unschönen Zügen, von dicken, straffen, blonden Haaren umrahmt. Scheu und verwundert schauen sie mit großen, blaugrauen, wildschüchternen Augen zu dem Fremden empor. Die Stube, in welche dieser tritt, ist groß und düster, von zwei niedrigen Fenstern nur nothdürftig erhellt; die Wände sind von Rauch und Ruß, Staub und Schmutz geschwärzt. Ein ungeheurer, aus Backsteinen aufgebauter Ofen, um den sich eine breite Bank herzieht, nimmt fast den vierten Theil ihres Raumes ein, ein ärmliches Bett, ein vor Alter morscher Tisch, der zugleich als Hobelbank dient, ein plumper Schrank lehnen an den Wänden umher, an denen schlechtes Hausgeräthe und eine verrostete Flinte aufgehängt sind; in der Ecke zwischen den beiden Fenstern ist ein roh geschnitztes Bildniß des gekreuzigten Heilands angebracht, das mit frischen Alpenrosen und schwarzgrünen Eibenzweigen bekränzt ist; denn der wunderbare Baum des Märchens, der dem unheimlichen Alpensee den Namen gegeben, gedeiht noch immer in den heimlichen Winkeln seiner Felsenufer, wo er vor den habgierigen Händen des Menschen ein sicheres Versteck gefunden. Ein zahmes Rothkehlchen fliegt munter in der Stube umher und macht Jagd auf die großen Fliegen, die in ungeheuren Schwärmen in der Stube auf- und abschweben und mit eintönigem Summen den Raum erfüllen. Auf einem der Fenstersimse steht ein winziger Vogelbauer, an dessen Drahtgitter eine ruhelose Tannenmeise herumflattert.

Mitten in der dumpfigen Stube sitzen an plumper Schnitzbank ein alter, verwitterter Greis und ein junger Bursche, emsig beschäftigt, Schindeln aus den großen Holzblöcken zu schneiden, die unordentlich auf dem Boden herumliegen; eine grobknochige Dirne lehnt auf der Ofenbank und flickt ein Fischernetz. Die drei Menschengestalten sind klein und stämmig, ihre Haare dick und dunkelblond, die Züge der beiden Gesichter derb und plump und von einer in hohem Grade auffälligen Familienähnlichkeit; ihre Augen sind groß, grau und stier, von scheuem, störrischem, fast thierischem Ausdruck. Stumpfsinn und Rohheit zucken um die breiten, von brutaler Sinnlichkeit geschwellten Lippen.

Wir sind im Hause der „Zigeuner am Eibsee“. –

Derjenige, der zum ersten Male der „Zigeuner am Eibsee“ gedacht, hat der gläubigen Welt eine arge Lüge aufgebunden, welche durch Bädeker’s Reisehandbuch in den weitesten Kreisen als nie angezweifelte Thatsache verbreitet worden ist. Die Fischeransiedelung am Eibsee stellt das typische Bild eines im Laufe der Jahrhunderte heruntergekommenen altbairischen Geschlechts dar.

Sie besteht aus zwei Familien, die in einer in Deutschland sonst unerhörten Weise sich fortgepflanzt haben und miteinander verwandt sind. Uebrigens ist es nicht gerade leicht, sich über die verwandtschaftlichen Beziehungen der beiden Familien völlige Klarheit zu verschaffen, da sie nicht ohne Geschick die Aufmerksamkeit des forschenden Fremden absichtlich auf falsche Fährten zu lenken suchen. Sie sind verarmte Enkel einst wohlhabender Ahnen, denn so weit die Geschichte der Grafschaft Werdenfels, innerhalb deren Grenzen der Eibsee liegt, hinaufreicht, gedenkt sie auch dieser Ansiedelung. Schon im Jahre 1249 stellt der See ein Lehen der Schweiker von Mindelberg, eines im Gefolge der Welfen auftretenden Rittergeschlechtes, dar und wird von Schweiker dem Zweiten an den Bischof Conrad von Freising verkauft; im Jahre 1316 trug ihn ein ungenannter Ritter aus Garmisch zu Lehen. 1513 verlieh Bischof Philipp denselben dem Jacob Dänzl von Trapberg; von 1536 an war er längere Zeit hindurch in den Händen der Zwerger von Walchensee, die wenig löblich an ihm wirthschafteten.

Im siebenzehnten Jahrhundert saßen schon zwei Fischer am Eibsee, Alexander Schorn und Jacob Ostler, Abkömmlinge alter Geschlechter zu Garmisch, die schon siegelmäßig waren, bevor sich die ersten Zigeuner (im Jahre 1417) an den Grenzen von Deutschland gezeigt. Der Letztere ist der Stammvater der jetzigen Fischerfamilie; seiner Nachkommen einer, Ulrich Ostler, ward am 7. August 1752 von Raubmördern jämmerlich um’s Leben gebracht, während seine Leute in der Kirche zu Garmisch beim Gottesdienste sich befanden. In diesem an einem der Ahnen der Familie verübten Verbrechen ist wohl der Ursprung des Märchens von der Zigeunerabkunft der Fischer am Eibsee zu suchen. Denn damals war das Volk noch viel leichter, als in unsern Tagen geneigt, jedes in seinem Ursprunge dunkle Verbrechen auf Rechnung der meist unschuldigen Zigeuner zu setzen. Wie tief eingewurzelt dieses grausame Vorurtheil noch jetzt ist, beweist am besten die Thatsache, daß weder Aufklärung noch Liberalismus vor zwei Jahren die Zigeuner davor geschützt haben, der Gegenstand des allgemeinsten Hasses und der Hetzjagd der ganzen europäischen Polizei zu werden, weil auf einem Landgute bei Stettin ein Kind vermißt wurde. In diesem Falle haben nun freilich die Thatsachen die Unschuld der Zigeuner auf das Glänzendste dargethan, allein wer bürgt dafür, ob nicht schon im nächsten Jahre wieder die europäische Menschheit die Lust anwandeln wird, eine Preciosa zu suchen.

Durch die an seinen Ufern verübte Unthat kam zunächst der Eibsee und der ihn umgebende Wald, der noch jetzt den Namen des „Zigeunerwaldes“ führt, in Verruf. Im Laufe der Zeit wurden die Thatsachen vergessen, und der üble Leumund, in dem die Oertlichkeit stand, ging auf die Besitzer über, zumal da auch diese durch Verkehr mit Schmugglern, Wildschützen und anderem Gesindel vielfachen, mehr oder weniger berechtigten Anlaß zu übeln Nachreden geben mochten; daß die Inseln im Eibsee noch vor nicht zu langer Zeit von Schmugglern mit Vorliebe als Schlupfwinkel und Waarenniederlagen benutzt wurden, unterliegt keinem Zweifel.

Die Abkunft der Fischer am Eibsee von uralten Garmischer Geschlechtern ist also, wie wir gesehen, durch sichere Urkunden verbrieft und steht zweifellos fest. Nun wäre es zwar immerhin möglich, anzunehmen, daß eine illegitime Kreuzung zwischen der Fischerfamilie am Eibsee und vorbeiziehenden Zigeunern stattgefunden habe, wozu die Abgeschiedenheit des Platzes jedenfalls Gelegenheit in Hülle und Fülle geboten hätte, abgesehen davon, daß der alte Schmugglerweg von Ehrwald nach dem Eibsee auch von Zigeunern vielfach benutzt wurde, um unbehelligt über die Grenze in das wegen seiner polizeilichen Strenge unter den Zigeunern arg verrufene Baiern zu kommen, das sie wegen der schweren Bedrückungen, denen sie dort ausgesetzt sind, in ihrer Sprache Aschiwalo temm „das nichtswürdige Land“ nennen. Dagegen spricht aber, ganz abgesehen von der echt bairischen


Hierzu die „Allgemeinen Anzeigen zur Gartenlaube“, Verlag von G. L. Daube & Comp.

[490] Gesichtsbildung der Fischer am Eibsee, der wichtige Umstand, daß der maßlose Nationalstolz des Zigeuners, der Grundzug in seinem Charakter, eine geschlechtliche Vermischung mit Frauen, die nicht seiner Abstammung sind, ihm durchaus verbietet. So zügellos derselbe im Verkehre mit Frauen seines Stamms ist, so unzugänglich ist er für die Reize der Nichtzigeunerin. Jeder, der die Sitten und Gebräuche des merkwürdigen Volksstammes so genau wie ich kennen zu lernen Gelegenheit gehabt, wird mir bestätigen, daß ein Liebes-Verkehr zwischen Zigeunern und Nichtzigeunern geradezu unerhört ist und nur in der Einbildung von Romanschreibern besteht; grenzenlose Verachtung, Ausschließung aus aller Gemeinschaft, jedem Verkehre mit Seinesgleichen, Ausstoßung aus seiner „Nation“, Strafen an Leib und Leben würden den Schuldigen unfehlbar treffen.

Nachdem ich die Fischer am Eibsee gegen den Vorwurf, von Zigeunern abzustammen, sicher gestellt habe, einen Vorwurf, der ihnen, wie ich aus ihrem eigenen Munde weiß, schon viel Kummer und Herzeleid gemacht hat, habe ich dadurch leider den Besuchern des Eibsees einen pikanten Reiz rauben müssen; später werde ich vielleicht noch einmal auf das merkwürdige Volk zurückkommen, als dessen Angehörige jene Ansiedler vom Eibsee irrthümlich in der ganzen gebildeten Welt verschrieen sind.




Blätter und Blüthen.


Fritz Reuter. Der größte unter den deutschen Humoristen der Gegenwart, Fritz Reuter, ist am Sonntag, den 12. Juli, Nachmittags, in seiner Villa am Eingange des herrlichen Marienthales bei Eisenach verschieden. Ein Schlagfluß war die Ursache seines plötzlichen Todes.

In der Literatur wird Fritz Reuter fortleben als ein Urbild norddeutscher Gemüthsinnigkeit und Herzensfrische, aber auch als ein Typus der gesunden Derbheit, welche die Bewohner der Ostseeküsten kennzeichnet, speciell als ein würdiger Repräsentant des kernhaften mecklenburgischen Volksstammes, in dessen Geist und Sprache seine unvergleichlichen Werke sämmtlich abgefaßt sind. Reuter’sche Gestalten, wie Onkel Bräsig, Fritz Trittelfritz, Havermann und Andere haben einen unvergänglichen Werth und werden, was ihre schlichte Lebens- und Naturwahrheit, ihren volksthümlichen und echt realistischen Humor betrifft, gewiß noch lange als unübertroffen in der deutschen Dichtung dastehen und von Jahr zu Jahr der Muse des verewigten Poeten immer größere Kreise erobern. Denn der Dialekt Reuter’s, welcher dem mittel- und süddeutschen Leser gegenüber so oft als hemmende Schranke des Verständnisses der Schöpfungen unseres Dichters empfunden wird, verliert bei der wachsenden Beschäftigung der Mittel- und Süddeutschen mit der norddeutschen Mundart immer mehr seine trennende Kraft, und wer sich erst eingelebt hat in diese herzenswarme und markige Sprache des Mecklenburgers – welch eine Fülle naturwüchsigen Lebens und strotzender Gesundheit findet er hinter diesem anheimelnden Jargon! Es kann nicht die Aufgabe einer Cultur-Literatur, wie der heutigen, sein, den Dialekt wieder in den Vordergrund der literarischen Production zu stellen, aber gerade in einer Zeit der gesellschaftlichen Verflachung, wo die schnörkelhafte Sprache des Salons so viel des Verschrobenen auch in unsere Literatur gebracht hat, ist die Dialektdichtung, zumal wenn sie von einem Berufenen, wie Reuter, gehandhabt wird, ein unschätzbarer Quell der Erfrischung und Verjüngung unseres Schriftthums. Ludwig Walesrode hat diese und die andern Missionen der Reuter’schen Poesie, wie auch den äußern Lebensgang des Dichters bereits in Nr. 36 und 37 des Jahrgangs 1864 der Gartenlaube einer eingehenden Würdigung unterzogen. Wir beschränken uns daher heute darauf, kurz und schlicht auszusprechen, wie auch wir zu dem allzu früh Dahingegangenen – er starb im vierundsechszigsten Lebensjahre – einen wahrhaft volksthümlichen und somit den Bestrebungen unseres Blattes innig verwandten Dichter beklagen. In der nächsten Nummer werden wir einen eingehenden Artikel über Reuter’s Leben, seine letzten Tage und seinen Tod aus der Feder eines seiner Freunde folgen lassen.




Für die Hinterbliebenen des Dichters G. A. Bürger gingen zufolge meiner Aufforderung in Nr. 3 der „Gartenlaube“ dieses Jahres im Ganzen 229 Thlr. 10 Sgr., 46 Gulden und 3 Rubel (darunter 100 Mark für die Molli-Locke) ein. Außerdem erbot sich ein hochherziger Mann, der Wittwe Emil Bürger’s eine lebenslängliche Jahresrente von 120 Thlr. zu entrichten, und von zwei Damen in Zerbst wurde mir für dieselbe zu ihrem dreiundsiebzigsten Geburtstage ein schön gesticktes Ruhekissen in Begleitung sinnvoller Verse zugesandt. Allen Gebern, deren Adresse mir bekannt geworden, habe ich den richtigen Empfang ihrer freundlichen Gaben angezeigt. Den anonymen Einsendern werden auf Wunsch ebenfalls Quittungen zugehen, sobald sie die Güte haben, mir ihre Adressen mitzutheilen. Den Gesammtbetrag der mir zugekommenen Sendungen habe ich dem Fräulein Friederike Bürger in Leipzig übermittelt, welche zu Gunsten ihrer Mutter darüber verfügt und mich ersucht hat, im Namen der Hinterlassenen des Sohnes von G. A. Bürger deren wärmsten Dank auszusprechen.

Steglitz bei Berlin, den 4. Juli 1874.
Adolf Strodtmann.




Kleiner Briefkasten.

L. J. in Schw. Ja, Sie haben Recht, das literarische Richteramt gehört zu den am wenigsten beneidenswerthen Functionen einer Redaction. Das Wort „Undank ist der Welt Lohn“ findet kaum durch irgend etwas eine schlagendere Illustration als durch die meistens sehr unliebsame Aufnahme, welche unseren bei dem Andrang des Dilettantismus allerdings häufig sehr abfälligen kritischen Würdigungen zu Theil wird. Als ein Beispiel aber für die ausnahmsweise Liebenswürdigkeit, welche verständigere Fragesteller unsern Beurtheilungen, selbst wenn sie absprechender Art sind, entgegenbringen, theilen wir Ihnen das nachstehende kleine Antwortgedicht einer Dame mit, von deren Haupt wir den erträumten Lorbeer grausam herabreißen mußten. Die Dame schreibt uns:

 Geehrte Herren Redacteure!

Euch sag’ ich meinen Dank für jedes Wort,
Das Ihr voll Offenheit an mich gerichtet;
Zwar nahmt Ihr mir den Strahl der Hoffnung fort,
Der meinen Lebenspfad bisher gelichtet,

Doch bleibt mir noch der Hoffnung holder Stern,
Der mir schon oft den wärmsten Gruß geboten,
Drum heb’ ich jugendfrisch das Haupt, Ihr Herr’n,
Und gebe nichts verloren als die Todten.

„Behüt’ dich Gott, es hat nicht sollen sein,“
Will heut’ ich mit den Fatalisten sagen,
Vielleicht bewirkt es einst der Sonne Schein,
Daß auch die schwachen Blüthen Früchte tragen.

Das gebe Gott! Und wenn ich nun so frei,
Für guten Rath hier nochmals Dank zu bringen,
So weiß ich’s sicher, Eurer Arzenei
Wird meine Radicalcur auch gelingen.

Mein Kopf ist leicht und unbewölkt mein Blick;
Die Abenddämm’rung macht so Alles linder;
Drum führt sie mich ganz ungebeugt zurück
Von dem Begräbniß – meiner Musenkinder.

 Mit aller Ergebenheit und bestem Dank

 Ida T.…

Es kann nur in äußerst seltenen Ausnahmsfällen unsere Sache sein, literarische Erzeugnisse, welche für unser Blatt nicht aufnahmsfähig sind, zu beurtheilen. Wo aber dieser Kelch nicht an uns vorübergehen kann, da wünschen wir, es möge unsere Kritik stets mit einem so gesunden Humor aufgenommen werden, wie in dem vorliegenden Falle.




Für den

„Deutschen Hülfsverein in Paris“


gingen ferner ein: Concert des Männer-Gesangvereins in Markneukirchen 26 Thlr.; aus Breslau 1 Thlr.; heitere Abendgesellschaft zu Groitzsch 1 Thlr. 17 Ngr.; kleine Gesellschaft in Ostritz 1 Thlr.; S. W. C. Faust in Frankfurt a. O. 1 Thlr.; aus Straßburg i. E. 1 Thlr.; Gr. E. in Erfurt 1 Thlr.; die Eltern von Elsa und Lothar 50 Mark; M. in Herford 1 Thlr.; Advocat Tscharmann in Leipzig, durch Becker u. Comp. 5 Thlr. 10 Ngr., C. P. in A. 3 Thlr. 10 Ngr.; Ph. Krafft in Nürnberg 10 Thlr.; aus Schlüchtern 1 Thlr.; Fräulein Marie und Emmy B….. durch Major von Prittwitz in Berlin 8 Thlr. 20 Ngr.; Eugen R. in Berlin 5 Thlr.; A. F. in Gotha 3 Thlr., aus Jever 2 Thlr.; Fr. in Zweibrücken 10 Thlr.; W. J. in Gelnhausen 5 Thlr.; eine Wittwe mit sechs unerzogenen Kindern 5 Ngr.; G. Nuß in Bochum 1 Thlr.; Mathilde Pape in Buxtehude 2 Thlr. und H. Winter daselbst 8 Thlr.; O. R. in Bremm 1 Thlr.; aus Unter-Rodach 1 Thlr.; J. R. Mocker bei Thorn 4 Thlr.; aus Sonneberg 1 Thlr.; Vortrag von C. Böhme in Gera 2 Thlr.; D. I. in Tübingen 14 Thlr. 8½ Ngr.; Ertrag einer Sammlung durch den Kämmereiverwalter Liebert in Bautzen 48 Thlr.; Max H. Fischer in St. Louis 4 Thlr.; G. in Eisleben 1 Thlr.; Bieresler der Nacht in Alzey 10 Thlr. 8½ Ngr.; Irren ist menschlich 2 Thlr.; die Schlagzeug-Capelle des Café Orlopp in Gera 12 Thlr.; durch F. Ranke in Apolda 1 Thlr.; ein Deutscher in Oldenburg 5 Thlr.; Ap. u. Eb. 3 Thlr.; Josefine Rues in Sulzbach 2 Thlr.; Frau A. Räbel in Berlin 2 Thlr.; F. R. Lange in Manchester 20 Thlr.; Lehrer E. T. in Naumburg 1 Thlr.; Sammlung des Bahnhofspersonals in Meerane 2 Thlr. 4½ Ngr.; Concert des Turnvereins in Grünhainichen 12 Thlr.; Neumühl bei Fürstenfelde 2 Thlr.; zwei Frauen in Freiburg a. U. 2 Thlr.; Benno Binkus 10 Thlr.; Ludwig Jaeger in Freiburg i. Br. 6 Thlr. 20 Ngr.; Fräulein Anna Däumling auf Staten-Island bei New-York, durch Rechtsanwalt H. Blum 5 Thlr.; der Bankverein von Siegmar und Umgegend 25 Thlr.; aus Waldkirchheim 10 fl. rhein.; F. R. in Würzburg 2 fl. rhein.; durch Darstellung der „Nibelungen“ in Alzey 72 fl. 7 kr.; Meta und Rudolf E. in Tetschen 5 fl. öster.; zwei Echt-Deutsche in Finnland (30 Mk.) 10 Thlr.; F. v. S. in S. 3 Rubel; A. M. in Prag 10 fl. öster.; Ed. Kahn in Nebron 1 Dollar Papier.

Gesammtbetrag sämmtlicher Beiträge: 2579 Thlr. 16 Ngr. 3 Pf. – Indem wir unsererseits hiermit die Sammlung schließen, danken wir den Freunden unseres Blattes für die bewiesene rege Betheiligung und bemerken, daß die obengenannte Summe unverkürzt dem deutschen Hülfsverein in Paris übermittelt wurde.

Die Redaction der Gartenlaube.
E. K. 


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Obwohl uns, theils auf unser Ansuchen, theils unaufgefordert, eine Reihe schätzenswerther Arbeiten zur Würdigung Bock’s zugegangen ist, so glauben wir doch Pietätspflichten erfüllen zu müssen, indem wir diesen Beiträgen die Veröffentlichung einer uns schon seit längeren Jahren bekannten selbstbiographischen Skizze des Verstorbenen voranschicken. Wir fügen dem im knappen Bock’schen Styl gehaltenen kleinen Lebensabriß, welcher nur bis in die ersten fünfziger Jahre reicht, eine ausführlichere Fortsetzung desselben aus einer dem Dahingegangenen befreundeten Feder hinzu. Eine Abbildung des Bock’schen Grabmals gedenken wir später folgen zu lassen.
    D. Red.
  2. Das Taschenbuch noch 1864 die fünfte, und der Atlas 1871 die sechste.