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Die Gartenlaube (1876)/Heft 8

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[125]

No. 8.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


„Ach, lasse den Kram doch stecken!“ sagte Henriette ungeduldig. „Glaubst Du, ich bleibe gefälligst hier sitzen und sehe in grenzenloser Langmuth zu, wie Du den weißen Faden aus- und einziehst?“ Sie erhob sich und schob ihren Arm in den der Schwester. „Gehen wir in das Musikzimmer! Margarethe Giese schlägt uns noch das Instrument und die Nerven entzwei, wenn wir der Quälerei nicht ein Ende machen.“

Sie gingen in den anstoßenden Salon, aber die Dame am Clavier, die in ihren eigenen Leistungen schwelgte, blieb unangefochten … Die breite Flügelthür, die in Flora’s Arbeitszimmer führte, stand, wie gewöhnlich an den kleinen Empfangsabenden, weit offen; man konnte das ganze große Zimmer übersehen. Es erschien mit seinem gedämpften Ampellicht fast dämmerig neben den brillant erleuchteten anderen Räumen, und seine dunkle Purpurfarbe nahm in den Ecken ein düsteres Schwarz an.

Flora stand mit nachlässig verschlungenen Händen am Schreibtisch, während der Commerzienrath bequem im nächsten Fauteuil lag, Doctor Bruck aber blätterte stehend in einem Buche. Er sah ungewöhnlich bleich aus; der von oben herabfallende Lampenschein ließ zwei finstere Stirnfalten und einen tiefen Schatten unter seinen Augen scharf hervortreten, und doch erschien sein ausdrucksvoller Kopf merkwürdig jung im Vergleich zu der schönen Braut.

Henriette ging ohne Weiteres hinüber – das Brautpaar war ja nicht allein. – Käthe aber, welche sie mit sich zog, setzte nur zögernd den Fuß auf die Schwelle; Flora’s Mienen stießen sie zurück; es lag etwas Zornmüthiges, Ungeduldiges darin. Sie war offenbar sehr übler Laune. Ihr Blick lief auch sofort mit sarkastischem Ausdruck über die Gestalt der Schwester hin, die heute zum erstenmal das monotone Schwarz der Kleidung mit dem hellen Grau der Halbtrauer vertauscht hatte.

„Komm nur herüber, Käthe!“ rief sie, ohne ihre Stellung zu verändern. „Bist zwar wie gewöhnlich in starrer Seide, siehst aus wie ein papierener Christengel und machst den robustesten Menschen nervös mit dem ewigen Rauschen und Knistern. Sage mir nur um des Himmels willen, warum Du immer diese entsetzlich schweren Stoffe trägst,“ unterbrach sie sich, „die passen doch zu Deinem Küchenamt in Dresden, wie die Faust auf’s Auge.“

„Das ist meine Schwäche, Flora,“ antwortete Käthe ruhig lächelnd. „Es mag schon kindisch sein, aber ich höre so gerne Seide um mich rauschen – es klingt so majestätisch. Bei meinem ‚Küchenamt‘ trage ich sie selbstverständlich nicht, wie Du Dir wohl selbst sagen wirst.“

„Schau, wie stolz sie das ‚Küchenamt‘ zugiebt! Närrisches Ding! Ich möchte Dich einmal sehen in der Leinenschürze hinter rußigen Töpfen. Nun, Jeder nach seinem Geschmack – ich danke.“ Ihre großen grauen Augen richteten sich langsam und lauernd auf das Gesicht des Doctors, der eben ruhig das Buch zuschlug und es auf den Tisch zurücklegte.

Käthe fühlte, wie sich Henriettens kleine Hand auf ihrem Arm zur Faust ballte. „Ach, geh’ doch, Flora!“ rief sie scheinbar heiter und amüsirt; „vor noch fünf Monaten hast Du oft genug zwischen Christel’s Kochtöpfen drunten in der Küche gewirthschaftet – ob gerade geschickt, das will ich nicht behaupten – aber das gutgemeinte Bestreben und die hübsche weiße Latzschürze standen Dir prächtig.“

Flora biß sich auf die Lippen. „Du faselst wie gewöhnlich und bist damals nicht fähig gewesen, eine scherzhafte Anwandlung als das zu nehmen, was sie hat sein sollen – eine kleine Caprice.“ Sie schlug die Arme unter, und den Kopf gedankenvoll gesenkt, ging sie langsam einige Schritte an den Fenstern hin. Sie sah sehr schön aus in der weißen Alpacaschleppe, die ihr lang und weich nachfloß.

Der Commerzienrath sprang auf. „Nun, Flörchen, ist es Dir gefällig, mit hinüber zu kommen?“ fragte er. „Der Salon ist heute zum Verzweifeln leer – aus guten Gründen; es ist ja diplomatische Soirée beim Fürsten,“ beruhigte er sich selbst. „Wir müssen aber ein wenig Leben hineinzubringen suchen, sonst haben wir die Großmama einige Tage verstimmt und schlecht gelaunt.“

„Ich habe mich bereits für eine halbe Stunde noch entschuldigt, Moritz,“ sagte sie ungeduldig. „Ich muß den Artikel, den ich unter der Feder habe, heute noch schließen. „Das Manuscript läge längst fertig da, wenn Bruck nicht dazwischen gekommen wäre.“

Der Doctor war an den Schreibtisch getreten. „Eilt das so sehr? Und weshalb?“ fragte er, nicht ohne einen leisen Anflug von Humor in Gesicht und Stimme.

„Weshalb, mein Freund? Weil ich mein Wort halten will,“ versetzte sie spitz. „Ah, das amüsirt Dich. Es ist allerdings nur Frauenarbeit, und Du begreifst natürlich nicht, wer in aller Welt auf eine solche Bagatelle warten mag.“

[126] „So denke ich nicht über die Frauenarbeit im Allgemeinen –“

„Im Allgemeinen!“ persiflirte sie hart auflachend. „Ach ja, der allgemeine, landläufige Begriff! Kochen, Nähen, Stricken –“ zählte sie an den Fingern her.

„Du hast mich nicht ausreden lassen, Flora,“ sagte er gelassen. „Ich bezog mich ebensowohl auf die geistige Thätigkeit wie auf die Handarbeit. Ich stehe der Frauenfrage durchaus nicht fern und wünsche, wie alle Billigdenkenden, daß die Frau die Mitstrebende, die verständnißvolle Gehülfin des Mannes auch auf geistigem Gebiet werde.“

„Gehülfin? Wie gnädig! Wir wollen aber keine Gnade, mein Freund; wir wollen mehr; wir wollen Gleichstrebende, Gleichberechtigte nach jeder Richtung hin sein.“

Er zuckte die Achseln und lächelte; sein interessantes Gesicht erschien durch dieses Gemisch von leisem Spott und nachsichtiger Milde ungemein beseelt. „Das ist ja die höchste Potenz der modernen Ansprüche und Forderungen, von der sich die Verständigen längst wieder abgewendet haben, und welche die Freunde des Fortschrittes auf staatlichem und religiösem Boden bekämpfen werden, so lange die Frauenwelt Excesse begeht, wie die Bet-Orgien in den Straßen der amerikanischen Städte, so lange sie urtheilslos und fanatisch mit dem schwarzen Heer der Beichtväter zu gehen pflegt. Das hieße ein mörderisches Messer in eine kleine, unvorsichtige Hand drücken.“

Flora erwiderte kein Wort. Sie war marmorweiß geworden. Anscheinend gleichmüthig nahm sie eine Stahlfeder, probirte sie auf dem Daumennagel und steckte sie in den Federhalter. Dann zog sie einen Kasten auf und ergriff mit etwas unsicher tappender Hand einen kleinen Gegenstand.

Henriette riß plötzlich mit einem gewaltsamen Ruck ihren Arm aus dem der Schwester und trat einen Schritt vorwärts, während der Commerzienrath so rasch aus dem Zimmer ging, als habe er etwas zu besorgen vergessen. Käthe erschrak – sie sah, wie die edelgeformten Finger dort leichtbebend nach dem Federmesser griffen und die Spitze der aus dem Kasten genommenen Cigarre abschnitten.

„Auch ein Messer, das wir nicht führen sollen, zu diesem Zweck nämlich,“ sagte Flora mit erzwungenem Scherz halb über die Schulter nach dem Doctor hin, der während des Sprechens einmal im Zimmer auf- und abgegangen war. „Aber merkwürdiger Weise hat unser um acht Loth ärmeres Frauengehirn doch das mit den Herren der Schöpfung gemein, daß es schärfer denkt und angeregter arbeitet – beim Rauchen. Sie brannte die Cigarre an und schob sie zwischen die nervös-lächelnden Lippen.

Die Clavierspielerin im Nebenzimmer hatte längst ihre rauschende Salonpièce geschlossen und traten diesem Augenblick auf die Schwelle des Salons. „Flora, Du rauchst, Du, die den Cigarrenqualm nie ausstehen konnte?“ rief sie und schlug lachend die Hände zusammen.

„Meine Braut scherzt,“ sagte Doctor Bruck vollkommen ruhig. Er trat wieder an den Schreibtisch. „Sie wird es bei diesem einen Versuch bewenden lassen; ein Mehr könnte ihr theuer zu stehen kommen.“

„Willst Du es mir verbieten, Bruck?“ fragte sie in kaltem Ton, aber in ihren Augen glomm ein unheimliches Feuer auf. Sie hatte die Cigarre für einen Moment aus dem Munde genommen und hielt sie zierlich zwischen den Fingern.

Der Doctor schien nur darauf gewartet zu haben. Mit unzerstörbarem Gleichmuth, ohne alle Hast, nahm er ihr die Cigarre aus der Hand und warf sie in den Kamin. „Verbieten, als Dein Verlobter?“ wiederholte er achselzuckend. „Noch steht mir das Recht nicht in dem Maße zu. Ich könnte Dich bitten, aber ich bin kein Freund von Wiederholungen und unnützen Worten; Du hast ja gewußt, daß ich die Cigarre im Frauenmunde verabscheue. In diesem Falle verbiete ich sie einfach als Arzt – Du hast alle Ursache, Deine Lunge zu schonen.“

Flora stand einen Augenblick wie erstarrt vor seiner Kühnheit, und jetzt, bei seinen letzten Worten, durchzuckte es sie sichtlich; aber sie beherrschte sich sofort. „Das ist ja eine haarsträubende Diagnose, Bruck,“ rief sie spöttisch lächelnd. „Und davon hat mir der abscheuliche Medicinalrath, der mich seit meiner Kindheit behandelt, nicht ein Wort gesagt. Ach was, damit schreckt man Kinder! Uebrigens habe ich keine Ursache, das Leben so zu lieben, daß ich mir zu seiner Erhaltung irgend einen Genuß versagen möchte – im Gegentheil. Ich werde nach wie vor rauchen; es ist mir dies bei meinem schriftstellerischen Beruf nöthig, und dieser Beruf ist mein Glück, mein moralischer Halt; in ihm lebe und athme ich –“

„Bis Dich ein unvermeidlicher Wendepunkt Deinem eigentlichen Beruf zuführt,“ warf der Doctor ein. Seine Stimme klang hart wie Stahl.

Ein erschreckendes Roth überflammte ihr Gesicht; sie öffnete die Lippen zu einer schneidigen, rücksichtslosen Antwort, aber ihr Blick fiel auf Fräulein Giese, die Clavierspielerin, das moquante Hoffräulein, das mit spitzem Gesicht und spitzen Schultern vorgeneigt auf der Schwelle stand, als sauge sie mit Ohren und Augen, ja mit allen Poren aus diesem scharfen Wortwechsel und den verlegenen Gesichtern der Umstehenden das Material zu einem vergnüglichen Hofklatsch, und der war nichts weniger als erwünscht. Flora wandte sich plötzlich mit einer graziös schmollenden Bewegung ab. „Ach, geh doch, Bruck!“ schalt sie. „Wie prosaisch! Kommst eben von einer Vergnügungsreise zurück, hast Dich amüsirt –“

Sie verstummte – Bruck hatte mit festem Druck ihr Handgelenk umfaßt. „Willst Du die Freundlichkeit haben, meinen Beruf aus dem Spiel zu lassen, Flora?“ fragte er, seine Worte scharf markirend.

„Ich sprach von Vergnügen,“ antwortete sie impertinent und zog ihre Hand aus der seinen.

Das Gesicht der Präsidentin mit seinem kühlen Ausdruck war Käthe zu allen Zeiten unsympathisch und flößte ihr bei einem unerwarteten Entgegentreten stets eine Art von scheuem Schrecken ein; in diesem Augenblick aber athmete sie freier auf, als die alte Dame plötzlich in das Zimmer trat. Sie kam ungewöhnlich rasch, sichtlich verdrießlich und ärgerlich. „Ich werde wohl künftig meine Spieltische hierher stellen müssen, wenn ich nicht will, daß meine Freunde vernachlässigt werden,“ sagte sie in sehr gereiztem Ton. „Wie kannst Du zu so früher Stunde schon die Theemaschine im Stiche lassen, Henriette? Es wird mir nichts übrig bleiben, als meine Jungfer dahinter zu setzen. Und Dich, Flora, begreife ich nicht, wie Du Dich an den Schreibtisch zurückziehen magst, wenn wir Gäste haben. Wirst Du wirklich von Deinem Verleger so gedrängt, daß Du Abends arbeiten mußt, dann schließe Deine Thür, wenn die Sache nicht sehr nach Ostentation und gelehrter Coquetterie aussehen soll!“ Sie mußte sehr aufgebracht sein, daß sie sich so unumwunden vor einer Dame vom Hofe aussprach.

Flora legte ihr Manuscript zurecht und tauchte die Feder ein. „Beurtheile das, wie es Dir beliebt, Großmama!“ sagte sie kalt. „Ich kann nicht dafür, daß man mich hier aufsucht, und säße längst mit Aufopferung meiner selbst an einem Deiner grünen Tische, wenn man mich nicht gestört hätte.“

Henriette schlüpfte an der Präsidentin vorüber und winkte Käthe verstohlen, ihr zu folgen. „Diese Aufregungen tödten mich,“ flüsterte sie drüben im leeren Musikzimmer.

„Sei ruhig! Flora kämpft vergeblich; er zwingt sie doch zu seinen Füßen,“ sagte Käthe mit eigenthümlich erregter Stimme. „Aber ihn begreife ich nicht. Wäre ich ein Mann wie er –“ sie richtete sich mit flammenden Augen hoch und stolz empor.

„Weißt Du, wie die Liebe thut, Käthe? Richte nicht! Du mit Deinem kühlen Blicke und blumenfrischen Gesichte bist noch unberührt von dem rasenden Rausche, der die Menschenseele erfaßt.“ Sie unterbrach sich und schöpfte tief und mühsam Athem. „Du weißt ja nicht, wie hinreißend und verführerisch Flora sein kann, wenn sie will; Du kennst sie nur in ihrer jetzigen nichtswürdigen Rolle, diese feige, selbstsüchtige, erbarmungslose Seele. Wer sie einmal Liebe gebend gesehen hat, der begreift, daß ein Mann eher den Tod sucht, als daß er sie aufgiebt.“




9.


Sie ging, ihr vernachlässigtes Amt am Theetische wieder aufzunehmen. Käthe aber blieb am Flügel stehen und blätterte in den Noten. Die letzten Worte Henriettens hatten sie tief bewegt. War verschmähte Liebe wirklich so seelenerschütternd, [127] daß man um ihretwillen sterben möchte? Und hatte sie diese tragische Gewalt auch über einen Mann wie Bruck?

Er verließ eben mit festen Schritten Flora’s Zimmer; auch die Präsidentin rauschte eilig vorüber; es hatten sich noch zwei ältere Damen im Salon eingefunden, welche sie begrüßen mußte. Die Thür nach dem Arbeitszimmer blieb nach wie vor offen; jedenfalls wurde der fragliche Artikel consequentermaßen beendet, denn nachdem auch Fräulein von Giese wieder herübergekommen war und sich abermals präludirend an den Flügel gesetzt hatte, wurde es ganz still drüben.

Käthe verfolgte mit einem Seitenblick den Doctor, wie er den Salon durchschritt. Er trat an den Theetisch, um mit Henriette zu sprechen; allein eine der neuangekommenen Damen hielt ihn fest und verwickelte ihn in ein Gespräch. Er war ritterlich verbindlich und sehr ruhig in seinen Geberden, aber Käthe hatte vorhin bei Flora’s malitiöser Antwort eine Flamme in seinen Augen lodern sehen; er hatte jäh die Farbe gewechselt, und auch jetzt noch brannte ein erhöhtes Roth auf seinen Wangen – er war nicht so ruhig heiter, wie er zu sein schien. Und seine schöne Widersacherin drüben im rothen Arbeitszimmer war es ebenso wenig; schon nach fünf Minuten stieß sie hörbar ungeduldig den Stuhl zurück und kam herüber.

„Nun, Flora, schon fertig?“ fragte das Hoffräulein und ließ die unermüdlichen Finger in Terzen über die Tasten laufen.

„Bah, glaubst Du, man schüttelt einen wirksamen Schluß nur so aus dem Aermel? Ich bin eben nicht mehr aufgelegt, und ohne Inspiration schreibe ich nun einmal nicht; dazu ist mir der Schriftstellerberuf zu heilig.“

Fräulein von Giese zwinkerte eigenthümlich boshaft mit den Augen; sie hatte einen falschen Blick. „Ich bin sehr gespannt, wie die Kritik Dein großes Werk ‚Die Frauen‘ aufnehmen wird. Du hast uns so viel davon erzählt. Hat der Verleger es angenommen?“

Flora hatte das Augenspiel wohl bemerkt. „Es wäre Euch schon recht, Ihr treuen Seelen, wenn es Fiasco machte – nicht wahr, Margarethe?“ sagte sie beißend. „Aber das Gaudium erlebt Ihr nicht; das sagt mir mein – nun, mein kleiner Finger.“ Sie lachte leise und übermüthig, schüttelte die duftigen Löckchen aus der Stirn und schickte sich an, den Salon mit jener vornehmen Nachlässigkeit zu betreten, welche sie wie eine stolze Fürstin anzunehmen wußte.

„Kind, Du stehst ja da, mit dem Notenhefte in der Hand, als wolltest Du auch unsere Ohren in Anspruch nehmen,“ sagte sie im Vorübergehen zu Käthe mit spöttischem Tone und einem sprechenden Seitenblicke nach der emsigen Clavierspielerin. „Singst Du denn?“ Käthe schüttelte den Kopf. „Das müßte ein Sommer’s-Erbtheil sein; unsere Familie hat keine Singstimmen.“

„Ja, Flora, Käthe treibt Musik,“ rief der Commerzienrath herüber. Er sprach mit einem Herrn in der Nähe der Thür und trat jetzt näher. „Ich weiß es aus den Rechnungsbelegen der Doctorin. Viel Geld, Käthe! Ich habe es Dir schon sagen wollen: Du hast sehr theure Lehrer.“

Das junge Mädchen lachte. „Die besten, Moritz. Wir in Dresden sind praktische Leute; das Beste ist das Billigste.“

„Nun, mir ist’s schon recht. Hast Du denn aber auch Talent?“ fragte er in zweifelhaftem Tone; „die musikalische Begabung lag allerdings nicht in der Familie Mangold.“

„Den Trieb wenigstens,“ versetzte sie einfach, „und die Neigung, Melodien zu ersinnen.“

Flora, die eben auf die Schwelle des Salons trat, wandte sich überrascht um. „Geh’ doch, Käthe!“ sagte sie hastig. „Melodien ersinnen! Du siehst mir danach aus mit Deinen rothen Backen und Deiner Hausfrauenerziehung. Eine Polka oder ein Walzer läuft wohl Jedem, der gerne tanzt, einmal durch den Kopf –“

„Und ich tanze leidenschaftlich gern, Flora,“ unterbrach Käthe sie heiter und aufrichtig bekennend.

„Siehst Du? Wer wird sich da gleich den Anschein tiefsinniger Productivität geben! Und darauf hin nimmst Du wohl gar Unterricht in der Composition?“

„Ja, seit drei Jahren.“

Flora schlug die Hände zusammen und kam ganz erregt in das Musikzimmer zurück. „Ist denn Deine Lukas,“ – sie nannte die ehemalige Gouvernante immer noch bei ihrem Mädchennamen – „von Sinnen, daß sie das Geld so zum Fenster hinauswirft?“

Es war ziemlich still im anstoßenden Salon. Die drei alten Herren am Kamine und die Dame, welche mit dem Doctor gesprochen, hatten eben auch einen Spieltisch besetzt; Doctor Bruck saß in leisegeführter Unterhaltung neben Henriette, und Fräulein von Giese pausirte aufhorchend für einen Moment; so konnte man jedes Wort dieses ziemlich lauten Gespräches drüben hören.

Henriette sprang auf und kam herüber. „Du bist musikalisch, Käthe,“ fragte sie erstaunt, „und hast, so lange Du da bist, nicht eine Taste berührt?“

„Der Flügel steht neben Flora’s Zimmer; wie konnte ich denn so anmaßend sein, sie mit meinem Clavierspiele im Arbeiten zu stören?“ antwortete das junge Mädchen unbefangen und natürlich. „Ich habe freilich schon den lebhaften Wunsch gehabt, und es hat mir in den Fingern gezuckt, auch einmal auf dem Instrumente hier zu spielen, denn es ist herrlich, und mein Pianino daheim taugt nicht viel. Wir haben es vor fünf Jahren alt gekauft. Die Doctorin will schon seit lange ein besseres von Dir fordern, aber ich war immer dagegen. Es war mir fatal, daß Du von dieser Forderung auf meine Leistungen schließen könntest. Nun aber, nachdem ich heute den bewußten Schrank gesehen habe, bin ich durchaus nicht mehr so blöde; ich wünsche mir ein Instrument wie dieses.“

„Es kostet tausend Thaler; tausend Thaler für eine kleine Mädchenpassion! Das will überlegt sein, Käthe.“

„Und wer im Hause spielt denn auf Eurem Instrumente?“ fragte sie jetzt mit fast harter Stimme und aufglühenden Augen; man sah, sie war im Innersten verletzt. „Wem verschafft es einen Genuß in stillen Stunden? Es steht nur für Gäste da. Muß denn das Capital immer so angelegt sein, daß es nur brillirt?“

Der Commerzienrath trat ihr ganz betroffen näher und erfaßte ihre Hand; er hatte diesen Ausdruck voll Energie und eigener fester Urtheilskraft noch nicht in dem blühenden Mädchenantlitze gesehen. „Ereifere Dich nicht, liebes Kind!“ begütigte er. „Bin ich denn je ein harter und knickeriger Vormund gewesen? Geh’, spiele eine Pièce und beweise uns, daß Dir die Beschäftigung mit der Musik wirklich Herzenssache ist! Mehr verlange ich gar nicht, und Du sollst ein Instrument haben, wie Du es Dir wünschest.“

„Nun, nach dem Vorhergegangenen thue ich’s nicht gern,“ sagte sie aufrichtig und unumwunden und entzog ihm ihre Hand. „‚Erspielen‘ will ich mir den Flügel keinenfalls, wer weiß denn, was für eine Leistung Du unter der ‚Herzenssache‘ verstehst! Aber ich werde meine Noten holen, weil mir das ‚Sichnöthigenlassen‘ verhaßt ist.“

Sie wollte sich entfernen.

„Wozu denn Musikalien? Spiele doch eine Deiner ‚Compositionen‘!“ sagte Flora, ein sardonisches Lächeln halb verbeißend.

„Ich kann auch meine eigenen Arbeiten nicht auswendig,“ antwortete Käthe hinausgehend.

Sie kam sehr rasch mit einem Notenhefte in der Hand zurück. Während sie sich auf den Clavierstuhl setzte, den ihr Fräulein von Giese bereitwillig einräumte, nahm Flora das Heft vom Notenpulte. „Von wem?“ fragte sie, das Titelblatt aufschlagend.

„Nun, hast Du nicht eine Composition von mir zu hören gewünscht?“

„Allerdings, aber Du hast Dich vergriffen – das Tonstück da ist ja gedruckt –“

„Ganz recht. Es ist gedruckt.“

„Mein Gott, wie kommt denn das?“ fuhr Flora so rasch, so naiv erstaunt und betreten heraus, daß sie auf einen Augenblick ihre selbstbewußte Haltung einbüßte.

„Ja, Flörchen, wie kommt es denn, daß Deine Sachen gedruckt werden?“ fragte Käthe scherzend, mit Humor zurück und legte ihre schönen, schlankgebauten Hände auf die Tasten. „Ich will Dir sagen, wie ich zu der Ehre gekommen bin,“ setzte sie schnell und begütigend hinzu – Flora hatte offenbar ihre Antwort sehr übel genommen; sie richtete sich beleidigt empor und sah mit hochmüthigem Blicke auf die junge Schwester herab. „Meine Lehrer haben die ‚Phantasie‘ heimlich drucken lassen, um mir eine Geburtstagsfreude zu machen.“

[128] „Ah so – das konnte man sich denken,“ sagte Flora und legte die Noten auf das Pult zurück.

Henriette war währenddem hinter ihr weggeschlüpft; sie bog sich über Käthe’s Schulter und zeigte mit dem Finger auf das Titelblatt. „Lasse Dir doch nichts weißmachen, Flora!“ rief sie auflachend. „Sieh her! Da steht der berühmte Verlag von Schott und Söhne – die Firma giebt sich doch zu einem Geburtstagsspaße nicht her. Käthe, sage die Wahrheit!“ bat sie mit strahlenden Augen. „Man spielt Deine Sachen draußen in der Welt – sie werden gekauft?“

Das junge Mädchen nickte erröthend und bestätigend mit dem Kopfe. „Die Wahrheit ist aber auch, daß ich um mein eigenes Hinaustreten nicht gewußt und das erste Opus gedruckt auf meinem Geburtstagstische gefunden habe,“ sagte sie und begann ihren Vortrag.

Es war eine ganz einfache Melodie, welche an das Ohr der Hörer schlug, aber schon nach einigen Tacten ließen die am Spieltische Sitzenden die Whistkarten sinken, so sammetweich quollen die Töne aus dem Instrumente, und so durch und durch originell und herzergreifend klang die neue Weise. Die junge Componistin saß da, die Augen ernst sinnig auf die Noten geheftet, in so ruhiger Haltung, daß man das schwarze Jetkreuz auf ihrer Brust unter den Athemzügen beben sehen konnte. Da war kein Brilliren mit Fingerfertigkeit, kein „Wühlen in den Tönen“ – man fragte sich nicht, ob das Spiel correct sei; man dachte überhaupt nicht an das Spiel, so wenig wie man bei einem erschütternden Gesange an die Mundstellung des Sängers denkt, und als die Melodie schwieg, die nicht einmal zum Schlusse in die rauschende Gangart eines modernen Concertstückes verfallen war, da blieb es noch einen Augenblick so athemlos still, als dürfe die entfliehende Tonseele, die eben noch so innig gesprochen, nicht durch lautes Geräusch erschreckt werden. Dann aber wurde es lebendig drüben im Salon. Die Herren riefen „Bravo!“ „Scharmant!“ und „Superbe!“, und die Damen bedauerten, daß der Papa Mangold das nicht erlebt habe. Man war überrascht, gerührt und – griff wieder zu den Karten.

„Die reizende ‚Phantasie‘ müssen Sie mir geben, Fräulein. Ich werde sie der Fürstin vorspielen,“ sagte die Hofdame mit Protectormiene.

„Und den schönsten Concertflügel, der je gebaut worden ist, sollst Du haben, Käthe!“ setzte der Commerzienrath enthusiastisch hinzu.

Henriette aber schmiegte liebkosend ihr blasses Gesicht an die blühende Wange der Schwester und flüsterte mit feuchten Augen: „Du Auserwählte!“

Schon nach den ersten Tönen war Flora wie verscheucht vom Flügel weggetreten und geräuschlos hinausgegangen. Langsam glitt sie drüben im rothen Zimmer hin und wieder, bei jeder herzerschütternden Wandlung der Melodie einen förmlich erschreckten Blick nach dem genialen Mädchen am Clavier werfend, und nun, als der letzte Ton verklungen, war die ruhelos schwebende weiße Gestalt verschwunden; sie hatte sich jedenfalls in die Schreibtischecke am Fenster zurückgezogen.

„Ah, mir scheint, Flora nimmt es übel, daß sie nun nicht mehr die einzige ‚Berühmtheit‘ der Familie Mangold sein wird,“ sagte Fräulein von Giese halb für sich, halb zum Commerzienrath gewendet mit boshaftem Geflüster.

Der Commerzienrath lächelte; er lächelte stets, wenn Jemand vom Hofe vertraulich zu ihm sprach, aber er vermied es, zu antworten.

„Auf Deine Doctorin bin ich übrigens sehr böse, weil sie mir niemals Näheres über Deine musikalische Begabung mitgetheilt hat,“ sagte er zu Käthe, die eben ihren Platz am Flügel verließ.

Sie lachte.

„Bei uns daheim wird überhaupt kein Aufhebens davon gemacht,“ versetzte sie unbefangen. „Die Doctorin ist eine Frau, die mit ihrem endgültigen Urtheil kargt und zurückhält; sie weiß, daß ich noch sehr viel zu lernen habe.“

„Ach, geh’ mir doch! Das ist schon mehr spartanische Erziehung –“

„Oder auch das ausgesuchteste Raffinement, mit welchem man einen großen Erfolg in Scene zu setzen wünscht,“ fiel Flora ein, die eben unter die Thür trat; ihr Gesicht glühte wie im Fieber. „Mir machst Du nicht weiß, Käthe, daß Du so harmlos bescheiden über Dein Talent denkst, daß Du wirklich so wenig Gewicht darauf legst, um bei einem fünftägigen Aufenthalt in unserem Hause gar nicht zu thun, als kenntest Du auch nur eine Note – das ist falsch, hinterlistig gegen mich, gegen uns Alle.“ Der aufquellende Groll erstickte fast ihre schöne, klangreiche Stimme.

„So urtheilst Du, Flora?“ brauste Henriette empört auf. „Du, die nie müde wird, ihre schriftstellerischen Bestrebungen, ihre ‚gelehrten Studien‘ in jedes Gespräch zu ziehen und breitzutreten, die sich in ihrem Bekanntenkreise bereits auf Erfolge stützt, welche noch abzuwarten sind –“

„Henriette, besorge den Thee!“ rief die Präsidentin in scharfem, strengem Tone herüber – man war zu laut im Musikzimmer.

Die Angerufene ging grollend hinaus.

„Du irrst, Flora, wenn Du denkst, ich lege kein Gewicht auf mein Talent,“ sagte Käthe vollkommen ruhig, während die geistesstolze Schwester zornig an der Unterlippe nagte und die Hinausgehende mit einem bitteren Blicke verfolgte. „Dann wäre ich unwahr gegen mich selbst und auch namenlos undankbar, denn es verschafft mir himmlische Stunden. Es ist Zufall, daß ich nicht gleich bei meiner Ankunft darüber gesprochen habe; denn gerade die Musik ist schuld, daß ich einen Monat früher hierher gekommen bin. Mein Lehrer in der Composition mußte auf vier Wochen verreisen, und weil ich dann volle zwei Monate den Unterricht eingebüßt haben würde, entschloß ich mich rasch und verließ Dresden mit ihm zugleich.“

Bei diesen letzten Worten des jungen Mädchens ging Fräulein von Giese in den Salon, sichtlich widerwillig sich losreißend – die Erörterungen waren ja doch zu pikant – aber ihr Vater, ein alter pensionirter Oberst, war eben gekommen; er mußte begrüßt werden, auch der Commerzienrath ging hinaus.

Flora trat wieder an den Flügel und nahm das Notenheft vom Pult. Käthe sah, wie sich der schöne Busen der Schwester unter fliegenden Athemzügen hob, wie ihre Hand in nervöser Aufregung bebte; Käthe bereute bitter die Arglosigkeit, mit der sie das kleine Werk in diesem Kreise vorgeführt hatte.

„Man hat Dir wohl viel Schmeichelhaftes darüber gesagt?“ fragte Flora und schlug mit der umgekehrten Rechten auf das Titelblatt – ihre Augen hingen verzehrend an den Lippen der Schwester.

„Wer denn?“ entgegnete Käthe. Meine Lehrer sind eben so zurückhaltend mit ihrem Lob wie die Doctorin, und Andere wissen nicht um meine Autorschaft; Du siehst doch, der Name des Componisten fehlt.“

„Aber das Werkchen wird viel gekauft?“

Käthe schwieg.

„Sage nur die Wahrheit! Ist es schon mehr als einmal aufgelegt worden?“

„Nun ja.“

Flora warf das Heft auf den Flügel. „Zu solch einem Backfisch mit dem dicken Posaunenengel-Gesicht und der unverkümmerten Seelenruhe kommt der Ruhm im Schlafe, und Andere müssen qualvoll kämpfen um jede Staffel; sie sterben fast im glühenden Ringen und Streben, ehe sie auch nur genannt werden,“ stieß sie bitter heraus. Sie schlug die Arme unter und ging auf und ab.

„Nun, was thut’s im Grunde?“ sagte sie plötzlich stehenbleibend, wie erleichtert. „Die glänzendste Rakete verpufft spurlos droben in der Luft; sie ist dagewesen, während der Feuerkern im Vesuv fort und fort glüht; die Welt weiß um sein Dasein, und wenn er seine Flammen ausstößt, dann jubelt oder zittert das Menschenherz. Ganz gut so, da sind es eben Zwei aus der Familie Mangold, die hinaustreten in die Arena. Wir wolle sehen, Käthe, wer von uns beiden die brillanteste Carriere macht.“

„Ich ganz gewiß nicht,“ rief Käthe heiter und strich sich ein rebellisches Löckchen aus der Stirn. „Ich werde mich hüten, in die Arena zu gehen. Denke ja nicht, daß ich unempfindlich bin gegen Erfolge! Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, zu sehen, daß man mit seinen Schöpfungen die Herzen Anderer rührt und bewegt, und das gäbe ich nicht hin um alle Schätze der Welt.

[129]

Nur eine Meile noch!
Nach einer Photographie des Meyer’schen Oelgemäldes aus dem Verlage der photographischen Gesellschaft in Berlin.

Mein Mütterle, ach, wie bist Du so krank!
Nun bring’ ich Dir Hülfe, Gott sei Dank!

Ich bring’ aus der Stadt die Arzenei,
Die heilt Dich, und bald ist die Angst vorbei.

Wie bin ich so müd’ und verschmachte fast!
An der Bergcapelle halt’ ich Rast.

Der Weg war steil und heiß und lang,
Und so ganz allein wird mir oft bang’.

Doch rast’ ich gewiß nicht länger, als ich
Zum lieben Gott hier bete für Dich.

Nur wenige Stunden – dann bin ich bei Dir. –
So lang’ bleib’ Du, lieber Gott, bei ihr!

 Fr. Hofmann.




Aber blos dafür und deshalb zu leben? Nein, ich sehe daheim zuviel Glück, zuviel beseligendes Zusammensein und Zusammenwirken – was hilft mir der Ruhm, wenn er mich einsam läßt?“

„Aha, da haben wir ja die Bescheerung, die ganze hausbackene Quintessenz deiner Erziehung! Wie es dieses Fräulein Lukas selbst unablässig erstrebt und schließlich durchgesetzt hat, so wirst Du es auch machen – Du willst Dich verheirathen.“ Sie lachte in verletzendem Spott hell und schneidend auf.

Das köstliche Carminroth auf den Wangen des jungen Mädchens breitete sich plötzlich bis an die Haarwurzeln der Stirn; es lief selbst über den schneeweißen runden Hals hinab. „Du lachst und spottest, als sei es Dir nie eingefallen, dasselbe zu thun,“ sagte sie entrüstet, aber mit unwillkürlich gedämpfter Stimme, „und doch –“

Flora streckte so rasch die Hand aus, als wolle sie die schönen Mädchenlippen zupressen. „Bitte, kein Wort weiter!“ rief sie gebieterisch. Sie verschränkte die Arme wieder unter dem Busen und neigte langsam zustimmend den Kopf. „Ja, mein sehr weises Fräulein, ich war allerdings für einen Moment so schwach und verblendet, mir ein Netz überwerfen zu lassen, aber Gott sei Dank, der Kopf ist wieder draußen; er ist klar und stark genug, sich die Freiheit zurück zu erobern.“

„Und hast Du gar kein Gewissen, Flora?“

[130] „Ein sehr empfindliches sogar, mein Schatz; es sagt mir eben, daß es ein unverantwortlicher Leichtsinn gewesen ist, mich selbst so hinzuwerfen. Du wirst bibelfest genug sein, um zu wissen, daß Jeder dafür verantwortlich gemacht wird, wie er sein Pfund verwerthet. Sieh mich an, kannst Du Dir wirklich denken, ich würde zeitlebens als simple Frau Doctorin am Herde stehen und Gemüse kochen? Und für wen?“ Sie neigte den Kopf bezeichnend nach dem Salon, aus welchem jetzt lebhaftes Stimmengeräusch herüberscholl; mit dem Eintritte des alten Obersten von Giese war Leben und Bewegung in die Gesellschaft gekommen, nur Doctor Bruck saß allein am Theetische und las in einer Zeitung; er war scheinbar sehr vertieft und hatte kaum aufgesehen, als Henriette an seine Seite zurückgekehrt war.

„Siehst Du, daß auch nur einer der Herren mit ihm verkehrt?“ fragte Flora mit unterdrückter Stimme. „Er ist geächtet, und mit allem Recht. Er hat mich und die Welt betrogen; sein ihm vorausgegangener brillanter Ruf ist eitel Reclame gewesen.“

Sie brach ab und zog sich rasch in ihr Zimmer zurück, jedenfalls, um dem alten redseligen Obersten aus dem Wege zu gehen, der jetzt in Begleitung seiner Tochter und des Commerzienrathes in das Musikzimmer trat und sich Käthe vorstellen ließ. Auf seine Bitte setzte sich das junge Mädchen noch einmal an das Instrument und spielte. Wunderlich! Mit was für Augen ihr Schwager und Vormund nach ihr hinsah, sobald sie den Blick vom Notenblatte hob, so feurig, so unerklärlich, durchaus nicht so brüderlich vertraut, wie er ihr als Kind die Bonbondüten und gestern noch ein schönes Bouquet aus der Stadt mitgebracht hatte. Sie ließ ihm stets willig die Hand, wenn er sie im Gespräche erfaßte, und litt es, daß er ihr liebkosend die Locken aus der Stirn strich; er that das so harmlos, wie es ihr Vater einst gethan, und jetzt, als sie die Hände von den Tasten sinken ließ, trat er unter dem rauschenden Beifall der Anderen rasch auf sie zu und legte seinen Arm um ihre Schultern.

„Käthe, was ist aus Dir geworden!“ flüsterte er, sich über sie herabbeugend. „Wie erinnerst Du mich an Clotilde, Deine selige Schwester! Aber Du bist schöner, ungleich begabter.“

Sie griff mit der Linken nach dem Arme, um ihn abzustreifen, aber Moritz erfaßte nun auch die Hand und hielt sie mit festem Drucke, als sei es für’s ganze Leben. Für die Anwesenden war das ein hübsches Bild, eine selbstverständliche, harmlose Gruppe. Der Vormund umarmte stolz und hingerissen seine Mündel, das ihm anvertraute Kind seines Schwiegervaters. Nur Henriettens bleiches Gesicht war sehr roth geworden; sie lächelte so eigenthümlich. Doctor Bruck neben ihr sah nach seiner Uhr, dann reichte er Henriette verstohlen die Hand und benutzte die allgemeine Aufregung, um sich unbemerkt zu entfernen.


(Fortsetzung folgt.)




Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Das rothe Quartal.


(März–Mai 1871.)


Von Johannes Scherr.


4. Wer waren sie? Was wollten sie?


Derweil das souveräne Volk am Abend vom 28. März in seine Tavernen schlampampen ging, setzten sich die neuen Souveräne des Souveräns, Messieurs les Citoyens de la Commune, im Festsaale des Stadthauses zum Installirungsbankett. Dabei ging es aber nicht eben heiter her. Denn schon in der ersten Stunde ihres Bestehens erwies sich die Kommune als ein keineswegs kompaktes Ding, und die Gegensätze, welche sie in sich barg, barsten sofort aus. Das konnte gar nicht anders sein, maßen die etlichen sechszig Mitglieder der neuen Regierung von sehr verschiedenen Anschauungen ausgingen und demnach auch verschiedenen Zielen zustrebten. Schon heute brachte es eine bedenkliche Dissonanz in die Festharmonie, daß wenigstens einer der Gewählten, Herr Tirard vom 2. Arrondissement, mit Betonung erklärte, er betrachte sich nur als Mitglied einer Gemeindevertretung von Paris. Diese sei nach seiner Auffassung durchaus nur eine municipale, keine politische Behörde, habe daher auf städtische Angelegenheiten sich zu beschränken und ganz und gar keine Berechtigung, Politik zu treiben.

Man kann sich unschwer vorstellen, wie gerade und scharf diese Anschauung solchen Kommunarden gegen den Strich ging, welche – und sie waren die große Mehrheit – in der Kommune eine politische und zwar hochgradig revolutionäre Maschine erblickten. Sicherlich war die Ansicht Tirards auch die von mehreren seiner Kollegen, aber nur er hatte den vollen Muth seiner Ueberzeugung, indem er, sowie er wahrgenommen, wie wenig Anklang seine Meinung gefunden, sofort das kaum angetretene Mandat niederlegte.

Dieses Vorgehen Tirards zeigte den Ultras, daß sie immerhin noch mit einem gemäßigten, solid bürgerlichen Elemente in Paris zu rechnen haben würden und nicht so ohne weiteres mit den Dogmen eines Blanqui, mit internationalen Phantastereien, socialistischen Schwarbeleien und kommunistischen Räubereien hervortreten dürften.

Das machte die Bankettirer im Hôtel de Ville nachdenklich und das Bankett selber kurz und düster. Beim Hinweggehen soll einer der Festgenossen die Aeußerung gethan haben: „Mit Wein hat die Kommune angehoben; mit Blut wird sie enden.“

Diese Weissagung zu thun ist eben keine große Kunst gewesen. Man brauchte nur die Mehrzahl der Gesellen anzusehen, aus welchen die Kommune zusammensetzt war.

Gewiß müßte man es nicht nur als ungerecht, sondern auch geradezu als stupid bezeichnen, so man leugnen wollte, daß auch Ehrenmänner in der Kommune saßen. Ja, Männer von tadelloser Lebensführung, von nicht gemeinem Wissen und von selbstloser Begeisterung saßen darin. Es gab da Gelehrte, Geschäftsleute, Arbeiter, welche ohne Frage zu den besten Bürgern ihres Landes gehörten. So z. B. der sechsundsiebzigjährige Alterspräsident der Kommune, der Ingenieur Beslay, der Publicist Vermorel, der Jurist Protot, der Arzt Rastoul, der Färbergesell V. Clément, nicht zu verwechseln mit dem wüthenden Fanatiker J. B. Clément.

Aber die Mehrzahl, die Mehrzahl! Sie war der Auswurf der Weltkloake Paris. Winkeladvokaten, Winkelliteraten, Winkelärzte, bankerotte Krämer, weggejagte Kommis, verstickte Studenten, verbummelte Arbeiter, ein Rattenkönig von Unwissenheit, Faulheit, Neid, Dünkel, Größenwahn, Vermessenheit und Begehrlichkeit, ein Katilinariat, wie es im Sallustius steht – das waren die Leute, welchen die Hauptstadt Frankreichs ihr Schicksal anvertraut hatte.

Ein gewiß unverdächtiger und kompetenter Zeuge, der schon mehrfach erwähnte brave Viktor Clément, hat dieser Kommune-Sippschaft ein glühendes Brandmal aufgedrückt. In die Kommune gewählt und zum Maire des 18. Arrondissements ernannt, besuchte der heißrepublikanisch und hochsocialdemokratisch gesinnte, aber ehrliche Färbergesell seinen Meister Hallu im Faubourg Vaugirard. „Nun was halten Sie von der Kommune?“ fragte der Meister. „Was ich davon halte?“ gab Clément zur Antwort. „Ich fürchte, sie ist eine Rotte von Schurken, eine Bande von Jakobinern, die nichts Gutes zustandebringen werden, und ich wollte, ich stände erst wieder in meinen Holzschuhen und an meiner Bütte.“ Dieser wirkliche und wahrhafte, nicht bloß gemalte oder geschriebene Arbeiter, wie deren so viele herumlaufen, ist wohl als der Mensch zu bezeichnen, welcher während des rothen Quartals in Paris das meiste Gute gethan und das meiste Böse verhütet hat.[1]

Zu den gefährlichsten Kommunarden gehörten Pyat, Varlin und Vallès, zu den bösartigsten Assi, Urbain, Billioray und [131] Regère, zu den verrücktesten Lullier und Allix. Der verbissenste, gefrorenste Fanatiker in der ganzen Bande war ohne Zweifel Delescluze. In dem Schreiner Pindy, welchen seine Kollegen zum Gouverneur des Stadthauses machten, verband sich mit dem röthesten Roth ein brutaler Humor. Er war der Mann, lachend zu sagen: „Geht die Sache schief, so spreng’ ich das Stadthaus mitsammt der Kommune in die Luft,“ und er war auch der Mann, zu thun, wie er sagte. Zwei Narren in Folio waren der verlotterte Schulmeister Lefrançais und der vergeckte Mediciner Babick: sie vertraten mitsammen den höchsten und tiefsten Blödsinn der Kommunisterei. Aber die ruchlosesten, verhärtetsten, kältestgrausamen Mitglieder der Kommune sind ohne Frage der verbummelte Buchhalter Theophil Ferré und der verstickte Student Raoul Rigault gewesen. Ferré, der kleine, dürre, knirpsige Kommis, und der aufgeschwemmte, zierbengelige Kneipenläufer Rigault waren von der Revolutionslegende so recht besessen. Der eine hatte sich den Hébert, der andere den Marat zum Muster und Vorbild genommen. Im Sprechen äfften sie den Hyperbelbombast von Danton nach. Insbesondere that dies Rigault, dessen namenlose Eitelkeit sich darin gefiel, mit seinem Atheismus und Maratismus staatzumachen und zu renommiren. „Wenn ich für vierundzwanzig Stunden Polizeipräfekt wäre“ – pflegte er zu sagen – „so würde es mein erstes Geschäft sein, einen Verhaftsbefehl gegen den Herrgott zu erlassen, und wenn er sich nicht finden ließe, würde ich ihn zum Tode verurtheilen und in effigie hinrichten lassen.“ Ein andermal ließ er sich vernehmen: „Ich habe eine wichtige Erfindung gemacht und will, wo möglich, ein Patent darauf nehmen. Meine Erfindung beseitigt die Guillotine. Diese ist zwar ganz ehrenwerth, aber sie ist, wie ja schon der selige Bürger Carrier meinte, zu langsam. Man muß veraltete Einrichtungen dem Fortschritt zu opfern und aus der Wissenschaft Vortheil zu ziehen wissen. Die Guillotine hat ihre Zeit gehabt. Das Ding ist veraltet. Ich habe eine elektrische Batterie konstruirt. Die arbeitet sicher, sauber, schnell und geräuschlos. Sie kann, wenn es euch beliebt, 500 Reaktionäre mit einem Schlag vernichten.“ Ein frommer Mann würde es eine Ironie Satans nennen, daß dieser Mensch wirklich seinen Wunsch, Herr in der Polizeipräfektur zu werden, erfüllt sah. Ich für meinen Theil sage nur, daß in Frankreich nichts unmöglich. Es ist auch nicht verwunderlich, daß die Jakobiner von 1871, sobald sie zur Macht gelangten, als die ärgsten Tyrannen auftraten: sie waren ja die Affen der Jakobiner von 1793. Ganz in der Ordnung also, daß diese „Freiheitshelden“ mit höchster Erbitterung auch die Pressefreiheit verfolgten. So namentlich Rigault. Als er eines Tages einen Journalisten hatte verhaften lassen, ging ein Kollege desselben zu ihm, um die Freilassung des Gefangenen zu erbitten. Im Verlaufe des Gespräches sagte der Bittsteller:

„Man scheint dermalen die Freiheit der Presse gering zu achten.“

Worauf Rigault: „Freiheit der Presse? Kenne das nicht.“

„Sie wollen nichts davon wissen? Aber Sie haben ja dieselbe früher täglich gefordert.“

„Ja, das war eben zur Zeit Badinguets (Napoleons III.). Ueberdies hab’ ich für meine Person zum voraus erklärt, daß wir nun und nimmer eine gegnerische Presse dulden würden, wenn wir einmal die Stärkeren wären. Wir sind es jetzt, und folglich dulden wir keine oppositionelle Presse.“

Es fehlte nur noch, daß dieser Marat von 1871 sagte: „La presse c’est moi.“ Das wäre eine zeit- und ortsgemäße Variation des alten Despotenwortes von Ludwig dem Vierzehnten gewesen.

Wenn bei Burschen wie Ferré und Rigault der Fanatiker nur eine leichte Maskirung des Bösewichtes war, so stellte sich dagegen in der Person von Gustav Flourens der Typus des Erzphantasten dar. Sohn eines bekannten Gelehrten und selber wissenschaftlich durchgebildet, hatte Flourens seinem Wissen nie den geringsten Einfluß auf die Phantasmen gestattet, worin er von jugendauf lebte und webte. Gut und großmüthig von Natur, wie vor ihm der ihm geistesverwandte Armand Barbès gewesen, war der junge Mann ebenfalls ein Opfer des Revolutionsmythus geworden, so sehr, daß sich in seinem Gehirne die Idee fixirte, man müßte Revolution machen um der Revolution willen. Zu fragen, was denn am Ende aller Enden aus dieser Revolution in Permanenz werden sollte, fiel ihm natürlich nicht ein. Er wäre ja sonst nicht gewesen, was er war, ein richtiger Wolkenkukuksheimer, ein enthusiastischer Bürger von Utopia.

Sieht man von diesen und den übrigen schon früher namhaft gemachten Ausnahmen ab, bei welchen der Wahnwitz wenigstens nur auf irregeleiteter Begeisterung und chaotischer Begriffeverwirrung, nicht aber auf den selbstsüchtigen Berechnungen der Eitelkeit, der Ehrsucht, der Gaunerei und Schurkerei beruhte, so ist man vollständig berechtigt, die anderen Mitglieder der Kommune als traurige Produkte der rohmaterialistischen Anschauungs- und Denkweise unserer Zeit zu bezeichnen. Auch diese Narren und Verbrecher sind echte Priester der Mammonsreligion des Jahrhunderts, nur in anderer Form als unsere Geldkönige und Börsenfürsten, welche den Schweiß und das Mark der Völker in ihren Kassen ansammeln und durch ihre übermüthige Prozerei den Neid und Groll der vom Bankette des Lebens Ausgeschlossenen herausfordern. Als einer dieser Könige, James Rothschild, in Paris vor etlichen Jahren starb, hinterließ er seinen Söhnen 1600 Millionen oder mehr. Und zu denken, daß zu solchem ungeheuerlichen, man möchte sagen sündhaften Reichthum einer Familie jene „Blutgelder“ den Grund gelegt haben, wofür die hessenkasseler „Landesväter“ Karl der Erste, Wilhelm der Achte, Friedrich der Zweite und Wilhelm der Neunte ihre armen „Landeskinder“ zu Tausenden und wieder Tausenden an verschiedene kriegführende Potentaten verschacherten, so recht en gros der letztgenannte an die Engländer während des Unabhängigkeitskampfes der Amerikaner! Dieser Familienschatz, an welchem mehr Flüche hafteten als an dem Nibelungenhort, ist dann zur napoleonischen Zeit dem alten Amschel, dem Begründer der Dynastie Rothschild, zum „aufheben“ gegeben worden und der alte Amschel wußte damit so geschickt zu jobbern, daß schon sein Sohn der Großmeister der europäischen Jobberei, der eigentliche Kohen hagadol (Hohepriester) im Tempel Mammonis war.

Auf unserer Zeit liegt das grausame Verhängniß, die gesellschaftlichen Gegensätze immer schärfer zuzuspitzen, den Abgrund zwischen Reich und Arm, zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig immer breiter und tiefer zu machen. Schon einen Blick in diesen Abgrund thut, wer die pariser Kommunewirthschaft von 1871 betrachtet. Seht immerhin hinunter, ihr, die ihr zu sehen, zu fühlen und zu denken wagt. Aus der finsteren Tiefe starrt euch das rothe Drachenhaupt der socialen Frage entgegen, nicht wahr? Ihr kehrt euch schaudernd ab und eure zagende Seele überfröstelt die Angst, daß eines Tages der Drache dem Abgrund entsteigen und Ströme von Wuth und Glut und Blut über die Erde hinhauchen könnte. Ja, euch und alle nicht Gedankenlose schauert die Ahnung an vom Kommen der großen Wehestunde, wann die empörte Arbeit, eine rachewüthige Krimhild, dem grimmen Hagen Kapital den Goldhelm mitsammt dem Haupte herunterschlagen und die sociale Götterdämmerung alle ihre Schrecken loslassen wird ….

Am 29. März erfolgte die Konstituirung der Kommune. Sie bestellte einen Vorstand, welcher wöchentlich wechseln sollte, und den ersten Wochenvorstand bildeten die Bürger Lefrançais als Vorsitzender, Bergeret und Duval als Beisitzer, Rigault und Ferré als Schriftführer. Dann theilte sich die Kommune in zehn Kommissionen, welche die verschiedenen Zweige der Civil- und Militärverwaltung nach Art der früheren Ministerien besorgen sollten. Es gab z. B. eine Finanzkommission, in welcher der Student Jourde, ein geborenes Finanztalent, die Hauptrolle spielte; eine Kriegskommission, wo sich die Bürger Eudes, Bergeret, Flourens, Cluseret, Rossel, Delescluze an der ersten Stelle ablösten; eine Sicherheitskommission, welche die Funktionen der bisherigen Polizeipräfektur übernahm und worin die Bürger Assi, Ferré und Rigault herrschten. Der letztere hatte sich übrigens schon am 20. März in der Polizeipräfektur installirt und der Gewalten des verjagten Polizeipräfekten sich bemächtigt. Später wärmte man für ihn das Amt und den Titel eines „Procureur de la Commune“ von 1792 wieder auf. Göttin der Gerechtigkeit, du hast dir schon allerhand Priester gefallen lassen müssen, aber ein solches Exemplar wie den Bürger Rigault wohl selten. Das war so ein Wächter der öffentlichen Sicherheit, wie der Bürger Jules Vallès, welcher das Dictum von sich gab, Homer sei nur „ein alter Schafskopf“ gewesen, eine Art von Unterrichtsminister war.

[132] Die Rede, womit der alte Beslay die erste Sitzung der Kommune schloß und worin er die Losung ausgab: „Friede und Arbeit!“ schien eine Gewähr zu bieten, daß Verstand und Mäßigung in der Versammlung obenauf seien. Aber es ging hier, wie es bei derartigen Vorkommnissen immer und überall zu gehen pflegt. Je rascher die Dinge in Fluß und Schuß kamen, desto lauter und gewaltthätiger machten sich die Leidenschaften geltend und drängten die verständige Erwägung mehr und mehr beiseite. Bald mußten die Besonnenen und Gemäßigten erkennen, daß sie gegenüber den Ueberspannten und Wüthenden in machtloser Minderheit sich befänden, und so blieb von ihnen einer nach dem andern aus den Sitzungen der Kommune weg.

Auch die Ultras, welche jedoch die herrschende Mehrheit ausmachten, stimmten nicht einmal im Princip überein. Sie zerfielen in Jakobiner und Kommunisten. Die einen bekannten sich zum Sankt Jakob von 1793 und wollten eine Republik à la Saint-Just und Robespierre, jedoch mit Beseitigung der Centralisation, was doch ein Widerspruch in sich selbst war; die anderen ließen die Republik nur gelten als die Basis, auf welcher sie nach dem Bauplan der Internationale den kommunistischen Proletarierstaat aufrichten wollten. Die beiden Fraktionen hielten sich bis zuletzt in der Kommune die Wage, und so ist es gekommen, daß auch dieser kreißende Berg nur eine Maus gebar, d. h. daß die Kommune ein positiv-revolutionäres Resultat gar nicht erzielte, daß sie sich politisch, social und volkswirthschaftlich als durchaus unfruchtbar erwies, daß sie nur alles, was sie erreichen konnte, zu zerstören, lediglich aber nichts, gar nichts zu schaffen vermochte. Tiefbeschämend für die Menschheit ist es, daß einer Rotte von so mittelmäßigen Köpfen, von so ordinären Gesellen so viel Unheil anzurichten gestattet war. Was man auch thun mag, das Phänomen des rothen Quartals von 1871 zu erklären, immer ist und bleibt die Möglichkeit des Phänomens eins der traurigsten Armuthszeugnisse, welche das Menschengeschlecht sich ausgestellt hat.

Die Kommune regierte ohne Programm, wenn man nicht etwa für ein solches gelten lassen will ein an das „Volk von Frankreich“ erst am 19. April erlassenes Manifest, ein Aktenstück, womit der ganzen Geschichte des Landes brutal in’s Gesicht geschlagen wurde. Das Manifest verlangte eine bis zum Aeußersten gehende Decentralisation. Die französische Republik, wollten die Herren Kommunarden, sollte bestehen aus so vielen Kommunen, als Frankreich Ortschaften besäße, und diese Gemeindefreiheit sollte nur beschränkt sein durch die Gleichberechtigung der Gemeinden, welche mittels Vertrags zu einer staatlichen Einheit zusammentreten würden.

Etwas Unfranzösischeres als diese bis zum äußersten Extrem, geradezu bis zur Pulverisirung getriebene Zerstückelung des Staatskörpers ließe sich kaum aussinnen. Jeder Wissende kennt die mancherlei und großen Schäden, welche für das französische Volk aus der maßlosen Centralisation erwachsen sind. Aber jeder Wissende weiß auch, daß eine solche Centralisation dem Gallierthum im Blute lag und liegt und daß demzufolge die gesammte geschichtliche Entwickelung Frankreichs folgerichtig darauf hingearbeitet hat. Das Gute und Vortheilhafte, welches der Centralisation doch immerhin auch zu eigen, beibehalten, das Schlechte und Schädliche derselben allmälig ausscheiden das wäre patriotisch und staatsmännisch gehandelt. Aber von heute auf morgen die Genesis des Staates verneinen, den ganzen Staatsorganismus auf den Kopf stellen und dem Franzosenthum dekretiren wollen, aus seiner Haut zu fahren, das war offenbarer Wahnsinn. Der einzige originelle Anlauf also, welchen die Kommune nahm, mußte sie von rechtswegen ins Narrenhaus führen.

Von der Gelegenheitsgesetzgebung der Herren vom Stadthause zu reden, ist nicht der Mühe werth. Dergleichen Akte, wie z. B. das zu Gunsten der Schuldner erlassene Wechsel- und Miethegesetz, gehörten zu den Nothbehelfen einer Regierung, die von der Hand in den Mund lebte. Um sich einen sittlichen Firniß zu geben, verbot die Kommune alle Arten von Hazardspielen und in einem Anfall von kommunistischen, d. h. die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung für nichts achtendem Weltbeglückungseifer verbot sie den Bäckern, bei nachtschlafender Weile Teig zu kneten und Brot zu backen. Der „Delegirte beim Unterrichtswesen“, Bürger Vaillant, auf deutschen Hochschulen gebildet, gab sich viele Mühe, Schulorganisationspläne, die an und für sich gar nicht übel waren, zu entwerfen, die aber natürlich Papier blieben. Auf die Anregung von Pyat wird das vom 3. April datirte Dekret der Kommune zurückgeführt, welches die Trennung der Kirche vom Staat aussprach, die Staatsausgaben für den Kultus unterdrückte und die sämmtlichen beweglichen und unbeweglichen Güter der Klöster und Kongregationen konfiscirte und als Nationaleigenthum erklärte. Dieses Gesetz gelangte, soweit die Zeit reichte, zur Ausführung.

Die Finanzen der Kommune wurden vom Bürger Jourde ebenso geschickt als gewissenhaft verwaltet, wie denn dieser junge Mann sicherlich auch durch persönliche Ehrenhaftigkeit unter seinen Kollegen hervorragte. Die tägliche Ausgabe betrug etwa 800,000 Franken. Gedeckt wurde dieser Bedarf durch die Accise, die Tabaksregie, die Stempelgebühren, die Zwangsanleihen bei den Eisenbahngesellschaften und bei der Bank von Frankreich. Beraubt wurde diese nicht, weil sich namentlich Jourde und Beslay dem Raube energisch widersetzten, dagegen tüchtig angezapft. Es darf gewiß als ein finanzpolitisches Kuriosum ohnegleichen bezeichnet werden, daß die Bank von Frankreich – mit Vorwissen und Beistimmung von Monsieur Thiers – in den letzten Tagen der Kommune förmlich den Kassirer derselben machte und ihr Tag für Tag 800,000 Fr. ausbezahlte. Die Bezüge der Beamten waren übrigens sehr mäßige. Am 2. April wurde dekretirt, daß die höchste Jahresbesoldung eines Gemeindebeamten auf 6000 Fr. fixirt sein solle. Die Mitglieder der Kommune bezogen ein Taggeld von 15 Fr., weiter nichts. Ein Obergeneral erhielt 16 Fr. Taggeld, ein Nationalgardist 1½ Fr. und die Verköstigung. Daß die Kommunarden in sybaritischen Bakchanalien und babylonischen Orgien geschwelgt hätten, ist Verleumdung. Jourde hat nachmals vor dem Kriegsgerichte in Versailles die Gesammtausgabe der Kommune auf 53 Millionen angeschlagen, und es war ihm auf’s Wort zu glauben.

Wie das rothe Quartal erst verständlich wird, wenn man die während des zweiten Empire aufgekommene, von den Tuilerien beschützte und von der Börse gehätschelte, so recht aus „boue de Paris“ geknetete Literatur kennt, diese Literatur der bronzestirnigen Gemeinheit, der brutalen Selbstsucht und des triumphirenden Lasters, aus welcher ja die Kommunarden wohl den Schluß ziehen durften, eine solche Gesellschaft sei nur der Vernichtung werth, – so muß man die Kommune-Literatur, diese zahlreich wie Brennnesseln und Giftpilze aufgeschossenen Journale durchmustern, um so recht zu erfahren, welche Hefe wilder Instinkte und wüthender Leidenschaften damals in Paris brodelte und gohr. Unduldsam und gewaltthätig, wie die rothen Komödianten von 1793 gewesen, waren auch durchweg ihre Affen von 1871. Nur ihre eigenen Stimmen wollten sie hören, und so wurde jede abweichende Meinung und Meinungsäußerung geächtet. Diese Freiheitsheuchler waren fanatische Pfaffen der Tyrannei. Was nicht für sie war, sollte gar nicht sein. Die Presse, welche nicht aus der kommunistischen Tonart schrieb, wurde gewaltsam unterdrückt. Nicht etwa nur die monarchischen Blätter mußten verstummen, sondern auch die republikanischen. Nicht etwa nur der bonapartistische „Gaulois“ oder die orleanistische „Revue des deux mondes“, sondern ebenso der republikanische „Siècle“. An der Stelle der weggefegten anständigen Journalistik machte sich eine wirkliche und wahrhafte Canaille-Presse schamlos breit. Das lumpigste literarische Zigeunerthum von Paris kam aus seinen Schlupfwinkeln hervor und tanzte auf den Straßen seine journalistische Carmagnole. Auch hierin, wie in anderem, um nicht zu sagen in allem, wurden die wüstesten Erinnerungen der ersten Revolution wieder aufgewärmt. Da konnte es nicht fehlen, daß auch Hébert’s blut- und schmutztriefendes Journal „Le père Duchêne“ wieder erstand. Und dieses von Vermersch redigirte Blatt verkaufte täglich 70,000 Exemplare und brachte seinen Schmierfinken Tag für Tag 1000 Franken Nettoprofit. Wollt ihr mit eigenen Augen sehen, was für obscöne und mordlustige Sprünge die Menschenbestie in dem Paris des rothen Quartals machte, so nehmt diese oder jede Nummer vom „Vater Duchêne“ zur Hand. Aber zieht zuvor, ich bitt’ euch, Handschuhe an und verbindet euch die Nasen!




[133]
Ein französischer Caspar Hauser.


Von E. Laur.


Die bekannte Frage: wie viel Steine bilden einen Haufen? lautet in einer französischen Umwandlung: wie viel Thoren gehören dazu, um ein „Publicum“ auszumachen? Und weil das Publicum zum allergrößten Theile aus einer Menge besteht, welche von Unparteilichkeit nichts weiß, nicht durch Gründe sich bestimmen läßt, so sprechen wir mit Recht nur selten von dem öffentlichen Urtheil, gewöhnlich aber von der öffentlichen Meinung und haben vor derselben, wenngleich sie als sechste Großmacht auf Berücksichtigung entschieden Anspruch machen kann, doch im Grunde genommen wenig Achtung. Und dies ist natürlich, denn es fehlt der öffentlichen Meinung das wichtigste charakteristische Merkmal einer Großmacht: die Unabhängigkeit. Sie ist abhängig von der Mode, der herrschenden Stimmung, dem ersten Eindrucke. Napoleon der Erste definirte sie, als er bereits fern von Paris Zeit hatte, darüber nachzudenken, am 18. November 1815 im Memorial also: „Die öffentliche Meinung ist eine unsichtbare, geheimnißvolle Macht, welcher nichts zu widerstehen vermag; nichts ist beweglicher, unbestimmter, stärker, launischer.“ Wir können, glaube ich, hinzusetzen: nichts ist so schwer zu leiten und so leicht irre zu führen.

In den jüngsten Monaten spukte wieder einmal die Caspar Hauser-Geschichte. Mit Bezug auf diesen räthselhaften Findling hatte sich mit Hülfe der öffentlichen Meinung eine Legende gebildet, wie dergleichen Sagen immer entstehen.

Die Geschichte von dem Nürnberger Findling war nichts Anderes, als die neue Titelausgabe eines Vorganges, welcher vor hundert Jahren die öffentliche Meinung und die Gerichte beschäftigt hat. Auch damals ist für die Zugehörigkeit des Knaben zu einer vornehmen Familie ein Mann in die Schranken getreten, welcher sonst nicht nur über jeden Verdacht der Unehrenhaftigkeit erhaben ist, sondern allezeit als wahrer Menschenfreund, ja Wohlthäter der Menschheit wird gepriesen werden: es ist der Abbé de L’Epée, geboren in demselben Jahre wie Jean-Jacques Rousseau, gestorben in dem Jahre der Eroberung der Bastille, er, welcher den taubstumm Geborenen lehrte, das Auge als Ohr und die Hand als Zunge zu gebrauchen.

Am 1. August 1773, Abends zehn Uhr, wird zu Cuvilly in der Picardie auf der Landstraße ein taubstummer Knabe gefunden. Er ist bedeckt mit schmutzigen Lumpen, völlig abgemattet und ausgehungert. Nach dem einen Berichte wird er von einer Frau Poulin, nach dem andern von dem Steuerbeamten Leroux aufgenommen und beherbergt, auch sorgfältig gepflegt. Von dieser Thatsache unterrichtet, giebt der Polizeigenerallieutenant von Sartines in Paris den Befehl, den Knaben in der öffentlichen Anstalt zu Bicêtre unterzubringen. Dies geschieht am 2. September 1773. Im Juni des folgenden Jahres erkrankt das Kind und wird nach dem Hôtel Dieu in Paris gebracht. Hier ist es bereits seit acht Monaten, als eines Tages der Abbé de l’Epée bei einem zufälligen Besuche des Hospitals auf den Knaben aufmerksam gemacht wird, ohne hierdurch zu besonderem Antheil an dem Geschick des Kleinen bewogen zu werden. Er hatte mit den in seiner Obhut und Pflege befindlichen beklagenswerthen Kindern vollauf zu thun, sodaß seine Einkünfte kaum ausreichten, die ihm anvertrauten taubstummen Zöglinge zu erhalten. Nach einiger Zeit führt den Abbé ein Geschäft wieder in das Hôtel Dieu, und diesmal bittet ihn eine Nonne, sich des armen Findlings anzunehmen, dessen Loos um so mehr Theilnahme verdiene, als er, nach verschiedenen Aeußerlichkeiten zu schließen, offenbar nicht den unteren Classen des Volkes angehöre.

Hierdurch wird das Interesse des berühmten Lehrers der Taubstummen rege. Der Knabe wird herbeigeholt, und nun – so berichtet der Abbé selbst – giebt er auf Befragen durch Zeichen zu verstehen, daß er einer angesehenen und reichen Familie angehöre, daß sein Vater gehinkt habe und gestorben sei, daß seine Mutter als Wittwe mit vier Kindern hinterblieben, nämlich außer ihm mit drei Töchtern, von denen zwei älter, eine jünger als er selbst sei; die Mutter habe Bänder und schöne Kleider, auch eine Uhr getragen, in einem großen Hause gewohnt und mehrere Diener gehabt, auch er sei stets bedient worden; an das Haus habe ein großer Garten gestoßen, welcher unter eines Gärtners Obhut gewesen, viel Früchte gebracht habe und während des Winters sorgfältig geschützt worden sei. Einmal sei er, der Knabe, mit einem Reiter auf ein Pferd gesetzt worden und habe eine Art Schleier vor das Gesicht bekommen, dann habe man ihn weit weggeführt und schließlich verlassen. Doch wußte der Knabe nicht anzugeben, aus welcher Himmelsrichtung er gekommen, auch nicht ob er Franzose oder im Auslande geboren sei.

Der Abbé berichtet nicht, in welcher Weise ihm gelungen, mit dem Kinde sich zu verständigen. Er selbst hatte zwar bereits seit 1755 eine Unterrichtsanstalt für Taubstumme gegründet und, soweit seine Privatmittel reichten, auch unterhalten. Unter den von ihm erzogenen Schützlingen war der Findling nicht gewesen. Die erste Schrift über den Unterricht der Taubstummen war erst 1774 erschienen. Mithin konnte der seit September 1773 im Hôtel Dieu befindliche Knabe auch nicht von Anderen in der Bildung so weit gebracht worden sein, um über all das oben Mitgetheilte mit einem Fremden sich zu verständigen. Trotzdem stellt der Abbé de l’Epée aus den angeblichen Eröffnungen des Knaben einen Bericht zusammen und überreicht diesen dem Kriegsminister Graf von Saint-Germain. Bei dem Ansehen, welches der ausgezeichnete Menschenfreund genoß, war es nur natürlich, daß sofort sämmtliche Gensd’armen des Königreichs (welche bis zum Anfange der Revolution den Namen la maré-chaussée führten) unter Zusicherung reicher Prämien beauftragt wurden, Nachforschungen nach dem Ursprunge des Kindes anzustellen. Die Zeitungen, so viel es deren gab, und die Erzählungen der Gensd’armen trugen zur Verbreitung jener Thatsachen das Mögliche bei, aber Alles blieb ohne Erfolg.

Da erschien im März 1776, also nach Verlauf von etwa zwei Jahren, im Hôtel Dieu ein Unbekannter, welcher den noch immer hier verpflegten Taubstummen zu sehen wünschte. Man willfahrte seiner Bitte. Er sah den Knaben verächtlich an, so verächtlich, daß dieser in Thränen ausbrach, und sagte: „Der ist es nicht.“ Als ihm erwidert wurde, dies sei allerdings der taubstumme Findling, antwortete der Fremde: „Ich weiß wohl, was ich sage,“ und entfernte sich ohne Weiteres.

Zwei Stunden darauf ließ ein junges Mädchen, welches wegen einer Wunde seit mehreren Monaten im Hospital behandelt wurde, den Knaben sich zeigen und versicherte sogleich, sie kenne ihn und seine Familie ganz genau; er heiße Louis Le Duc und sei der Sohn von Louis Le Duc, welcher in Saint-Michel (Lothringen) eine Waschanstalt habe. Sie betheuerte unter hohen Schwüren die Richtigkeit des Gesagten und schlug vor, an den Pfarrer, den Vicar und den Polizeibeamten in Saint-Michel zu schreiben; sie würden gewiß ihre Angabe bestätigen. Eine hierauf bezügliche Anfrage des Abbé de l’Epée wurde übereinstimmend dahin beantwortet, man könne sich auf das Mädchen verlassen, sie müsse den Knaben und alle Verwandten desselben genau kennen, da sie Jahre lang dem Hause Le Duc’s gegenüber gewohnt habe und oft dort aus- und eingegangen sei.

Noch bevor die Rückäußerung aus Saint-Michel eingetroffen war, hatte de l’Epée den Knaben aus dem Hôtel-Dieu in seine Privatanstalt übernommen, weil er ein Attentat auf denselben befürchtete. Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, daß der wirkliche Louis Le Duc, geboren am 11. Februar 1764, im März 1774 in das Pariser Hôtel-Dieu gekommen, noch an demselben Tage nach dem Hospital la Pitié übergeführt, am 28. März desselben Jahres nach Bicêtre gebracht worden und hier am 19. Januar 1775 gestorben sei. Sonach konnte der jetzt noch Lebende mit jenem Lothringer Kinde nicht identisch sein. – Am 5. Juni 1776 erhielt der Abbé de l’Epée ein Schreiben von Madame de Hauteserre, welche berichtete, daß sie alljährlich acht Monate in Toulouse zubringe. Anfangs 1773 habe sie bei der Gräfin de Sollar (oder Solar) eine Wohnung gemiethet, unter deren Fenstern ein ausgedehnter Garten liege. Frau de Sollar habe damals eine Tochter von vierzehn Jahren und einen taubstummen Sohn von etwa zwölf bis dreizehn Jahren gehabt. „Dieser,“ so heißt es in dem Briefe weiter, „hatte blonde [134] Haare und Augenbrauen, blaue, ein wenig in’s Graue spielende Augen, längliches, mageres Gesicht, frische Farben, feingeformte Nase, großen Mund, die Zähne unregelmäßig, namentlich einen Doppelzahn, und war von überraschender geistiger Begabung. Er reiste Anfangs August 1773 in Begleitung eines jungen Mannes von Toulouse ab, angeblich um in dem Badeorte Bagnères Heilung für seine Taubheit zu suchen, war aber seitdem nicht wieder gesehen worden. Seine Mutter starb im November oder December 1773; seine Schwester befindet sich zur Zeit in einem Kloster zu Toulouse.“

Der Taubstummenlehrer wurde betroffen von der auffallenden Aehnlichkeit dieses Signalements mit dem seines Schützlings, besonders wenn man die während dreier Jahre nothwendig eingetretenen Aenderungen in Anrechnung brachte. Die Zähne allerdings standen jetzt regelmäßig, aber dies erklärte sich daraus, daß der Doppelzahn des Knaben entfernt worden; der Mund freilich erschien weder groß noch klein, doch dies konnte nicht Wunder nehmen: bei mageren Gesichtern zeigt der Mund sich größer, jetzt aber war der Knabe wohlgenährt und hatte nicht mehr ein längliches und mageres, sondern ein volles regelmäßiges Gesicht.

Trotz alledem verbleibt der Abbé in Unthätigkeit mit Bezug auf die Nachforschungen nach der Herkunft seines Schützlings und klagt sich selbst der Nachlässigkeit deshalb an, entschuldigt dieselbe jedoch einigermaßen dadurch, daß er eine neue Falle fürchtete, wie diejenige, durch welche der Knabe für Louis Le Duc erklärt werden sollte. Auch hatte er von dem Steuerbeamten Leroux Nachrichten erhalten, wonach das Kind aus Lüttich oder Namur stamme. Zwei Bauern nämlich aus Orvillé hatten Folgendes bekundet: am 17. oder 18. Juli 1773 war der eine von ihnen beim Einbruche der Nacht von zwei Bettlern um Herberge angegangen worden. Einer der Bettelnden war taubstumm. Man ließ sie in einem Stalle nächtigen. Dieser wurde am nächsten Morgen offen gefunden, der größere der Bettler war verschwunden, der kleinere – der taubstumme – allein zurückgeblieben. Ihn hatte der Bauer, bei welchem sie übernachtet, eine Woche lang im Hause behalten. Sodann nahm ihn der andere der Zeugen zu sich und verpflegte ihn, bis er, der Zeuge, in Cuvilly ein Geschäft hatte. Dorthin folgte ihm der Taubstumme, welcher zutraulich sich ihm angeschlossen hatte. Aber der Bauer ging, wohl absichtlich, schneller als dem Knaben möglich war, und so blieb dieser auf der Landstraße allein zurück, wo ihn der Steuerbeamte Leroux dort fand.

Auch nach dieser einfachen und bündigen Erklärung hielt der Abbé de l’Epée an dem ihm angenehmen Gedanken fest, einen so vornehmen Zögling, wie den jungen Grafen de Sollar bei sich zu haben, und beschloß, auf den Augenblick zu warten, wo es der Vorsehung gefallen würde, die Wolken zu zerstreuen und das Dunkel der Herkunft seines Schützlings zu lichten. Im Jahre 1780 ließ die Kaiserin Katharina die Zweite von Rußland durch ihren Gesandten den Abbé wegen seiner schönen erfolgreichen Thätigkeit beglückwünschen und ihm ein beträchtliches Geschenk anbieten. „Niemals,“ lautete die Antwort des Abbé, „niemals nehme ich Geld an. Sagen Sie Ihrer Majestät: wenn meine Arbeiten einigen Anspruch auf ihre Achtung haben, so ist Alles, was ich erbitte, daß die Kaiserin mir einen Taubstummen von vornehmer Abkunft sendet.“

Weshalb nicht wenigstens die Schwester des jungen Sollar in Toulouse, wenn auch nur brieflich, befragt wurde, ist nirgends gesagt. Im Jahre 1776 wurde, nach des Abbé de l’Epée Versicherung, ein Entführungsversuch gegen seinen Schützling unternommen. Ein Officier der Gensd’armerie aus Toulouse bat, ihm den Knaben auf kurze Zeit anzuvertrauen: wenn der Letztere wirklich der Sohn des Grafen von Sollar sei, so werde derselbe sofort von einer großen Anzahl von Personen wieder erkannt werden. Die Herausgabe des „durch die Vorsehung ihm anvertrauten Gutes“ wurde nicht nur von dem Abbé verweigert, sondern dieser wandte sich auch an den Minister mit der Bitte, einen hierauf bezüglichen Befehl nicht zu erlassen. Da nun der Minister erwiderte, er habe die diesfällige Ordre nicht gegeben, so schloß der Abbé, daß der Polizei-Officier durchaus nicht gewesen, was er durch Anlegung der Uniform habe scheinen wollen, sondern ein verkleideter Unbekannter, welcher die Absicht gehabt, das unglückliche Kind bei Seite zu schaffen. Es scheint vergessen worden zu sein, daß auf die Ermittelung der Herkunft des Taubstummen reichliche Belohnung verheißen worden und jener Beamte sehr wohl auf eigenen Antrieb konnte gehandelt haben.

Nach Verlauf längerer Zeit wohnte – im Juni oder Juli 1777 – eine junge Dame, was nicht selten geschah, dem Unterrichte der Taubstummen bei. Als sie des inzwischen „Joseph“ genannten Knaben ansichtig wurde, sagte sie, jedoch ohne irgend ein Zeichen der Ueberraschung oder des Erstaunens, vielmehr ganz einfach, wie etwas, das sich von selbst versteht: „Da ist der Sohn des Grafen von Sollar.“ Der Taubstumme selbst war nicht in der Nähe der Dame gewesen, sondern hatte im Nebenzimmer mit anderen Kindern gespielt und erfuhr erst später, was inzwischen vorgegangen. „Da“ – erzählt der Abbé de l’Epée – „erwachte Joseph wie aus tiefem Traume. Man ließ die Dame bitten, ihren Besuch zu wiederholen, und fragte sie, welchen Beweis sie für die Richtigkeit ihrer Behauptung geben könnte. Sie antwortete, daß sie den Knaben ganz genau kenne. Sie habe längere Zeit als Gesellschafterin bei Fräulein Desgodets, einer Großtante des Kindes, gewohnt und ihn – er war damals sieben bis acht Jahre alt – wöchentlich mindestens einmal gesehen, wenn er aus seiner Pension auf der Insel St. Louis zum Besuche gekommen.“

Joseph wurde von den beiden Inhaberinnen jener Pension, Mutter und Tochter, als der junge Sollar wieder erkannt, ebenso von der Magd eines Großoheims des Knaben. Aus derselben Quelle schöpfte der Abbé auch die Nachricht, daß der junge Sollar zu Clermont im Beauvais geboren sei, wo seine Verwandten mütterlicher Seite noch lebten. Der Taubstummenlehrer und sein Zögling begaben sich nach Clermont, und der Letztere wurde von neunundzwanzig Personen verschiedenen Alters und Standes als der Sohn des Grafen von Sollar bezeichnet. Nach der Rückkehr erfolgte seine Anerkennung auch in Paris durch den hier lebenden und bisher noch nicht befragten Vater der Gräfin von Sollar. Dies geschah im October 1777.

Der königliche Procurator am Châtelet hatte jetzt, durch die öffentlichen Blätter aufmerksam gemacht, die Sache in die Hand genommen. Er beantragte Untersuchung gegen die Urheber der Entführung und der Aussetzung des „taubstummen Grafen von Sollar“. In Folge dessen gab der Criminal-Lieutenant Befehl, den Sieur Cazeaux zu verhaften, nämlich denjenigen jungen Schreiber, welcher in dem Briefe der Madame de Hauteserre bezeichnet war als Begleiter des Knaben auf der Reise von Toulouse nach Bagnères.

Cazeaux wird in Toulouse am hellen Tage unter dem Zusammenlauf einer wüthenden Volksmenge verhaftet, nach dem Stadthause geschleppt, in das abscheuliche Gemach geworfen, welches, „la miséricorde“ genannt, eine Anzahl zum Tode verurtheilter Verbrecher enthielt. Wieder bei hellem Tage wird er, an Händen und Füßen mit Ketten belastet, auf einen offenen Wagen gehoben und abgeführt, auch jetzt wieder mit Verwünschungen und Flüchen verfolgt von der Menge, welche schon aus dieser Art den Gefangenen zu transportiren den Beweis für seine Schuld abnimmt. Während der ganzen Fahrt ist Cazeaux mit Ketten an den Wagen, beim Aufenthalte in den Herbergen ebenso an einen Tisch oder einen Pfahl geschlossen. Man begafft ihn überall wie Einen, welcher zum Rad oder Scheiterhaufen geführt wird.

Endlich kommt Cazeaux in Paris an und wird im Châtelet in Einzelhaft gebracht. Sechs Tage vergehen, ohne daß er nur verhört wird. In den nächsten drei Wochen aber hat er sechs Verhöre von je sechs bis acht Stunden zu bestehen. Seine Unbefangenheit, die Klarheit seiner Antworten erweckt in den Richtern den Gedanken, der Verhaftete sei wohl unschuldig. Der Bischof von Comminges, in dessen Diöcese Cazeaux gewohnt hat, nimmt sich des jungen Mannes an und setzt es durch, daß demselben ein erträgliches Gelaß im Gefängnisse angewiesen wird. Jetzt kann er sich vertheidigen. Er erklärt: 1) Das Kind, welches er angeblich auf der Heerstraße bei Péronne ausgesetzt habe, ist im Januar 1774 zu Charlas in der Diöcese von Comminges gestorben, und er belegt diese Angabe durch Berufung auf einen amtlichen Todtenschein aus den Kirchenbüchern der Gemeinde; 2) es sei jedoch überflüssig eine solche Urkunde herbeizuschaffen, da der Schützling des Abbé de l’Epée unmöglich mit dem jungen Grafen von Sollar identisch sein [135] könne; denn jener sei am 1. August 1773 auf der Landstraße bei Péronne in der Picardie, also zweihundert Lieues entfernt von Toulouse gefunden worden, während, wie hunderte von Zeugen beweisen können – der Sohn der Gräfin von Sollar erst am 4. September 1773 Toulouse verlassen habe, mithin zu einer Zeit, wo der unbekannte Taubstumme bereits in Bicêtre aufgenommen worden.

Es gelingt dem Gefangenen, auch einen Vertheidiger zu gewinnen in der Person des Advocaten Tronson du Coudray. Dieser führt noch an: 1) Der angebliche junge Sollar habe weder seine Schwester noch die Bilder seiner Eltern erkannt, nicht einmal seinen Entführer Cazeaux. 2) Seine Schwester und vier Personen, welche den Knaben im Alter von zwölf Jahren gekannt, haben ihn nicht recognoscirt, und dies beweise mehr als das Anerkenntniß aller anderen Personen, welche das Kind seit seinem siebenten Jahre aus dem Gesichte verloren gehabt. 3) Ueberdies habe Joseph nicht einmal Aehnlichkeit mit dem verstorbenen Sollar: der Schullehrer, welcher diesen in Toulouse unterrichtet, habe jenen nicht erkannt und sei von demselben nicht erkannt worden. 4) Was den Doppelzahn anbetrifft, so hatte der junge Sollar allerdings einen solchen, aber nicht wie der lebende in dem unteren, sondern in dem oberen Kiefer. 5) Zu alledem kommt, daß bisher auch nicht das geringste Motiv zur Verübung des Verbrechens angedeutet, geschweige denn wahrscheinlich gemacht worden.

Diese Sätze der Vertheidigung zu entkräften oder zu widerlegen unternimmt der Abbé de l’Epée selbst. Er war in seiner Jugend Jansenist gewesen, und da ihm, weil er das orthodoxe Formular nicht unterzeichnen gewollt, der Eintritt in den Priesterstand versagt worden, hatte er sich der Rechtswissenschaft gewidmet und war als Advocat bei dem Parlament in Paris eingetreten. Nun holt er die alten rostig gewordenen Waffen aus jener Zeit wieder hervor und ersetzt, was ihnen an Schärfe abgeht, durch Verbitterung und Verbissenheit. Er bestreitet Alles, was von Seiten des Angeklagten und des Vertheidigers vorgebracht ist. Der inzwischen eingegangene Todtenschein des jungen Grafen von Sollar beweise nichts, sondern bekunde nur, daß zu Charlas am gedachten Tage ein Kind gestorben, welches man, auf Anstiften des Angeklagten, als Graf von Sollar beerdigt habe. Den Termin der Abreise von Toulouse habe der Angeklagte nachträglich durch Rechnung ausgeklügelt, um das Alibi festzustellen. Im Königreiche seien etwa dreitausend Taubstumme, von denen die Hälfte ungefähr auf die ärmeren Familien falle. Vermuthlich habe der Angeklagte aus einer derselben ein solches unglückliches Kind durch Bestechung sich zu verschaffen gewußt, dies als Grafen von Sollar im Lande umhergeführt, um für den Fall der Entdeckung seines Verbrechens Entlastungszeugen sich zu sichern und so die Spur der begangenen Unthat auszutilgen. Als Motiv des Verbrechens ergebe sich der Wille der Gräfin von Sollar, welche mit ihrem Gatten in Unfrieden gelebt, den Knaben gehaßt und den ihr wohlbekannten Angeklagten durch Geld bewogen habe, das Kind bei Seite zu schaffen.

Die Proceßschriften gehen hin und her. Monat auf Monat verrinnt[WS 1]. Cazeaux bleibt verhaftet. Das Châtelet weigert sich, ihn in Freiheit zu setzen; er appellirt an das Parlament. Dieses ordnet Beweisaufnahme an über den Zeitpunkt der Abreise des jungen Sollar von Toulouse, die Reise nach Bagnères, nach Charlas, die Krankheit und den Tod des Kindes, weil der Todtenschein wegen einiger Unregelmäßigkeiten nicht vollen Beweis liefere.

Demgemäß reisen im August 1779 zwei Räthe vom Gerichtshofe des Châtelet, zwei Gerichtsschreiber, der Schützling des Abbé de l’Epée mit einem Dolmetscher und der Angeklagte nach Toulouse. Joseph erkennt weder das Stadthaus von Toulouse, ein herrliches, großartiges Gebäude, vor welchem der junge Sollar täglich gespielt hatte, noch das Wohnhaus seiner Mutter oder ein anderes von denjenigen, in welchen der Knabe damals oft verkehrte. Mehr als hundert Personen werden vernommen: nicht ein einziger Zeuge erkennt in dem Knaben das Grafenkind. Dagegen wird bezeugt und festgestellt 1) durch eine große Anzahl von Personen, daß Cazeaux in den ersten Tagen des September oder zur Zeit der Traubenreife oder beim Beginne der Parlamentsferien oder an Notre-Dame de Septembre 1773 Toulouse verlassen habe; 2) daß mehrere Personen Cazeaux nebst dem jungen Sollar auf dem Wege nach Bagnères getroffen und erkannt haben; 3) durch eidliche Aussage mehrerer hochgestellter Personen aus Toulouse, daß sie gleichzeitig mit dem jungen Sollar, welchen sie sehr genau kannten, im September 1773 zu Bagnères gewesen; 4) durch Bekundung mehrerer hundert Personen, daß sie sowohl Cazeaux als Sollar im October 1773 zu Charlas haben ankommen sehen, daß der Knabe bis zum Januar 1774 bei der Mutter seines Begleiters geblieben, schließlich ein Opfer der damals in Charlas herrschenden Blatternepidemie geworden und auf dem dortigen Kirchhofe begraben sei; 5) daß Joseph weder in Bagnères noch zu Charlas von Irgendwem wieder erkannt worden sei. Die Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt der richterlichen Beamten geht so weit, daß sie das Grab in Charlas öffnen lassen. Knochen und Schädel werden herausgenommen: der Doppelzahn ist noch vorhanden und zwar im Oberkiefer.

Trotz aller dieser Beweise will der Abbé de l’Epée seinen „vornehmen Taubstummen“ nicht verlieren; er bietet seinen ganzen Einfluß nach allen Richtungen auf, und in der That erklärt das Châtelet im Jahre 1781 den Knaben Joseph als den Grafen von Sollar und Cazeaux der Entführung etc. schuldig. Der Verurtheilte appellirt. Ihm leiht seine Feder der Vater der berühmten beiden Elie de Beaumont. Auch mit ihm nimmt der Abbé de l’Epée den Zweikampf auf dem Papiere an, und noch ist der Proceß in zweiter Instanz nicht entschieden, als am 23. December 1789 der ausgezeichnete Lehrer der Taubstummen, der Protector des jungen Grafen von Sollar, starb. Für ganz Frankreich ist eine neue Zeit angebrochen. Neue Gerichte werden in Paris eingesetzt. Auch für den armen Cazeaux ist endlich der Tag der Freiheit gekommen. Im Jahre 1792, also nach anderthalb Jahrzehnten seit der Verhaftung des jungen Mannes, wird das Urtheil des Châtelet aufgehoben und Joseph verboten, sich Graf von Sollar zu nennen.

Schon längst hatte die öffentliche Meinung aufgehört, mit den beiden Hauptpersonen des Processes sich zu beschäftigen. Joseph, von aller Welt verlassen, ließ sich – merkwürdig genug – in einem Kürassierregimente anwerben und starb bald nachher in einem Hospitale. Und keine Menschenseele dachte daran, den armen Cazeaux für die schweren Leiden langer Jahre zu entschädigen.

Wie seltsam das Benehmen und die Handlungsweise des Abbé de l’Epée in diesem Falle gewesen: es nimmt dem Manne nichts an seinem Ruhme, sich als ein Wohlthäter der Unglücklichen gezeigt zu haben, und mit Recht erklärte die Nationalversammlung, daß der Abbé de l’Epée um das Vaterland und die Menschheit sich wohl verdient gemacht habe. Noch eine hohe Ehre war ihm vorbehalten: er wird der Held eines historischen Lustspiels, welches am 23. Frimaire des Jahres VIII auf dem Théâtre français de la Republique dargestellt wird. Aus Joseph ist in dem Lustspiele Theodor geworden er ist nicht mehr der junge Graf von Sollar, sondern der Graf von Harancour. Nicht die Mutter läßt den Knaben bei Seite schaffen, sondern ein habgieriger Oheim vollführt mit Hülfe eines alten Dieners die That. Der alte Abbé de l’Epée durchwandert mit seinem Schützlinge zu Fuß ganz Frankreich, um des Taubstummen Heimath zu entdecken. Sie kommen nach Toulouse, und hier wird endlich durch die fromme Sanftmuth des hochverehrten Priesters, durch übereinstimmende Zeugnisse der starre Sinn des geizigen Oheims gebrochen: er erkennt den Grafen von Harancour an und giebt ihm sein Vermögen zurück. Am Schlusse bilden die Hauptpersonen des Stückes eine Gruppe um den Abbé, und dieser spricht: Endlich ist er wieder an seinen Herd zurückgekehrt; endlich trägt er den edeln Namen seiner Väter. O Vorsehung! Mir bleibt auf der Welt nichts mehr zu wünschen übrig, und wenn ich diese sterbliche Hülle verlassen werde, kann ich mir sagen: ich darf in Frieden ruhen, denn ich habe mein Leben wohl ausgefüllt.“

Und mit stürmischem Beifalle wird das Stück aufgenommen. Unter Thränen preist das begeisterte Publicum den Abbé de l’Epée nicht als Lehrer der Taubstummen, sondern als Beschützer des Grafen von Sollar. Hatte nicht der Franzose Recht, welcher fragte: wie viel Thoren gehören dazu, um ein Publicum auszumachen?




[136]
Pritschenschläge deutschen Volkshumors.


Von Moritz Busch.


Nr. 2. Die Schildbürgerthorheiten der verschiedenen deutschen Landschaften. – Die schwäbischen „Kröpfle“. – Elsässische Abderastreiche. – Der schweizerische Palmesel. – Der fränkische Weiberwetzstein. – Der schleswigsche Mühlstein und andere Gimpeleien.


Ich komme jetzt zu den einzelnen deutschen Orten, denen der Volkshumor eins mit seiner Pritsche gegeben hat, und zwar zunächst, wie billig, zu den schwäbischen, in denen die hier besprochene Art der Neckerei und Fopperei zuerst aufgekommen zu sein scheint. Hier begegnen uns (vgl.  Meier) zuerst die Seebronner, welche „Sensenschmecker“ heißen, weil einst der dortige Schultheiß alle Sensen des Ortes zu sich bringen ließ, um durch Anriechen (schwäbisch „schmecken“) derselben herauszubekommen, wer einem der dortigen Bauern heimlich seinen Hanf abgemäht habe. Die Kiebinger werden als „Mondfänger“ verspottet. Sie wollten nämlich einmal den Mond im Neckar mit einem Netze fangen, und ein anderes Mal sollte ein Schweinestall als Falle dienen. Als der Mond ihnen hier wie dort entwischte, sie ihn aber gar zu gern gehabt hätten, gedachten sie ihn mit einer Stange vom Himmel zu stoßen, und da dieselbe nicht bis hinauf reichte, sollte sie gestreckt werden. Zwei Mann zogen, der eine an dem, der andere am andern Ende, bis endlich der Stärkere den Schwächeren niederriß und nun mit dem Rufe „Es geht“ allein fortlief, indem er glaubte, daß die Stange sich verlängere. Die Ulmer tragen den Spitznamen „die Spatzen“, weil das im vorigen Abschnitte erzählte Histörchen vom Sperling, der mit dem Strohhalme die richtige Behandlung des Balkens lehrte, sich unter ihnen begeben haben soll.

Eine andere vielgeneckte Schwabengemeinde sind die Hirschauer bei Tübingen, welche „die Waden unter dem Kinn haben“ und deshalb „Kröpfle“ genannt werden. Man sagt auch von einem Hirschauer: „er hat alle seine Glieder beisammen“, was daher rührt, daß, als einst ein den Ort passirender Fremder von Kindern verspottet wurde, weil ihm der Kropf fehlte, die Mutter es ihnen mit den Worten verwies: „Dankt Ihr doch lieber Gott, daß Ihr alle Eure Glieder beisammen habt!“ Die Rottweiler sind dadurch zu dem Spitznamen „Esel“ gekommen, daß ihnen die Geschichte mit dem Kürbiß passirt sein soll, den man für ein Eselsei hielt, und aus dem der Bürgermeister den Hasen ausbrütete. Ein Maler brachte den Schabernack fertig, daß sie den Esel in ihre Stadtfahne bekamen. Er malte ihnen die Flucht der heiligen Familie nach Aegypten darauf und nahm nur zu dem Esel Oelfarben, zu dem Uebrigen blos Wasserfarben, die der Regen mit der Zeit abspülte. Die Derendinger heißen „Gelbfüßler“, weil sie einmal, als die Körbe bei einer großen Eierlieferung die Eier nicht fassen wollten, sich damit halfen, daß sie in die Körbe sprangen und die Eier zusammen traten. Die Weilheimer neckt man mit ihrer Kirchweih, weil sie keine haben, die Hornberger mit ihrem Schießen, weil sie einst mächtige Vorbereitungen zu einem großen Schützenfeste getroffen, als der Herrgott aber den Schaden besah, das Wichtigste vergessen hatten – die Besorgung von Pulver.

Die meisten Schildbürgerthorheiten hat das brave Dorf Ganslosen im Oberamte Göppingen sich andichten lassen. Außer einer Menge anderer Geschichten werden ihm von der Spottlust der Nachbarn nicht weniger als drei von den im ersten Capitel erwähnten Gimpeleien, die von dem Storch, zu dessen Vertreibung der Feldhüter der Schonung des Getreides halber von vier Mann auf einer Bahre durch das Feld getragen wurde, die von der durch Ueberdachung vor dem Regen geschützten Sonnenuhr und die von der genialen Brunnenmessung, auf sein Conto geschrieben. Berühmt ist endlich der Spion von Aalen. Als diese Stadt einst mit dem Kaiser Streit hatte, schickte sie den pfiffigsten ihrer Bürger aus, damit er das kaiserliche Lager und Heer auskundschafte. Selbiger Schlaukopf begab sich alsbald zu den Feinden, die er schön grüßte, und denen er, als sie ihn fragten, wer er sei und was er wolle, sogleich die beruhigende Versicherung gab, sie sollten nur nicht erschrecken, er wäre blos der Spion von Aalen und wollte sich ihr Lager ein wenig besehen. Das wurde ihm selbstverständlich gestattet, und aus Dankbarkeit und Bewunderung so großer Klugheit haben die Aalener ihm dann einen Platz an ihrer Rathhausuhr verliehen. Hier war er leibhaftig abgebildet, drehte den Kopf, wie der Perpendikel kam und ging, und schnitt dem Publicum Gesichter.

Auch das Elsaß bietet uns (vergl. Stöber) eine große Anzahl von Orten, welche der Humor des Volkes in der Scheere gehabt und mit seiner Marke gezeichnet hat. Die Illzacher gehören zu den Mondfängern; die Killstetter heißen „Fröschevertränker“, die Pfaffenheimer „Bannsteinrücker“, die Flachslander „Engelsschmelzer“. Die Bewohner von Straßburg führen den Spitznamen „Meisenlocker“, die von Colmar „Knöpfler“, die von Pfirt gar „Spaasen“, d. h. Spitzbubenvolk. Die zwischen Ill und Rhein Wohnenden hat der Volkswitz „Rheinschnaken“, die von Türkheim „Lochschlupfer“, die von Oberbronn „Büchsensäcke“ oder „Mantelträger“ getauft.

Die Schweiz hat gleichfalls eine Menge von Orten, die Schildbürgerstreiche verübt haben sollen, oder wenigstens mit Spitznamen, an die sich eine komische Geschichte knüpft, bedacht sind. In Appenzell gilt letzteres fast von jedem Dorfe. Im oberen Wallis erzählt man von den Visperthalern, im unteren von den Salvansern die Lalenbürgergeschichte vom Gemeindehausbau, wo man die Fenster vergaß und darauf das Licht in Säcken hineintrug. Hornussen im Frickthal soll seinen Namen davon haben, daß hier das Histörchen von dem Boten, der gutes Wetter holen soll und es in einer Schachtel in Gestalt einer Horniß mitbekommt, passirt wäre. Schinznacht bei Winterthur heißt nach einer Witzelei der Nachbarn eigentlich Schind z’Nachts, weil die Leute dort eine Kuh, die sie verspeisen gewollt, aus Scham nicht am Tage geschlachtet, sondern Nachts geschunden hätten. Die Freiämtler foppt man mit dem Namen „Bschindesel“, die von Tägerig mit der Bezeichnung „Eselsohren“; die Bremgartner sind im Volksmunde „Palmesel“, die Mellinger einfach „Esel“. Die letzteren beiden Namen werden durch folgende Erzählung erklärt. In Bremgarten wurde früher am Palmsonntag eine Procession abgehalten, bei der man einen auf Rädern gehenden Holzesel herumzog. Dabei stürzte er einmal um, und sein schlecht geleimter Schwanz fiel ihm aus. Indeß stellte man ihn rasch wieder zurecht, und auch der mit Mantel und Stab hinter ihm herschreitende Schultheiß verlor die Fassung nicht; er hob den Schwanz auf, zog ihn durch den Mund und steckte ihn wieder in den allein dafür schicklichen Ort. Als die Stadt der Reformation beitrat, warf man mit anderen Heiligenbildern auch den Palmesel in die Reuß, die ihn dem Nachbarstädtchen Mellingen zutrug. Die dortigen Katholiken wollten ihn in die Kirche stellen, die Protestanten wehrten es ihnen, und ein Metzger unter ihnen schnitt dem Esel den Hals ab und warf ihn wieder in den Fluß. Der Mann bekam zur Strafe dafür einen Kropf, das Volk des Ortes aber den obenerwähnten Spitznamen, aus dem sich ein eigenthümlicher Gebrauch der Mellingener entwickelt haben soll. So oft sie nämlich ihre Brücke passirten, an der nur Fremde Zoll zu erlegen hatten, drückten sie dem lauernden Einnehmer schon von weitem ihre Zollfreiheit damit aus, daß sie einen Zipfel ihres Rockes, zur Form eines Eselsohres zusammengefaßt, sich an den Kopf hielten.

Die Bewohner des Dorfes Ellikon, im Kanton Zürich, heißen von Alters her, von einer Variation der Mähr vom Feldhüter auf der Tragbahre, „wilde Schweine“. Einmal richtete in den Feldern der dortigen Bauern ein Wildschwein arge Verheerungen an und ließ sich mit Nichts herauslocken. Da meinte Jemand, diese Thiere fräßen gern Eier, vielleicht ließe der Eber sich damit fangen. Das gefiel, doch wußte man nicht, wie man es ausführen sollte, ohne das Korn zu zertreten. Endlich hatte man es. Ein Mann wurde in einen Korb gesetzt, vier Andere trugen ihn an Stangen durch das Getreide, und bei jedem Schritte warf er ein Ei aus.

Als der Papst Martin einmal von Deutschland nach Rom zurückreiste, kam er auch nach dem Städtchen Brugg. Die Bürgerschaft gedachte ihm eine Ehre und Güte anzuthun, und sie wählte dazu das Beste, was sie kannte: sie kochte ihm

[137]

Die vier Temperamente.

[138] eine prächtige rosenrothe Kirschsuppe. Martinus hatte etwas Solideres erwartet, begnügte sich indeß mit dem „Chriesisüpple“ und ritt den andern Tag weiter nach Lenzburg. Auch dieses setzte dem heiligen Vater das Edelste vor, was es hatte, nämlich einen von jenen scharfduftenden grünen Ziegenkäsen, die man ihrer Härte wegen nur geschabt essen kann, und die deshalb „Schabziegerstöckle“ heißen. „Wieder ein Fasttag!“ seufzte Martinus und reiste am nächsten Morgen weiter nach Aarau. Hier gedachte man den Luxus der beiden anderen Orte zu überbieten, indem man dem Oberhaupte der Christenheit und seinen Cardinälen in einer mächtigen Schüssel das Leibgericht der Aarauer, schneeweißen Mehlbrei, auftrug. „Wunderbar, wie streng die ganze Gegend mein Fastenmandat hält!“ klagte der Magen des frommen Herrn. In Olten, wo die betrübte Gesellschaft am nächsten Mittag Halt machte, meinte man dem hohen Gaste nichts Schöneres bieten zu können, als eine Froschsuppe. „Das sind ja Christen von exemplarischem Wandel!“ riefen die hungernden Kirchenfürsten. Indeß lag Aarburg nahe, wo man gediegenere Verköstigung zu finden hoffte. Aber auch hier sah man sich getäuscht. Dort giebt es in Hecken und Hagen einen reichen Segen fetter Schnecken, welche die Kapuziner zu schätzen wissen, und so bereitete man dem Papste und seinem Gefolge ein paar tüchtige Schüsseln von dieser Delicatesse. Fünf Fastenmahlzeiten nacheinander war selbst für einen sehr strammen Magen zu viel, und verdrießlich über eine Welt, die das Christenthum auf die Spitze trieb, bestieg Martin sein Maulthier und ritt weiter gen Zofingen. Kaum war er hier abgestiegen, so erschien die Schule mit Kreuz und Fahne und begrüßte ihn mit lateinischen Versen. Aergerlich wollte er sie eben abweisen – da senkte sich die Fahne; die Reihe öffnete sich, und heran schritt die Ehrengabe der Stadt, ein mit Fasanen und Kapaunen behangener, blumenbekränzter Mastochse. Gerührt stiftete Martin auf der Stelle ein Schülerstipendium, das noch heute vertheilt wird. Die Brugger aber erfreuen sich seitdem des Spitznamens „Chriesisüppler“, die Lenzburger heißen „Schabziegerstöckli“, die Aarauer „Pappehauer“, die Oltener „Frösche“, die Aarburger „Schnecken“, während den Zofingern der Ehrentitel „Ochsen“ geblieben ist.

In Altbaiern ist nicht viel Spott gewachsen. Ein Sprüchwort sagt: „Schwäbisch ist gäbisch; baierisch ist gar nichts.“ Von den Straubingern heißt es: „Sie lassen fünf gerade sein.“ Als Hans Sachs dichtete, war Schrobenhausen, vielleicht seines Namens wegen (schrauben, verschroben), etwas anrüchig. Hirschau in der Oberpfalz gehört zu den Orten, die mit vielen Lalenbürgereien geneckt werden, und ebenso ist Weilheim im Oberlande übel weggekommen.

In Franken ist die Neckerei, von der hier gesprochen wird, wieder reichlich gediehen. Es hat „Herrgottsbader“ in den Monheimern, die ein Crucifix, das bei einer Procession bestäubt worden, in einem Teiche wuschen, „Hummeln“ in den Mistelgauern, die mit der bereits wiederholt erwähnten Geschichte von dem Boten verspottet werden, der in der Apotheke gutes Wetter holen sollte, „Herrgottsschwärzer“ in den Nürnbergern, die ein massives Christusbild an der Sebalduskirche schwarz angestrichen haben sollen, damit es die Raubsucht der Soldaten nicht anlocke. „Die Nürnberger henken keinen, sie hätten ihn denn,“ sagt ein bekannter weiser Spruch. Daß Heideck eine Klaue im Stadtwappen führt, erklärt der Volkswitz in den Nachbarorten damit, daß die Heidecker einmal ein Kuhhorn gefunden und für eine Klaue vom Vogel Greif gehalten hätten. Von den Karlstädtern heißt es, sie hätten in Kriegszeiten einen Schatz in den Main versenkt und, um ihn wiederfinden zu können, über der Stelle eine Kerbe in den Kahn geschnitten. Die Münchberger und Weißenstädter im Fichtelgebirge sind Kumpane der sieben Schwabenhelden; jene ziehen gegen einen Pudel, diese gegen einen Backtrog zu Felde.

In Franken gab es endlich Städte, die nicht nur geneckt wurden, sondern auch ihrerseits neckten. So hatte Kalten-Westheim an der Rhön seinen Weiberwetzstein, an dem Niemand wetzen durfte. That dies Jemand aus Unkunde des Brauches oder Muthwillen, so kamen die Frauen herzu, tauchten ihn in Wasser und ließen ihn eine Geldbuße zahlen. So mußten ferner die von Würzburg her in Karlstadt einwandernden Handwerksburschen die Frage beantworten: „Was machen die Heiligen auf der Würzburger Mainbrücke?“ Die Antwort hatte zu lauten: „Ein Dutzend,“ und wer das nicht wußte, wurde zu näherer Erkundigung nach Würzburg zurückgeschickt. Aehnlich in Schweinfurt, dessen Wahrzeichen, ein Adler, beim Volke die Eule hieß. „Was macht die Eule?“ wurden die Handwerksburschen gefragt, und die Antwort mußte sein: „Nichts.“

Hessen hat seine Schwarzenborner und seine Griesheimer, „von denen sich ein Buch schreiben ließe.“ Die Thüringer hießen in alter Zeit „Heringsnasen“, und ein lateinisches Gedicht sagte von ihnen, daß sie „einen gesalzenen Hering mit Dank annehmen und sich aus dem Kopfe allein fünf Gerichte herzustellen verstünden“. Im Nassau’schen hatte früher das Städtchen Hefftrich einen Anflug lalenbürgerischen Leumunds. Im Meißnischen gilt dies von Mutzschen und, wie Wachsmuth behauptet, von Adorf. Sonst hat hier Schilda alle Neckerei auf sich gelenkt und absorbirt. Die Schlesier führten ehemals wie viele andere Deutsche den Namen der „Eselsfresser“. Ihr Narrenort ist das weitberühmte Polkwitz, von dem eine Menge Gimpeleien erzählt werden.

Die deutsche Bevölkerung Oesterreichs hat im Böhmerwalde verschiedene Orte mit Spitznamen, und im kärnthenischen Lesachthale wimmelt es förmlich von solchen. Die Wiener werden als „Flaschelträger“, die Salzburger als „Stierwäscher“ geneckt. Letztere wollten den schwarzen Stier ihrer bunten Stadtheerde weiß waschen und verwendeten darauf etliche Centner Seife.

Auch der Norden Deutschlands ist reich an Spitznamen der hier besprochenen Art und dazu gehörigen Späßen und Schnurren. In Ostpreußen gelten die Domnauer für einfältig, und die Schippenbeiler heißen „Erbsenschmecker“.

Ganz außerordentlich reich an Namen, die mehr oder minder Schimpf einschlossen, war ehemals Pommern. Hier finden wir unter Anderen die „Stintköppe“ von Wollin, die „Plunderköppe“ von Cammin, die „Pomuffelsköppe“ von Gollnow. Die Mönchsguter wurden von den Putbusern (nach ihren großen Messern) „Pook“, letztere aber von ersteren (nach ihren Streitkolben) „Kolber“ genannt. Die Cösliner heißen „Sacksöfer“, weil sie einen katholischen Barbier, der mit einer quakenden Ente den lutherischen Gottesdienst gestört hatte, in einen Sack steckten und ersäuften, die Anclamer „Swinetröcker,“ weil sie, als der Herzog Schwäne von ihnen verlangte, Schweine schickten. Die Stralsunder endlich sollten, wie die Necksucht ihrer Nachbarn beanspruchte, auf den Namen „Hans Katte“ hören, da sie sich einmal gegen eine Katze in ihrem Kirchthurm, die sie für einen Fuchs gehalten, in die Rüstung geworfen haben sollten.

In Mecklenburg giebt es nur einen Ort, wo Schildbürger wohnen sollen, Teterow, dafür aber hat der fopplustige Kobold demselben einen ganzen Sack voll Thorheiten in seine Chronik geschüttet.

Hannover hat wieder eine ziemliche Menge von Städtchen und Dörfern, denen wunderliche Dinge nachgesagt werden. Da haben wir zunächst das vielberufene Dorf Jühnde bei Göttingen, von dessen Bauern die Umgegend wohl ein Dutzend Gimpelstreiche zu erzählen weiß. Nicht weit davon liegt Dransfeld, dessen Bewohner einst die berühmte Jagd auf einen Esel unternahmen, der ihnen ein großer Hase zu sein schien. Sie wurden dabei von den Göttingern überfallen, die den Esel fingen und als Hasen verspeisten. Die Göttinger bekamen davon den Necknamen „Eselsfresser“, die Dransfelder aber heißen seitdem „Hasenköppe“, und ihr Bier wurde „Hasenmilch“ getauft. Ferner haben die Schuhmacherstadt Peina und die Dörfer Brämele und Bardewyk ihre Nota als Orte, wo unfreiwillige Komik zu Hause ist. Von Buxtehude geht in Hamburg der Spruch: „Broder, ick und Du, wie gaat na Buxtehu, wöllt den Buur in Keller krupen un em all sien Beer utsupen.“

Braunschweig hat an dem einen, aber weitberühmten Schöppenstedt genug, welches indeß in den Ruf der Thorheit wohl nur dadurch gekommen ist, daß Kneitlingen, der Geburtsort Eulenspiegel’s, nicht weit davon entfernt liegt oder daß man bei seinem Namen statt an Schöppe an Schöps dachte.

Von Bremen singt der Spruchdichter des Volkes: „Wer stehlen will und nicht hangen, der geh’ nach Bremen und lasse sich fangen.“ Im Oldenburgischen Ammerland giebt es eine Unzahl Neckereien von Ort gegen Ort. In Ostfriesland heißt „Feeling“, das heißt Westfale, ungefähr so viel wie Schildbürger, [139] und das ist nicht unbegreiflich, da die Bewohner Westfalens einander selbst allerlei seltsame Schnurrpfeifereien nacherzählen. Dies gilt namentlich von den Rodlinkern und den Leuten im münsterschen Beckum. Die Attendörner und die Olper aber necken einander mit den Spitznamen „Kattfillers“ und „Pannenklöppers“.

Eine fast überreiche Fülle von Lalenanekdoten hat endlich, wie ein Blick in die Müllenhoff’sche Sammlung schleswig-holsteinischer Sagen zeigt, der südliche Theil der cimbrischen Halbinsel hervorgebracht. Obenan stehen unter den hier in Betracht kommenden Orten das holsteinische Büsum und das schleswig’sche Hostrup. Von den Büsumern wird zunächst die Geschichte von den Badenden erzählt, die, um sicher zu werden, daß Keiner von ihnen ertrunken ist, die Nasen in den Sand stecken müssen. Sie sind ferner Mondfänger; sie halten den Hammer für einen Schneider; sie bestellen ein Feld mit Kuhsamen; besonders schön endlich sind die Abenteuer derjenigen von ihnen, die den Mühlstein suchen sollen, welcher ihnen gestohlen worden ist. Sie kommen nach Friedrichstadt und entdecken den Senf; sie geben in der Schenke, um nicht dem Ofen zu nahe zu sitzen und zu viel Hitze auszustehen, dem Wirthe ein Stück Geld, daß er den Ofen weiter wegschiebe, er aber erfüllt ihren Wunsch dadurch, daß er, als sie hinausgegangen, die Stühle ein wenig vom Ofen wegsetzt; sie gelangen schließlich nach Hamburg und finden hier in einem Pastor mit der dort gebräuchlichen ungeheuern Halskrause den Dieb ihres Mühlsteins. „Ga hen na Hostrup und lat dy de Dös utsnyden!“ (geh hin nach Hostrup und laß Dir die Dummheit ausschneiden!) sagt man in Angeln. An einem Sommertage befand sich das ganze Dorf auf dem Felde. Da kam Einer zu ihnen und erzählte vom Kriege, über den er eben in der Stadt reden gehört. „Krieg, wat is denn Krieg?“ fragte ein Hostruper. „Wenn de Trummel geit,“ antwortete der Andere. „Wo geit (wie geht) de Trummel denn?“ erkundigten sich die Leute. „Bumm, bumm, bumm!“ erwiderte der Fremde. Nun arbeiteten jene ruhig eine Weile weiter, aber die Trommel steckte Allen in den Köpfen. Sie hatten eine Tonne voll Bier mitgehabt und bei der Hitze schon ausgetrunken. In deren Spundloch flog eine Hummel hinein, und da sie den Ausweg nicht wieder finden konnte, stieß sie wiederholt mit ihrem dicken Kopfe an das Holz, sodaß es wie das Bumm, bumm einer Trommel klang. Da dachten die Hostruper, es wäre der Krieg, und jeder hätte gern mehr als zwei Beine gehabt. Augenblicklich rannten sie, was das Zeug hält, davon und sprangen in ihrer Angst über Hecken und Gräben.

Die Böeler in Angeln führen den Spitznamen „Falenbieters“ (Füllenbeißer). Die Jageler bei Schleswig heißen die „tollen“, nehmen aber Vernunft an; denn die Ulmer Spatzengeschichte ist auch bei ihnen vorgekommen, und noch heute tragen sie Balken der Länge und nicht der Quere nach durch Thüren. Von den Bishorstern erzählen ihre Nachbarn, die Haseldorfer Marschbauern, folgenden Schwank: In alten Zeiten war es gebräuchlich, am Morgen des heiligen Christtages vor Tagesanbruch in die Kirche zu gehen, um den frommen Hirten im Evangelio nichts nachzugeben. Um nun in der Dunkelheit nicht irre zu gehen, hatten die Bishorster ein Seil ausgespannt, an dem sie sich bis zur Kirchthür hintasteten. Ein Schalk aber wußte darum, und um den Leuten einen Schabernack zu thun, leitete er das Seil ab und nach einem seichten Brunnen hin. Die Bishorster dachten an nichts Arges und gingen, als es läutete, Einer hinter dem Andern an dem Seile hin. Als nun der Erste an den Brunnen kam, fiel er hinein und das Wasser schlug ihm klatschend über dem Kopfe zusammen. Der Nächste meinte, es sei die Kirchenthür und rief: „Plump in helgen Karken! Laet apen! Ick will oek rin,“ und damit fiel auch dieser hinein. Die Anderen aber machten es ebenso, bis sie zuletzt Alle im Brunnen lagen. Ferner giebt es viele Dönchen von den Neuenkirchenern in der Krempermarsch, von den Kussauern bei Plön, sowie von den Kisdorfern bei Bramstede. Einmal fuhr ein Geestbauer mit Torf nach Kisdorf und hatte eine Sense mit auf dem Wagen, um damit am Wege das nöthige Gras für seine Pferde zu mähen. Nahe bei dem Orte fand er schönes Gras, stieg ab und schnitt seinen Pferden eine gute Mahlzeit, ließ dann aber die Sense liegen, um am Abend noch eine tüchtige Portion mit nach Hause zu nehmen. Als nun die Kisdorfer merkten, daß auf ihrer Meente Gras fehlte, und sie die Sense dort fanden, wußten sie erst nicht, was es sei. Dann meinte Einer, die Sense werde wohl das Thier sein, welches das Gras gefressen habe. Als er sie näher betrachten wollte, trat er auf ihren Griff, worauf ihm die Schneide an den Hals fuhr und ihn verwundete. Da sahen die Kisdorfer, daß die Sense nicht blos Gras, sondern auch Menschen fresse, und um sich vor weiterem Schaden zu bewahren, beschlossen sie, die Stelle, wo sie lag, zu umzäunen. Abends fand der Geestbauer sie mit einer soliden Dornenhecke umfriedigt.

Andere schleswig-holsteinische Lalenbürger sind die Thadener im Gute Hanerau, die, als ihnen beim Grasmähen ein Frosch begegnete, nicht wußten, welch ein Ungethüm sie vor sich hätten, bis der Bauervogt, nachdem er ihn lange betrachtet, meinte: „Lüt, hier bön ek wörklich in Twiefel – wenn dat keen Hartbock (Hirsch) est, so möt dat en Töttelduef (Turteltaube) wäsen,“ und die Fockbecker bei Rendsburg, die ihren Teich mit gesalzenen Heringen besetzen und den Aal, der sie ihnen weggefressen haben soll, mit Ersäufung bestrafen.

Wäre das Alles wirklich einmal passirt, so würde das ein neuer Beweis sein, daß nicht die alte Zeit die gute, sondern unsere die vorzüglichere ist; denn nicht blos die Jageler wären dann zur Vernunft gekommen. Kein Kisdorfer und kein Büsumer wird heutzutage noch Gimpeleien sich nachsagen lassen, und auch anderswo ist man dermalen eher zu hausbacken als zu übermüthig.




Blätter und Blüthen.


Eine Palme auf Professor Bock’s Grab. Am 19. Februar sind es zwei Jahre, seit sich das Grab über Bock’s Sarge schloß. Liebe und Freundschaft legen alljährlich grüne Kränze auf den Hügel des Verewigten; denn Vielen war er ein Helfer und Retter sowohl in Krankheit und Körpernoth, wie in der Sorge und Bedrängniß des täglichen Lebens. Sollte sein Andenken bei Denen, deren Elend er so gern – entweder selbst herbeieilend, oder aus unbekannter Ferne seine segnende Hand ausstreckend – verscheuchte, vergessen werden? –

In Wort und Schrift war er ein Rathgeber, um Groß und Klein vor den Gefahren der Gebrechlichkeit und des falschen Gebrauchs der Körperorgane zu warnen; er war ein rechter Gesundheitsapostel und wußte der Familie die heilige Verpflichtung zu schärfen: das leibliche Wohl der Kinder auf’s Strengste zu hüten. Die „Gartenlaube“ selbst ist es gewesen, welche das belehrende und mahnende Wort Bock’s nach allen Himmelsrichtungen und in die weiteste Ferne trug. Wer kennt nicht sein „Buch vom gesunden und kranken Menschen“ und seine Strafpredigten?

Professor Bock wird in den Herzen der Menschen fortleben, so gewiß Dankbarkeit und Pietät in der Welt nicht aussterben werden.

Auch die Wissenschaft hat den Manen des berühmten Anatomen den Saal der Unsterblichkeit aufgethan; denn seine Werke bilden in vielfacher Hinsicht die Grundlagen der neuen Anatomie; nach ihm kommende Autoritäten werden seine Schriften citiren, so lange es Anatomie giebt.

Aber trotz der rastlosen Thätigkeit, die Bock’s Leben auszeichnet, wußte er doch sich noch am Abende seines Lebens zu dem alten Ruhme neuen zu erwerben, der Krone seines Wirkens einen neuen, hellstrahlenden Glanz zu verleihen indem er, aus der Wissenschaft schöpfend, den menschlichen Körper nach seinen Haupttheilen in Gyps darstellen ließ, damit das Kind in der Schule auf die faßlichste und fruchtbringendste Weise Anthropologie lerne. Er schuf „plastisch-anthropologische Lehrmittel für Schulen“. Und auch hier verleugnete sich Prof. Bock’s Herzensgüte nicht. Damit dieselben der unbemittelten Volksschule leicht zugänglich würden, verzichtete er auf jeglichen pecuniären Gewinn. Sie sind ein selbstlos unternommenes Werk, welches er der Schule zum Geschenk gemacht hat.

Wie die Schüler die Pflanze in der Hand haben oder das Thier vor sich stehen sehen, wenn sie Botanik oder Zoologie lernen, so kann ihnen jetzt statt der bloßen bildlichen Umrisse eine körperliche Sache, an der sie lernen sollen, geboten werden. Die Gesammtheit des menschlichen Körpers und die einzelnen Theile können wirklich „angeschaut“ werden. Professor Bock ging aber noch weiter und meinte, daß man die Anthropologie oder Menschenkunde nicht blos als einen Anschluß oder Abschluß der Zoologie betrachten solle, sondern daß man sie vielmehr in den Dienst der Gesundheitslehre zu stellen habe, daß man unter Hinweis auf die Verrichtungen der Organe zugleich Regeln geben müsse, nach denen Störungen der Functionen vermieden werden könnten. Er wollte also, indem er Anleitung gab, aus den Gesetzen der natürlichen Entwickelung des Menschen Gesundheitsgesetze zu folgern, den pädagogischen Grundsatz gewahrt wissen: „non scholae, sed vitae discendum – lerne in der Schule, damit du für das Leben Gewinn hast!“

[140] In der That kann nichts leichter sein, als an die Betrachtung der Verdauungsorgane Vorschriften über Essen und Trinken anzuschließen, an die Vorführung der Lungen die Forderung zu knüpfen, auf reine, sauerstoffreiche Luft zu halten, oder bei der Lehre von den Sinnesorganen auf die Pflege der Augen hinzuweisen und Anderes.

Unter den plastisch-anthropologischen Lehrmitteln für Schulen nun ragt vor allen der „Torso“ hervor. Das ist ein Kindeskörper ohne Kopf, Arme und Beine, welcher einer Venusstatue nachgegossen und in Gyps höchst künstlich ausgeführt ist. Er kann so auseinander genommen werden, daß man die zwei Körpertheile mit den Bauch- und Brusteingeweiden sieht; ferner kann man an ihm Leber und Magen so abheben, daß diese Organe weiter nach hinten verfolgt und Nieren und Bauchspeicheldrüsen wahrgenommen werden können; auch der Durchschnitt der Leber mit den verschieden gefärbten Adern (rothen, bläulichen und violetten) ist dann erkennbar. Durch einen dritten senkrechten Durchschnitt am Torso werden uns die Lungen in ihren Verzweigungen sichtbar.

Von manchen Theilen des menschlichen Körpers ließ Professor Bock sowohl umfangreiche Einzelpräparate, welche zum Gebrauch vor großen Classen sehr geeignet sind, wie auch kleinere, leicht in die Hand zu nehmende anfertigen, so: Herz und Lungen, Herz und Adern, die Luftröhre mit den Lungen, den Kehlkopf in mancherlei Gestalt, ferner Quer- und senkrechte Durchschnitte des Gehirns. Nicht minder künstlich, sauber, naturgetreu und für praktische Unterweisung höchst zweckdienlich sind die Präparate Bock’s, welche Hand und Fuß des menschlichen Körpers, seine Nerven, das Auge, das Ohr, die Haut darstellen.

Wir sehen, Professor Bock hat dafür gesorgt, daß der Mensch sich selbst kennen lerne, inwendig und auswendig – zum Heile seiner Gesundheit. Die Schule erkannte die Bock’schen Veranschaulichungsmittel längst als vorzüglich an. Vielleicht verwirklicht sich auch der Gedanke des Professor Bock, daß „jede Familie so einen Torso besitze“. Denn die plastischen Darstellungen, auf die hinzuweisen heute eine Pflicht ist, bilden zugleich die Krone des Werkes, welches in tausenden von Familienbibliotheken aufgestellt ward: des Buches vom gesunden und kranken Menschen. Die plastisch-anthropologischen Lehrmittel sind für die Schule beim Unterricht unentbehrlich, beim Studium des Bock’schen Buches in der Familie aber wünschenswerth, weil ergänzend zu den Abbildungen.

Julius Kirchhoff.




Giftige Kleidungsstoffe der Neuzeit. Die Mode ist eine unumschränkte Herrscherin, die eine fast unbedingte Unterwerfung verlangt; sie besitzt keinen Sinn für Aesthetik, und ihr strenges Regiment äußert sich nur in einem launenhaften Wechsel der Farben, Muster, Formen und Stoffe. Hat es die Mode befohlen, so sieht man bei den Damen die unglaublichsten Façons, ja, sie zaubert selbst neue Körpertheile hervor, wo früher eine natürliche Leere war. Die Männer ertragen das ihnen hierdurch auferlegte Fatum mit stummer Resignation, und zwar aus einem leicht zu erklärenden Grunde: sie sind in diesem Punkte machtlos. Soweit nun die Mode sich mit unschuldigen Stoffen befaßt, wollen wir fügsam sein und uns gegen die strenge Gebieterin nicht auflehnen, aber ein anderer Fall tritt ein, wenn sie den Sinn der Damen mit Gift zu bethören sucht – dann können wir nicht schweigen.

Wie entrüstet war die Männerwelt und insbesondere die sachverständige, als die Mode sich nicht genirte, in die Ballkleider junger Mädchen Schweinfurtergrün zu streuen und sie in diesem giftdurchgrünten Tarlatane tanzen zu lassen. Es entstand hiergegen eine gewaltige Opposition, und das Schweinfurtergrün wurde bis in die Tapeten und Lampenschirme verfolgt.

Dank der von allen Seiten entwickelten Energie ist der Gebrauch dieser arsenikhaltigen Farbe mehr und mehr beschränkt worden, und die vielen Publicationen in der Tagespresse und den Fachblättern haben den Nutzen gestiftet, daß sich heute noch Jedermann bei Anschaffung grüngefärbter Gegenstände in Acht nimmt. Doch die erfindungsreiche Mode hat es verstanden, dem verhaßten und verfolgten Gifte, dem Arsenik, eine neue Farbe als Begleiterin zu geben, die den giftigen Gefährten unter einem sehr ansprechenden Violett verbirgt.

In den letzten Jahren haben nämlich elsässer und englische Firmen eine Mischung von essigsaurer Thonerde und Glycerinarsenik beim Färben der Baumwollenstoffe als Fixirungsmittel angewandt, um dadurch das weit kostspieligere Eiweiß zu sparen und der Concurrenz gegenüber eine möglichst billige Waare herzustellen. Die bei der oben angeführten Mischung entstehende arseniksaure Thonerde bleibt an der Zeugfaser haften, und sollen manche Baumwollenzeuge nach den Analysen von Professor Gintl auf die Elle fünfzehn bis fünfundzwanzig Gran Arsenik in Verbindung mit Thonerde enthalten. Vorzugsweise sind es Baumwollenzeuge und Battiste von prächtiger, neuvioletter Farbe, mit weißen Punkten, Ringen, Sternchen oder Blümchen bemustert, aber auch solche, die mit braungelben und rothbraunen Mustern bedruckt sind. Die Proben, die Professor Gintl in Händen hatte, gaben schon durch einfaches Einlegen in Wasser an dieses eine deutlich nachweisbare Menge Arsenik ab. Offenbar war das Zeug nach dem Bedrucken nicht gewaschen und gespült, sondern sofort appretirt worden. Um die so billige Waare nicht zu vertheuern, unterlassen die Fabrikanten das Waschen derselben, auch würde bei dieser Operation ein theilweises Ausgehen der Farben stattfinden, was ebenfalls gegen ihr Interesse ist.

Der obengenannte Chemiker warnt vor dem Tragen derartiger Kleidungsstoffe, da sie, wo nicht zu acuten, doch leicht zu chronischen Arsenikvergiftungen Veranlassung geben können. Im vorigen Sommer ereignete sich im Holsteinischen ein Fall, der auf eine Vergiftung solcher Art schließen ließ und den ich hier mittheilen will:

Eine Dame in einer kleinen holsteinischen Stadt litt in früheren Jahren an einem chronischen Magenleiden; ihr Zustand besserte sich jedoch in den letzten Jahren sehr; sie erhielt eine bessere Gesichtsfarbe und nahm auffallend an Corpulenz zu. Im Laufe des vergangenen Sommers verlor sie allmählich den Appetit, bekam ein erdfahles Aussehen und klagte über kolikartige Schmerzen, sodaß der sie behandelnde Arzt zunächst der Ansicht war, das alte Magenübel habe sich wieder eingestellt. Gegen diese Ansicht protestirte aber die Patientin auf das Lebhafteste, indem sie behauptete, die Schmerzen säßen tiefer im Leibe, und sie seien ganz anderer Natur als die früher gehabten Magenkrämpfe. Zufällig fällt dem Arzte eine Zeitungsnotiz in die Hände, worin vor dem Ankaufe gewisser neuvioletter Baumwollenzeuge gewarnt wird, da sie arsenikhaltig seien. Und richtig! er findet in einem violetten Kleide, das die Dame im Sommer getragen, eine erhebliche Menge Arsenik. Natürlich mußte der Arzt, nach den angegebenen Krankheitssymptomen, eine Arsenikvergiftung annehmen. Es ist dieser Fall jedenfalls beachtenswerth genug, um zur Warnung des Publicums zu dienen. Das Kleid war von einer bekannten und bedeutenden Firma in Hamburg gekauft worden, und der Verkäufer hatte keine Ahnung von dem Giftgehalte desselben.

Ich ließ aus dem nämlichen Geschäfte fünf Proben entnehmen, um mich von dem Arsenikgehalte der fraglichen neuvioletten Stoffe selbst zu überzeugen, und fand in dreien Arsenik, und zwar in den billigsten von diesen. Mit reinem Wasser konnte ich aus dem Zeuge kein Gift ausziehen, wohl aber durch alkalisches Wasser und ebenso durch verdünnte Säuren. Es scheint demnach bei der Fabrication dieser Stoffe etwas mehr Sorgfalt verwendet worden zu sein, als bei denjenigen, die Professor Gintl untersucht hat. Sie sollen übrigens, wie mir mitgetheilt wurde, aus einer Fabrik im Großherzogthum Baden stammen, und wäre demzufolge diesem nicht zu billigende Fabricationsmethode von dem Elsaß auch schon auf altdeutschen Boden übergetreten.

Das Verfahren der Fabrikanten, die sich verleiten lassen, zur Fixirung der Farben ein gefährliches Gift in Anwendung zu bringen, während ein ungefährlicher Stoff dieselben Dienste leisten würde, verdient eine öffentliche Rüge; denn es liegt kein anderer Grund zu dieser Handlungsweise vor, als durch Verwendung einer billigeren Substanz eine äußerst wohlfeile Waare herzustellen, die jede Concurrenz besiegt und die Taschen der Fabrikanten mit Geld füllt.

Wir kennen aber noch ein anderes Interesse, das wir heilig halten und höher stellen als das des Gelderwerbes – es ist das Interesse für die Gesundheit unserer Mitmenschen.

Dr. Julius Erdmann.




„Herrn Graf’s Reisebriefe und Tagebücher von Albert Brendel“. Wer die drei gelben Hefte vor sich hat, ersieht sogleich an den Vignettenbildchen, welch’ ein Schalk dahinter steckt. Denjenigen unserer Leser, welche schon seit den ersten fünfziger Jahren sich an den „Fliegenden Blättern“ erfreuen, geht mit Herrn Graf’s Wiedererscheinen eine alte liebe Erinnerung auf; zwei Gestalten stehen wieder vor ihrem geistigen Auge, denen sie einst mit ungeheurer Heiterkeit nachgegangen; kurz, die Reisen, über welche Albert Brendel jetzt gesammelte Briefe und Tagebücher (München, bei Braun und Schneider) veröffentlicht, sind in den „Fliegenden Blattern“ gemacht worden, und zwar nach London, zur Weltindustrie-Ausstellung, 1851, nach Berlin 1855, nach Hamburg und Helgoland 1857, an den Rhein 1860 und nach Wien 1868.

Herr Graf und sein Freund, der Maler Kohle, Beide aus Pirna („Bärne“), gehörten, wie Eisele und Beisele, damals zu den Lieblingsfiguren der komischen Bilderwelt, und Brendel versteht es, wie Wenige, im trockensten Elbphilistertone die wunderlichsten Abenteuer seiner ewig unbehülflichen und gepudelten Helden mit einem Humor zu erzählen, der uns nicht aus der behaglichsten Stimmung kommen läßt. – In London wird das Paar der Königin vorgestellt. Herr Graf erzählt: „‚Eure Magehsteht.‘ sagte ich, ‚werden recht sehr entschuldigen, aber –‘ wie ich aber weiter reden wollte, fing Prinz Albert fürchterlich an zu lachen und Madam Vikthorijan sagte: ‚Ah so, Sie sind Deutsche?‘ – ‚Nein, entschuldigen Sie,‘ sagte ich, ‚wir sind aus Pirna bei Dresden.‘ sagte ich. Da lachten sie, ich weiß aber nicht, warum etc.“ – Auf der Rheinreise erzählt er so rührend die Geschichte von dem „Lorchen Lei“ und recitirt sein Leiblied:

„Es hat weiter nichts zu bedeiten,
Daß ich so traurigt bin,
Ein Mädchen aus alten Zeiten,
Die will mir nicht in den Sinn.“

Mit welcher geschichtlichen Treue schildert er, wie schon die braunschweigischen Kreuzritter nicht ohne eine lange Schlackwurst und ein Fäßchen Mumme in den Krieg zogen; wie, bildlich prächtig dargestellt, in der Gegend von Hamburg sich, wegen der vielen Fische, die Angelsachsen ansiedelten, bis sie Karl der Große vertrieb, um selber hier zu angeln, – und wie jubelt Herr Graf – nicht in der Kaiserstadt Wien, sondern in dem „Wien, wo die schönen Damen blih’n.“ – Inhalt, Illustrationen und Ausstattung halfen hier zusammen, daß dem Buchhandel durch A. Brendel eine gesunde und wohlbekommende Gemüthskost in die Hand gegeben werden konnte. Möge sie so harmlos, wie sie ist, begrüßt und genossen werden!



Kleiner Briefkasten.


Kl. in Wbg. Die im Januarhefte 1876 unseres Blattes gebrachte Notiz „Schutz den Krähen“ bezieht sich nicht, wie angegeben wurde, auf den Borkenkäfer (Bostrichus typographus), sondern vollinhaltlich auf den ebenso schädlichen Fichten-Rüsselkäfer (Curculio pini).

C. W. in Königsberg. Das Manuscript „Die Verlobung des Prinzen Friedrich“ eignet sich nicht zur Aufnahme. Wir bitten darüber zu verfügen.

Forsthaus M. bei H. Bitte um deutliche Angabe Ihres Namens. Wann und wo wollen Sie dem Redacteur dieser Blätter als Führer gedient haben?


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Cléments Persönlichkeit, Auftreten und Handlungen haben nachmals sogar auf das versailler Kriegsgericht einen so günstigen Eindruck gemacht, daß es dieses Mitglied der Kommune mit der fast beispiellos gelinden Strafe von nur drei Monaten Haft belegte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verinnt