Die Gartenlaube (1877)/Heft 14

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 14.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Toni hielt es nicht lange mehr im Zimmer aus; sie wollte die Gegend sehen und die Abendluft des Thales athmen. Die Mädchen nahmen die Hüte und gingen in den Obstgarten hinaus und zum Flusse hinunter. Am Wasser standen altersgraue Weiden, hohl und wie ausgebrannt, nahe bei einander. Die Fluth murmelte leise in den Unterspülungen des Ufers, und in träumerischer Ruhe lag ein nicht eben großer Kahn vor den Augen des Commerzienrathkindes, mit der Kette an einen Pfahl geschlungen. Das Ruder befand sich auf dem Grunde desselben.

Toni klatschte in die Hände. „Ein Kahn! Wir müssen einmal fahren, Milli. Kannst Du nicht das Ruder führen?“

„Ich kann es wohl, liebes Herz, aber die Strömung ist wegen des nahen Wasserfalles stärker, als die ruhige Fläche glauben läßt. Vielleicht leiht uns mein neuer Freund Harro später seinen starken Arm dazu. Es ist geisterhaft schön hier unten gewesen in den letzten Nächten, wo der Mond auf das Wasser schien und die Nachtigall im Busche drüben sang.“

„Hast Du denn Mondscheinspazierfahrten mit Deinem neuen Freunde gemacht?“ fragte Toni.

„Nein, kleine Unschuld,“ lächelte die Begleiterin. „Ich habe sie mutterseelenallein gemacht. – Für mein armes Bischen Leben übernehme ich die Verantwortung schon, aber für Dich nicht, wenigstens nicht allein.“

„Ich bin doch neugierig auf diesen Harro oder wie er heißt. Gefällt er Dir denn? Und ist er wirklich so stark? Was treibt er eigentlich, und wie kommt er hierher? Gehört er zu den Schwarzen oder Braunen oder Blonden?“

„Sieh' ihn Dir an, mein Engel! Wenn Du klettern kannst, so steigen wir auf die Felsen und sehen, ob er kommt.“

Sie stiegen wirklich die Felsen hinauf, einen schmalen, beschwerlichen Schlangenweg, im Dufte der Bergflechten und des wilden Thymians. Als sie auf dem Gipfel zwischen Klippen und Blöcken standen, lag der Berg im röthlichen Glanze der sinkenden Sonne zu ihren Füßen, und weiterhin streckte sich der Thalwinkel, mit weidenden Kühen, lief unten, und ein paar heimkehrenden Arbeitern und Weibern.

„Da,“ sagte Toni plötzlich überrascht und deutete zum Flusse hinüber. „Das ist ein Zigeuner.“

Auf dem jenseitigen Ufer, den Wald im Rücken, stand in der That ein Mensch, wie es schien mit einem Angelstocke in der Hand, und seine Tracht verrieth den Zigeuner. Er blieb regungslos wie eine Bildsäule.

„Sie treiben viel Fischfang, und wie Harro sagt, mit merkwürdigem Geschicke. Der da unten ist der Bruder Deines Zigeunermädchens. Uebrigens sehe ich Harro nirgends; er bleibt länger als sonst aus.“

Sie senkte die Augen, als sie das Zigeunermädchen nannte, und zuletzt schritt sie abgewandt zwischen dem Gesteine hin in der Richtung, in welcher der Fluß lag; nur einen Moment blickte sie über die Schulter zurück und winkte der Freundin, ihr zu folgen. Kurz darauf standen sie bei einer zerrissenen Klippenwand und blickten mit leisem Schauer in den brausenden, schäumenden Kessel nieder. Ein Lufthauch, der zu ihnen herauf drang, wehte sie feucht an.

„Das ist schön,“ flüsterte Toni.

„Schön und schauerlich,“ meinte ihre Gefährtin. „Die Leute erzählen sich, daß ein unvorsichtiger Knecht eines Tages mit dem Kahne von der Fluth überwältigt und mit hinabgestürzt worden sei. Die wüthenden Wasser haben ihn gegen einen der Zacken da geschleudert, und bei der Brücke hat man die Leiche und die Kahntrümmer aufgefischt.“

Toni schloß die Augen. „Mich schwindelt,“ sprach sie, den Kopf abwendend und mit der kleinen Hand fest einen Vorsprung umklammernd, „laß uns gehen! Vielleicht können wir auf der andern Seite dort hinunterklettern. Führt da kein Weg?“

„Ah, dort kommt Harro, und er schwenkt den Hut zum Zeichen, daß er uns gesehen hat. Bleiben wir hier!“

„Also das ist er?“ sagte Toni vor sich hin. „Und er ist wirklich nur Deinetwegen hier, Milli? Liebt er Dich denn etwa auch? Oder weiß er am Ende gar nicht, daß Du bald heirathen wirst?“

Emilie antwortete nicht. Sie setzte sich auf einen Steinblock und blickte feuchten Auges in die Abendluft, während Toni sich zu ihren Füßen kauerte und ihr unverwandt in das schöne, verklärte Gesicht sah.

„Toms liebte Mieken, mein Schatz. ‚Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu, und wem sie just passiret, dem bricht das Herz entzwei.‘ Das ist richtig, ausgenommen den Schluß, denn ein Herz kann viel mehr vertragen, als die meisten Menschen glauben. Ich habe viel gelernt, seit ich in dieser Einsamkeit wohne, und es war eine schwere Lection, die mir gar nicht in den Kopf wollte. Das Herz ist ein Weib, ein armes, schwankendes, launenhaftes, leicht verführtes Weib, das gern den Herrn im Hause spielen möchte und nicht das Zeug dazu hat. [222] Es ist ein Unglück, daß der Mann, der Herr Verstand, sich so leicht unter den Pantoffel fügt, wenn das Herz weint und sich in Krämpfen windet; er ist wie alle Männer und kann keine Frauenthränen vertragen. Weißt Du, mein Kind, warum das Herz die Herrschaft nicht haben darf? Ich will es Dir sagen: weil es die höchste Macht über Allem niemals begreifen wird, das ‚Muß‘. Das ist der große König der Welt; das ist Gott selber. Am Nordpol steht ein Eisberg, der in die Wolken ragt; seine Wände sind steil und spiegelglatt, und die Seufzer und Wünsche versuchen alle Tage in Schaaren aufwärts zu klimmen, und heiße Gebete aus angstgepeinigten Herzen quälen sich ab, um das Eis zu schmelzen – Alles umsonst; es geht nicht. Oben thront in ungestörter Ruhe der hehre Gott, die Strahlenkrone blutigen Nordlichtscheins um das Haupt; er hört nichts; er sieht nichts, aber sein Mund murmelt unablässig die strengen Gesetze des Weltlaufes, und wer das Ohr geschärft hat, vernimmt sie, und wer sich unter sie beugt, der ist glücklich. – Glücklich!“ wiederholte sie für sich, und in ihrer Stimme bebte mühsam verhaltene Empfindung. „Das Herz meint immer, es könne allein beglücken, aber es ist ein dummes, gedankenloses Glück, und ein Wort des Allmächtigen auf dem Throne im fernsten Norden schlägt es in Trümmer.“

Toni hatte nachdenklich zugehört und begann wie mechanisch Feldnelken, Scabiosen und Glockenblumen, die in der Nähe standen, zu einem Strauß zusammenzupflücken. „Ich verstehe aus alledem doch nur, daß Du unglücklich bist, arme Milli,“ sagte sie.

Emilie schüttelte langsam den Kopf. „Nicht unglücklich, – nur noch nicht ganz glücklich. Es ist so schwer, das zu werden, besonders für uns Frauen. Ich wollte, ich wäre ein Mann, ein so kraftvoller, willensfreudiger, gewaltiger Mann wie dieser Harro.“ Sie schwieg einen Moment; dann warf sie einen scheuen Seitenblick auf Toni und fragte leichthin: „Bist Du in jüngster Zeit öfter mit Urban zusammengekommen? Wie benimmt er sich denn? Du wirst begreifen, daß er meinem Herzen nicht mit einem Male fremd geworden ist.“

„Ich finde ihn nicht sehr verändert, aber er wird sich wohl etwas verstellen. Ich glaube, er ist doch recht unglücklich. Er möchte gar zu gern noch einmal mit Dir reden.“

„Gott behüte ihn und mich davor!“ sagte Emilie.

Der Friese kam den Weg herauf, den Hut in der Hand und die Stirne mit einem Tuche trocknend. Der wunderliche Zufall hatte ihn wirklich mit der Schwester des Freundes zusammengeführt, und der ruhelose Feuerkopf hatte sich von der Erscheinung des schönen Mädchens an das stille, dürftige Wirthshaus zur Erlenfuhrt binden lassen, da er bei ihr ein so merkwürdiges Verständniß für seine Ideen und Bestrebungen fand. Er war bald der tägliche Gast in dem Bauernhause, das sie beherbergte, und wenn er einmal eine Viertelstunde weit in’s Land gegangen war, dann fühlte er es wie Blei an seinen wanderlustigen Füßen hängen und kehrte tiefsinnig in seine Herberge zurück. „Unsere Sache ist ohnehin noch nicht reif, und die Polizei wird sich auch nicht grämen, wenn ich ihr ein paar Wochen lang aus den Augen gehe,“ so entschuldigte er sich vor sich selber.

Er begrüßte die Mädchen mit Lebhaftigkeit und ließ Emilie kaum Zeit, ihm Toni vorzustellen. „Wissen Sie auch, liebes Fräulein, daß die Alte – sie ist übrigens noch in den Dreißigern – diese Nacht schwerlich überleben wird?“

„Was macht denn die Junge?“ fragte Toni.

„Sie briet eben einen Igel am Spieß und weinte dazu, wie ich wegging. Ich hätte gar nicht geglaubt, daß diese Heiden soviel Gefühl haben.“ Er sagte das ganz ernsthaft.

Man stieg den Berg hinunter. Der Himmel glomm seltsam, und der Rauch quoll schwer und träge aus den Schornsteinen der verstreuten Häuser; das Tosen des Wasserfalles, in welches sich das Zirpen der Grillen fast auflöste, klang deutlich und scharf durch die feuchte Luft. Harro fuhr, sich bückend, mit der Hand über das thauige Moos am Boden und prophezeite Regen.

Vor dem Bauernhause trennte er sich von den Mädchen; er müsse einen langen Brief schreiben, den anderen Tages in der Frühe der Postbote mitnehmen solle. Toni stieß die Freundin heimlich an und erinnerte sie halblaut an die versprochene Kahnfahrt, und der Friese, der die Worte verstanden, ließ sich Auskunft darüber geben, um was es sich handle. Er versprach dann seinerseits, nach etwa anderthalb Stunde an den Fluß zu kommen, wo er die Mädchen erwarten wolle.

Aus der Dämmerung blühte die Nacht auf. Wie ein schwarzer Zaun ragten die Uferweiden vor dem Flusse auf, als die beiden Freundinnen durch den Garten zum Kahne hinunter schritten. Die Nachtigall schlug wirklich in den Büschen des anderen Ufers schmelzend und schmetternd; das Rauschen des Falles klang hier entfernter und sanfter. Glühwürmchen saßen wie Feuerfunken im feuchten Grase, durch das ihr Fuß wandelte.

Toni stieß einen Laut der Ueberraschung aus: „dort ist er,“ sagte sie. „Er ist pünktlich.“

Es war ihr gewesen, als hätte sich zwischen den Weiden etwas bewegt. Aber sie mußte sich wohl getäuscht haben, denn als sie schärfer zusah, konnte sie nichts gewahren, als die dicken, dunklen Weidenstämme, zwischen denen der Fluß im Mondlicht glänzte, und als sie nahe heran kamen, war die Stelle des Ufers, bei welcher der Kahn lag, völlig leer und das Fahrzeug lag träge und unbewegt.

„Wir wollen einsteigen und es uns einstweilen bequem machen,“ meinte Toni halblaut. „Weißt Du auch, daß es mir ordentlich ängstlich zu Muthe ist? Ich bin so wenig an solch eine Einsamkeit gewöhnt.“

Milli Hornemann stieg voraus. „Jetzt werde ich Dich losbinden,“ scherzte Toni und wickelte die klirrende Kette vom Pfahle; „Du sollst einmal zeigen, ob Du wirklich allein den Kahn regieren kannst.“

Plötzlich hielt sie inne; es raschelte neben ihr, und sie vernahm einen festen Schritt. „Ach, Herr Harro, Sie wollten uns überraschen,“ sagte sie, sich aufrichtend, und sie fühlte ihr Herz bis in die Schläfe hinauf klopfen.

Ein Mann stand vor ihr, aber der erste Blick sagte ihr, daß es nicht Harro war. Sie fühlte eine kräftige Hand die ihre erfassen und sah mit einem Male die blitzenden Augen Urban’s dicht vor ihrem Gesicht. „Warten Sie ein Weilchen hier, Fräulein Toni – ich flehe Sie an,“ raunte er in tiefer Erregung. Und blitzschnell sprang er in den Kahn, der heftig schwankend mit dem Paare in das Wasser hinausflog, während die Kette sich mit heftigem Rucke vollends vom Pfahle löste und über den Boden schleifend in’s Wasser fiel.

Alles das war das Werk eines Augenblicks. Toni war mit tiefem Entsetzen in die Kniee gesunken und starrte wie gelähmt auf das Fahrzeug. Ein breiter, krauser, glitzernder Wellenstreif zog sich von demselben bis zum Ufer.

„Mein Gott, nun bin ich ganz allein,“ murmelte sie endlich. „Er läßt nicht von ihr, und ich habe ihn doch so lieb, so lieb.“ Und ihr armes junges Herz zog sich schmerzhaft zusammen, daß sie die Hand auf die Brust drücken mußte, so fest, daß sie meinte, es könne sich gar nichts mehr regen und bewegen in der Brust da drinnen.

Urban ergriff das Ruder und sagte nur: „Guten Abend, Milli!“ Dann nahm er am Ende des Kahnes Platz und begann mit aller Macht zu rudern, daß das Wasser in tiefen Strudeln gurgelte und die funkelnden Tropfen streifenweise in die Luft flogen.

„Heinrich – Herr Doctor –“ stieß das junge Mädchen angstvoll hervor und machte vergebliche Versuche, sich von ihrem Platze zu bewegen, „fahren Sie mich zum Ufer zurück! Was wollen Sie von mir – wer giebt Ihnen das Recht – –?“

Das Geräusch des Wassers und die klatschenden, rasch sich folgenden Ruderschläge verschlangen die Hälfte ihrer Worte; sie schlug endlich die Hände vor das Gesicht und ließ den Gewaltthätigen gewähren. Pfeilschnell schoß das Gefährt bis in die Mitte des Flusses, und hier hielt Urban plötzlich inne, richtete sich mit tiefem Athemzuge auf und blickte, auf das Ruder gestemmt, zu der regungslos zusammengekauerten Mädchengestalt am entgegengesetzten Kahnende hinüber.

„Jetzt bist Du meine Gefangene, Du Schöne, Stolze, Treulose, und kein Gott noch Dämon rettet Dich aus meiner Hand, wenn ich Dich nicht freigebe,“ sagte er mit tiefer Stimme, aus der es wie unterdrücktes Jauchzen klang. „Mein Stern hat mich geführt; der Einfall, heute noch in Dein Patmos zu dringen, ist vom Himmel in meine Seele gefallen wie der Thau, der die Erde netzt, und ich will den glücklichen Augenblick nützen und den letzten Tropfen aus ihm herauspressen. „Vergieb mir, Milli!“ [223] fügte er weicher hinzu. „Ich habe heute Abend das volle Gefühl gehabt, daß ich unselig bin ohne Dich, daß mein Leben eine lechzende Wüstenwanderung sein würde, wenn ich Deine wunderbaren Augen nicht sehen, Deine königliche Gestalt nicht zuweilen umschlingen darf. Warum hast Du mich von Dir gestoßen wie einen Stein, den man aus dem Wege räumt? Hast Du mich nie geliebt? Ich frage Dich das Eine nur: hast Du mich nie geliebt?“

Sie hob das Gesicht empor, auf welches der volle Mondenglanz fiel, und es sah herb und kalt aus. „Du weißt das so gut wie ich,“ erwiderte sie mühsam athmend; „welchen Nutzen soll es haben, die Geister von Todten zu beschwören, die nie wieder Blut und Leben haben werden? Nie wieder! Hörst Du wohl? Eher werden die Berge hier sich über den Fluß neigen und einander küssen, ehe unsere Lippen einander wieder begegnen.“

„Warum? Bei allen Heiligen warum? Mache mir das begreiflich, überzeuge mich von der Nothwendigkeit! Vielleicht, daß Du eine solche siehst, wo gar keine vorhanden ist. Mein Kopf ist erfinderisch; ich will Tag und Nacht brüten, ich will Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um einen Ausweg für Dich zu ersinnen; vielleicht auch, daß ich einsehe, es mußte so kommen, wie es gekommen ist – dieses gespensterhafte, formlose Ungewisse, das mich von Dir trennen soll.“

Sie schwieg.

Er trat in die Mitte des Kahns, ohne Notiz davon zu nehmen, daß das Fahrzeug in bedrohliches Schwanken gerieth.

„Mädchen,“ fuhr er leidenschaftlicher fort, „Du mußt reden; ich habe ein Recht, es zu verlangen. Ich habe mir Dein Vertrauen erkauft und gezeigt, daß ich zu jedem Opfer für Dich bereit war. Um Deinetwillen habe ich einen Gewaltstreich nicht gescheut, der mich meinen besten Freund, meine liebsten Pläne und wahrscheinlich mehr noch gekostet haben würde –“

„Um meinetwillen?“ fragte sie langsam. „Das ist bitter.“

„Klaube nicht an Worten!“ fiel er ein. „Du siehst selber ein, daß ich nicht die Absicht haben kann, Dich zu beleidigen. Aber ich will Klarheit, Klarheit um jeden Preis. Willst Du sie mir geben?“

„Nein,“ sagte sie nach einer Pause. „Ich darf nicht. Ich bitte, daß Du diese peinliche Unterredung abschneidest, welche Du zu erzwingen rücksichtslos genug gewesen bist. Ich muß die Liebe zu Dir ausrotten, Wurzel für Wurzel. Laß mir wenigstens die Achtung vor Dir!“

„Milli,“ schrie er auf und sank im Kahne nieder, und mit dumpfer Stimme fügte er hinzu: „Habe Mitleid, tritt mich nicht mit Füßen! Ich bin ein hochmüthiger Mensch, und ich weiß das; es kann sich Niemand rühmen, mich gebeugt zu haben. Aber in dieser Stunde – nun gut, in dieser Stunde will ich Alles ertragen, so lange ich noch einen Funken von Hoffnung habe. Laß mich alle Qualen aus Dante's Hölle kosten, Alles, was die Inquisition ersonnen hat, um einem Menschen die Erde zu verleiden – aber sei wieder mein! Laß uns weit von hier gehen, wohin keine Kunde von diesem Erdenwinkel dringt! Meine Wissenschaft ernährt uns, und wir wollen uns tagtäglich vormalen, wie glücklich die Menschen hier ohne uns sind, bis wir beide daran glauben. Du rettest eine Seele. Es wohnen böse Geister in mir, halb Schlangen, halb Skorpionen, und sie haben zu schwärmen angefangen, seit Deine süße Stimme sie nicht mehr bannt: werde mein Weib, und der Himmel hat einen Bürger mehr. Willst Du, Milli, Geliebte?“

Sie stöhnte aus tiefster Brust; ihre Augen brannten, und um ihren Mund zuckte es wie verborgenes Weinen. „Allmächtiger, was muß ich ertragen!“ sagte sie, und „Nein!“ fuhr sie auf, sich zu voller Höhe emporrichtend. „Hast Du denn kein Erbarmen mit mir? Begreifst Du nicht, daß ich nur thue, was ich thun muß? Glaubst Du nicht, daß mein Herz, zerrissen und blutend, mich mehr verklagt hat, als Du es kannst, und bedarf es noch eines Fingers, der mit Wollust in den Wunden wühlt? Fahr' mich an's Land! Mir ist elend zum Sterben.“

Er sprang auf, noch immer das Ruder in der Hand. Der Kahn bewegte sich auch ungetrieben vorwärts, von der Strömung getragen, und das Rauschen des Wasserfalles kam langsam näher.

„Sterben,“ wiederholte er langsam und nachdenklich; „ein schöner Gedanke! Was meinst Du dazu, mein eigensinniger Engel? Wenn ein schlechter Erzähler in der Geschwindigkeit den Knoten nicht zu lösen weiß, dann läßt er den deus ex machina erscheinen mit dem durchsichtigen Knochenleibe und der Hippe und zerschlägt ihm das Stundenglas, damit er glauben soll, es sei abgelaufen. Hörst Du es dort branden? Wie, wenn das die Wellen der Ewigkeit wären, welche an das Ufer des Diesseits schlagen? Wir fahren langsam, um einander geschlungen, näher und näher – kein Laut, kein Sträuben – und das unersättliche Jenseits hat wieder ein Stückchen Diesseits verschluckt. Wie? Es wäre wahrhaftig nicht der schlechteste Bissen.“

„Heinrich, Du bist wahnsinnig. Gieb mir das Ruder!“

Sie stieg rasch über einen Sitz und griff nach dem Werkzeuge, um es ihm zu entreißen, aber er hielt es hinter den Rücken, weit von sich ab.

„Wahnsinnig?“ fragte er, die Zähne zusammen beißend. „Das ist ein ganz unzutreffender Ausdruck, Mädchen. Ich bin entschlossen zum Aeußersten, aber ich habe meine fünf Sinne beisammen. Ich lasse Dich diesem Zehren nicht. Du hast mich bis zur Verzweiflung gereizt, und nun will ich entweder ein Gott sein oder ein Teufel. In beiden Fällen schiert es mich wenig, ob sie morgen zwei Stunden von hier Revolution haben werden oder nicht. Siehst Du das Ruder, Liebchen?“ – und er hielt dasselbe noch hinter sich in die Luft. „Wenn ich es von mir schleudere, ist die Brücke hinter uns abgebrochen, oder es geschieht ein Wunder. Willst Du mein Weib werden – ja oder nein?“

Sie kreuzte die Arme über die Brust. „Jetzt unter keiner Bedingung,“ sagte sie verächtlich.

„Milli“ – seine Stimme klang noch einmal warm und leidenschaftlich – „ja oder nein?“

„Nein!“

„Nun dann –“ rief er außer sich, und das Ruder flog in mächtigem Schwunge weit ab in das aufblitzende Wasser.

„Nun bist Du mein,“ sagte er mit wilder Freude. „Untrennbar, ewig, ohne Rettung.“

„Glaubst Du, Mörder,“ sprach sie. „Es käme auf einen Versuch an.“

Einen Augenblick sah er ihr Antlitz dicht vor sich, daß ihr Athem ihn berührte. Dann schwang sie sich leicht auf das Sitzbrett; er griff nach ihr, aber er faßte in die leere Luft. Wie Schwanengefieder blinkte ihr weißes Kleid über der Wasserfläche – dann schlugen die aufwallenden Wogen über ihr zusammen, während der Kahn, von ihrem Fuße abgestoßen, ein ziemliches Stück seitwärts flog.

„Heiliger Gott!“ schrie Urban, der taumelnd das Gleichgewicht verlor und auf den Boden des Fahrzeugs niedersank.

Er blickte mit gierigen Augen nach der Stelle hinüber, wo sie wieder auf die Oberfläche tauchte. Er hörte nichts von den angstvollen Hülferufen, die vom Ufer her geisterhaft herüberklangen. Er sah nur die weißen Arme einen Moment sich über das Wasser heben und den stolzen Körper sich ruhig bewegen; kein Hasten, kein Ringen – nur ein glattes, gleichmäßiges Schwimmen.

Seine Blicke irrten unsicher umher.

„Sie kann schwimmen,“ sprach er vor sich hin, „und ich werde allein zu Grunde gehen.“

Er beobachtete, wie die Entfernung zwischen ihm und ihr sich vergrößerte und wie sie stoßweise weiter gelangte, und es fiel ihm ein, daß sie die Kunst, welche sie aus seinen Händen rettete, in der Pension gelernt; sie hatte das einmal gelegentlich gegen ihn ausgesprochen.

„Hurrah!“ tönte es vom Ufer her, „nur Muth! Es geht wahrhaftig.“

Urban horchte auf. „Der Friese,“ murmelte er überrascht, „das muß seine Stimme sein. Wie kommt der Mann hierher?“ Eine Combination blitzte in ihm auf: wie, wenn es nicht Zehren war, der ihm Emilie geraubt, sondern der hünenhafte, blondlockige Demagoge? Lag da ein Geheimniß vor, von dessen Existenz er bisher keine Ahnung gehabt?

Er lachte bitter. „Der Eine oder der Andere – gleichviel. In fünf Minuten werde ich Alles oder Nichts wissen.“

Die Strömung riß den Kahn zusehends rascher vorwärts; er hörte das hohle Brüllen des Falles ziemlich nahe und sah deutlich die weißliche Nebelwolke, die über demselben in der Luft schwebte. Er sah auch, daß die dunkle Wand am Horizont hoch aufgestiegen [224] war und sich in Wolkenballen auflöste, deren Ränder das Mondlicht säumte. Abgerissene Töne der Nachtigalltriller klangen aus dem Walde zu ihm herüber.

Er blickte sich nach dem Ruder um, das er weggeworfen hatte; es schwamm weitab seitwärts; die Strömung entführte es nach einer völlig andern Richtung als den Kahn. Dann spähte er an der Linie der Ufer hin und über die glänzende Fläche des Flusses, als ob doch in ihm der Wunsch nach Rettung erwachte, und als er nichts gewahrte, außer daß die Entflohene dem Ufer nahe war, beugte er den Kopf und versank in dumpfes Brüten.

Emilie war in der That in den Schatten der Uferbäume gelangt; ihre Brust keuchte und ihre Kraft war dem Erliegen nahe, aber die Geistesgegenwart hatte sie keinen Moment verlassen. Am Ufer stand Harro und hielt ihr mit begeistertem Zuspruche eine lange Stange entgegen, welche er irgendwo aufgetrieben hatte; sie erfaßte dieselbe mit beiden Händen, und er mußte sie bis zum Rande hin ziehen, denn das Wasser hatte auch hier noch über Mannestiefe. Dann sank er auf die Erde, nahm ihre bloßen Arme und zog sie zu sich hinauf. Einen Moment hielt er das schöne Mädchen, welches todtenblaß war und schwer athmete, an seiner Brust, und ein Schauer durchrieselte den starken Mann bis in's Mark.

„Nun habe ich eine Nixe im Mondscheine schwimmen gesehen,“ sagte er mit heimlichem Jubel. „Aber was ist geschehen? Wer ist der Schuft, der dort in den Tod treibt? Stützen Sie sich auf mich! Wir müssen Ihre arme kleine Freundin aufsuchen; ich glaube, daß sie zehn Minuten von hier im Grase liegt und ohnmächtig ist.“

Emilie hatte ihre Kraft wiedergefunden und drängte ihn ängstlich zurück. „Retten Sie ihn!“ stieß sie hastig hervor, „um Gotteswillen! Sie müssen eine Möglichkeit finden; es ist die höchste Zeit: er darf nicht sterben. Hier unten, hundert Schritt weiter hinter dem Gestrüpp, liegt noch ein Kahn. Ich habe ihn gesehen. Eilen Sie – helfen Sie.“

Der Friese eilte davon, und kurz nachher klang eine Kette in der Richtung des Weidengebüsches, und ein zweiter Kahn glitt pfeilschnell in den Mondschein hinaus. Zugleich rauschten Kleider auf der andern Seite, und kaum im Stande, sich aufrecht zu halten, schwankte Toni herbei und stürzte der Freundin zu Füßen, deren Kniee sie krampfhaft schluchzend umfaßte.

„Milli, er muß ja sterben,“ stöhnte sie, „er wird hinabstürzen wie der Knecht und die Wasser werden sein schönes, edles Gesicht gegen die gräulichen, schwarzen Zacken schleudern daß es zerschmettert wird und daß sie ihn bei der Brücke als Leiche herausziehen. Ach, und ich liebe ihn so sehr, viel mehr als Du, ich habe mir nur nichts davon merken lassen, denn ich weiß, daß ich ihm ganz und gar gleichgültig bin, und daß er nur Dich anbetet, die jetzt gar nichts mehr von ihm wissen will. Jetzt darf ich es Dir sagen, wo ihn die tückischen Wasser schon haben, gegen die er sich gar nicht wehren kann; denn ich habe wohl gesehen, daß er das Ruder von sich geworfen hat. Ach Gott, wenn ich nur beten könnte, aber es liegt mir Blei im Kopfe. Ich glaube es nicht, daß ihn Dein Freund im Kahne dort noch erreichen wird – siehst Du, wie weit sie noch von einander sind, und er hat nur ein kleines Stückchen noch – da – Milli – Milli – –“

Ihre Arme lösten sich schwerfällig von den Knieen der Freundin, und sie sank dieser in tiefer Ohnmacht vor die Füße. Emilie warf nur einen Blick nach dem Falle hin; dann kauerte sie sich auf dem feuchten Boden nieder, die Hände vor das Gesicht drückend und leise ächzend: „Engel des Himmels, steht ihm bei – –“

Urban hatte das Erscheinen des zweiten Kahnes bemerkt; er maß die kurze Strecke Wassers, die ihm noch zu durchmessen blieb, und murmelte: „Vergebliche Mühe!“ Er blickte vorwärts und sah das Wasser pfeilschnell sich bäumen wo es hinter das Profil des Falles tauchte. Sein Gesicht wurde feucht; der Wasserdunst rieselte auf seine Haut.

„Rettung!“ sagte er heiser; „es ist doch kein rechter Grund vorhanden, warum ich jetzt dem Nichts in den Rachen springen soll.“

Er fühlte, wie seine Kehle ausgetrocknet war und wie ein leichter Schauder über ihn kam.

„Ruhig! Nur kaltes Blut behalten!“

Noch eine Secunde.

In dem Dunst vor ihm tauchte zwischen den sich überstürzenden Wassern etwas Dunkles auf und unter; es war eine Klippe. Mit einem heftigen Ruck flog das Fahrzeug dagegen und drehte sich in halber Wendung, und der verlorene Mann im Kahne griff plötzlich, sich hinausbeugend, mit beiden Armen um das Felsstück. Der Kahn schoß unter ihm hinweg, nicht ohne seinen Körper mit sich hinüber zu reißen, und schlug dann im Sturz um. Urban hing einige Augenblicke; er versuchte in die Tiefe zu blicken, um sich zu orientiren, aber Sturzwellen flutheten plötzlich über ihn hinweg und beraubten ihn des Gesichts und des Athems. Eine ungeheure Kraft drängte unablässig gegen ihn und schleuderte seinen Körper herüber und hinüber, wie der Wind ein Stück Wäsche an der Leine. Unter ihm brüllte und zischte es; er vernahm hohle, seltsame Töne, ein melodisches Murmeln und Singen dazwischen, welches die Wirbel in den Klippenhöhlen und Löchern verursachten.

Zuletzt ließ er den Anhaltspunkt fahren, und die Sinne schwanden ihm. –

Der Friese war auf halbem Wege umgekehrt; er hatte alle Kraft vonnöthen um dem Strome Widerstand zu leisten, und landete ein gutes Stück unterhalb des Ausfahrtplatzes. Als er den Kahn wieder an den Pfahl befestigt hatte, nachdem er ihn bis zu demselben stromaufwärts gezogen, stand er ein Weilchen still. Ein heimliches Bangen beschlich ihn vor dem Gedanken, zu den beiden Mädchen zurückzukehren, welche eine so leidenschaftliche Theilnahme an dem Schicksale des Unglücklichen gezeigt hatten, den er nicht hatte retten können. Wer war dieser Mann gewesen, dieser – glückliche Unglückliche? Jetzt erst kam ihm das Räthsel der Scene, deren Ausgang er mit angesehen hatte, zum vollen Bewußtsein: ein einzelner Mann im Kahne, – von den beiden Freundinnen nur die schöne, ernsthafte Milli Hornemann bei ihm, während die andere ohnmächtig am Ufer lag, – endlich sie, deren Brust er noch an der seinigen athmen zu fühlen meinte, deren nixenhaft blasses, schmerzlich flehendes Gesicht er mit heißer Empfindung dicht vor sich sah, wie er zuvor gesehen, sie, die verzweifelte Flucht durch das tückische Element wagend, während der Mann im Kahne ruderlos in den Tod trieb – was hatte das zu bedeuten?

Alles in allem: welch ein Empfang wartete seiner, wenn er wieder vor Milli Hornemann trat?

Der blonde Friese war eine viel zu gesunde Natur, um länger als eine Minute sich vor dem Anblick von Schmerzausbrüchen zu fürchten. Aber eine andere Empfindung hielt länger vor: ein heimliches eifersüchtiges Brennen und Nagen in seiner Brust, die leise Bitterkeit einer Enttäuschung. Die klare, edle Gestalt des jungen Mädchens, die ihn inmitten der Idylle der Erlenfuhrt so frei und harmonisch angemuthet hatte, die er hier gefunden wie eine einsame Sonne unter dunkeln Planeten, war plötzlich mit der Außenwelt verknüpft. Ein Nachtstück menschlichen Lebens forderte sie zu sich; finstere Geister der Leidenschaften hingen sich an ihre Ferse und starrten ihn fratzenhaft an. Während der Zeit ihres gemeinsamen Genießens in der traulichen Einsamkeit dieses Erdenwinkels war es ihm allmählich geworden, als gehörten sie Beide zu einander, als ginge sie die übrige Welt nichts an. Und nun war die Täuschung zerrissen; es gab – vielleicht besser: es hatte einen andern Mann gegeben, mit dem ihre Vergangenheit verknüpft war.

Hatte sie diesen Mann geliebt?

Er dachte einen Augenblick daran, in das Wirthshaus zu gehen und seine Tasche zu packen, um in aller Stille und so schnell wie möglich seine Kometenirrgänge durch die Welt fortzusetzen; er verspürte den Trieb, die ganze Nacht hindurch zu wandern. Aber da durchrieselten ihn wieder die süßen Schauer, die er vorhin empfunden, und erst langsam, dann schneller schritt er hinter den Uferbäumen hin, der Stelle zu, wo er sie verlassen hatte.

Plötzlich fuhr er aus seinem Brüten auf. Er war zuletzt lautlos in weichem Grase gegangen und befand sich kaum zehn Schritte von den Mädchen entfernt. Emilie stützte die todtmatte Toni, welche einen Moment aufschluchzte und dann schwieg, um kurz darauf wieder zu schluchzen.

(Fortsetzung folgt.)
[225]
Der Dichter der „Sturmfluth“.


Keine Form, deren sich die schöpferische Phantasie des Dichters bedient, ist so geeignet, ein Culturgemälde des Jahrhunderts zu geben, wie der Roman. Er ist nicht nur die volksthümlichste Gattung der Poesie, sondern kann auch in seinen weitgesteckten Grenzen eine fast unendliche Lebens- und Gedankenfülle zum Ausdruck bringen. Mit Recht betrachten daher alle Talente, die sich nicht mimosenhaft vor der Berührung mit der Gegenwart zurückziehen, sondern frisch aus ihrem Geiste heraus dichten, den Roman als eine jeden bedeutsamen Inhalt willig tragende Form.

Unter den Vertretern des Zeitromans hat Friedrich Spielhagen in wenigen Jahren die seltensten Erfolge erzielt und sich durch die geistreiche Behandlung und graziöse Form seiner Schöpfungen zu einem Lieblinge seines Volkes gemacht. Von all unseren Erzählern erscheint dieser Autor recht eigentlich als der Dichter unserer Zeit, mit deren Verhältnissen und Erscheinungen, mit deren politischem und socialem Ringen er auf das Innigste vertraut ist. Für Spielhagen ist der Einfluß, den die umgebende Welt auf ihn ausübt, kein lästiger Zwang, sondern ein freudiges Behagen. Von der Würde und dem hohen Berufe der Gegenwart auf das Tiefste durchdrungen, hat dieser Schriftsteller seiner Nation einen Spiegel vorgehalten und alle Wandlungen des Volksgeistes, vom unklaren Ringen bis zum herrlich erreichten Ziele, in bleibenden Kunstwerken geschildert. Geleitet von einem sehr deutlich wahrnehmbaren Principe, hat Spielhagen in seinen Romanen die Geschichte eines vollen Menschenalters, von dem tollen Jahre 1848 bis zu dem folgenschweren Ereignisse der modernen „Gründungen“, geschrieben.

Die Reactionsperiode, die bedrohlichen Regungen des Socialismus in Deutschland, die Begründung des Einheitsstaates, die Periode des sinnlosen Schwindels, all diese Phasen in der neuesten Geschichte unseres Vaterlandes hat Spielhagen in seinen Romanen zu großen Zeitgemälden künstlerisch ausgestaltet. Schon bei dem ersten Auftreten des Dichters mußte es als sein eigentlicher Beruf erkannt werden, der Nachwelt das Bild der Mitwelt in dauernden Zügen zu entwerfen. Aber wie haben seine Schöpfungen im Laufe der Zeit an dichterischer Fülle und Gedankenreichtum, an edler Harmonie und künstlerischem Gusse gewonnen! Von Spielhagen’s erstem, mit Recht Aufsehen erregendem Doppelromane „Problematische Naturen“ und „Durch Nacht zum Licht“ bis zu seinem jüngsten Erzeugnisse „Sturmfluth“, der großartigsten Composition, die ihm bis jetzt gelungen, ist sein Talent fast ununterbrochen in ansteigender Entwickelung begriffen gewesen. Aber auch diejenigen Romane, in denen uns hier ein Seitenflügel, dort ein Anbau stören mag, strömen den eigenthümlichen geistigen Dunst aus, der diesen Schriftsteller so hoch über die alltägliche Unterhaltungsliteratur stellt.

Friedrich Spielhagen wurde am 24. Februar 1829 zu Magdeburg geboren. Sein Vater, Regierungs- und Baurath, wurde schon in den nächsten Jahren nach Stralsund versetzt, und


Friedrich Spielhagen.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

hier verlebte Spielhagen seine Knabenzeit, genoß er seine Gymnasialbildung. In dem liebenswürdigen Werke „Aus meinem Skizzenbuche“ hat der Dichter unter dem Titel „In meiner Jugend-Stadt“ dieses Idyll der Kindheit anziehend geschildert. Das dürftige Leben der kleinen Provinzialstadt, die tiefen Eindrücke, welche die landschaftliche Scenerie des Meeres auf das Gemüth des Knaben ausübte, die zu jeder Tages- und Jahreszeit unternommenen Streifereien durch Wiesen und Felder werden so anschaulich erzählt, daß man wohl begreift, wie der Dichter in seinen Romamen Naturschilderungen von so unvergleichlicher Wärme und Treue entwerfen und die Poesie der preußischen Strandgegenden mit so bezaubernder Frische erschließen konnte. Während der Universitätsstudien, denen Spielhagen in Berlin, Bonn und Greifswald oblag, gehörte er einer Burschenschaft an, ohne sich jedoch an dem aufgeregten politischen Treiben der Revolutionsjahre zu betheiligen. Noch völlig unklar über die in ihm schlummernden Keime, wechselte er in seinen Studien, die sich auf Medicin, dann auf Jurisprudenz, zuletzt auf allerlei Humaniora erstreckten, ebenso häufig, wie später in seinem Beruf, da er nach einander Hauslehrer, Schauspieler, Landwehr-Officier und endlich Lehrer am modernen Gesammtgymnasium in Leipzig war. Hier veröffentlichte er seine ersten Novellen „Clara Veré“ und „Auf der Düne“ 1857 bis 1858. Der Erfolg dieser Versuche befriedigte ihn jedoch so wenig, daß er im Begriff stand die literarische Laufbahn aufzugeben, als endlich 1859 die „Problematischen Naturen“ einen glänzenden Erfolg hatten und ihrem Verfasser eine beneidenswerthe Zukunft eröffneten. Sie erschienen zuerst im Feuilleton der „Zeitung für Norddeutschland“, zu deren Redaction er von Leipzig nach Hannover übersiedelte. Im Jahre 1861 zog Spielhagen nach Berlin, um sich auf der Höhe des rasch erworbenen schriftstellerischen Ruhmes nicht nur zu behaupten, sondern denselben auch durch unablässige Thätigkeit fortdauernd zu steigern.

Spielhagen ist stolz darauf, ein Kind unseres Zeitalters zu sein. Wo die Interessen der Neuzeit in’s Spiel kommen, ist es ihm ein innerstes Bedürfniß seinem Volke ein Abbild vorzuhalten, in dem dasselbe seine eigenen Züge, seine Vorzüge und Fehler erkennen kann. Spielhagen ist unerbittlich, wenn es sich darum handelt, diesen Spiegel der Zeit rein und ungetrübt zu erhalten. Als die höchste Aufgabe des Poeten betrachtet er es, die Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen und die Welt zu schildern, wie sie wirklich ist. Keine Schönseligkeit kann ihn veranlassen, die süße Lüge der bittern Wahrheit vorzuziehen, das Laster künstlich zu übermalen, die Heuchelei idealistisch zu verschleiern. Diese natürliche Frische und Lebenswahrheit besitzen Spielhagen’s Figuren aber deshalb, weil sie, um einen Malerausdruck zu gebrauchen, nach Modellen gearbeitet sind. Fast durchweg lassen sich seine Gestalten auf bestimmte Zeitgenossen zurückführen, die demselben als Urbilder gedient hoben. Der Dichter hat seine Charakterköpfe nicht nach allgemeinen Ideen entworfen, sondern aus der [226] unmittelbaren Anschauung abgeleitet. Spielhagen nennt sich selbst mehr einen Finder als einen Erfinder. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um ein nüchternes Abschreiben der Wirklichkeit. Der Poet darf seine Modelle nur benutzen um ihnen selbstständig nachzuschaffen. Diese Fähigkeit besitzt Spielhagen in hohem Grade. Wenn er in’s volle Menschenleben hineingreift, sieht er wohl gewissen Personen und Ereignissen einzelne Züge ab, aber die lebensvollen Gestalten seiner Romane sind doch echt künstlerisch gebildet, da ihnen das Gepräge seines Dichtergeistes aufgedrückt ist.

All diese Vorzüge traten bereits in den „Problematischen Naturen“ in das hellste Licht. Die scharfe Beobachtung von Menschen und Zuständen, der ausgesprochene demokratische Sinn, die mitunter kühne und doch stets anmuthig geschilderte Sinnlichkeit mußten dem Dichter schnell die Herzen gewinnen, und wenn auch die Fortsetzung, „Durch Nacht zum Licht“, den ersten Roman an Prägnanz nicht erreichte, so war doch das Ganze Fleisch von unserm Fleische und Geist von unserm Geiste. Der Held des Doppelromans, Oswald Stein endet bekanntlich auf den Barrikaden. Spielhagen scheint einen solchen gewaltsamen Schluß zu lieben, da er ihn auch in dem Romane „Die von Hohenstein“ (1863) anwendete, wo allerdings der Zusammensturz weniger jäh, dafür aber auch ungleich ergreifender ist. Freilich tritt hier des Dichters Haß gegen den modernen Adel in einer etwas grellen Weise hervor, durch welche die Familie Hohenstein zu einer Reihe erbärmlicher Lumpen gestempelt wird. Wenn auch die Charakteristik der einzelnen Figuren vortrefflich ist, so macht der Haß den Dichter doch blind gegen die Vorzüge der seinen Tendenzen widerstrebenden Partei. Es ist interessant zu beobachten, wie sich auch in dieser Beziehung in Spielhagen’s Dichtergemüth ein Läuterungsproceß vollzog, der ihn befähigte, in seinen späteren Schöpfungen auch seinen Gegnern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In dem großen Werke „In Reih’ und Glied“ (1866) schuf er wiederum ein Werk von gleicher Trefflichkeit des Inhalts wie der Form. Im Anschlusse an die glänzende Erscheinung Lassalle’s, der dem Helden Leo als Urbild gedient hat, entrollt der Roman ein allumfassendes Gemälde der Gegenwart von Farbenpracht und Figurenreichthum. Daß der Mensch seinen Werth erst aus dem Verhältnisse des Einzelnen zur Gesammtheit erhält, daß allein die Ertödtung der Selbstsucht und die gemeinsame Arbeit glücklich macht, bei welcher auch der Größte nur ein gemeiner Soldat sein darf in der Armee der Freiheit, bildet den erhebenden Grundgedanken dieses Musterromans, aus dem die nachfolgenden Geschlechter dereinst das Ringen und die Ziele unsrer Culturarbeit erkennen könnnen. Einen fast noch größern Erfolg hatte der 1869 erschienene Roman „Hammer und Amboß“, der den im Titel angedeuteten socialen Grundgedanken mit feinfühlendem, für die Sache der Humanität begeistertem Sinne darstellt und auf die Gebote gegenseitiger Hülfsbereitschaft und Brüderlichkeit wie auf ein Evangelium der Zukunft hinweist.

Nach dieser gewaltigen Kraftanstrengung machte sich in dem Roman „Allzeit voran“ (1872) eine gewisse Ermattung in Spielhagen’s Schaffen geltend, das sich jedoch unmittelbar darauf in dem kleineren Roman „Was die Schwalbe sang“ (1873) durch die geschickte Verwebung der Fabel und der Charaktere wieder einigermaßen hob. In dem jüngst erschienenen Roman „Sturmfluth“ bietet er uns endlich die reifste Frucht seiner Weltanschauung. Spielhagen hat sich in dieser Schöpfung von allen Einseitigkeiten seiner früheren Erzeugnisse frei gemacht und eine in der Anlage wie in der Ausführung gleich vollendete Leistung hervorgebracht, der sich in Bezug auf Großartigkeit der Composition und Fülle der Gedanken nur Weniges auf dem Gebiete der Romanliteratur an die Seite stellen läßt. Die gewaltige Sturmfluth der Ostsee vom 23. November 1872 mit der durch das Gründerunwesen über unsere wirthschaftlichen Verhältnisse einherbrausenden Sturmfluth zu einem tragischen Gemälde vereinigen zu wollen, war ein Gedanke, dessen Kühnheit nur noch von dem prachtvollen, bei dem Aufbau des Romans bewährten Schwunge übertroffen wird. Bei der Schilderung des socialen Ereignisses und des Naturphänomens verräth Spielhagen seltenen Reichthum an Charakteren, große Mannigfaltigkeit der Begebenheiten in der Architektonik der Dichtung bekundet er eine bewunderungswürdige Meisterschaft. Das Gesetz der Objectivität, welches von dem epischen Dichter verlangt, nicht in eigener Person hervorzutreten, sondern seine Gedanken und Empfindungen in Situationen und Handlung umzusetzen und dem Kunstwerke als organische Glieder einzufügen, wird in diesem Roman bis in die geringsten Kleinigkeiten mit musterhafter Sorgfalt befolgt.

Neben diesen großen Schöpfungen hat unser Dichter sein Talent auch in dem engeren Rahmen einer nicht geringen Anzahl kleinerer Erzählungen bekundet, von denen die früheren, wie „Clara Vere“ und „Auf der Düne“, als poetische Federzeichnungen gelten können, während die späteren, wie „Röschen vom Hofe“, „Hans und Grete“, „Die Dorfcoquette“, an’s Genre der Dorfgeschichten streifen. Daneben hat Spielhagen auch auf dem Gebiete essayistischer Darstellung, namentlich bei der Ausführung literarischer Portraits und der Behandlung ästhetischer Fragen sich als ein Meister gezeigt, durch die Uebertragung amerikanischer Lyriker sich unter den deutschen Uebersetzungskünstlern einen Namen gemacht und endlich auch als Dramatiker theatralische Erfolge errungen, die den Dichter hoffentlich veranlassen werden, sein reiches Talent dauernd der deutschen Bühne zuzuwenden.

So hat sich Spielhagen unter Denen, welchen die Nation den Kranz flicht, durch die Größe seines ursprünglichen Talents, wie durch die liebevolle Hingabe an seine idealen Ziele eine erste Stelle errungen. Der einst wild gährende Most hat sich zu klarem, kräftigem Weine geläutert, an dem sich unsere Zeitgenossen wie die Nachwelt erquicken werden. Von schroffen Einseitigkeiten ausgehend, welche die strotzende Kraft seines Talents bekundeten, ist er, ohne jemals der Fahne echter Volkthümlichkeit untreu zu werden, zur Höhe harmonischer Kunstwerke gelangt, die den Stempel höchster Reife tragen. So heftig das Blut des Fortschritts auch in den Adern des Dichters pulsirt, so fest und unentwegt steht er trotzdem auf dem Boden des Vaterlandes, dem sein Segenswunsch, sein Wollen und Sehnen gehört.

Eugen Zabel.


Das Herz.
Ein freier Vortrag. Im „Wissenschaftlichen Verein“ (Sing-Akademie) in Berlin den 3. März 1877
gehalten von Professor Dr. M. Lazarus.

Es ist wohl nicht wahrscheinlich, daß eine Betrachtung über das Herz uns viel neue Belehrungen bieten kann; denn von jeher haben denkende Menschen Gelegenheit gehabt ihr Herz unmittelbar zu beobachten. Achtsame und erleuchtete Geister haben denn auch vielfache Beobachtungen und Belehrungen über diesen Gegenstand hinterlassen. Wir besitzen der Sprüche und Gedanken gar viele über das Herz, und glückliche Enkel genießen, was die fleißige Vorzeit gesammelt hat. Auf der andern Seite finden wir, daß neben Allem, was Tiefes und Bedeutsames über das menschliche Herz überliefert worden neben und in Allem, was Dichter und Denker darüber ausgesprochen, ein Gedanke gleichmäßig einhergeht, der Gedanke: das menschliche Herz ist unergründlich. Vom Worte des Propheten Jeremias. „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?“ bis herab auf Goethe, bei dem es heißt. „Es liegt um uns herum gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub, doch hier in unserm Herzen liegt der tiefste“ - zwischen diesen beiden Worten könnte man Bände mit Aussprüchen füllen, welche alle das gemeinsam haben, daß sie das menschliche Herz für unergründlich erklären.

Und sollten wir dennoch den Versuch wagen, sollten wir angesichts dieser historischen Thatsache hoffen können, daß es uns dennoch gelingt das menschliche Herz zu ergründen?

Nein! nicht so hoch ist das Ziel dieser Stunde gestellt; vielmehr nur die Frage möchte ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen, woher es kommt, daß das menschliche Herz unergründlich ist? Welches sind die Gründe, weshalb der Geist das mit ihm selbst vereinigte Herz nicht ergründen kann? In wie fern und aus welcher [227] Ursache ist uns verborgen, was wir selbst in uns erleben? Warum können wir nicht in klare Gedanken fassen, was doch Quelle oder Erfolg unseres eigenen inneren Daseins ist?

Vergegenwärtigen wir uns vor Allem also, was bedeutet es, wenn wir sagen: „das menschliche Herz“? Gegenüber der bloßen Erkenntniß, gegenüber der Gedankenbildung von den Dingen der Natur und der Welt, gegenüber den bloßen Vorstellungen von menschlichen und von ewigen Dingen, bedeutet es den persönlichen Antheil, den wir daran nehmen. Die Seele wäre ein bloßer Spiegel, an welchem die Bilder der Welt vorüberziehen; erst durch das Herz sind wir ein Centrum der Welt, in welches der Strom des Lebens hineingeht, von welchem er wieder hinausströmt. Vielleicht würde unserm Geiste das ganze Universum nur als ein großer Mechanismus von wirkenden Ursachen und deren Erfolgen erscheinen, und unser Geist würde sich befriedigen bei dieser Anschauung, wenn nicht das Herz andere Anforderungen stellte an die Erkenntniß alles dessen, was da ist und lebt. Wir verlangen zur Befriedigung unseres eigenen Herzens und dessen, was wir als ein innerlich Lebendiges im Universum betrachten, daß jeder Seele auch eine Beseligung gegeben sei in den Anschauungen, die sie vom Leben gewinnt, daß nicht blos wirkende Ursachen walten, sondern auch, daß Zwecke erfüllt werden in dem ganzen Getriebe von Ursachen und Wirkungen, Zwecke, welche erst dem Leben Werth und Würde verleihen.

Aber wir empfangen nicht blos Bilder von der Welt, die menschliche Seele schafft sich neue Bildungen zur Bereicherung dessen, was ihr von der Natur und Wirklichkeit dargeboten wird. In mannigfachen Arten regt sich die eigene freie Thätigkeit des menschlichen Geistes; in verschiedenen Formen schafft er neben denen der Natur Gebilde der Kunst. Verschieden ist der Antheil, welchen das Herz an den verschiedenen Künsten nimmt, sowohl in Bezug auf ihren Ursprung, wie in Bezug auf ihren Erfolg, aber die Quelle und das Ziel der Wirkungen aller Künste ist darin eine gemeinsame, daß sie das menschliche Herz auf die eine oder auf die andere Weise befriedigen sollen. „Die Kunst,“ sagt Börne, „wohnt im Herzen.“

Aber nicht die Kunst allein, auch die Art, wie wir unser ganzes, unser geselliges und unser gesellschaftliches Leben aufbauen, ist vollkommen geleitet und erfüllt von den Trieben unseres Herzens; alles, was groß, was edel, was ergreifend und mächtig unter Menschen wirkt, das schreiben wir dem Herzen als seiner letzten Quelle zu. „Das Herz,“ sagen wir, „macht den Redner.“ „Große Gedanken kommen aus dem Herzen“ einzig und allein deshalb, weil durch „Herz“ zugleich dies ausgedrückt wird, daß wir nicht blos ein Bild der Welt empfangen und unseren persönlichen Antheil daran mit Befriedigung oder ihrem Gegentheil wahrnehmen, sondern daß wir uns auch wiederum mit dem so erfüllten und bewegten Gemüthe hingeben, daß unsere Seele offen ist für jede Sache und für jede Seele. Ein Ausfluß dieser Hingebung ist alles, was zum Aufbau und zur Lebensfülle der menschlichen Gesellschaft führt, und darum erweist sich alles, was wir mit dem Namen des Sittlichen belegen, als ein Erfolg des Herzens.

Es ist eine besondere Beziehung, welche zwischen dem Herzen und denjenigen Gebilden des Geistes besteht, die wir als die höchsten achten und die wir, wie Kant sich schon ausdrückt, mit dem „ehrwürdigen“ Namen der Ideen bezeichnen; in dem Herzen ist die Geburtsstätte der Ideen, und ihre höchste Erfüllung finden sie dann erst, wenn sie in ihm wiederum sich als wirksam und heimisch, als persönlich mit ihm verbunden erweisen; wenn die Ideen nicht blos als kalte, als theoretische Vorstellungen dem Geiste gegenüberstehen, wenn die Seele auf’s Tiefste von ihnen ergriffen ist und sie gleichsam persönliche Gestalt in dem Herzen des Menschen gewinnen, dann erfüllt sich, was vergangene Zeiten mit dunkler Symbolik ausdrücken, wenn sie von „Incarnationen“ der Ideen gesprochen haben.

Freilich nicht nur so in positiver Weise, wie wir es bisher bezeichnet haben, sondern auch negativ erfährt das menschliche Herz, daß es Mittelpunkt seiner Welt ist; der Magnetismus des Herzens hat ebenso seinen negativen, wie seinen positive Pol; nicht Anziehung allein, auch Abstoßung erfahren und üben wir im Leben. Die Sprache freilich faßt dies in verschiedener Weise auf; bald nennt sie den Menschen, in welchem so das Abstoßende vorwiegt, einen herzlosen, bald nennt sie ihn eben hartherzig oder kalten Herzens.

Auch über alle endlichen Beziehungen hinaus, welche unser Gemüth bewegen, leitet uns der Gedanke vom Endlichen zum Unendlichen. Aber nur indem das Unendliche mit dem Herzen ergriffen wird, indem die Sehnsucht unseres Herzens uns dahin treibt, hinauszuragen über alles Endliche und Beschränkte, die unendliche Vollkomenheit und die Vollkommenheit des Unendlichen zu erfassen, entsteht im Innern des Menschen die Religion, und mit ihr entstehen die höchsten Formen seines Lebens und Schaffens.

Alle Reize, aller Reichthum und alle Werthe des Lebens sind so die Erfolge dessen, was wir als das Herz im Menschen bezeichnen. Dennoch ist es, beiläufig gesagt, für sich allein kein sicherer Führer durch das Leben; denn neben aller Bereicherung, neben der schöpferischen Fülle der inneren Welt, die ihm entstammt, ist es die Quelle aller Widersprüche, der Ursprung des Widerstreits auch im eigenen Innern, bis hin zu den tragischen Conflicten, welche es allein im Leben schafft.

Dies also, hochverehrte Anwesende, ist der Ihnen Allen bekannte, hier nur flüchtig umschriebene Sinn, welchen das Wort „Herz“ in der Psychologie der Sprache hat. Was bedeutet es denn nun in der Sprache der Psychologie? Was ist denn das, was wir bisher als besondere Function oder als besondere Kraft in unserem Innern gefunden haben für die wissenschaftliche Ansicht von unserem inneren Leben? Nur andeuten will ich es.

Die Psychologie unterscheidet sinnliche Anschauungen, Vorstellungen und Begriffe auf der einen und Willensthätigkeiten auf der andern Seite, und beiden gegenüber stehen die Gefühle, die Erregung unserer Seele, der Zustand, in welchem sie sich befindet, während sie als wollendes oder als denkendes Wesen thätig ist; den Zustand also, welcher unsere Seele erfüllt, während sie irgend eine ihrer Functionen vollzieht, nennen wir das Gefühl.

Je nach dem Inhalte des Denkens, welches unsre Seele beschäftigt, und je nach der Art, wie die Thätigkeit von Statten geht, sind wir zugleich von freudigen oder schmerzlichen, von angenehmen oder peinlichen, von erhebenden oder beengenden, von beglückenden oder bedrückenden Gefühlen erfüllt. Von dem Wechsel des Inhalts oder der Form in der Thätigkeit unsres Geistes hängt die Wahrnehmung des Zustandes ab, in welchen unsre Seele dadurch versetzt wird; je heftiger der Wechsel, desto energischer die Gefühle. Nur selten ist der Zustand unsrer Seele während ihrer Beschäftigung so gleichmäßig, daß wir uns desselben gar nicht bewußt werden. Nicht abtrennbar sind diese Zustände von dem, was den Geist in seiner Thätigkeit erfüllt; wenn irgend ein Gedanke von einem Gefühle begleitet ist, so heißt es nicht, daß das etwas Abgesondertes ist, als ob es einem andern Organe entstammte, als ob es eine Thätigkeit für sich wäre, sondern eben in innigster Verbindung begleitet es, als der durch die Thätigkeit erzeugte Zustand der Seele, eben diese Thätigkeit. Es sind feine und tiefgehende Untersuchungen, welche die Psychologie darüber zu führen hatte und theilweise bereits mit großem Glücke geführt hat, daß aus diesen Zuständen, in welchen die Seele sich befindet, während ihrer Thätigkeit ihr ein neuer Zuwachs gekommen ist. Aus den Gefühlen, in welche sie versetzt ist, sei es bei Anschauungen der Natur, sei es bei irgend einer Beziehung zu andern Menschen, sei es bei irgend einer Regung ihres Willens, aus diesen Gefühlen hat sie all das allmählich in der Form von Vorstellungen, von Begriffen, von Ideen kennen gelernt, was wir als die ideale Welt überhaupt bezeichnen. In Gefühlen hat die ideale Welt für uns ihre ursprüngliche Quelle. Gleichwohl sind die Gefühle nicht etwa, wie man früher wohl gemeint hat, eine niedrigere Stufe der Erkenntniß; wären sie das, dann dürften, dann müßten sie verschwinden, sobald der Mensch sich vom Standpunkte des Gefühls, wie man es bezeichnet hat, zum Standpunkte einer höhern Erkenntniß erhoben hat. Nicht so: zwar auf frühern Stufen nur in der Form des Gefühls kommt dem Menschen die ideale Richtung seines Geistes und der ideale Inhalt zum Bewußtsein, aber wenn dann eben diese Idealität seines Wesens in der Form von Begriffen, in der Form von Vorstellungen zur Geltung gekommen ist, so ersetzen sie das Gefühl nicht.

Wenn in der Wirklichkeit irgend einer Auffassung idealer Gegenstände nicht auch die wahrhafte Lebendigkeit des Gefühls fortdauert, so sind die abstracten und kalten theoretischen Vorstellungen von diesen idealen Gegenständen leer und nichtig; die Vorstellung von dem idealen Werthe des Gegenstandes kann zutreffend [228] sein, die wirkliche Idealität oder die ideale Wirklichkeit desselben in meiner Seele ist dann nicht vorhanden. Ich kann z. B. irgend einen ästhetischen Gegenstand, ich kann eine Musik, die ich höre, ein Bild, das ich sehe, ich kann eine Dichtung, die ich wahrnehme, wohl auf diese ästhetischen Begriffe, auf die ästhetischen Gesetze, welche darin erfüllt sind, ansehen und mir so die ästhetischen Gesetze darin vergegenwärtigen: die wirkliche Schönheit darin habe ich nicht erfaßt, wenn ich selbst auf diesem Standpunkte gesetzmäßiger Erkenntniß nicht zugleich die Schönheit fühle, wenn meine Seele nicht von derselben bewegt und ergriffen, erhoben und befriedigt ist. Wie viel sittliche Begriffe können wir aussprechen, wie viel Maximen können wir nicht blos auf unsern Lippen, sondern auch in unserem denkenden Geiste haben, ohne daß wir dadurch wahrhaft sittlich sind, es sei denn, daß alle diese Ideen, Begriffe, Vorstellungen fort und fort begleitet sind von ihrer ursprünglichen, heimathlichen Quelle, von der eigentlichen Substanz der Idealität, aus der sie selber stammen, vom sittlichen Gefühle.

Weshalb nun nennt man fast in allen Sprachen eben diese Idealität unseres Geistes, eben diese schöpferische Quelle aller ästhetischen, aller sittlichen Verhältnisse, diesen Ursprung alles Friedens und aller Befriedigung, wie alles Widerstreites und alles Leides, mit dem Namen Herz? Daß unsere Gemüthsbewegung in einem gewissen Parallelismus und zwar in einem ursächlichen mit unseren Blutbewegungen, also mit der Thätigkeit unseres Herzens stehen, das hat von jeher die einfachste Erfahrung gelehrt. Die Freude, der Zorn röthet unser Antlitz; er treibt das Blut durch eine stärkere Bewegung des Herzens in’s Gesicht; der Schrecken, der Aerger, der Kummer macht uns erbleichen; er hemmt die Thätigkeit unseres Herzens; der Blutstrom wird matter, die Wellen seltener oder schwächer; den physiologischen Forschungen unseres Jahrhunderts aber war es vorbehalten, die Gesetzmäßigkeit dieses Parallelismus genauer zu erforschen, und man hat gefunden, daß vom Gehirn her zwei Nervenstränge sich herabsenken gegen das Herz hin, der eine durch das Rückenmark in der Bahn des sogenannten sympathischen Nerven, der andere dem Halse entlang in der Bahn des sogenannten nervus vagus, des umschweifenden Nerven; beide eingebettet in die Wandungen des Herzens, wirken die einen erregend auf die Herzthätigkeit und den Puls beschleunigend, die andern verlangsamend, die Thätigkeit des Herzens hemmend. Noch sind diese Entdeckungen in stetigem Fortschreiten begriffen; wir dürfen hoffen, daß sie uns allmählich feiner, zarter, fester und gesicherter gegenüber stehen werden. Seit die Gebrüder Weber die Hemmungsnerven entdeckt haben, sind die Forschungen durch Claude, Bernard, Betzold, Czermak, Ludwig Wundt und Andere weiter geführt, unsere Erkenntniß ist schrittweise bereichert worden, aber noch sind die Meinungen vielfach von einander abweichend. Das Gemeinsame, allgemeine Gleiche in ihnen ist nur dies eine, daß wir erfahren: alle Thätigkeit des Geistes, jede Erregung und Bewegung unserer Seele ist von Reizen und Regungen der Nerven zunächst des Gehirns begleitet; indem nun die vom Gehirn auslaufenden Nerven auch in den Wandungen des Herzens münden, pflanzen jene Reize und Regungen bis in dieses sich fort und üben einen bestimmenden Einfluß auf die Art seiner Bewegungen. Wir erfahren aber auch ferner: das Herz hat seine Bewegungen für sich ursprünglich auch völlig unabhängig von aller Nerventätigkeit, von allen Nervenreizen, die ihm aus dem Gehirn zugeführt werden; das Herz ist das ursprünglichste Organ im Menschen; der Mensch fängt damit an, daß er ein schlagendes Herz ist. Der Geist ist das spätere, das sich entwickelt und das dann Einfluß auf die Herzthätigkeit gewinnt. Durch die Vorgänge im Gehirn wird die Thätigkeit des Herzens verändert, verändert aber nicht erzeugt; in dieser und mancher anderen Beziehung findet zwar eine Wechselwirkung zwischen Herz und Gehirn statt, aber das Herz ist weniger abhängig vom Gehirn als umgekehrt. Wie schön ist das Symbol für diese Unabhängigkeit des Herzens, für sein Sonderleben in jenen Worten der Geliebten im hohen Liede: „ich schlafe, und mein Herz wacht.“

Ob die Physiologen jemals dahin kommen werden, die verschiedenen Arten der Gefühle genau wiederzuerkennen in den verschiedenen Graden und Arten der Nerventhätigkeit, welche die Functionen des Herzens verändern, ob die Feinheit der Unterschiede im Maße und der Art des veränderten Blutumlaufs unendlich, ob sie so groß und doch so erkennbar wie die Verschiedenheit der Gefühle, welche unser Herz bewegen, das steht dahin. Vor der Hand ist es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß sehr verschiedene Gefühle darin gleich sein werden, daß sie auf gleiche Weise das Herz in Bewegung setzen und daß mehr der Grad als die Art der Gefühlserregung sich in dem Maße des veränderten Blutumlaufes individualisirt.

Wenn es nun so begründet ist, daß wir das Herz im inneren Sinne mit dem Namen des physischen Organs, jenes Pumpwerkes, das eben den Blutumlauf in unserm körperlichen Organismus besorgt, benennen, woher kommt es, daß gleichwohl die Psychologie, seit es eine solche Wissenschaft giebt, fast niemals vom Herzen redet? Aus der Psychologie ist die Bezeichnung des Herzens fast gänzlich verschwunden, vielleicht weil vor allem die Besorgniß gehegt wurde, es werde das leibliche Organ, wie im außerwissenschaftlichen Bewußtsein und seiner Sprache, als der eigentliche Sitz unserer Gefühle, als der Sitz der geistigen, der seelischen Herzthätigkeit angesehen werden. Das ist es in der That nicht. Das Herz ist nicht das Organ und nicht der Sitz der inneren Herzthätigkeit, sondern es ist allenfalls, wie man es mit Recht genannt hat (Horwicz), der Resonanzboden für jene Regungen, welche innerhalb der Seele sich vollziehen und im Gehirn ihre erste körperliche Mitschwingung erfahren.

Aber ein anderer Grund hat gewiß schon im Alterthume mitgewirkt. Wir sind daran gewöhnt, von Herz und Geist, von diesem Gegensatze als einem selbstverständlichen zu reden, und ihm zur Seite geht so zugleich die Bezeichnung der zwei Körpertheile, an welche diese seelische Verschiedenheit sich anlehnt, Herz und Kopf. Nun aber ist folgende Thatsache bemerkenswerth: Alle alten Völker wissen nichts vom Kopfe; weder die Aegypter noch Inder, weder die Hebräer noch Griechen oder die Römer haben vom Kopfe in unserem Sinne, als dem Sitze geistigen Lebens, geredet. Während wir sogar die verschiedenen Gaben des Geistes als einen hellen oder trüben, als einen schnellen oder schweren, als einen leichten oder harten Kopf bezeichnen, kommt die Bezeichnung des Kopfes in all den Sprachen, deren Völker ich genannt habe, nicht vor, sondern nur das Herz wird genannt, als Sitz geistiger Thätigkeit. Alles innere Leben, nicht blos das, was wir jetzt im Gegensatz zum Geiste als Herz bezeichnen, wird dort in’s Herz verlegt, oder in die benachbarten Organe des Rumpfes. (Wie bei den Hebräern die Nieren zu der Ehre gelangt sind, als Sitz – wie es nach den wenigen Stellen im Alten Testament scheint – vorzugsweise des Gewissens, aber auch sonst des Gemüthes aufgefaßt zu werden, das entzieht sich einstweilen unserer Einsicht, wird ihr vielleicht, weil uns die Thatsachen fehlen, für immer verborgen bleiben.) Woher mag das kommen?

Ist es nicht erstaunlich, um so viel mehr, als ja doch alle edlen Organe, welche der geistigen Thätigkeit dienen, das Auge, das Ohr, selbst Geschmack und Geruch und das Organ der Sprache, alle im Kopfe sitzen? Vielleicht ist es dadurch allein erklärlich, daß wir eben von der Thätigkeit des Kopfes, oder vielmehr von der Thätigkeit des Gehirnes, keine unmittelbare Wahrnehmung haben; in unserm Herzen dagegen, in den Veränderungen unseres Blutumlaufes nehmen wir alle geistige Bewegung zu gleicher Zeit wahr, und zwar desto deutlicher und unmittelbarer, je stärker die Erregung der Seele oder die Gefühlsbegleitung der Vorstellungen ist. Physiologische Beobachtungen haben indessen gezeigt, daß auch heute noch beim Menschen in früher Jugend, und in je früherer Jugend, desto mehr, die Veränderungen des Blutumlaufes und alle organische Mitschwingung des Körpers auch bei einfachen Vorstellungen eintritt; Vorstellungen, die das Gemüth des Erwachsenen gar nicht in Bewegung setzen, gleichsam nur theoretische geistige Bilder ausmachen, bringen die Seele und den Leib des Kindes in Erregung; nur allmählich, indem der Mensch heranwächst, wird seine leibliche Herzthätigkeit mit ihrer Veränderung auf eine Erregung des geistigen Herzens oder der Gefühlsthätigkeit beschränkt. Ganz gewiß ist es im Laufe der Entwicklung der Menschheit ebenso gewesen; je früher die Geschichte der Völker, desto mehr wird ihr ganzer Organismus auch von theoretischer Thätigkeit, auch bei bloßen und blassen Gedanken in Bewegung gesetzt worden sein. In diesem Sinne könnte man sagen, daß die alten Völker die Welt noch mehr mit den Herzen aufgefaßt haben.

Eben deshalb aber, weil nun das Herz damals die gesammte [229] innere Thätigkeit bedeutete, konnte von ihm in der Psychologie als einer Bezeichnung für ein besonderes Organ oder für eine besondere Art inneren Lebens nicht die Rede sein.

Aber auch in späteren Zeiten, als wir Herz und Geist zu scheiden gewohnt waren, konnte deshalb das Herz für unsere Psychologie keine geeignete Kategorie mehr sein, weil jene beiden die Theilung des Ganzen nicht erschöpfen; Herz und Geist umspannt in unserer volksmäßigen und dichterischen Sprache den ganzen innern Menschen: wohin sollen wir die Willensthätigkeit setzen? Weder dem Herzen allein, noch dem Geiste allein können wir sie zuzählen.

Das Herz selbst umfaßt ferner im Sinne der Sprache nicht blos, wie ich es oben als eine besondere Kategorie der Psychologie bezeichnet habe, die Gefühle, sondern auch diejenigen geistigen und leiblichen Zustände, welche die Wissenschaft von den Gefühlen unterscheidet und als Affecte bezeichnet. Diesen Unterschied ausführlich darzulegen, darauf muß ich natürlich verzichten; es genüge, daran zu erinnern, daß neben den einfachen Gefühlen von Lust und Leid, von Befriedigung und Unbehagen, neben den Gefühlen, welche idealen Anschauungen folgen und die Seele durch das Gute und Schöne und ihre Gegentheile erregen, daß neben diesen, sage ich, dem Herzen auch jene heftigeren und verwickelteren Erregungen zugeschrieben werden, welche das Gleichgewicht der Seelenthätigkeit mehr oder minder aufheben, die geistige Arbeit erhöhen oder hemmen, steigern oder stören. Hierher gehören Lustigkeit und Ausgelassenheit auf der einen Seite, Traurigkeit und Schwermuth auf der andern, Entzücken und Bewunderung, Zorn und Grimm, Reue und Schreck, Verzweiflung und Begeisterung.

(Schluß folgt.)




Ein Abend beim Herzog Decazes.


Vor einigen Jahren, bei Gelegenheit der Wiener Weltausstellung und des Besuchs, den die Kaiserin Augusta am Wiener Hofe machte, habe ich meine Leser in jene Salons den Hauses am Ballplatze geführt, von wo aus der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich so lange Zeit die Geschicke Europas lenkte. Heute will ich sie in jenes Ministerhôtel am Quai d’Orsay in Paris führen, das für Frankreich und für die Katastrophe von 1870 so verhängnißvoll geworden ist.

Wie man im Jargon der Presse unter der Wilhelmsstraße in Berlin, unter dem Ballplatze in Wien das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten versteht, so in Paris unter dem Quai d’Orsay. Schon durch die Lage an der Seine übertrifft das Gebäude seine Collegen in den beiden andern genannten Weltstädten. Auf dem linken Ufer derselben bildet es einen der imposantesten Prospectpunkte des Concordeplatzes, dieses schönsten Platzes der Welt. Wenn man von der Rue Royale kommt und den Place de la Concorde durchschneidet, so legt sich jenseits der gleichgenannten Brücke in seiner antiken Großartigkeit der Palast des Corps Legislatif vor; rechts daneben, viel discreter als das genannte Gebäude und gleichsam in einem Abhängigkeitsverhältnisse von diesem steinernen Ausdrucke souveräner Volksmacht, schaut aus dichten Baumgruppen, die es vom Lärme und Treiben der Straße abschließen, das Gebäude, in welchem der ganze Apparat der auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs mit ihrem Leiter an der Spitze wohnt und arbeitet. Das in modernem italienischem Palaststyle erbaute Vordergebäude ist zur Wohnung des Ministers und zur gesellschaftlichen Vertretung Frankreichs bestimmt. Die Hintergebäude erstrecken sich bis an die Esplanade der Invaliden und an die Rue de l’Université. Der alte Guizot hatte das Hôtel gebaut; er glaubte sich in den vierziger Jahren als Minister den Aeußern ein recht warm-gemüthliches Nestchen bereitet zu haben; die Zeit sah nach nichts weniger als nach Sturm aus, oder vielmehr, er wollte die Vorboten desselben nicht sehen – kurz, als das Haus fertig war, war auch er mit seinem Ministerium zu Ende. Seitdem haben gar viele Minister hier die Wohnung gewechselt, unter der Republik und unter Napoleon dem Dritten. Der letzte war jener diplomatische Don Quixote, jener Herzog von Grammont, der, im Aeußern, wie in seiner Handlungsweise ein Urbild übermüthiger Unbedachtsamkeit, die Geschicke des zweiten Kaiserreichs zu einem so tragischen Ende bringen sollte. Zwischen diesen Räumen am Quai d’Orsay und jenem Pavillon dort in der Ferne, der durch hohe, Jahrhunderte alte Bäume das Tuilerien-Schloß markirt, spielte die Vorgeschichte des Krieges von 1870. Dann schob sich eine dritte Gruppe zwischen beide; das waren die Vertreter des französischen Volkes, die in dem Palaste an der Pont de la Concorde tagten und mit einem Votum Frankreich zum dritten Male zur Republik erklärten.

Der gegenwärtige republikanische Minister der auswärtigen Angelegenheiten ist bekanntlich Herzog Decazes, dessen Vater von Louis Philipp zu dieser Würde erhoben wurde, was für ihn kein Hinderniß war, sich der neuen Ordnung der Dinge zur Verfügung zu stellen.

Mit dem Sturze des alten französischen Königthumes hatten die Anhänger desselben eine Formel gefunden, die ihnen erlaubte, unter Napoleon dem Ersten, unter Louis Philipp, unter Napoleon dem Dritten zu dienen, die Formel, daß man keinem Souverän, keinem Machthaber, keiner Regierungsform, daß man nur Frankreich, das heißt seinem Vaterlande, diene. Diese Formel hat der Herzog Decazes unter der dritten Republik adoptirt, wie der Marschall-Präsident von Frankreich sie angenommen hat. Er thront nun länger als einer seiner Ministercollegen in dem Hôtel, das allerdings seit 1870 von dem Ansehen früherer Zeiten verloren hat; denn das wichtigste Ministerium in Frankreich ist gegenwärtig das des Krieges.

Mögen indeß auch die auswärtigen politischen Beziehungen Frankreichs an Bedeutung und Tragweite eingebüßt haben, die gesellschaftlichen haben vielleicht weniger an Annehmlichkeit des Verkehrs, als an Interesse für den Beobachter gewonnen durch die Theilung und Verschiebung, welche der französische Gesellschaftskörper seit neunzig Jahren erfahren hat. Dadurch hebt sich der Einzelne von dem gesellschaftlichen Boden schärfer und energischer ab und tritt als Parteiproduct zu der übrigen Gesellschaft in eine ihm selbst vielleicht unbewußte Action; dadurch werden Mischungen, Contraste, Conflicte erzeugt, die dem gesellschaftlichen Leben der französischen Hauptstadt ein ungemein lebendiges, farben- und bewegungsvolles Gepräge geben. Dazu kommt noch der große internationale Zuzug, den die vornehme französische Gesellschaft durch ihre frühern, so weitreichenden politischen und handelspolitischen Beziehungen zum Orient, zu den lateinischen Völkern, zu England und den tropischen Ländern erhält. Für diese mit der Mannigfaltigkeit eines Kaleidoskops sich verschiebende große, bunte Masse ist das Parquet des Ministeriums des Auswärtigen der entsprechende und beliebteste Sammelplatz.

Es ist in Paris in den officiellen Kreisen Sitte, daß der Marschall-Präsident, die Minister, Botschafter ein Diner geben, zu dem die vornehmsten Personen eingeladen werden, und da dasselbe erst um ein halb acht Uhr Abends beginnt, und wenigstens bis neun Uhr dauert, so bleiben die Gäste gleich für den übrigen Abend da; es kommen andere dazu, die nicht mitgegessen haben; dem Diner schließt sich ein sogenannter Empfang an, und diesem nicht selten ein kleiner Ball. Im verwichenen Jahre hielten der Herzog und die Herzogin Decazes einen Sonntag um den andern derartigen Empfang ab. Ich hatte bei dem Minister des Auswärtigen und der Herzogin Decazes meine Karten abgegeben, nachdem ich Beiden empfohlen worden war, und hatte dadurch den gesellschaftlichen Vorzug erworben, zu diesen Abenden zu kommen und dem Minister und seiner Gemahlin vorgestellt zu werden. Man trat in eine Reihe von Sälen, in welche ein Thürsteher die Namen der Ankommenden laut hineinrief. Im zweiten Saal empfing der Minister die Gäste; an seiner Seite befand sich seine Gemahlin. Ich bin mit den biographischen Einzelheiten den Ministers zu wenig bekannt, um wissen zu können, ob Herzog Decazes längere Zeit in England gelebt hatte, aber nach seinem Aeußern ist das anzunehmen. Die Anglomanie grassirt unter den vornehmen Franzosen fast noch mehr, als in den betreffenden Kreisen in Deutschland. Begegnete Einem der Herzog auf einer Reise in den Schweizeralpen, würde man an seiner Seite an der Table d’hôte essen, [230] so hielte man ihn sicherlich für einen Mann aus der City, aus der englischen vornehmen Welt – nur nicht für einen Franzosen, das heißt so lange er nicht spräche. So abgemessen und zurückhaltend ist seine Haltung, so ruhig, leidenschaftslos, ja kalt der Ausdruck seines Gesichts, der noch durch den englischen Zuschnitt des graublonden Bartes erhöht wird. Die Gestalt ragt nicht über Mittelgröße hinaus, ist gedrungen und kräftig, eher mager als voll, ein Gegensatz zu seinem finanzministerlichen Collegen Leon Say, bei dem sich Frankreich nur bedanken könnte, wenn das Finanzportefeuille seiner Leibesrundung gliche. Das Gesicht des Herzogs ist bleich und wird nur durch ein paar dunkle Augen belebt, deren Beweglichkeit man ansieht, daß sie zu allen Fenstern Frankreichs hinaus stets wachsam auf das übrige Europa gerichtet sind. Ob die Reserve in der äußern Erscheinung des Herzogs Natur oder Gewöhnung ist – wer sagt es!? Jedenfalls macht sie einen vornehmen Eindruck, und dieser wird noch durch die Sprechweise des Ministers erhöht. Er spricht ruhig, gelassen, mit wenig Gesticulation, wie ein Mensch, der mehr auf Gründe, als auf Ueberredung hinzielt, und noch nicht durch die Rednertribüne seiner guten Manieren verlustig gegangen ist. Der Herzog war an diesem Abende im einfachen schwarzen Gesellschaftsanzuge, sein einziger Schmuck das große rothe Band der Ehrenlegion.

Noch weniger als dem Herzog sieht man seiner Gemahlin den französischen Nationalcharakter an. Natürlich, denn sie ist eine Fremde, eine Oesterreicherin, eine geborene Baronin von Löwenthal. Ihr Vater war lange Zeit österreichischer Militär-Bevollmächtigter in Paris, und hier lernte der Herzog seine spätere Gemahlin kennen. Ohne gerade durch Schönheit hervorzuragen, hat das Gesicht doch einen fesselnden Jugendreiz behalten durch eine seltene Anmuth und eine Eigenthümlichkeit, die anderen Frauen vielleicht weniger zum Vortheil gereichen würde, als ihr. Die Herzogin spricht fast stets mit gesenkten Lidern, wodurch das Auge von langen seidenen Wimpern vollständig verschleiert wird. Was, wie gesagt, bei einer andern Frau vielleicht stören würde, wird hier zu einer Besonderheit, die für den Beschauer die Bedeutung eines inneren Symptoms gewinnt. Man ist versucht, aus diesem Munde deutsche Laute zu wünschen – die Herzogin spricht sehr gut deutsch mit etwas österreichischem Accente. Kurz vorher waren der baierische Prinz Leopold mit seiner Gemahlin, der österreichischen Erzherzogin Gisela, in Paris; Fürst Hohenlohe hatte ihnen ein Diner gegeben, bei welchem der Herzog Decazes mit Gemahlin ebenfalls gegenwärtig war, und hier „ging’s deutsch zu“. Aber das war Courtoisie für den deutschen Boden, auf dem man sich befand; heute, im Hôtel am Quai d’Orsay befand man sich auf französischem, und da ging’s französisch her. Da war noch eine Oesterreicherin in der Gesellschaft, die an einen französischen Marquis, einen Legitimisten, verheirathet war – die schönste Frau im Salon. Sie hatte die Gestalt einer Libelle, die Grazie eines Almeh, die Augen eines Kindes, ein Lächeln wie das des ersten Liebesbekenntnisses – und dazu den häßlichsten Mann auf der Erde. Im Jahre 1866 hatten die Preußen ihre Güter in Mähren heimgesucht, im Jahre 1870 die ihres Mannes in der Normandie, und seitdem bleiben ihre Lippen jedem deutschen Laute verschlossen. Sie wurde darauf hin als Specialität gezeigt.

Die Gesellschaft wuchs, je näher man an Mitternacht war. Man hörte die Namen von Ministern, Botschaftern, Deputirten, Journalisten, von Republikanern, Legitimisten, Orleanisten und allerdings sehr wenig Bonapartisten in dem Salon nennen. Die reizendsten Frauen waren da. Es waren prächtige Räume, in denen man sich befand. Die Wände mit Marmor, Stuck und Verzierungen bekleidet, die Plafonds gemalt und eingefaßt von schweren goldenen Verzierungen, die Thüren ebenso vergoldet und gemalt, überall die kostbarsten Stoffe, die herrlichsten Bronzen, Vasen, Teppiche. Kein Wunder, daß der parlamentarische Ehrgeiz nach diesem Wohnhause lüstern wird! Im ersten Empfangszimmer hängt das große Oelbild, welches die Theilnehmer an jenem Congresse darstellt, welcher den Pariser Frieden zur Folge hatte. Es hat schon sehr nachgedunkelt, ebenso wie die diplomatische That von damals. Man machte mich auf die Spuren der Kugeln aufmerksam, die an den einzelnen Köpfen zu sehen waren, namentlich der französischen Congreßtheilnehmer. Die Communarden hatten in der jüngsten Schreckenszeit von dem Ministerhôtel Besitz genommen und in ihren Mußestunden, deren sie sich viele machten, nach den Köpfen geschossen. Die einzelnen Schäden sind ausgebessert, aber die Spuren doch noch bemerkbar. Unter diesem Bilde stand in dem Augenblicke, wo ich es betrachtete, ein nicht sehr großer, hagerer Mann mit einem blassen, sehr ausgedörrten Gesichte. Es war Sadik Pascha, der türkische Botschafter. Rings um ihn hatte sich ein Kreis von besternten und bebänderten Herren gebildet, die mit Gesticulationen – es war kurz nach der Affaire von Salonichi – den armen Mann fast buchstäblich an die Wand bohrten, daß seine Augen ängstlich nach einem Rettungspunkte umhergingen. Die um ihn standen, waren der Marquis von Molins, der spanische Botschafter, der ungefähr so aussieht, wie ein ausgehungerter Figarosänger von einem mittleren deutschen Stadttheater, ferner der große, d. h. der lange Lord Lyons, Englands Ambassadeur, dessen großes rothes Band sich wie eine internationale Demarcationslinie über den dicken Leib spannte; da war ferner einer der russischen Secretäre – ich weiß nicht mehr, wer sonst. Das war ein so leidenschaftliches Reden, Sich-Bewegen und Erhitzen, daß schließlich der Türke seinen Wagen befahl, um in sein Palais in der Rue Lafitte zurückzufahren, wo er bekanntlich Miethsmann des Herrn von Rothschild ist.

Das ist das Geheimniß der Anziehungskraft, welche die moderne französische Gesellschaft stets ausgeübt hat, daß sie in ihrer Zusammensetzung Alles vereinigt, was zum öffentlichen, staatlichen, geistigen oder künstlerischen Leben in irgend einer Beziehung steht, auf dasselbe irgend einen Einfluß zu üben befähigt ist. Sie stützt sich nicht ausschließlich auf Traditionen; sie geht in erster Linie auf Capacitäten aus. Die Salons im Elysée, in den Ministerien stehen Allen offen, die nicht nur ihrem Namen, Rang oder Titel nach etwas bedeuten, sondern die in der That etwas sind. Mögen sie heißen, wie sie wollen, wenn sie nur eine geistige Individualität besitzen, mit Hülfe deren sie in der öffentlichen Meinung Gewicht und Stimme haben. So spielt im französischen Salon die Journalistik eine große Rolle. Leute wie die Chef-Redacteure der großen Pariser Blätter nehmen hier eine Stellung ein, verkehren hier gleich und gleich mit den Würdenträgern ihres Landes und den Vertretern auswärtiger Mächte, daß die Collegen in Deutschland sie baß beneiden würden.

Man muß von diesen Vertretern der öffenlichen Meinung bekennen, daß sie die gesellschaftliche Form mit einer Virtuosität handhaben, als ob ihre Aeltermütter bereits auf den Tabourets in Versailles gesessen hätten. Sie befolgen jene für alles gesellschaftliche Leben unerbittliche Regel, durch nichts in der Gesellschaft auffällig zu erscheinen oder sich aus dem Rahmen derselben loslösen zu wollen. Man sieht die Chef-Redacteure, die hervorragenden Mitarbeiter der bedeutenden Blätter, die Correspondenten der großen englischen, amerikanischen Zeitungen in allen vornehmen Salons, bei Mac Mahon und bei den Ministern. Dem verstorbenen preußischen Gesandten Grafen von der Goltz war das sehr unbequem. Er erklärte, nur die Leute bei sich sehen zu können, die am Hofe von Berlin repräsentationsfähig wären, was übrigens eine ganz falsche Auffassung war, und lud daher zu seinen Bällen auch nur den Redacteur des Paris-Journal ein, Monsieur de Pène, nur weil dieser von Adel war. Das ist in der deutschen Botschaft nun auch anders geworden. Dort hatte ich kurz vorher die Bekanntschaft Kramer’s und Bude’s, der beiden Vertreter der „Kölnischen Zeitung“, Beckmann’s, des Correspondenten der „Nationalzeitung“, der Paris wie kein anderer Deutscher kennt, Ed. Landsberg’s, des Vertreters großer deutscher und österreichischer Blätter, gemacht. Bekanntlich zeichneten sich von jeher die preußischen Gesandten im Auslande gegen ihre Landsleute und namentlich gegen solche, die nicht aus ihrer Gesellschaftssphäre waren, eben nicht durch ein Uebermaß von Liebenswürdigkeit oder auch nur Entgegenkommen aus. Die verschiedensten Klagen wurden in dieser Beziehung allenthalben laut. Das deutsche Reich scheint auch hier andere, neue Bahnen eingeschlagen zu haben. Von allen Deutschen in Paris wird anerkannt, daß Fürst Bismarck auch eben wieder in der Wahl des Fürsten Chlodwig Hohenlohe für den so höchst wichtigen Posten eines deutschen Botschafters seinen großen Blick, seine glückliche Hand gezeigt habe. Unter den obwaltenden Verhältnissen, bei der Erbitterung, dem Hasse, der in Paris, in Frankreich den Deutschen auf Tritt und Schritt begegnet, war es gerade die in milden, versöhnlichen Formen sich bewegende Persönlichkeit des deutschen Botschafters, die manche Schwertspitze stumpf machte, [231] manchen Conflict beschwor. In der gerade für einen derartigen Posten glücklich begabten Natur des Fürsten reichen sich Wohlwollen des Herzens und energische Zähigkeit des Willens die Hand. Der Fürst weiß, wofür er in das deutsche, vielmehr preußische Haus in der Rue de Lille gesetzt worden ist. Die ihm an die Hand gegebenen politischen Gedanken, die Vertretung der Rechte seiner Landsleute finden in ihm einen unermüdlichen Arbeiter, einen thatkräftigen Anwalt. Und bei dieser fast hartnäckigen Verfolgung der Interessen seines Landes hat sich der Fürst in der Pariser Gesellschaft eine Stellung errungen, wie fast keiner seiner Collegen.

„L’Ambassadeur d’Allemagne!“ ruft der Thürsteher in die Säle.

Ein an Gestalt nicht sehr großer, sogar beinahe schmächtiger Mann, in einer etwas nach vorn gebeugten Haltung, tritt in die Säle. Es ist der Fürst Hohenlohe. – Der Herr des Hauses schüttelt ihm nach englischer Sitte die Hand; die Herzogin schwebt mit ihrer bezaubernden Anmuth auf ihn zu. Er grüßt mit einem feinen Lächeln, das über das bleiche Gesicht fliegt, und die dunklen, glänzenden Augen gehen forschend im Kreise umher. Nach dem ersten Eindrucke erscheint Fürst Hohenlohe eine passive Natur – die Activität ist um ihn herum, in dem Kreise, der sich in einem Nu um ihn gebildet hat. Aber er läßt sich nicht bannen; er steuert auf die Ziele des Abends zu, auf die Leute, die ihm heute zu sprechen vielleicht gerade nöthig sind. Ist es Léon Say, einer seiner diplomatischen Collegen; ist es der Präfect von Paris; ist es der Kriegsminister, oder Emile de Girardin; ist es am Ende gar der päpstliche Nuntius? Der Vertreter Seiner Heiligkeit scheint übrigens noch nicht anwesend zu sein. Da erschallt die Stimme des Thürstehers:

Le nonce (Der Nuntius)!“

Die großen Flügelthüren öffnen sich, und herein schwebt mit einem Honiglächeln in den Mienen Monseigneur Meglia. Er ist kein Theateritaliener mit gelbem Teint und schwarzen, hohlen Augen. Man sieht in ihm eine lange, hagere, trockene Figur, mit einer Brille vor den etwas matten Augen. Er könnte sehr wohl Canzleirath in einer kleinen deutschen Gerichtsstadt sein, heirathsfähige Töchter haben und jeden Abend zum Bier und Taroc gehen.

Um keinen anderen Mann in der Gesellschaft drängen sich die Damen so sehr, wie um ihn, den Botschafter des Pontifex, den Mann in der schwarzen, violett geränderten Soutane, mit den violetten Strümpfen und den Sternen auf der Brust. Junge und Alte, Schöne und Häßliche machen ihm den Hof. Dem Nuntius nähert sich ein älterer Herr; man sagte mir, daß es ein „Senateur“ sei; er zog Monseigneur Meglia bei Seite und sagte ihm, auf Hohenlohe bezüglich:

„Lassen Sie sich von ihm, Monseigneur, nicht auf das Eis führen! Sie wissen, er ist ein feiner Kopf und hat eine große Ueberredungsgabe.“

„Wer ist dieser Mann?“ hörte man um sich oftmals fragen, und dabei richteten sich die Blicke auf einen Herrn, der in einfachem schwarzem Fracke mit weißer Binde ohne jedes Abzeichen, mitten in einer Wolke von Tüll, Seide und Fächern saß. „Es ist der preußische Minister, Herr Delbrück.“ Aber im Nu waren ein Dutzend Lorgnetten auf diese Moltke-Physiognomie in Civil gerichtet, um das Wunder des Abends sich genauer anzusehen. Delbrück war kurz vorher in Paris eingetroffen; die Journale hatten seine Ankunft angezeigt, ihn mit ihrer Aufmerksamkeit geradezu verfolgt; jeden Morgen und Abend meldeten sie ihren Lesern, wo Delbrück gewesen, gegessen, was er gesehen, gesprochen hatte, und das Diner, das diesem Empfangsabend vorhergegangen, war gleichsam ihm zu Ehren veranstaltet. Unsern Minister hatte ich schon oft gesehen, die Königin von Spanien, Isabella von Bourbon aber noch nicht. Sie betrat eben an dem Arme des Herzogs Decazes die Salons. Ich sah eine sehr corpulente, sehr mühsam gehende Frau, die in ein wunderbares Gemisch von Himmelblau und Violett gekleidet war. Diese Fülle von Leibesgestalt absorbirte zwei Blicke auf einmal; der dritte wurde durch die Züge des Gesichts gefesselt. Dieselben besitzen noch eine gewisse Frische; die Augen sind dunkel und funkeln noch mit allem Feuer der Jugend. Spaniens stolze Königin würde man in ihr allerdings nicht vermuthen. Wäre sie mir in einem stillen Thale ohne Diamanten und Spitzen begegnet, würde ich sie nach ihrem Gebahren, nach ihrem Grüßen und Sprechen und ihrem Interesse für die einzelnen Persönlichkeiten für eine recht wohlwollende, freundliche Frau gehalten haben, die sich gern amüsirt und auch Freude an der Freude Anderer hat. Sie erschien in der Gesellschaft stets allein, nur von der sehr schönen jungen Frau eines ihrer Verwandten, der Prinzessin Louise von Bourbon geb. Hamel, einer Amerikanerin, begleitet. Dann war ihr Hofstaat um sie, der allerdings aussah, als ob die einzelnen Persönlichkeiten dem Zeichner Doré zu den grotesken Figuren aus Aschenbrödel als Modelle gesessen hätten.

Der König, Isabellens Gemahl, kam nie in die Gesellschaft; er bewohnt jetzt noch ein eigenes kleines Hôtel. Die Königin sah er nie, nur die Infantinnen kamen jeden Tag zu ihm. Von fürstlichen Persönlichkeiten war an diesem Abende nur noch der zweite Sohn Louis Philipp’s, der Herzog von Nemours, anwesend mit seiner Tochter, der Prinzessin Blanche. Wenn man das Bild des so jovialen und schlauen Bearners, Heinrich’s des Vierten kennt, dann braucht man den Herzog von Nemours nicht erst zu portraitiren – er ist Heinrich der Vierte im Fracke, das heißt dem Aeußern nach. An keiner von allen hier anwesenden Persönlichkeiten markirten sich die Wandlungen, die Katastrophen, die Frankreich seit 1848 erfahren, in so gegenständlicher Weise, wie an ihm. Seine Jugend verbrachte er als Königssohn drüben im Tuilerien-Schlosse, das nun in Trümmern liegt; vor zweiundzwanzig Jahren waren er und die Seinen vom vaterländischen Boden verbannt worden, und nun ist er als Bürger Frankreichs in dem nivellirenden schwarzen Gesellschaftskleide wie jeder Andere hier, dessen Wiege vielleicht in einer ärmlichen Hütte gestanden hatte, der Gast des Ministers der Republik. Klingt das nicht fast wie der Anfang eines Märchens? Aber Märchen wollte ich nicht erzählen – nur einen Abend beim Herzoge Decazes schildern.

Georg Horn.



Ausflug nach dem Monde.

Kaum ein anderer Gegenstand der populären Astronomie hat die Phantasie der Erdenkinder so oft und nachhaltig beschäftigt, wie die allerdings naheliegende Frage, wie es sich wohl auf dem Monde, unserm nächsten Nachbar im Weltall, leben möchte, ob auf ihm eine von der unserigen ganz verschiedene Menschen-, Thier- und Pflanzenwelt heimisch sei, oder ob seine lichten Berge und schattigen Thäler vielleicht den von der Erde abgeschiedenen Seelen zum Aufenthaltsorte angewiesen seien, entweder allen insgemein, oder nur denen der ungetauften Kinder, wie das Mittelalter fabelte? Die meisten verständigen Menschen hielten sich eben von jeher zu der Annahme berechtigt, daß unsere Nachbarwelt der Erde im Großen und Ganzen sehr ähnlich sei und daß die Mondflecken, mit deren Deutung sich die Völkerphantasie so eingehend beschäftigt hat, von Terrain-Verschiedenheiten herrühren und nicht ein Spiegelbild der Erde vorstellen, wie einzelne Griechen und Indier gemeint haben.

Bei der Unmöglichkeit einer genaueren Untersuchung und dem Mangel an directen Nachrichten hat sich diese Lieblingsrichtung der menschlichen Phantasie, der in schönen Vollmonds-Frühlingsnächten kaum irgend ein beschauliches Gemüth entgeht, schon früh in sehnsüchtig schwärmerischen Dichtungen, in romantischen Reisen nach dem Monde Luft gemacht, wobei selbstverständlich Luna als ideale Welt unsere Welt der Wirklichkeit und des Jammers weit überstrahlen und tief in den Schatten stellen muß, was dann naturgemäß zur humoristischen Behandlung und zur Satire führte. Die phantastisch-satirischen „Mondreisen“ bilden daher eine besondere poetische Gattung der Weltliteratur, und wahrhaftig nicht die schlechteste. Welche Reihenfolge abenteuerlicher Weltraumsfahrten, von jener „Mondreise“ in den „wahren GeschichtenLucian’s an bis zu den jetzt so beliebten, aber nichts weniger als classischen Weltallsreisen von Julius Verne, die nur einem ziemich verdorbenen Geschmacke genügen können!

In der großen Zeit der Wiedergeburt aller Künste und Wissenschaften, die man kurzweg Renaissance nennt, wurden diese

[232]

Am Nachmittage des Erntefestes.
Originalzeichnung von J. Weiser in München.

[233] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [234] Mondreisen zu einem willkommenen Mittel, die aristotelische Philosophie mit ihrer scholastischen Auslegung und ebenso die damaligen Streitigkeiten zwischen Theologie und Astronomie zu verspotten, und man liest noch heute mit Vergnügen in der „Mondreise“ des französischen Dichters Cyrano de Bergerac, wie man den Fremden auf dem Monde mit Todesstrafe bedroht, wenn er nicht seine ketzerische Meinung aufgeben wolle, daß jener große Weltkörper, dessen einziger Zweck sei, den Mondbewohnern bei Abwesenheit der Sonne als Leuchte zu dienen, eine bewohnte Erde und seine Heimath sei. Sechszehn Jahre vor dem Buche Bergerac’s, 1634, war in Deutschland Kepler’s „Traum vom Monde“ als nachgelassenes Werk im Drucke erschienen, eine Schrift, die uns in phantastischem Gewande die Verhältnisse der Mondwelt nach dem Stande der damaligen Astronomie schildert und uns den großen Astronomen zugleich als liebenswürdigen Dichter zeigt.

Haben sich die übrigen Autoren mehr oder weniger ungeschickter Transportmittel bedient, um ihre Helden von der Erde in den Mond gelangen zu lassen – Lucian einer Wasserhose, Ariost Elias’ Feuerwagen, Franz Godwin eines Gespannes wilder Gänse, Bergerac einer Flugmaschine, Verne gar einer Monstre-Kanone – so läßt Kepler sinnig den Schatten, welcher sich bei Sonnen- und Mondfinsternissen ohne Unterbrechung von dem einen Weltkörper bis zum andern spannt, als die ungeheure Brücke benützen, auf welcher die lichtfeindlichen Dämonen eilends einen Menschen hinübertragen können, aber sich sputen müssen, damit der Schatten nicht vor Erreichung ihres Zieles abreiße. Mit unerschütterlichem Vertrauen auf die Theorie des Copernikus einerseits und mit ahnender Zuversicht auf den kommenden Newton andererseits schilderte Kepler, wie auch Bergerac, die Drehung der von den Reisenden verlassenen Erdkugel, die zunehmende Kälte des Weltraums, die abnehmende Anziehungskraft der Erde, bis die Reisenden, über die neutrale Zone hinausgelangt, anfangen, in Folge ihrer Schwerkraft sich schnell nach dem Monde hin zu bewegen, um daselbst mit beschleunigter Geschwindigkeit zu landen. Dann entwirft uns Kepler mit der Vertiefungskraft des mathematischen Genies ein Bild der Himmelserscheinungen vom Monde aus, unter denen natürlich der Anblick der Volva, wie die Erde ihrer täglichen Umdrehung wegen genannt wird, eine hervorragende Stelle einnimmt.

Seine noch heute im höchsten Grade lesenswürdige Schilderung konnte natürlich bei der Mangelhaftigkeit der damaligen optischen Hülfsmittel und Methoden nicht nach allen Richtungen probehaltig ausfallen. So glaubte Kepler noch an die Bewohnbarkeit des Mondes, und die bald nach seinem Hinscheiden durch den Astronomen Riccioli begründeten Zweifel an einer solchen Möglichkeit, weil dem Monde die ersten Bedingungen des Lebens, Luft und Wasser, mangeln, sind erst in neuerer Zeit zu der erforderlichen Sicherheit erhoben worden. Noch in unserem Jahrhundert erklärte F. P. Gruithuysen in München die zum Theil zwölf Meilen und darüber breiten Mondkrater, die Kepler für tiefe Brunnen gehalten hatte, in denen sich die Mondbewohner vor der ungeheuren Sonnenhitze verbergen sollten, für kolossale Rundbauten, Ringmauern und Stadtwälle, und Brandes kam sogar auf die Idee, mit den Menschen des Mondes einen telegraphischen Gedankenaustausch anzubahnen, mit Hülfe ländergroßer Rapsfelder, denen man die Umrisse mathematischer Figuren geben sollte. Gruithuysen’s Meinung, daß die Erdmenschen oder Geen in Zukunft mit den Mondmenschen oder Meneen in allernächste Berührung und Verkehr kommen würden, hat Börne bekanntlich schon zu einer Feststellung des Besuchs-Ceremoniels veranlaßt. Er findet nämlich, wir dürften die Sache ruhig abwarten, da die Mondbewohner als Angehörige der kleineren Welt uns den ersten Besuch schuldig seien.

Wenn wir nunmehr dieses phantastisch-satirische Gebiet verlassen und uns fragen: was weiß die heutige Wissenschaft von der näheren Beschaffenheit des Mondes? so müssen wir sagen, daß diese uralte nachbarliche Neugierde und Theilnahme ihre vollkommene Befriedigung erst durch ein kürzlich erschienenes Prachtwerk der englischen Astronomen J. Nasmyth und J. Carpenter[1] gefunden hat, welches in einer jedem Gebildeten verständlichen Sprache den Mond nach allen seinen Eigenthümlichkeiten schildert, und die Kosten einer malerischen Mondreise, die das Buch in Wirklichkeit ersetzt, auf vierundzwanzig Mark ermäßigt. Nach einer dreißigjährigen Beschäftigung mit dem Monde haben diese Forscher Reliefkarten der lehrreichsten Bezirke desselben mit einer Genauigkeit ausgeführt, wie sie nur eine lange Uebung im teleskopischen Sehen ermöglicht. Diese Reliefs sind dann bei seitlicher Beleuchtung, sodaß die Erhabenheiten, wie beim ersten und letzten Mondviertel, lange Schatten werfen, photographirt und durch den Lichtdruck in so bewunderungswürdiger Weise wiedergegeben worden, daß man sich bei richtiger Lage dieser Quarttafeln und Schließung des einen Auges factisch mit der Fingerspitze davon überzeugen muß, wirklich nur spiegelglatte Lichtdrucke und nicht die Reliefs selbst vor sich zu haben. Mit Hülfe dieser Karten, die bisher ihres Gleichen nicht hatten, vermögen wir uns besser auf dem Monde zu orientiren, als wir es mit den besten Fernrohren zu thun im Stande sein würden, ja vielleicht besser, als wir es bei wirklich ausgeführter Reise zu thun vermöchten.

Wir erfahren hieraus, daß der Mond, gleich einem mit Pockennarben übersäeten Antlitze, dicht mit tausenden von kleineren und größeren Kratern bedeckt ist, die im Allgemeinen ganz so gebildet sind, wie die thätigen oder erloschenen vulcanischen Berge der Erde, nur daß die kleinsten noch sichtbaren größer sind, als unsere größten Vulcane, während es zahlreiche kolossale Ringe dieser Art auf dem Monde giebt, in deren Raum von mehr als zehn geographischen Meilen Durchmesser ganze Provinzen und deutsche Länder Platz fänden. Schroff erheben sich vereinzelte Bergketten, mit Gipfeln, die bis auf zwanzigtausend Fuß aufsteigen, die Mondalpen und die Mondapenninen, und die Ebenen sind von viele Meilen daherlaufenden, halbmeilenbreit gähnenden Klüften durchzogen, unter denen man sich jene Klüfte vorstellen mag, die Ariost erfüllt sein läßt mit allen jenen Dingen, die dem Erdenmenschen abhanden kommen, wie sein Verstand, der eitle Erdenruhm etc., ehe er sich’s versieht:

Mit Liebesseufzern und mit eiteln Thränen,
Mit leerer Zeit, die über’m Spiel vergeht,
Mit Muße, die Unwissende vergähnen,
Mit hohlen Plänen, die der Wind verweht,
Mit all’ dem armen unerfüllten Sehnen
Ist fast die ganze Stätte voll gesä’t.

Ein großer Theil dieses classischen Werkes beschäftigt sich damit, aus jenen Narben und Schrammen auf die Entwickelungskrankheiten und Kämpfe zurückzuschließen, die der Mond in seiner Jugend durchzumachen hatte, ehe er das in ernste Falten gelegte Mannesgesicht erlangte, welches er jetzt fast unveränderlich festhält. Die Riesenhaftigkeit der Krater wird uns durch den Hinblick auf die geringere Anziehungskraft der kleineren Masse und den Mangel eines Atmosphärendruckes verständlicher gemacht; ähnliche Kräfte, wie die der irdischen Vulcane, mußten dort eine viel stärkere Wirkung ausüben: die vulcanischen Auswürflinge konnten fünf bis sechs Meilen weit unter Umständen geschleudert werden, und die so gebildeten Krater und Ringwälle wurden durch den Mangel an Wasser und Luft derartig vor nachträglicher Verwitterung geschützt, daß der Mond sich in ursprünglicher Reinheit des Gepräges, wie eine Schöpfungsmedaille unsern Blicken darstellt. Es ist natürlich unmöglich, in einem kurzen Journalartikel diesen Verhältnissen gebührend Rechnung zu tragen; versuchen wir es lieber an der Hand der auf der Höhe der Wissenschaft stehenden Verfasser, dem Monde einen kurzen Besuch im Geiste abzustatten, um Phänomene zu sehen, die wahrscheinlich niemals von einem athmenden Wesen erblickt worden sind.

Die Unternehmer dieser großen Gesellschaftsreise führen zu ihrer Entschuldigung – wenn es einer solchen bedürfte – an, daß es für einen nachdenkenden Beobachter, der Nacht für Nacht den Mond betrachtet, die Sonne über seinen vulcanischen Landschaften aufgehen sieht und die Aufeinanderfolge ihrer Lichtwirkungen bis zu ihrem Untergange genießt, fast unvermeidlich sei, selbst bisweilen in Gedanken zu einem Bewohner oder Besucher des Mondes zu werden. Wenn man in Schweigen und Einsamkeit vor einem mächtigen Teleskope diesen ersten Schritt gethan, so entsteht bald der unwiderstehliche Drang, über das wirklich Sichtbare hinauszugehen, und den unsichtbaren Theil des landschaftlichen Gemäldes aus den Ergebnissen und Schlüssen der [235] Wissenschaft zu ergänzen, kurz ein Bild zu vollenden, von welchem die Philosophen sagen würden, es existire nicht, weil es sich auf keinem Augengrunde abmalt. Unter der sicheren Führung unserer Gewährsmänner ersteigen wir den steilen Abhang eines der größern, in der Nähe der Mondmitte gelegenen Wallkrater, z. B. des Copernikus, wozu wir, nebenbei bemerkt, eine sechsmal geringere Muskelanstrengung nöthig haben würden, als auf der Erde, weil unser Gewicht dort ein soviel mal kleineres sein würde. Der Tag auf dem Monde dauert dreihundertvierundfünfzig Stunden und die Nacht ebenso lange. Ohne vorausgehende Dämmerung, nur durch den Schimmer des Thierkreislichtes verkündet, ohne Morgenröthe und Vergoldung der Berggipfel erhebt sich die Sonne langsam über den durch die stärkere Krümmung der Mondoberfläche beschränkteren Horizont, ein aus finsterer Umgebung auftauchendes, blendendes Licht vom ersten Augenblicke an ausstrahlend. Neunundzwanzigmal langsamer als bei uns, steigt die Strahlenscheibe über den Horizont empor; äußerst langsam verkürzen sich die weithin geworfenen Schatten der Bergspitzen und Krater. Und wie die Sonne an einem schwarzen Himmel strahlt, so erscheinen auch diese Schatten pechschwarz; mit dem blauen Reflexlichte unseres Himmelsgewölbes fehlt auch das zerstreute Licht, welches bei uns die Schatten mildert. Ueberall, wohin wir sehen, stehen Licht und Schatten in schroffem Gegensatze neben einander; es fehlen eben jene sanften Uebergangstöne der Atmosphäre[WS 1], mit denen sie Nacht und Morgen, Abend und Nacht, Licht und Schatten vermittelt, indem sie mit prachtvollen Brechungs- und Aufsaugungsfarben die irdische Landschaft verschönt. Es fehlt jener milde blaue Schleier, den sie bei uns über die Fernen und Tiefen und über den Abgrund des Weltalls selbst breitet, der lachende blaue Himmel mit den weißen Wolken. Jede Einzelheit der Ferne auf dem Monde selbst, wie im weiten Weltall, ist dort schon bei Tage deutlich erkennbar.

Wie Stunde auf Stunde verrinnt, erreichen die Sonnenstrahlen in langsamer Folge Gipfel auf Gipfel unsres Ringgebirges, bis endlich der Kreis geschlossen ist und der ungeheure Kraterrand von zwölf deutschen Meilen Durchmesser als silberglänzender Reif den dunklen Abgrund umfaßt. Allmählich erreicht das Licht auch die etwas niedrigeren Gipfel der Centralkegel, die, dem Vesuv in der Somma vergleichbar, sich inmitten des vulcanischen Walles erhoben haben. Die meisten Mondkrater zeigen, beiläufig bemerkt, diese also nicht blos den Erdkratern eigenthümliche Bildung, die sich aus der Abnahme der vulcanischen Thätigkeiten erklärt, und ein Blick aus der Vogelperspective auf den Vesuv und seine vulcanische Umgebung zeigt uns ein den Mondlandschaften sehr ähnliches Miniaturgemälde. Wenn wir nunmehr im Hinblick darauf, daß die Aussicht von einem niedrigeren Punkte verhältnißmäßig beschränkter sein würde, als auf der Erde, auf unsern hochgelegenen Mond-Aussichts-Punkt zurückkehren, und den Blick rückwärts nach der sonnenbeschienenen Seite des Kosmoramas wenden, so überschauen wir eine wilde Gegend der großartigsten vulcanischen Verwüstung. Krater an Krater bis hinunter zu einem Durchmesser von einer englischen Meile häufen sich in zahlloser Menge, so daß die Oberfläche, soweit wir sie überschauen können, aussieht, als wäre sie von ihnen ganz überschäumt. Dicht hinter uns drängt sich, ebenfalls schwarze Schatten werfend, Fels an Fels und Abgrund an Abgrund; wir sehen klaffende Risse von grausiger Tiefe und Schwärze, unterbrochen von Kratern, thurmartigen Zinnen und Haufen von Schlacken und bunten vulcanischen Trümmern. Keine Spur von vergangenem organischem Leben! Kein Haidekraut oder Moos mildert die scharfen Kanten und harten Flächen; kein Ueberzug kryptogamischer oder flechtenartiger Vegetation verleiht der harten, ausgebrannten Fläche eine Lebensfarbe. So weit wir die Landschaft übersehen, ist sie die Verwirklichung eines schrecklichen Traumes von Einöde und Leblosigkeit.

Dazu dieses ununterbrochene Schweigen, in welchem sich meilenweite Schlünde öffnen könnten, ohne daß wir bei dem Fehlen des den Ton vermittelnden Elementes etwas davon vernehmen würden, Ueberall, wohin wir den Blick des Geistes wenden, ein entsetzliches, selbst in den größten Fernen durch keine Luftperspective gemildertes Licht neben pechschwarzen Schatten. Selbst der Himmel ist tiefschwarz, und neben der Sonne sind die meisten Planeten, die Fixsterne in den uns bekannten, nur wenig veränderten Stellungen sichtbar, aber ohne zu funkeln, wie bei uns. Unabänderlich in der Mitte des Scheitels oder, wenn wir uns mehr am Rande der unsrer Erde beständig zugewendeten Mondhalbkugel befinden, einen kleinen Kreis um den Himmelsscheitel beschreibend, erscheint die Erde, innerhalb eines Mondtages, der gleich neunundzwanzig Erdtagen ist, ebenso ihr Ansehen ändernd, wie für uns der Mond, jetzt als kolossale Sichel oder als Vollerde erscheinend, dann als Neuerde verschwindend, aber sich dabei neunundzwanzig Mal um sich selber drehend und dem Monde unaufhörlich ein neues Schauspiel darbietend. Ist die Sonne am Ende des langen Mondtages ebenso langsam und ebenso farblos, wie sie kam, hinter den Kraterwänden und Bergzügen versunken, so bietet die Erde ein prachtvolles Schauspiel. In viermal größerem Durchmesser als uns der Mond erscheinend, bietet sie ihm jede Stunde der endlosen Nacht als ungeheure Uhr ein andres Schauspiel, und die Mondlandschaft, wenn sie in ihrem Vollglanze darüber strahlt, mit einer Lichtfülle verklärend, daß wir den Wiederschein derselben oft von der Erde aus gewahren.

Während der Mond, wie ihn die Sonne auch beleuchten mag, dem Erdbewohner immer dasselbe vielbesungene schiefe Gesicht zeigt, bietet die Erde umgekehrt diesem ein immer wechselndes Aussehen. Bald ihm die Pole mit dem Silbermützchen des ewigen Eises, bald die Flanken in beständiger Wandlung zukehrend, wird das Bild von Stunde zu Stunde ein anderes; niemals gleicht eine Vollerde der vorigen noch der nachfolgenden, und noch weniger gleichen sich die beiden Viertel. Wahrscheinlich ist dieses Bild ein farbiges, sofern die Meere blaßblaugrün, die Continente verschiedenfarbig erscheinen möchten. Außerdem wechselt das Bild mit den Jahreszeiten; der polarische Eisgürtel erweitert sich oder zieht sich zusammen, und wenn nicht ein schwacher Farbenton, so doch verminderte Lichthelle unterscheidet eine Erdzone in ihrer Sommerpracht von ihrem Winterbilde. Häufig, wenn Wolken sich über ganze Erdkreise wälzen, verschwindet alle Zeichnung unter einem blendenden Nebelschimmer. Schwerlich wird dieser strahlende Schein im Stande sein, die grausige Kälte der langen Mondnacht erheblich zu mindern. Vielleicht mehr als hundert Celsiusgrade unter den Nullpunkt hinabsinkend, steigt die Temperatur an dem darauf folgenden Tage, während seines dreihundertfünfzigstündigen Sonnenscheins, vielleicht zu einem Grade, bei welchem Blei und Wismuth schmelzen würde, und dieser starke Wechsel hat vielleicht den hervorragendsten Antheil an den Sprüngen und etwaigen Veränderungen auf dem Monde, wie man sie beobachtet haben will, ohne indessen dieses Umstandes völlig sicher zu sein.

Unter allen Naturschauspielen, die einem auf den Mond verzauberten Beobachter die Oede seiner Umgebung vergessen lassen könnten, würde dasjenige einer totalen Sonnenfinsterniß, die auf der Erde als Mondfinsterniß gesehen wird, das großartigste sein. Wenn die Sonne hinter die Erde tritt, wird sie deren riesige schwarze Kugel, je nach dem Feuchtigkeitsgehalte der Luft, mit einem mehr oder weniger brillanten, goldgelben bis düsterpurpurrothen Heiligenscheine umgeben, wahrscheinlich in diesen Farben abwechselnd flammend, als ob sie mit Gold und Rubinen eingefaßt wäre. Diese Erscheinung, welche dann ausnahmsweise auch die Mondlandschaft einmal mit farbigem Lichte überfluthet, wird während der langen Dauer dieser Finsternisse bestimmte Phasen darbieten, sofern der Lichtkranz da am hellsten sein wird, wo die Sonne hinter der Erde eben verschwunden ist oder hervortreten will. Die Verfasser haben versucht, ihren Lesern dieses Schauspiel, dessen Eintritt man zuweilen von der Erde aus in dem stark röthlichen Schimmer des verfinsterten Mondes erkannt hat, in einer Farbentafel vorzuführen, und meinen, trotz der Schönheit derselben, daß das Gemälde weit hinter der Wirklichkeit zurückbleiben möchte. Es ist, wenn man will, eine von der Erde bis zum Monde geworfene Morgen- und Abendröthe, ein Alpenglühen, für welches die Mondberge unsrer Atmosphäre verpflichtet sind. Sehr viel unbedeutender würde der Anblick einer Sonnenfinsterniß der Erde vom Monde aus sein. Ueber die erleuchtete mächtige Silberscheibe der Vollerde eilt alsdann ein runder schwarzer, mit einem Halbschatten umgebener Nachtflecken rasch dahin. Da der lange Schattenpinsel, welcher diesen Flecken über die Erde führt, nach Kepler den eilig zu benützenden Steg darstellt, auf welchem Mondtouristen wieder auf ihre heimathliche Erde zurück gelangen können, so rufen wir dem Monde ein schnelles Lebewohl zu und empfehlen uns plötzlichst.

Carus Sterne.

[236]
Belladonna?
Aus den Papieren eines Arztes.
(Fortsetzung.)


„Ja, was zu thun ist?“ wiederholte Waldow mechanisch wie ein Automat Sibyllens Worte.

„Unsere Pflicht!“ mußte ich dumpf entgegnen.

Wie eine Löwin fuhr Sibylle auf: „Nichts gegen die Ehre dieses Hauses! Er schläft den ewigen Schlaf. Nichts, und legte man seine Mörder auf glühenden Rost, kann ihn dem Leben zurückgeben. Ich“ – sie sagte es unbeschreiblich hoheitsvoll, mit edlem Selbstbewußtsein – „die ich ein Leben hindurch die Wünsche und Gedanken ihm aus der Seele gelesen, ich allein kann in seinem Geiste urtheilen, und glaubt mir, ich spreche ihm aus der Seele, wenn ich sage: Ueberlaßt die Schuldigen ihrem eigenen Gericht, der Gewissensqual, und deckt für immer und ewig den Schleier des Schweigens über die Enthüllungen dieser fürchterlichen Nacht!“

„Ich darf es nicht,“ sagte ich traurig.

Da stürmte auch der Oberst auf mich ein und beschwor mich bei Allem, was mir einst heilig und theuer gewesen, und als ich verneinend das Haupt schüttelte, lag der gebrochene Vater plötzlich vor mir im Staube und umklammerte jammernd meine Kniee.

Brauche ich zu sagen, wie ich innerlich litt und kämpfte in dieser schweren Stunde? Meine Pflicht aber stand mir obenan.

„Und wenn ich meines leiblichen Vaters Leben dadurch rettete, Waldow, ich darf nicht. Ich muß den Gerichten Anzeige machen, wenn heute die Obduction der Leiche meinen Verdacht bestätigt.“

Er athmete erleichtert auf. „Gieb uns Zeit bis zum Tage des Begräbnisses, Doctor! Wir müssen Rath finden. – Rufen wir Blanche!“

„Sie hat sich im Thurmzimmer eingeschlossen und steht Keinem Rede,“ sagte Sibylle.

„Gut,“ meinte der Oberst, „gönnen wir ihr noch einen Tag der Ueberlegung! Sie muß ja endlich zu sich kommen, und mir wird sie Rede stehen und sich verantworten – das schwöre ich Euch. Sibylle, verkannte große Seele, nicht wahr, Sie wollen nicht den Untergang meines Kindes? Sie helfen mir suchen ohne Unterlaß, bis wir gefunden, was Blanche freispricht.“

„Ja!“

Sie hatte dem demüthigen Bittsteller den Strohhalm nicht entziehen wollen, an den er sich verzweiflungsvoll klammerte. Ich sah ihrem Gesichtsausdruck an, daß nur das Mitleid ihr das zögernde „Ja“ dictirt hatte. Ich selbst, ich gestehe es, fühlte mit jedem Augenblick meine Ueberzeugung von Blanche’s Unschuld mehr und mehr schwinden, ja, ihre Schuld wurde mir zur fürchterlichen Gewißheit, als ich ein paar Stunden später die Obduction der Leiche vornahm.

Die schnelle Veränderung des Todten, die schwarzblauen Flecke, die Ueberfüllung des Magens und der Hirngefäße mit Blut waren zwar noch keine genügenden Beweise einer Vergiftung, aber die chemische Prüfung der Gedärme und des Magens sprach für die Annahme einer solchen. Aus dem mit Eiweiß verdünnten Niederschlag des Mageninhaltes konnte ich, nachdem ich denselben von den Eiweißflocken befreit, filtrirt und getrocknet, die Natur des Giftes nicht sicher feststellen. Pflanzengifte entziehen sich ja immer mehr der exacten Beurtheilung als metallische.

Da sich in Blanche’s Toilettetisch das corpus delicti längst gefunden, konnte ich trotz alledem über das Gift nicht im Zweifel sein, das den Körper da vor mir zerstört hatte. Mir graute vor dieser holden Unschuld, deren weiße Hände durch Gattenmord besudelt waren, und ich kannte kein Mitleid mehr für ihre verbrecherische Schwäche. Ich trat zu meinen Freunden, zum Oberst und Sibylle, ein, und auf ihr athemlos gespanntes Aufblicken konnte ich natürlich nur schwermüthig den Kopf senken.

„Belladonna ohne Zweifel. Bescheiden Sie Ihre Tochter hierher, Oberst!“

„Ich komme von ihr,“ meinte Sibylle. „Wir dürfen die Unglückselige heute noch nicht mit einem Verhör peinigen. Ich habe mir mit einem Nachschlüssel die Thurmstube gewaltsam zugänglich gemacht und fand sie wie leblos auf dem Boden ausgestreckt. Sie ist in einem unbeschreiblichen Zustande, der auch dem härtesten Herzen Erbarmen abzwingen müßte. Unter meinen Bemühungen kaum zum Leben zurückgekehrt, fiel sie in meinen Armen von einer Ohnmacht in die andere.“

„Kommen Sie, Fräulein Sibylle!“ sagte ich, „wir wollen nach ihr sehen.“

War es ein neues Komödienspiel, das Blanche uns vorführte? Mein Glaube an sie war völlig erschüttert.

Wir traten bei ihr ein. Ihr ganzes Aussehen, ihr Puls, den ich sofort controlirte, zeigte mir, daß sie dieses Mal die grenzenlose Hinfälligkeit nicht heuchle. Sie sah entsetzlich verstört aus, als sie, aus neuer Ohnmacht erwachend, mit großen, unnatürlich geöffneten Augen uns der Reihe nach anstarrte. Ihr üppiges Haar umwogte ein Gesicht, dessen Colorit der Farbe des Porcellans gleichkam.

„Baronin,“ herrschte ich sie an, „haben Sie wenigstens so viel Gewissen, nicht auch Ihr Kind noch gewaltsam zu morden! Ich bitte Sie, Fräulein Sibylle, lassen Sie ein Glas Sherry und eine Tasse Bouillon mit Ei heraufbringen! Es ist nichts als Entkräftung durch Mangel an Nahrung, was diese Zustände hervorruft.“ Sibylle ging. „Trinken Sie!“ wandte ich mich barsch an Blanche, als Sibylle das Gewünschte gebracht hatte. Ich hielt ihr Tasse und Glas an die zitternden Lippen, da die vibrirenden Hände der unglücklichen Frau den Inhalt zum Theil schon verschüttet hatten.

Sie that Alles, was man von ihr verlangte, mit der rührenden Geduld, dem demüthigen Gehorsam eines verschüchterten Kindes, und ich machte Sibyllen verantwortlich dafür, durch stündliche Nahrung zu sorgen, daß ihre Kräfte sich wieder belebten. Keine Silbe aber kam über Blanche’s Lippen. Nur als ich, bevor ich fortging, bemerkte, Sibylle müsse dafür sorgen, daß bis zum Abend ein Geständniß möglich werde, weil auf den darauffolgenden Tag die Bestattung angesetzt worden, fuhr sie vom Sopha auf, und ich mußte mich gewaltsam verhärten gegen das rührende Flehen dieser Kinderaugen.

Wie uns die langen Stunden bis zum nächsten Tage vergingen, wie wir sie vielmehr hinschleppten, ein düsterstummes Trio in dem dunklen Arbeitszimmer des Commandanten – ich weiß es kaum selbst mehr. Die nervöse Aufregung jagte den armen Oberst rastlos hin und her. Kein Schlaf kam mehr in seine Augen. Sein Gefühl für Rechtschaffenheit und Ehre litt furchtbar. Wie sehr er forschte, es fand sich in den Papieren seines Schwiegersohnes nicht ein Atom, das die grauenhafte That seines Kindes widerlegt hätte.

Wir schrieben den ersten Juli. Am zweiten sollte die Leiche der Gruft übergeben werden. Der Tag war erstickend heiß gewesen, und gegen Abend nahm die beklemmende Schwüle zu. Rothe Gewitterwolken warfen eine unheimliche Beleuchtung ringsumher. Die Sonne kämpfte mit der sie verdunkelnden Luftschicht noch einmal um die Herrschaft, die Strahlen aber, die sie in’s Arbeitszimmer sandte, waren von einer eigenthümlich gespensterhaften Wirkung auf unsere erregten Nerven. Da – umflossen von dem grellen gelben Licht, stand ungerufen Blanche’s wankende Gestalt, von Sibyllens Armen aufrecht gehalten, im Zimmer.

Wie unsäglich schön kam mir in diesem Augenblicke Sibylle, das große starke Mädchen, vor, das sonst so strenge Gesicht durch engelhaft mildes Erbarmen verklärt! Wie ein kleines Kind nahm sie die hülflose junge Frau in ihre starken Arme und trug sie bis zu den Füßen ihres Vaters, der schaudernd beide Hände vor das Gesicht schlug.

„Da ist Ihr Platz – nun sprechen Sie!“ Sibylle zog ihr mit sanfter Gewalt die Hand fort, an die sich die Unglückliche verzweiflungsvoll geklammert hatte.

Draußen brütete immer erdrückender die Gewitterschwüle. Näher und näher grollte der Donner. Jetzt zuckte im falben Zickzack der erste Blitz durch das immer mehr und mehr sich verdunkelnde Zimmer. Zu den Füßen ihres Vaters, als ob sie ihre Seele ausweinen wollte, lag die schluchzende Sünderin.

Und er zog sie nicht an sich in liebendem Erbarmen; er hatte die Hände von dem gramdurchwühlten Gesicht genommen. [237] Bei jedem neuen Blitze starrte er mit vorgeneigtem Oberkörper in dieses geisterhafte Frauengesicht, und seine durchbohrenden Augen schienen ihre Seele ergründen zu wollen.

„Sprich!“

Eine secundenlange Todtenstille! Mein Herz klopfte hörbar.

„Vater! Vater!“

Und wieder nur das unerbittlich harte „Sprich!“

Aus dem weichen Gemüthsmenschen hatten die wenigen Tage einen spartanischen Vater gemacht. Er stieß die flehenden Hände rauh von sich; er hatte auf all’ ihr qualvolles Weinen nur immer dasselbe gebieterische Wort: „Sprich!“ Endlich riß er sie heftig empor.

„Ich gebe Dir fünf Minuten Zeit,“ sagte er eisig, „Du hast zu wählen, ob Du Dich wegen des Mordes Deines Gatten hier vor uns verantworten willst oder morgen vor den Gerichten, denen ich für diesen Fall die Baronin Falkenstein nach zehn Minuten als Gattenmörderin denunciren werde.“

Ihr Aufschrei durchgellte das Gemach. „Ich eine Mörderin?“

„Sprich!“ wiederholte er rauh.

„Papa, Papa, Du kannst es nicht glauben,“ jammerte sie auf. Der nächste Blitzstrahl zeigte sein in unerbittlicher Strenge versteinertes Gesicht. Es war nicht mehr ihr Vater, der, hoch aufgerichtet, in seiner ganzen herrschenden Größe vor ihr stand – es war ein mitleidsloser Richter.

„Eine wahrheitsgetreue Beichte!“ sagte er befehlend, „meine Geduld geht zu Ende.“

„Ich – will – Alles – sagen,“ brachte sie fast unhörbar hervor, und ich führte ein Glas Wein an ihre Lippen, um sie zu kräftigen. Sie schlürfte das Naß, gierig wie ein Verschmachtender, bis auf den letzten Tropfen aus. Dann stützte sie die wankende Gestalt mit dem Rücken an den Kaminmantel und sprach leise:

„Ich habe Bruno Zukits mit der ganzen Schwärmerei eines Mädchenherzens geliebt und mich ihm – was und wer auch immer zwischen uns treten möge – mit heiligen Eiden zugeschworen. Dieses Versprechen forderte er von mir schriftlich, und ich gab es ihm und meine Betheuerungen nie endender Liebe.“ Der Oberst fuhr heftig auf; sie streckte ihm beschwörend ihre Hände entgegen. „Zukits wurde gleich darauf versetzt, und Gerüchte seiner Verlobung mit einem sehr reichen Mädchen in der Residenz drangen zu mir. Du weißt, Papa, wie tief unglücklich ich damals war und wie fest ich mit allen Fasern meines innersten Seins an ihm hing.“ Blanche wankte. Sibylle führte sie zu einem Sessel, und auch der Oberst setzte sich wieder. Er klingelte und ließ Licht bringen.

Die junge Frau hatte den Kopf matt an Sibyllens stützenden Arm gelehnt. Nach einer Weile hob sie unaufgefordet wieder zu sprechen an:

„Ich war damals so hoffnungslos verzweifelt, daß es mir völlig gleichgültig war, was aus mir wurde. Mama beschwor mich unter Thränen, Euch Alle von dem Untergange zu retten, indem ich Falkenstein’s Werbung annahm. Sie rang mir mein Wort ab, ihren überredenden Einfluß auf mich Niemandem, am wenigsten Dir, Papa, zu verrathen. Ich sagte zu Allem Ja. Wie ich mich durch den kurzen Brautstand schleppte oder schleppen ließ, ich weiß es kaum. Mama kannte mich besser, als ich mich selbst; sie wußte den Sinn für Glanz und Luxus am Ende wieder in mir zu wecken. Die trostlose Gleichgültigkeit machte in nicht zu langer Zeit dem fieberhaften Eifer in mir Platz, die eleganteste Salondame zu werden und Alles und Alle durch Schönheit und einen Luxus ohne Grenzen zu überstrahlen. Mein Gemahl setzte dem brennenden Verlangen nichts entgegen. Du weißt, Papa, seine Mittel gestatteten ihm meinen Luxusgelüsten zu willfahren; er fand an meinen Liebhabereien und kindischen Zerstreuungen Wohlgefallen. Ich hätte kein Herz haben müssen, hätte seine stets wache, stets sorgende Liebe mich nicht gerührt. Ich faßte eine Art kindlicher Zuneigung zu diesem edelsten aller Männer, eine Zuneigung, in welcher Hochachtung, Freundschaft und Respect sich so vermischten, daß ich kaum sagen kann, welches Gefühl in meiner Seele die Oberhand gewann.“

„Und diesen Mann konntest Du – –, diesen Mann, dem Du selbst zugestehen mußt, daß er jedes Menschen höchste Achtung und Liebe verdiene?“ sagte der Oberst vorwurfsvoll.

Sie ließ den Kopf trostlos auf die Brust sinken; die Hände fielen ihr schlaff in den Schooß.

„Ich habe auf den Knieen gelegen und zu Gott gebetet – umsonst! Wie ein Wirbelwind, gegen den ich vergeblich meine schwachen Kräfte anstemmte, fühlte ich mich fortgerissen, fortgerissen bis – bis – sie bedeckte stöhnend ihre Augen.

„Bis in’s Verbrechen. Die sündige Leidenschaft hat Alles in Deiner Brust niedergetreten, was meine Hände der jungen Seele einst eingeimpft. Pfui über diese Erbärmlichkeit, die sich hinter den Sophismus der unzulangenden Kraft flüchten möchte! Pfui, pfui, Elende! – Ich habe keine Tochter mehr.“

„Halt ein, Vater! Erbarmen! Laß mich vollenden, ehe Du mich verdammst! Was klagst Du mich der sündigen Leidenschaft an? Beschuldige mich lieber der feigen, erbärmlichen Furcht! Sie hat mich fortgerissen, bis ich mich selbst nicht mehr kannte. Statt mich dem besten der Männer zu Füßen zu werfen und ihn um seinen Schutz gegen den Fürchterlichen anzuflehen, griff ich zur Selbsthülfe, die uns nun Alle in’s Verderben stürzt. Bald nach meiner Verheirathung erfuhr ich, daß Zukits’s Verlöbniß sich wieder gelöst. Der Frau entschleierten ‚gute Freunde‘ die Lebensweise Zukits’s, eine Lebensweise, deren Schilderung man dem keuschen Ohre des Mädchens vorenthalten. Verachtung verscheuchte den letzten Rest der Trauer um Den, der in meiner Erinnerung als theurer Todter gelebt hatte. Vollständige Gleichgültigkeit löschte in den letzten Jahren ganz sein Bild in mir aus. Da stand er vor ein paar Tagen hier im Parke vor mir – er lag zu meinen Füßen.“

„Der Unverschämte!“ brauste der Oberst auf.

„Ich weiß nicht,“ sagte sie sanft, „war ich mehr empört oder zu Tode erschrocken, als ich den Mann in der verwahrlosten Kleidung, wie dem Erdboden entstiegen, auf einmal vor mir sah. Ich gebot ihm aufzustehen. Er gehorchte nicht. Er wollte vor mir liegen, bis ich versprochen, das gegebene Wort zu lösen. Dies zu fordern sei er da.

‚Welches Wort?‘ fragte ich verwundert. Das Wort: ihm zu folgen, antwortete er mir, zu folgen bis an das Ende der Welt, sein zu werden gegen alle Satzungen und Gebote, gegen die heiligsten selbst und trotz der Rechte, die man an mich geltend machen könne, mit ihm zu fliehen in die weite Welt vor den Menschen und ihren Gesetzen.

Ich lachte ihm in’s Gesicht und sagte ihm, daß seine Untreue den Pact null und nichtig gemacht, daß überdem die albernen Schwüre, von Blanche Waldow geschrieben, keine Gültigkeit mehr hätten, da deren Erfüllung sich bei der Baronin Falkenstein ja selbstverständlich verböte. Er stand plötzlich drohend auf seinen Füßen. Sein böses, leidenschaftliches Gesicht sah verzweifelt entschlossen aus; sein heißer Athem wehte mich an.

‚Die Briefe tragen kein Datum,‘ sagte er frech. ‚Die gewohnte Mädchennachlässigkeit trägt mir den Vortheil ein, daß ich vorgeben könnte, die Baronin Falkenstein habe sie mir – nehmen wir an: vorige Woche – geschrieben.‘

Ich stand wie versteinert vor so unerhörter Frechheit.

‚Ich werde den Commandanten rufen,‘ brachte ich endlich fassungslos heraus.

‚Thun Sie das, meine Gnädigste! Der Herr Gemahl wird das Geschenk dieser werthvollen Episteln ohne Zweifel hocherfreut entgegen nehmen.‘

‚Er wird seinem Weibe mehr Glauben schenken, als –‘

‚Diesen überzeugenden Worten schwarz auf weiß,‘ meinte er spöttisch. ‚Sie haben mir vor Jahren liebenswürdiger Weise Blanco Vollmacht gelassen. Ich habe mir die Erlaubniß genommen, Datum und Unterschrift zu vervollständigen. Sehen Sie her, meine Gnädigste, und gestehen Sie ein, daß das Facsimile mir doch ziemlich gut gelungen ist!‘

Sprachlos starrte ich auf den offenen Brief, den er mir hinhielt. Ich selbst hätte geschworen, daß das Datum, 25. Juli 18– und das F. F. neben dem B., von meiner eigenen Hand waren. Ich war wie von Sinnen vor Schreck. Ich glaube, ich legte mich auf's Bitten. Er hörte mich noch eine ganze Weile geduldig an. Dann sagte er mit frivoler Bewunderung:

‚Wie schön Sie geworden sind, Blanche! So viel entzückende Reize an einen Greis fortgeworfen! Das darf ich nicht zugeben.‘ Als ich mich mit einer Geberde des Abscheues von ihm abwandte, fügte er hinzu:

‚Nur nicht so spröde, tugendsam schöne Frau! Wir kennen die Frauen. Ich liebe Sie noch, oder sagen wir besser: wieder, [238] seit ich Sie zu dieser bezaubernden Blüthe entfaltet sehe. Still!‘ sagte er drohend, und seine verwüsteten Züge wurden noch düsterer. ‚Sie werden mir gern oder ungern angehören, und beleidigt mein Liebesgeflüster Ihr Ohr, so können wir es auch einmal mit der Aufrichtigkeit versuchen. Die wird Sie vielleicht besser von dem Ernste der Sache überzeugen, Baronin.‘

Mir war wie dem Vogel unter dem Blick der Schlange. Ich wäre gern geflohen – aber ich konnte keinen Schritt von der Stelle. Mit dem Rücken lehnte ich gegen den Baum und athmete schnell und beklommen. Er sprach hastig, wie Jemand, der über eine Fatalität möglichst schnell fortgehen will. Ich glaube, in diesem Augenblicke schämte er sich seiner tiefen Gesunkenheit, denn sein Auge suchte scheu den Boden.

‚Sie sollen klar sehen, Blanche,‘ sagte er. ‚Ich bin elender als ein Bettler. Ich werde steckbrieflich verfolgt wegen – wegen einiger kleiner Manipulationen, die unglücklich ausgefallen sind. Aber ich will nicht untergehen,‘ – er biß die blitzenden Zähne knirschend zusammen. ‚Ich war leichtsinnig; ich bin nicht absolut schlecht. Ich will nicht lechzen müssen nach Genüssen, für die ich meiner Seele Seligkeit bereits geopfert. Ich bin zu weit gegangen, um umkehren zu können. Vorwärts denn, vorwärts mit Dir, Blanche!‘

‚Und was kann ich dabei thun?‘ brachte ich, am ganzen Leibe zitternd, hervor.

‚Mein sein!‘

Ich glaube, er las den Abscheu auf meinem Gesicht. ‚Ich bin keine Goldprägemaschine,‘ sagte ich verächtlich.

‚Gar nicht nöthig, mein Täubchen!‘ – er schlug immer mehr zu dem Ton cynischen Spottes an – ‚Du bist reich genug, um uns ein paar Jahre in tollem Jubel dahintreiben zu lassen. Wisse, nur Dein Reichthum bewahrt mich vor dem Zuchthaus! Glaubst Du noch, daß ich diese gefälligen Briefe nicht als Pression bis zum Aeußersten ausnützen werde?‘

‚Man kommt,‘ flüsterte ich voll Todesangst.

‚Gut, ich erwarte Dich hier morgen Abend,‘ sagte er entschlossen, und dann ging er. Er schritt Ihnen gerade entgegen, Sibylle,“ sagte sie nach einer kurzen Pause und wandte der Angeredeten das Gesicht zu, „denn Sie kamen durch die Allee auf uns zugeschritten. Sie sahen ihn aufmerksam an.

Einen Moment später, Sibylle, stand ich vor Ihnen und stammelte etwas von einem reisenden Maler, als Sie mich gleich darauf fragten, wer der Fremde sei. An dem eigenthümlichen Blicke, den Sie mir zuwarfen, sah ich, daß Sie mir nicht glaubten. Welch eine Nacht, welch einen Tag hab’ ich darauf verbracht! Tausend Pläne, mich des Fürchterlichen zu erwehren, durchkreuzten mein Hirn. Bald wollte ich meinem Manne, bald Dir, Vater,“ – ihr Blick richtete sich wieder auf den Oberst – „Alles gestehen, aber die feige Furcht drängte den Gedanken zurück. Zukits’s sichere Hand war berühmt. Ich hätte für Euer Leben zittern müssen. Ich kannte meines Mannes und Deine Gesinnung ja zu gut. Ein Duell wäre unvermeidlich geblieben. Ich raffte alle Juwelen, alles Geld zusammen, das sich in meiner Schatulle fand. Vielleicht ließ er sich um diesen Preis bewegen zu gehen. Vielleicht verkaufte er mir dafür meine Briefe. Ich wollte es wenigstens nicht unversucht lassen.“

Blanche schwieg einen Moment. Dann sagte sie, zu Sibylle gewandt: „Den ganzen Tag fühlte ich Ihre beobachtenden Blicke auf mir. Der Nachmittag kam, der Abend auch; es war, als hätten Sie sich mir zur Wache gestellt. Die Hauptausgänge blieben mir dadurch versperrt. Von ferne sah ich Zukits um das Schloß irren. Mir wurde todesangst. Ich entschlüpfte durch die geheime Pforte und eilte zum Platz des Stelldichein. Er erwartete mich dort mit Ungeduld, zürnend, grollend, und ich hatte ihm kaum das Päckchen mit Pretiosen und Gold in die Hand drücken können – da raschelten die Zweige, und Sie, Sibylle, traten auf die in Mondschein gebadete Lichtung.

‚Excellenz schicken mich; sie wünschen zu soupiren und erwarten Euer Gnaden,‘ sagten Sie, und ich hörte den strengen Tadel aus der höflichen Stimme heraus. Sie verbeugten sich und traten, respectvoll wartend, einige Schritte zurück, aber Sie blieben doch so nahe, daß wir kein Wort mehr wechseln konnten.

‚Ich denke, Sie haben jetzt Ihren Zweck hier erreicht; wollen Sie mir die fraglichen Skizzen nun überlassen?‘ redete ich Zukits an, mich zu verzweifelndem Muthe aufraffend.

‚Sie sind mir von großem Werthe, meine gnädige Frau,‘ gab er geschmeidig mit gutgespielter Unterwürfigkeit zurück, ‚gestatten Sie nur erst zu untersuchen, ob der Kaufpreis im Verhältnisse zu denselben steht!‘

‚Es ist das Aeußerste, was ich dafür zu bieten habe. Reicht es nicht aus, müßte ich an die Großmuth des Commandanten appelliren, die er mir sicherlich nicht versagen wird,‘ sagte ich entschlossen, ‚die hiesige Luft dürfte Ihnen übrigens schlecht bekommen. Man sagt, daß Festungsluft Leuten von Ihrer Constitution gefährlich werden kann. Ich wünsche Ihnen daher glückliche Reise.‘

Er war furchtbar bleich geworden. Ich sah, ich hatte ihn durch diese Drohung – meine letzte Waffe – nun meinerseits einzuschüchtern verstanden. Er hatte die kleine ängstliche, schreck- und zaghafte Blanche von damals zu finden erwartet. Das entschlossene Weib imponirte ihm ohne Zweifel, denn er verbeugte sich bis zum Boden, als ich stolz an ihm vorüberschritt und Ihnen, Sibylle, zuwinkte, mir zu folgen.

Wir gingen ein paar Augenblicke stillschweigend neben einander. Ich zermarterte mein Hirn, wie eine passende Erklärung der Dienerin gegenüber einzukleiden sei, die mich bereits zwei Mal in jener abenteuerlichen Gesellschaft überrascht hatte. Sie wissen, Sibylle, daß ich mich zu einem unbefangenen Tone zwang, als ich die flüchtige Bemerkung schnell hinwarf: Die Kunst scheine heute nach Brod zu gehen, da jener unheimliche Gesell, der sich einen reisenden Maler nenne, mich wiederholt um eine Gabe angesprochen.

‚Ist Herr von Zukits bereits so weit heruntergekommen?‘ meinten Sie gelassen und dann gingen Sie ruhig weiter, als sähen Sie nichts von meinem tödtlichen Erschrecken. Es sollte noch ärger kommen. In dem geheimen Gange stand mein Mann und hielt den grünen Vorhang für mich offen. Ich war wie vom Blitz getroffen.

‚Gute, treue Seele!‘ sagte er mit seiner gewohnten Milde zu Ihnen, Sibylle, und streichelte Ihnen die Hand – und ebenso sanft zu mir: ‚Komm herein, mein Kind! Die Abenddämpfe könnten Dir Schaden thun,‘ während er mich, die ich halbtodt war, an dem Arme nahm und die Hintertreppe bis zum Speisesaale hinaufführte. Dort nahm er ruhig an der Tafel Platz und verzehrte mit größter Seelenruhe sein Abendbrod. Ich konnte nichts über die Lippen bringen.

‚Du siehst bleich und angegriffen aus, mein Kind,‘ meinte er besorgt. ‚Sag’ mir, Blanche,‘ und er schob plötzlich den Teller bei Seite, ‚ob Du Dich in diesen Jahren nicht ganz unglücklich an meiner Seite gefühlt; sag’ mir, daß Du mir kein allzu großes Opfer gebracht, indem Du Deine blühende Jugend an mein einsames Alter kettetest!‘

Ich lag zu seinen Füßen, ehe er vollenden konnte. O, warum hatte ich nicht eher Vertrauen zu diesem edlen verständigen Greise gefaßt, der die Welt und ihre Irrungen so mildversöhnlich betrachtete!

Er zog mich auf seine Kniee; er streichelte an meinem Haare liebevoll herunter. ‚Und nun wird meine kleine Blanche ja bald für all das Entbehren entschädigt werden. Wer weiß‘ – er sagte es träumerisch – ‚wie lange der greise Baum noch zwischen der frischen Blume und der Sonne steht, wer weiß … Versprich mir Eines, Blanche! Gieb jenen – jenen Menschen, den Zukits, nicht meinem Kinde zum Vater. Still, Kind! Was weinst Du so stürmisch? Es wird Zeit, daß ich heimgehe, um jungem Leben Platz zu machen. Still – ich will nichts wissen. Es wird sich morgen Alles finden. Ich möchte zur Ruhe gehen. Ich wollt’, ich könnte schlafen – ja, recht ruhig schlafen,‘ und dann, als käme ihm ein plötzlicher Einfall, ging er in’s Schlafzimmer, in seines oder meines, und als er zurückkam, forderte er sich ein Glas Chablis von mir, entkorkte ein Fläschchen, das er in der Hand trug, und ließ einige Tropfen in den Wein fallen. Mit einem Zuge leerte er das Glas. Mein Gott, ich weiß jetzt, daß es Gift war, das er getrunken!“

„Sie lügt,“ schrie Sibylle gewaltsam auf und riß ihren Arm ungestüm unter Blanche’s Kopfe fort. „Durch diese falsche Angabe hat sie die ganze rührende Erzählung zu einem feinen Lügengewebe gestempelt – hat sie sich selbst entlarvt. Fink-Falkenstein starb nicht von selbstmörderischer Hand, und es wäre auch gar kein Grund zu diesem Acte der Verzweiflung vorhanden gewesen. Er wußte nichts, absolut nichts, als was ich ihm zu sagen für gut fand. Glaubt Ihr, daß ich die Brandfackel in sein friedliches Leben zu schleudern vermocht hätte, ich, die ich tausend Tode für [239] sein Glück gestorben wäre? Ich that nur, was nothwendig war, um seine Ehre zu bewachen. Ich sagte ihm: der Zukits wäre wieder da und spähe der gnädigen Frau wahrscheinlich in der Absicht nach, von ihrer Gutmüthigkeit Geld zu erpressen. Wir wollten versuchen, eine Begegnung zu verhüten, und ich und er beschlossen bei ihren Promenaden ein wachsames Auge auf sie zu haben, damit der freche Mensch sie nicht behellige. An die versteckte Pforte lockte ich ihn durch die Aussicht, sie dort bei der Rückkehr zu überraschen. Ich dachte, das Gewissen würde ihr schlagen, wenn sie den alten ehrwürdigen Mann da auf der Schwelle ihres heimlichen Sündenweges stehen sähe, und am nächsten Tage wollte ich ihr selbst mahnend in’s Gewissen reden. Der nächste Tag! Mein Gott, möchte wir Menschen uns doch nicht immer mit der Hoffnung auf Zukünftiges vertrösten, sondern den Augenblick benutzen, der noch in unsere Hand gegeben ist!“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Die gnädige Herrschaft beim Erntefeste. (Mit Abbildung S. 232 und 233.) Zur Zeit der Perrücken und Haarbeutel war das Leben nicht immer so zopfig, wie wir es uns vorzustellen gewohnt sind. Alte ländlich-sittliche Gebräuche, an denen der conservative Geist des Adels wie der Bauern festhielt, sorgten dafür, daß von Zeit zu Zeit der Puder abgestäubt wurde und daß die äußerste Derbheit und ärgste Zimperlichkeit mit einander auskommen mußten. Das verbreitetste unserer ländlichen Feste ist das Erntefest, das in vielen Landstrichen schon seit langer Zeit auch zugleich als Kirchweih- oder Kirmeßfest begangen wird. An Rittergutssitzen gebot es dann der alte Brauch, daß die Gutsangehörigen in feierlichem Aufzuge dem Gutsherrn einen Erntekranz überreichten und dafür wiederum von diesem mit einem Erntetanze erfreut wurden. Dabei beobachtete man ein Recht, das wir bei ähnlicher Gelegenheit noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ausüben sahen: es kam nämlich den Gutsangehörigen zu, die Mitglieder ihrer Herrschaft und deren Gäste zum Tanze aufzufordern, und Niemand durfte die Einladung abschlagen, ohne sich durch ein Geschenk davon loszukaufen. So geschah es noch bei den ihrer Zeit vielbesuchten Heuerntefesten auf dem bekannten Lustschlosse Rosenau, die der Vater des jetzigen Herzogs Ernst von Coburg alljährlich für die schönsten Bursche und Mädchen des Landes zu veranstalten pflegte; da wurde von den kräftigen Armen manche schlanke Person im Tanze herumgeschüttelt, die wir später auf hohen Thronen sitzen sahen.

Für das Landvolk ist das Gefühl der Standeskluft dasselbe, ob es einem „gnädigen Fräulein“ oder einer „Prinzessin“ gegenübersteht. So auch auf unserm heutigen Bilde. Die große Gutsscheune ist zum Ballsaal hergerichtet worden. Die Fahne und der große Erntekranz sind nicht ihr einziger Schmuck, ein treffliches Erntefestwappen hat sich wie von selbst auf dem hohen Barren gebildet, auf welchem die Musik sicher untergebracht ist. Neben ihr prangt das Wappen mit dem Erntegeräthe und den Garbenbündeln, von denen sogar noch lange Bänder herniederwehen. Als besondere Respectsperson tritt, wenn freilich auch im Hintergrund, der Ceremonienmeister oder Tanzcommandeur mit der Festschärpe hervor, der soeben der Musik den Tact berichtigt. Rechts von ihm hat sich Gleich und Gleich gepaart, aber links von ihm ist’s jedenfalls die Tochter des Hauses, das „gnädige Fräulein“, welches im Arm des kräftigen jungen Bauern auf ihren Stöckchenschuhen dahinklappert, während die „gnädige Frau“ selbst am Tisch unter ihrer starkgepuderten Haarkrone einen streng strafenden Blick gegen die Pächterstochter schleudert, die sich soeben erfrecht, ihren Herrn Sohn, den gnädigen Junker zum Tanze zu laden. Ein weit freundlicheres Bild gewährt das heitere Fräulein hinter ihr, das ihren verblüfften Nachbar zum Tanze fortzieht.

Am linken Ende des Festtisches berühren sich die Altersgegensätze: das Päppelkindchen, das von der Amme gefüttert wird, und das uralte Paar, das mit Hülfe des Hörrohrs seine Unterhaltung pflegt. Unverkennbares Wohlgefallen an der bunten und lauten Lustbarkeit äußern der Gutsherr, der, ungestört vom Strafblick seiner Gemahlin, weil er ihn nicht sieht, mit dem Augenglase die Verlegenheit seiner tanzenden Tochter lächelnd beobachtet, und der geistliche Herr mit dem Mantel im Vordergrunde, der sich den Nebengenuß eines Prischens dazu erlaubt. Zufrieden scheinen auch die beiden Antipoden des Bildes, der Junge, der stillvergnügt seine eigenen Beine umklammert, und der Mohr in seinem Weindienst. Und so können wir uns der Beruhigung hingeben, daß trotz des strengen Blicks der alten gnädigen Frau die Ceremonie ohne Störung verlaufen wird, bis die Herrschaft durch ihre Entfernung den wahren Erntejubel des Völkchens erst freigiebt.


Die orientalische Frage im Berliner Cabinet (Notabene Wachsfigurencabinet in der Passage). Die Zeiten sind vorüber, in denen die Mechaniker jahrelange Bemühungen auf Maschinen wendeten, blos um die natürlichen Bewegungen von Menschen und Thieren durch Automaten nachahmen zu lassen. Es waren respectable Leistungen darunter. Wir wollen nur an die schreibenden, zeichnenden, musicirenden Figuren von Vaucanson, an die schwimmende, fressende und zeitweise einen weichen Brei von sich gebende Ente desselben Künstlers, an den Flötenspieler im Kaufmann’schen akustischen Cabinet in Dresden, der sogar ein merkwürdiges musikalisches Problem löst, erinnern. Heute baut man nur Maschinen, die nicht blos zum Schein, sondern wirklich arbeiten, nähen, stricken, sticken, weben, schreiben, rechnen etc., und selbige sind oft hundertmal kunstreicher ausgeführt, als die berühmtesten Automaten der Kunstcabinette. Ein besonderes Interesse nehmen höchstens noch die Pseudo-Automaten ein, die redenden Köpfe und Commando-Trommler der Taschenspieler, der automatische Whistspieler (vergl. Gartenlaube 1876, S. 698), sobald die Einwirkung des Menschen geschickt verborgen ist. Eine Copie des berühmtesten Vertreters dieser Gruppe, des Kempelen’schen Schachspielers, producirt sich gegenwärtig unter dem Namen Ajeeb in dem bekannten Castan’schen Wachsfigurencabinet der Kaiserstadt. Aber man muß sagen, daß sie mit ihrem berühmt gewordenen Vorbilde nur geringe Aehnlichkeit besitzt. Das Werk des genialen Herrn von Kempelen setzte gegen Ende vorigen Jahrhunderts selbst erfinderische Köpfe in Verlegenheit, weil der in dem Spieltische steckende Mensch während des Oeffnens der verschiedenen Thürchen, Schübe und Fenster so geschickt seine Platz zu wechseln wußte, daß man wirklich an seiner Existenz zu zweifeln begann, und sich dem von dem Erfinder begünstigten Glauben zuwendete, er wirke nur durch Magnete von außen auf den Mechanismus ein. Von solchen Zweifeln kann unserm Ajeeb gegenüber keine Rede sein.

Auf einem kleinen Divane kauert, die Wasserpfeife neben sich, die Kolossalfigur eines Türken, der offenbar in seinem Hohlleibe einen ausgewachsenen Menschen bequem beherbergen kann, wenn derselbe gefälligst seine Beine durch den Divan in den mit demselben verbundenen Kastentisch stecken will, auf dem das Schachbrett steht. Zwar wird uns vor Beginn des Spieles vermittelst einiger Klappen erlaubt, durch die Brust des Türken wie durch letzterwähnten Rolltisch hindurch zu sehen, wobei man wahrscheinlich das Vergnügen hat, zwischen den ausgespreizten Beinen des Unsichtbaren hindurch zu schauen, ohne daß man den gleichen Genuß hat, wie wenn man sich bückt und durch die eigenen Beine hindurch die durch den Blutandrang in den Augen sehr verschönerte Landschaft betrachtet. Aus dem Brustkasten hält die menschliche „Seele“ des Automaten ohne Zweifel, so lange die Klappen geöffnet sind, ihr Oberhaupt zurückgezogen, wobei man indessen zu seiner Enttäuschung nicht unbemerkt lassen kann, daß die vorgebliche einen so großen Raum erfordernde Maschinerie beiderseits nur eine ganz dünne Gitterschicht vor den Gucklöchern bildet, sodaß Neunzehntel des Hohlraums leer erscheinen. Jetzt werden die Klappen insgesammt bis auf eine kleine Luftklappe geschlossen und das „Werk“ geräuschvoll aufgezogen, jedenfalls damit der Insasse der Figur sich erheben und in derselben zum Spiele zurechtsetzen kann. Findet sich nicht sogleich ein Spieler, so macht die Figur einstweilen, wie die Kempelen’sche, den Rösselsprung, das heißt sie führt den von einem Zuschauer auf ein beliebiges Feld gesetzten Springer schnell, während seine Fußstapfen sogleich durch Spielmarken bezeichnet werden, über alle vierundsechszig Felder, ohne eines zweimal zu berühren. Dazu gehört natürlich weiter nichts, als daß sich der leitende Staatsmann des Divans ein- für allemal einen in sich selbst zurückkehrenden Rösselsprung merkt, den man natürlich von jedem beliebigen Felde beginnen kann.

Inzwischen hat sich wohl ein Spieler im Publicum gefunden; der Automat wird dicht an die Barrière herangerollt und jener hat nun die Ehre, eine Partie Dame oder Schach zu spielen mit dem – türkischen Herrn Minister des Innern, der zugleich Minister der auswärtigen Angelegenheiten, des Kriegsspiels, der Finanzen und des Handels ist, und das Spiel wahrscheinlich in aller Bequemlichkeit durch die dünne Weste seiner Attrape überschaut. In der Regel verliert sein Gegner, weil er sich, um die Schaustellung nicht aufzuhalten, nicht länger besinnen soll, als er selbst, der doch immer in der Uebung bleibt und alle Tage fünf Stunden, von zwölf bis zwei Uhr und von fünf bis acht Uhr, Schach spielt. Die Pausen sind trotz des großen Andrangs von Seiten der Schaulustigen augenscheinlich darum nothwendig, weil der Automat so vollkommen menschenähnlich ist, daß er, wie die oben erwähnte Ente, sich zuweilen die Beine austreten, über die Dummheit der Menschen lachen, eine Mahlzeit einnehmen und andere kleine Bedürfnisse befriedigen muß, die eine vorherige Entfernung der Zuschauer erfordern. Man darf behaupten, daß der Mechanismus sogar niesen würde, wenn man durch die Luftklappe etwas Schneeberger Schnupftabak oder ein Stäubchen Veratrin einführte, und wir wollen dem Herrn Automaten daher rathen, die Klappe lieber zuzumachen. – Wir achten gern Geschäftsgeheimnisse, aber solchem Jahrmarkts-Humbug gegenüber ist es beinahe Pflicht der Presse, ein durch Reclame irregeführtes Publicum zu warnen, denn gegen diesen „Automaten“, an welchem nichts mechanisch ist, als der bewegliche, bei jeder Bewegung knackende Arm, sind der sterbende, schwerathmende Zuave des Cabinets, die Degen-Balanceuse, und die ihre Umgebung bewundernde Wachsdame, die schon mancher biedere Landmann angeredet haben soll, ja die Schreipuppe, über die sich die kleinen Kinder amüsiren, wahre Kunstwerke.X.


Georg Jenatsch. Ehe der Winter mit seinen langen Abenden und somit die Zeit „der behaglichen Lectüre“ ein Ende nimmt, möchten wir unsre Leser, namentlich aber alle Freunde der Geschichte noch auf einen Roman aufmerksam machen, der in treuer Darstellung historischer Ereignisse in der That Ausgezeichnetes leistet. Bereits Ende vorigen Jahres erschien auf dem literarischen Markte: Georg Jenatsch, eine alte Bündnergeschichte von Ferdinand Meyer (Leipzig, Hässel). Wir wissen nicht, ob das Buch bei der Kritik die Anerkennung gefunden hat, die es unbedingt verdient, wenigstens erinnern wir uns nicht, eine Kritik darüber gelesen zu haben, wenn aber interessanter Stoff, eine bis in’s Kleinste treue Festhaltung der Geschichte, markige Charakteristik[WS 2] der Hauptpersonen, glänzende Darstellung großartiger Alpenbilder und ein durchweg künstlerischer Aufbau der Entwickelung und schließlichen Katastrophe des Ganzen einen guten historischen Roman abgeben, so möchten wir der Bündnergeschichte dieses Prädicat beilegen. Für Schweizer und alle Freunde schweizerischer Geschichte muß dieses Meyer’sche Buch geradezu zündend wirken.


[240]

Der brave Weichensteller.[2]


„Das wird ein kaltes Weihnachtsfest!“
Er sprach's und sprang zur Bahn hinaus
Und stellte rasch die Weiche fest.
Schon hörte man des Zugs Gebraus
„Noch einen Zug. – dann hab' ich Ruh'
und eile meinen Lieben zu.
Es schlafen Frau und Kinder warm,
Das Jüngste in der Mutter Arm.
Sie träumen nun den schönen Traum
Vom freudenreichen Weihnachtsbaum.“ –
Sein einsam Haus in Dunkelheit
Liegt eine halbe Stunde weit.
Hinüber sendet er den Blick ...
Bestürzt, entsetzt fährt er zurück:
„Sprüh'n dort nicht Funken über's Dach?
Schläft Alles fest? Ist Niemand wach?
Wer rettet? Ich – ich darf es nicht;
Mich fesselt hier die harte Pflicht.
Der nächste Zug muß erst vorbei ...
Wie? Hör' ich ferne nicht Geschrei?
Unmöglich! – Sieh, die Flamme bricht
Zum Dach hinaus mit Dampf und Licht.
Wer rettet? – Ich, ich kann ja nicht,
Ich darf ja nicht, mich hält die Pflicht.
Der Zug, er kommt noch immer nicht ...“
Und endlich kommt der Zug heran.
Verzweifelt steht, doch fest der Mann;
Dann eilt er schnellen Schritts feldein. –
Sein Haus, umlodert von den Flammen,
Nun bricht's mit dumpfem Krach zusammen.
Die Frau? Die Kinder? – Hört, sie schrei'n! –
Sie schrei'n – Gottlob! sie blieben sein.




Das kaiserliche Reichsgesundheitsamt. Das deutsche Impfgesetz fordert durch den Impfzwang eine Aufopferung des Einzelnen für das Wohl der Allgemeinheit, wie es zeither kein Gesetz zu verlangen wagte. Mußte der Staat eine solche Einschränkung der persönlichen Freiheit erzwingen, so war es seine Pflicht, nicht nur dafür zu sorgen, daß ein aus dem Impfen entspringender Nachtheil durchaus vermieden, sondern durch eine sich anschließende Statistik die Nothwendigkeit des Impfgesetzes auch klar bewiesen würde. Keines der vorhandenen Reichsorgane konnte zur Erfüllung dieser Doppelpflicht genügen; schon aus diesem Grunde war ein eigenes Amt erforderlich, und es trat nun sofort das von vielen Seiten längst vergeblich ersehnte Reichsgesundheitsamt in's Leben.

Bereits am 6. April 1870 wurden zwei hierauf bezügliche Petitionen dem Bundeskanzler vom Reichstage dringend zur Berücksichtigung empfohlen; beide erstrebten die Bildung einer Behörde, welche die Aufgabe hat, die allgemeine medicinische Statistik im Norddeutschen Bunde zu reguliren, beziehentlich allgemeine sanitätliche Maßnahmen in Hinsicht auf Entstehung und Verbreitung von Krankheiten anzuregen. Das Programm der neuerrichteten Behörde schloß sich direct an den Inhalt dieser Petitionen an; es wurde ausdrücklich betont, daß dasselbe einen rein berathenden Einfluß ausübe und keine Executivgewalt übernehme. Es ist dem Reichskanzleramt direct untergeordnet, unterstützt es im Gebiete des Medicinalwesens, hat die Entwickelung der öffentlichen Gesundheitspflege überall zu verfolgen und eine allgemeine medicinische Statistik für ganz Deutschland zu begründen. Der Zusammensetzung nach besteht es aus einem Director und zwei Mitgliedern, zwei Bureaubeamten, einem Kanzleisecretär und einem Kanzleidiener; an die Spitze wurde ein höherer Militär- und behandelnder Arzt des Fürsten Bismarck, Dr. Struck, gestellt. Zu bedauern bleibt nur, daß, wie auch im Reichstage angeführt wurde, den Mitgliedern nicht das Recht des unmittelbaren Vortrages bei dem Reichskanzler zusteht; zur Begründung medicinischer Fragen ist dieses ein unbedingtes Erforderniß.

Am 15. November 1876 erfolgte die erste Publication des kaiserlichen Gesundheitsamtes über die Epidemien des Auslandes, und am 6. Januar 1877 erschien die erste Nummer des von ihm herausgegebenen Wochenblattes unter dem Titel: „Veröffentlichungen des kaiserlich deutschen Gesundheitsamtes.“ (Fünf Mark pro Semester.) Auszüge aus dieser Zeitschrift sind unseren Lesern in den Tagesblättern häufig zu Gesicht gekommen.

Das Journal ist nicht für medicinische Kreise allein bestimmt. Es behandelt die Erkrankungs- und Sterblichkeitsverhältnisse sowie die dieselben beeinflussenden Ursachen im In- und Auslande und enthält eine regelmäßige Zusammenstellung über die Sterblichkeits- und Todesursachen in den deutschen Städten über fünfzehntausend Einwohner. Unter Annahme von acht Klimakreisen in Deutschland wird der Witterungsgang in denselben (Feuchtigkeit, Temperatur, Luftdruck, Wind) graphisch dargestellt, der Gang der Epidemien genau verfolgt und alle beachtenswerthen Verhandlungen und Fortschritte auf dem Gebiete der Gesundheitspflege besprochen. Als eine fernere Arbeit ist von der neuen Behörde die Untersuchung der Petri'schen Fäcalsteine und im Anschluß daran die Prüfung sämmtlicher für hygieinische Zwecke in Gebrauch gekommener Desinfectionsmittel in Angriff genommen worden. Diesem bei der kurzen Zeit des Bestehens vielversprechenden Anfange muß sich eine Thätigkeit anschließen, welche die Kraft der Beamten auf das Aeußerste in Anspruch nehmen wird. – In den oben erwähnten Petitionen wurde es als dringend wünschenswerth bezeichnet, daß, wie es schon an manchen Orten der Fall ist, in Städten und Landbezirken locale, nicht staatliche Gesundheitsämter von Seiten der betreffenden Gemeinden begründet werden, welche aber mit dem Reichsgesundheitsamte in unmittelbarer Verbindung stehen. Der Nutzen dieser Einrichtung ist offenbar. Ganz Deutschland würde auf diese Weise von einem hygieinischen Netze durchzogen werden, wobei nur zu beklagen wäre, daß wir Zeitgenossen die gestreute Saat nicht würden ernten können. Wenn auch in Deutschland (wie in England die Statistik nachgewiesen hat) mit der Zunahme der Verbesserung der sanitären Verhältnisse eine fortschreitende Erhöhung der Lebensdauer eintritt, so bleibt uns wenigstens das erhebende Bewußtsein, unsern späten Nachkommen das Alter der Patriarchen errungen zu haben.
Dr. – a –

Zur Beachtung. Aus der Thätigkeit des „Untersuchungs-Bureau's des pharmazeutischen Kreisvereins zu Leipzig“ hat sich ergeben, daß unsre Notiz über diesen Verein die Auffassung zugelassen, als ob die Prüfung verfälschter Lebensmittel u. dergl. durch das genannte Bureau gratis besorgt werde. Wir bemerken deshalb hiermit nachträglich, daß der Verein vom Staate bis dato noch keinerlei Unterstützung erhielt und darum für seine oft ebenso kostspieligen wie zeitraubenden Untersuchungen eine Vergütung beanspruchen muß. Der Vorstand desselben wird ohne Zweifel auf vorherige Anfragen über den betreffenden Kostenpunkt gern Auskunft ertheilen.


Berichtigung. In unsrer Nr. 11. ist in dem Artikel „Parlamentarische Photographien aus VersaillesSeite 186, zweite Spalte, Zeile 15 von unten, statt „Elba“ natürlich zu lesen: „St. Helena“.


Kleiner Briefkasten.

J. L. in Frankfurt a. M. Auf Ihre Anfrage über die Entstehung der Nordlichter müssen wir mit einer kleinen Geschichte antworten. Ein durch seinen Sarkasmus nicht weniger als durch seine Entdeckungen ausgezeichneter Physiker fragte einst beim naturwissenschaftlichen Examen einen Candidaten, den er für seine Ungelehrsamkeit etwas abstrafen wollte: „Wissen Sie vielleicht, wie die Nordlichter entstehen?“ Der Candidat sagte schüchtern: „Ja,“ mußte aber gleich darauf eingestehen, daß er es wieder vergessen habe. „Ach bitte, mein Herr, besinnen Sie sich! Die Sache ist mir sehr wichtig; ich gebe Ihnen eine volle halbe Stunde Zeit, während ich die anderen Herren nach unwichtigeren Dingen frage.“ Mit diesen Worten entließ ihn vorläufig der sehr heiter gewordene Examinator, um, nachdem dem Examinanden in der halben Stunde die Erinnerung nicht wiedergekehrt, mit dem Ausdrucke schmerzlicher Enttäuschung auszurufen: „Ach, was bin ich für ein unglücklicher Mensch! Noch nie bisher hatte es ein Naturforscher sicher zu sagen vermocht, wie die Nordlichter entstehen; hier habe ich nun den Einzigen, der es gewußt hat, und der hat es wieder vergessen.“ Dieses komische Intermezzo soll vor einigen Jahrzehnten gespielt haben. Seitdem sind zahlreiche, mehr oder weniger wahrscheinliche Theorien über die Entstehung der Nordlichter aufgestellt worden, und das Schlimme ist also nicht, daß man überhaupt keine, sondern daß man zu viele Erklärungen hat, unter denen uns, offen gestanden, für jetzt die Auswahl zu schwer ist. Sie finden die begründetsten derselben in der neuesten Auflage von Joh. Müller's „Kosmischer Physik“, deren Studium Jedem anempfohlen werden darf, der sich über die physikalischen Vorgänge im Weltall zu unterrichten wünscht.

Alter Abonnent in Hannover. Wir wissen nicht, worüber wir uns mehr wundern sollen, über Ihre lückenhafte Bildung oder über die Kühnheit, mit welcher Sie es wagen, der gewöhnlichsten Rechenkunst bar, solche maßlose Angriffe gegen einen unserer bewährtesten Mitarbeiter zu schleudern. Sie sind darüber entrüstet, daß ein gesunder kräftiger Mensch circa 4400 Cubikcentimeter Blut besitzen soll, und rechnen dafür 44 Cubikmeter aus. Gehen Sie nochmals in die Volksschule! Da werden Sie lernen, daß ein Cubikmeter etwas anderes ist als ein Meter. Letzteres Maß wird wohl in hundert Centimeter eingetheilt, der Cubikmeter aber enthält netto eine Million Cubikcentimeter. 44 Cubikmeter enthalten nicht 4400, sondern 44,000,000 Cubikcentimeter. Die von unserem Mitarbeiter angegebene Blutmasse ist der zehntausendste Theil des Blutbades, das Sie in Ihrer Voreiligkeit angerichtet haben.

Unbekannt in Stuttgart. Ein Doctor Laurentius existirt in Leipzig nicht. Verfügen Sie also über Ihre Geldsendung von 90 Mark, die wir keinenfalls weiter befördern!

Irma. Es fehlt uns vollständig alle Zeit dazu, Ihre verschiedenen Fragen zu beantworten.

Unbekannt in Brieg. Disponiren Sie über Ihre Liebesgabe für Schrader, die wir nicht mehr annehmen dürfen!


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Der Mond, betrachtet als Planet, Welt und Trabant. Autorisirte deutsche Ausgabe. Mit Erläuterungen und Zusätzen von Dr. H. J. Klein. Mit zahlreichen Holzschnitten, zwei Lithographieen und neunzehn Tafeln in Lichtdruck. Leipzig, Leopold Voß 1876.
  2. Obige volksthümlich gehaltenen Verse, denen wir als der Verherrlichung einer rühmenswerthen Pflichttreue die Aufnahme nicht versagen wollen, gingen uns mit nachfolgendem Begleitschreiben zu:
         „Das hübsche Püttner'sche Bild in Nr. 51 der 'Gartenlaube' vorigen Jahres, 'Bahnwärters Weihnachtsabend', fand am 23. December desselben Jahres in einem Ereigniß am Köln-Mindener Bahnhofe in Osnabrück eine Art Gegenstück von ergreifender Wirkung. Das obige anspruchslose Gedicht stellt den Vorgang in thatsächlicher Treue dar. Der Weichensteller Fiß wurde in der geschilderten Weise auf eine harte Probe gestellt, die der pflichttreue Mann heroisch bestand. – Sofort wurden in der Stadt von mehreren Seiten Sammlungen für die durch das Brandunglück geschädigte Familie veranstaltet; es flossen dem Verfasser des Gedichts Beiträge für den 'braven Weichensteller' reichlich zu. Auf Antrag der königlichen Landdrostei hierselbst hat soeben auch die Direction der Köln-Mindener Eisenbahn das Verhalten des Mannes mit einer Belohnung geehrt. Osnabrück, 15. Februar 1877.
    Dr. A. T. Brück.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Atmospäre
  2. Vorlage: Charakeristik