Die Gartenlaube (1877)/Heft 8

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[125]

Deutscher Herd.

Als ich in’s Meer hinausgeschwommen,
Ein hoffnungsfreudiger Pilot,
Wie hoch empor die Feuer glommen –
Und sind doch, ach, so bald verloht!
Von allen Flammen hat nur eine
In Kampf und Sturm sich echt bewährt;
Ich steuerte nach ihrem Scheine
Und landete am eignen Herd.

Dort leuchtet sie in schönem Brande.
Ich schüre dankbar ihre Gluth;
Sie schuf zur Heimath fremde Lande;
Sie giebt mir Wärme, Kraft und Muth.
Und ob in tausendfachen Wunden
Des Hasses Pfeile mich versehrt,
Von neuem fühl’ ich mich gefunden
Im Flammenschein am eignen Herd.

Rings seh’ ich stürzen die Altäre,
Hinsinkt der alten Götter Macht;
Wo aber strahlt die neue Lehre,
Der Stern in uns’res Zweifels Nacht?
Zertrümmert liegt so viel im Staube,
Was einst uns über Alles werth;
Du wurdest nicht der Zeit zum Raube,
Altar des Hauses, eigner Herd.

Du bleibst die heil’ge Glaubensstätte,
Des deutschen Mannes höchstes Gut;
Daß es vor Knechtschaft dich errette,
Hinfloß der Söhne Opferblut.
Nie kann ein Volk in Schmach verderben,
Das deine Flamme schützt und ehrt:
Dir laß uns leben, laß uns sterben,
Altar des Hauses, deutscher Herd!

Ernst Scherenberg.


Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)

Die entschiedene und charaktervolle Zurückweisung Zehren’s blieb doch nicht ohne Wirkung auf den routinirten Polizeimann.

„Stockfisch,” murmelte er mit einer Bewegung der Ungeduld, ergriff dann rasch die Tafel und schrieb. „Wer hat Ihnen diese Warnung zukommen lassen?”

„Ich habe keinen Grund, die Frage zu beantworten,” erwiderte Zehren nach kurzer Ueberlegung.

Der Commissar zog die Brauen zusammen und biß sich auf die Unterlippe, aber er zwang sich zur Ruhe. Noch ein paar Mal wechselten Schrift und Gegenrede.

„Ihre Verhaftung beruht auf einem Mißverständnisse.”

„Das habe ich nie bezweifelt, aber ich wüßte gern genauer, welcher Art dasselbe war.”

„Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig.”

„Mir direct gewiß nicht, aber meinem Richter. Diese Zelle, Herr Commissar, verlasse ich nur, um vor ihn geführt zu werden; ich werde Sie zwingen, jene Rechenschaft abzulegen. Wenn Sie die gebührende Achtung vor dem Gesetze haben, welches Sie vertreten, so werden Sie es auf einen Zwang nicht ankommen lassen; nun Sie mich, wie ich glauben muß, im Namen der Willkür mißhandelt haben, mögen Sie wenigstens den Muth zeigen, auf einen weitern Act der Willkür zu verzichten, der Sie der Verantwortung für den ersten entheben würde. Buße für Schuld!

Mag Ihre Uebereilung Ihnen nichts als einen Tadel eintragen, so hoffe ich doch, Sie werden die Lehre daraus ziehen, daß ein Mann, der die Macht des Staates zur Verfügung hat, sich doppelt vor Uebereilungen zu hüten habe. Mit dem Schwerte, das über Leben und Tod richtet, spielt man nicht wie mit einem hölzernen Kindersäbel.”

Zehren hatte ruhig gesprochen, nur gegen das Ende seiner Rede war er etwas wärmer geworden; an keinen Punkte hatte sein Ton etwas Beleidigendes. Donner war nichtsdestoweniger blaß geworden; er hatte ein deutliches Gefühl, daß er in diesem Momente eine klägliche Figur machte. Er ließ die Tafel unsanft auf die Pritsche fallen und durchmaß mit stummem Ingrimme den schmalen Raum der Zelle.

„Verwünscht!” dachte er, „er macht mir einen Strich durch die Rechnung und ich fürchte, es wird eine Nase absetzen. Aber erst lasse ich ihn bis zum letzten Termine hier festsitzen, zweimal vierundzwanzig Stunden, und ich werde eine noch gründlichere Haussuchung abhalten. Wehe, wenn ich eine Zeile finde, aus der sich ein Strick für ihn drehen läßt!” Er blieb einen Moment stehen und beobachtete den Gefangenen scharf. „Wenn ich nur ein Mittel wüßte, um über seine Taubheit in’s Klare zu kommen,” fuhr er in Gedanken fort. Dann kam ihm ein Einfall, und er schnippte mit den Fingern. „Ich lasse ihn nach Nummer Vier

[126] umquartieren und behorchen. Alle seine Freunde sollen freien Zutritt haben; es wäre doch merkwürdig, wenn dieser taube Heilige nicht ein einziges Mal aus der Rolle fallen sollte.“

Er ging auf Zehren zu. „Nun, Sie Herr ohne Ohren,“ sagte er höhnisch, „ich werde Ihnen zu einem Richterspruche verhelfen. Inzwischen haben Sie Gelegenheit, bis morgen Nachmittag die Beschaffenheit unserer Zellen zu studiren –„

Donner horchte plötzlich auf und wandte sich der Thür zu. Männertritte und lebhaftes Gespräch kam die Treppe herauf, und in der Nähe der Thür sagte eine bekannt klingende Stimme: „Ich denke doch, daß Sie lesen können und daß Ihnen diese Vollmacht genügen wird.“

„Herr Commissar selber drinnen,“ hörte man den alten Schließer brummen, „muß Sie erst melden; ist mir in meiner Praxis noch nicht vorgekommen.“

„Nun wohl, so rufen Sie ihn meinetwegen heraus!“ lautete die ungeduldige Entgegnung.

Donner ging nach der Thür und stieß sie auf. Vor ihm stand Karl Hornemann, ein auseinander gefaltetes Blatt in der Hand, mit finsterem Gesicht. Die Beiden grüßten sich flüchtig und maßen sich mit den Augen, bis der Pascha dem Commissar das Blatt hinhielt und nachdrücklich sprach: „Ich wünsche meinen Freund Zehren zu sprechen; gegen diese Legitimation, denke ich, werden Sie nichts einzuwenden haben.“

Dieser überlas das Blatt und erwiderte sichtlich verdutzt: „Der Herr Oberbürgermeister haben befohlen und das genügt. Aber woher wußten Sie von der Verhaftung des Herrn Zehren?“

Der Pascha betrachtete ihn mit einem verächtlichen Blick von oben bis unten. „Haben Sie etwa geglaubt, Herr[WS 1] Donner, daß man in unserer Stadt Ausrufer von Nöthen hat, um Ihre nächtlichen Heldenthaten zu erfahren, oder Barden, welche sie auf der Straße singen und die Illustration dazu auf Leinwand gemalt mit sich führen?“

„Herr!“ fuhr Donner auf, „wenn Sie mich hier zu beleidigen wagen, so wissen Sie wohl auch, daß ich die Macht habe, Sie länger hier zu halten als Ihnen lieb ist.“

„Dann warten Sie gefälligst erst so lange, bis eine wirkliche Beleidigung vorliegt! Sie haben vorläufig an der einen Blamage da genug –“ und die gewaltige Hand des Pascha hob sich und deutete auf Zehren, der mit einiger Ueberraschung im Gesicht ein paar Schritte näher getreten war.

Donner wandte sich wüthend zu dem alten Marquard, der noch immer auf dem Gange stand und zuhörte. „Was wollen Sie noch hier?“ schrie er ihn an. „Gehen Sie hinunter auf Ihren Posten! Ich habe Ihnen nachher etwas zu sagen.“ Während der Alte mit einem „Zu Befehl, Herr Commissar“ die Treppe hinunterstampfte, fuhr Karl Hornemann in seinem früheren Tone fort:

„Ich denke, Sie werden nichts dagegen einzuwenden haben, daß ich diesen ehrlichen Mann da mit mir nehme.“

„Da dürften Sie sich im Irrthum befinden,“ entgegnete höhnisch der Commissar. „Der Herr da scheint besser als Sie zu wissen, daß nicht ich, sondern das Gesetz zu bestimmen hat, wann er dieses Haus verlassen darf. Vielleicht können Sie ihn morgen Abend abholen, wenn es Ihnen Vergnügen macht, vielleicht auch noch nicht. Für jetzt mögen Sie sich gefälligst mit ihm unterhalten; an meine Gegenwart dabei brauchen Sie sich nicht zu stoßen.“

Karl Hornemann war sichtlich tief gereizt, und seine Sprache wurde drohender. „Sie haben wohl die Gewogenheit, dieses Papier etwas genauer zu studiren. Es giebt mir das Recht, mit Herrn Zehren allein zu sprechen.“

„Das ist ungesetzlich,“ warf Donner hin.

„Dies zu verantworten ist nicht meine Sache.“

Der Commissar drehte sich heftig um und trat auf den Corridor hinaus. Plötzlich aber machte er wieder Kehrt und schritt dem Pascha dicht unter die Augen.

„Kennen Sie zufällig einen Herrn Hendricks?“

Karl Hornemann blickte ihn zweifelnd an. „So hieß der Associé meines Vaters. Was soll dieser Name?“

Donner triumphirte. „Vielleicht auch einen gewissen Herrn Frickhöffer?“

„Ein Unglücklicher, der seinem Leben ein Ende gemacht hat und dessen zweiter Geschäftsnachfolger da vor Ihnen steht.“

„Schön! Wissen Sie nebenbei auch, was falsche Wechsel sind?“

In den Mienen des Pascha wuchs sichtlich die Betroffenheit. „Wollen Sie sich nicht gefälligst deutlicher aussprechen?“ sagte er; „ich weiß nicht, was diese Fragen bedeuten.“

Der Commissar rieb sich die Hände und sah mit jeder Frage boshafter aus. „Nur noch Eins, dann will ich Sie nicht länger stören. Wissen Sie wohl, woran Ihr Vater gestorben ist?“

„Muthmaßlich an einer Krankheit.“

„In der That – nur daß es allerlei Krankheiten giebt, die zuweilen ganz merkwürdige Ursachen haben. Sehen Sie, mein guter Herr Hornemann, ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Ihnen allerlei interessante Aufschlüsse zu geben, welche ich einem Zufall verdanke; jetzt werden Sie begreifen, wenn ich es vorziehe, diese Aufschlüsse für mich zu behalten. Sehen Sie diese zwei Finger? – Donner machte die Geste des Schwörens – „mein Eid darauf, daß Sie durch mich nichts davon erfahren werden.“ Donner lachte laut auf und verließ dann mit seinen weiten, hastigen Schritten die Zelle.

„Er polterte die Treppe hinab, sichtlich befriedigt von der genommenen Rache. „Er wird an dieser Nuß herumbeißen, bis ihm die Kinnlade weh thut,“ dachte er. „Ich werde ihn doch etwas näher im Auge behalten, diesen Freund des Herrn Zehren. Gleiche Brüder, gleiche Kappen. Ein Mensch, welcher beständig einen langen Schlafrock trägt und eine Mütze mit Troddel, ist extravagant, und extravagante Leute sind immer gefährlich. Und was meinen Herrn Vorgesetzten betrifft, so soll er jetzt unter Umständen von höherer Stelle erfahren, daß es ordnungswidrig ist, einen Verhafteten ohne Zeugen Besuche empfangen zu lassen.“ Er rieb sich die Hände und ging knirschenden Schrittes durch den Scheuersand des Hausflurs in die Schließerstube. „Marquard,“ sagte er, „der Gefangene wird, sobald der im Schlafrock oben weggegangen ist, nach Nummer Vier geschafft. Ein Jeder kann ihn sprechen, aber ich werde Fleckeisen herschicken, daß er sich nebenan in die Nische setzt und horcht. Wonach Sie sich zu richten haben. – –

In Karl Hornemann mußten die Andeutungen des Commissars eine empfindliche Stelle berührt haben, denn er stand nach dessen Weggang ein paar Augenblicke in sich versunken, bevor er sich umwandte und Zehren in sichtlicher Zerstreutheit die Hand reichte.

„Ich habe es geahnt, daß sie ein Geheimniß mit sich herumträgt,“ murmelte er, und dabei dachte er an seine Mutter. „Vielleicht wäre manches und sie selbst dazu anders, wenn sie Selbstüberwindung genug besessen hätte, um sich mir anzuvertrauen.“

Er fuhr sich über die Augen, wie um das Spinngewebe von Gedanken davor zu zerreißen, und nickte dann Zehren freundlich zu, der ihm die Geschichte seiner Verhaftung erzählen mußte. Die alte Martha war es in der That gewesen, welche ihn aus dem Wiedenhofe in vergangener Nacht gerufen hatte, und es war ein Mißverständniß von seiner Seite gewesen, daß er den Eindringling für einen Dieb gehalten hatte.

„Du hast keine Vermuthung, weshalb Du verhaftet bist?“ fragte der Pascha.

„Nicht die geringste, abgerechnet meinen thätlichen Angriff auf Donner.“

Das Gesicht Karl Hornemann's verfinsterte sich wieder. „Ich glaube den Grund zu wissen: Du bist staatsgefährlich; Du bist ein Demokrat, das Opfer politischer Ketzerriecherei. Danke Gott, daß Du hier und nicht anderwärts in die Klauen dieser Menschenjäger gefallen bist, die ich verabscheue wie todte Mäuse.“ Er schrieb Zehren diese Worte wiederholend auf seine Tafel, da derselbe ihm nicht zu folgen vermocht hatte. Dieser setzte sich auf die Pritsche und las.

In den Mienen des[WS 2] Fabrikanten malte sich das höchste Erstaunen. „Ich? der loyalste Mensch von der Welt, dem das kleinste Gesetz so heilig ist, wie eines der zehn Gebote?“

„Wenn Du in diesem Lande loyal bleiben willst, dann nimm es mit dem Gesetz nicht so genau! Die Herren Gesetzesvertreter lieben das nicht.“ Er gab Zehren seufzend die Worte zu lesen; „es ist so schwer, einen Tauben zu bekehren,“ sagte er für sich.

„Ich bin bereit, für das Gesetz Märtyrer zu werden,“ meinte der junge Fabrikant, und seine blauen Augen glänzten. [127] „Aber wie seltsam, Karl, daß die Warnung Urban’s Recht hatte! Woher wußte der Doctor von dem Verdacht, den man auf mich geworfen?“

Der Pascha wandte sich ab und machte einen Gang durch's Zimmer. „Heinrich, Heinrich,“ murmelte er, „ich fürchte, Du hast ein unwürdiges Spiel gespielt. Es wäre mir leid um Dich, mein Bruder Jonathan.“ Er ging wieder zu Zehren. „Hüte Dich vor Urban! Ein Freund,“ schrieb er auf die Tafel.

„Warum?“ fragte Zehren, rasch aufsehend.

Der getreue Eckard vor ihm zauderte ein wenig, aber er antwortete endlich doch. „Ich glaube, daß er Dich als Nebenbuhler haßt. Er ist Manns genug, um Dir böse Verlegenheiten zu bereiten, wenn er will.“

Der Fabrikant starrte Karl Hornemann wie einen Geist an, und sein Gesicht überfluthete eine jähe Röthe. „Liebt ihn Emilie etwa?“ fragte er, und in seiner Stimme zitterte etwas wie tiefe, mühsam verhaltene Angst.

Der Andere nickte ernst.

„Großer Gott, und davon weiß ich nichts? Davon habt Ihr mir nie etwas gesagt, nicht Du, noch Deine Mutter? O, nun verstehe ich Alles, Alles! Darum also der leidenschaftliche Abscheu, die Flucht vor mir und die verweinten Augen. Ja, darum! Ich bin zu spät gekommen, und es giebt kein Mittel, um mein Glück wieder einzuholen. Ich bin der Mehlthau, wie es scheint, der in ihre Liebe gefallen ist, denn Deine Mutter begünstigt mich, Karl – das weiß ich.“

„Laß mich allein, Karl! Ich bitte Dich,“ fuhr er fort, während er, die geballten Hände fest auf die Kniee gestemmt, mit trüben Augen vor sich hinstarrte. „Bei Gott, ich will sie nicht unglücklich machen; sie ist zu schön dazu; sage ihr das – hörst Du? Ich will Alles begraben und sie, soweit es an mir liegt, nicht wiedersehen, bis ich weiß, daß sie glücklich ist, so glücklich, wie ich sie gern gemacht hätte. Ich würde sie gehalten haben wie eine Fürstin, wem ich ihr dafür nur dann und wann die weichen Hände hätte küssen dürfen und einen gnädigen Blick aus ihren stolzen Augen erhalten hätte. Ich habe sie sehr lieb, Karl, sehr lieb. Und nun darf ich es nicht mehr.“

Karl Hornemann sah erschüttert zu dem armen Manne da vor ihm auf der Pritsche nieder und schwieg eine Weile.

„Geh' fort, Karl, thu' mir die Liebe! Frage Deine Schwester, ob ich zu Euch kommen darf, um Deiner Mutter reinen Wein einzuschenken, und ob sie mich an diesem Tage freundlich behandeln will. Ich möchte so gern einmal empfinden, wie es einem Menschen zu Muthe ist, dem die Sonne scheint. Ich freue mich, daß ich diesem Donner zwei leere Tage verdanke, die ich mit mir selber ausfüllen kann. Ich habe sie sehr, sehr nöthig.“

Der Pascha setzte sich einen Moment zu ihm, und die beiden Männer sahen sich in die Augen, als ob ihre Seelen sich berühren wollten. Hornemann ergriff endlich die Hand des unglücklichen Freundes und drückte sie warm. „Edler, wackerer Mensch,“ sprach er für sich, „Dein Entsagen wird nichts bessern, fürchte ich.“ Er nahm die Tafel, die zwischen ihnen Beiden lag, und schrieb:

„Die Liebe meiner Schwester und des Doctors ist hoffnungslos; dies ist meine Ueberzeugung. Urban ist meiner Mutter persönlich antipathisch.“

„Ich werde das Meinige thun,“ sagte Zehren mit gehobener Stimme; „sie soll aufhören, mich zu hassen, und ich werde glücklich sein, wenn sie anfangen wird mich zu bemitleiden. Leb' wohl, Karl!“

Er rief den Scheidenden noch einmal zurück. „Wirf einen Blick in die Fabrik, Lieber! Es ist Zahltag heute.“

Der Pascha traf im Hausflur auf den Schließer, der mit dem klirrenden Schlüsselbunde auf und nieder ging. „Schließen Sie den Gefangenen ein, Mann, und gedenken Sie meiner Vollmacht, wenn ich wiederkommen sollte!“




9.


Ein paar Tage waren in's Land gegangen.

Der Nachmittag brütete heiß über der Stadt, die weißlichen Straßen flimmerten blendend wie die Salzsteppen einer Wüste, und die schweren Pferde vor den Lastwagen und Karren zogen keuchend durch die Gluth. Wer genöthigt war, draußen zu gehen, suchte ängstlich jeden Fuß breit von dem bläulicher Häuserschatten zu benutzen, der doch heute nur wenig Erquickliches hatte.

Der Doctor Urban stand in seiner Wohnung und hantirte vor einem Koffer, mit dessen Füllung er beschäftigt war. Die Marquisen vor den Fenstern waren heruntergelassen; die Fensterflügel klafften weit auf; trotzdem war es schwül im Zimmer, und auf der hellen Stirn des jungen Mannes, der sich des Rockes entledigt hatte und bequem in Hemdsärmeln dastand, perlte der Schweiß in feinen Tropfen. Er war ganz in seine Arbeit versunken und pfiff nur mechanisch dabei leise durch die Zähne. Der Grund des Koffers zeigte bereits verpackte Wäsche und wenige Toilettengegenstände; ein schwarzer Anzug mit Frack hing über einem lederbezogenen Drehsessel ohne Lehne, welcher vor dem mit Büchern und Scripturen in ziemlichem Durcheinander bedeckten Schreibtische stand. Ueber letzterm glänzte von einer breiten Console hernieder das sanfte Antlitz der mediceischen Venus in Gipsnachbildung; sonst hingen an den Wänden allenthalben Silhouetten und lithographirte Portraits, deren Besitz ersichtlichermaßen aus der Studienzeit Urban's datirte. Auf der Venus lag Staub; das ganze Zimmer entbehrte der ordnenden weiblichen Hand.

Urban warf eben einen prüfenden Blick in den Koffer und drückte dann ein Stück des Anzuges nach dem andern, oberflächlich zusammengelegt, in das Behältniß. Es störte ihn nicht, daß die Hausthür ging und daß Jemand in sein Vorzimmer trat; erst als der Ankömmling nach kurzem Klopfen ohne Umstände die Zimmerthür öffnete, blickte er auf.

Der Besucher war Karl Hornemann.

„Du bist ja schon beim Einpacken, Heinrich,“ sagte der Pascha, dem Fremde die Hand reichend, wobei in einer langen Außentasche des Rockes ein Klappern wie von aneinander schlagendem Glase erscholl. „Ich habe Dich ja eine ganz ungewöhnlich lange Zeit nicht zu Gesicht bekommen und erst durch die Zeitung erfahren müssen, daß Du verreisen willst.“

„Ich war schon einige Tage verreist, freilich nur in die Nachbarschaft,“ meinte der Arzt mit gleichmüthigem Tone. „Nimm auf dem Sopha Platz, Pascha! Man consultirte mich wegen eines schwierigen Falles und hielt mich dann fest. Gestern Abend war ich einen Augenblick im Wiedenhofe, um Dich zu suchen, aber es hieß, Du wärst schon in Deine Wohnung hinüber gegangen. Kommst Du auf Veranlassung der Karte, die ich für Dich zurückließ?“

Der Pascha nickte und ging zum Sopha. „Aber wohin willst Du eigentlich jetzt reisen? So plötzlich?“

„Familienangelegenheiten,“ erwiderte Urban, ohne herüber zu sehen. „Ich werde meiner guten Vaterstadt Mainz einen Besuch abstatten. Inzwischen sind ja hier saubere Dinge passirt!“

„Du meinst Zehren’s Verhaftung?“ sprach Hornemann, indem er einen kurzen prüfenden Seitenblick des Doctors auffing.

„Ist denn die Sache nun völlig beigelegt?“

„Wenigstens hat der Instructionsrichter seine sofortige Freilassung verfügt.“

„Man fabelt bereits, er wäre in’s Ausland geflüchtet.“

„Hast Du auch von dem albernen Gewäsch gehört? Zehren ist allerdings sofort nach seiner Freilassung abgereist, aber in einer geschäftlichen Veranlassung. Du weißt so gut wie ich, daß er – leider – keinen politischen Proceß zu fürchten hat.“

Urban zuckte die Achseln und bückte sich dann, um die Lederriemen des Koffers durch die Schnallen zu ziehen „Wer kann das behaupten?“

„Hast Du etwa Gründe zu zweifeln? Und sind es vielleicht die nämlichen, welche Dich veranlaßten, ihm jene Uriaswarnung auf die Tafel zu schreiben?“ Die Schärfe, mit der Hornemann dies sagte, änderte nichts an der Haltung des Doctors.

„Mein Himmel, wenn Du sie einmal kennst, wirst Du auch wissen, unter welchen Umständen ich sie schrieb. Ich war erregt und wollte ihn etwas ängstigen; es war so ein Einfall. Wie konnte ich vermuthen, daß das Allerunwahrscheinlichste geschehen und Donner die Worte lesen würde? Ich denke, Du wirst das einsehen, Pascha. Wundere Dich nicht, daß ich die Ursache kenne, weshalb diese Spürnase den ganzen Lärm angezettelt hat; ich traf Donner kurz vor meiner Abreise, als Zehren noch im Käfig saß, und er war in voller Wuth, denn er hatte eben wieder [128] große Haussuchung gehalten und nichts gefunden, was den Wattengrafen politisch compromittirte. Er verwünschte die Runen auf der Tafel, die er einem geheimnißvollen Ungeheuer von Erzdemokraten zuschrieb, in den siebenten Abgrund der Hölle. Im Grunde, Karl, sollten wir uns über die Sache freuen. Erstens wird Donner vorsichtiger werden und uns weniger belästigen, und zweitens hoffe ich, daß Zehren aus der Blume dieser niederträchtigen Verhaftung etwas demokratisches Gift gesogen haben wird.

Es ist mir ganz recht, wenn wir ihn für unsere Zwecke präpariren, um Geld aus ihm zu schlagen, um so mehr als ich auf den Commerzienrath, so wohl er mir persönlich will, in politischer Hinsicht noch nicht den mindesten Einfluß habe gewinnen können.“

Er hatte sich während dieser Rede auf den Drehsessel gesetzt, die Füße weit von sich gestreckt und gelegentlich nach dem Zifferblatt der Uhr geblickt. Von der Verdächtigung Zehren’s in jener Nacht, in der er den Commissar irre führte, schwieg er wohlweislich.

„Ich kann nicht verlangen, Heinrich, daß Du einem Nebenbuhler Sympathie entgegen tragen sollst,“ erwiderte Karl Hornemann. „Aber ich will Dir Material liefern, um ihn gerechter abzuschätzen, als Du zu thun beliebst. Ich habe auf der Pritsche in der Zelle des ‚Fuchseisens‘ neben ihm gesessen, und damals hat er durch mich zum ersten Male von Deiner Beziehung zu Emilie erfahren.“

Urban drehte sich auf seinem Sessel, daß er quikende Mißtöne ausstieß, und sah sehr ungläubig aus. „Wirklich, zum ersten Male?“ fragte er mit Spott. „Und was sagte dieser Seladon?“

Der Pascha wurde verdrießlich. „Er erklärte mir in einer Art, daß mir das Herz blutete, er werde auf Emilien verzichten und Eure Verbindung befördern. Ich habe meiner Schwester natürlich nichts davon gesagt, um ihr keine falschen Hoffnungen zu erwecken.“

„Wie rührend!“ spöttelte der Arzt. „Für einen sentimentalen Menschen habe ich ihn immer gehalten, aber es scheint, daß er auch ein Feigling ist.“

Der Pascha warf ihm einen finstern Blick zu und seine Stirn röthete sich. „Brechen wir davon ab! Diese Bemerkung übersteigt alles, was ich Dir zugetraut habe.“

„Echauffiren wir uns nicht noch bei dieser tropischen Temperatur!“ lenkte Urban rasch ein. „Du weißt ja, daß meine Zunge schlimmer ist als mein Herz. Und ich darf nicht in Unfrieden von Dir scheiden, Karl, denn ich gehe einen schweren Gang. Ich werde von dieser Reise wahrscheinlich als Ehemann zurückkehren.“

Ein Blitz, der neben Karl Hornemann in den Boden gefahren wäre, würde denselben nicht mehr überrascht haben, als diese Eröffnung. Aber nur ein paar Augenblicke saß er in sprachlosem Staunen da, dann nahm sein Gesicht plötzlich einen seltsam gespannten Ausdruck an und er fragte in ausforschendem Tone: „Du scherzest, Heinrich. Du wirst nicht erwarten, daß ich Dir glaube nach dem, was vorgefallen ist.“

„Du meinst wegen Emilie?“ sagte scheinbar gleichgültig der Doctor. „Was soll ich machen? Ihr gönnt sie mir ja doch alle nicht,“ fügte er mit einer gewissen nervösen Gereiztheit hinzu. „Ich müßte sie geradezu entführen, um ohne Verzicht auf sie zu einer Frau zu kommen, und nun möchte ich doch wissen, was Du zu einer solchen That orakeln würdest, Du Weisheit aus den Pyramiden.“

„Wünschest Du eine Antwort?“ fragte ihn der Pascha, als jener sich wie zum Hören bequem setzte.

„Meinethalben.“

In Karl Hornemann arbeitete ein heftiger innerer Kampf. Er preßte die Hände auf die Schenkel, und um seinen Mund zuckte es wie ein Wechselspiel von Zorn und Wehmuth. Endlich warf er einen traurigen Blick auf Urban, der ihn verstohlen scharf beobachtete, und sagte sehr ernst: „Was ich darüber urtheilen würde, will ich Dir nicht verhehlen. Hätte diese Entführung in Veranlassung oder Zweck einen Beigeschmack von – Hautgout – so will ich mich ausdrücken – ich würde Dich niederschießen wie ein Raubthier, so bald es mir möglich wäre. Ich denke, daß Du mich verstehst.“

„Ein vielversprechender Anfang,“ schaltete Urban mit gezwungenem Lachen ein. „Du gehst sehr gründlich zu Werke.“

„Was ich sage, ist durchaus nicht scherzhaft, Heinrich. Den andern Fall anlangend, so würde ich Dich verachten, wenn Du die Stimme der Leidenschaft oder Laune über Deine Vernunft siegen ließest, weil ein trotziger Mädchenkopf sich auf die erstere Partei schlägt, und ich würde Emilie ihrem Schicksale überlassen, denn sie ist geistig entwickelt genug, um sich ihre Zukunft selber schmieden zu dürfen. Mein Vertrauen würde sie durch einen solchen Schritt allerdings einbüßen, und was meine Mutter betrifft, so würde ich sie wahrscheinlich über eine verlorene Tochter zu trösten haben.“

Es entstand eine kurze Pause.

„Hu!“ machte endlich Urban, indem er sich gewaltsam aufraffte, „mir ist meiner Seel’ zu Muthe, als ob ich vor dem jüngsten Gerichte säße.“

„Soll der Name Deiner Zukünftigen ein Geheimniß sein?“ fragte Karl Hornemann wie aus einem Traume erwachend. „Es scheint so, da Du ihn bisher zu nennen unterlassen hast.“

„Meine Tante hat längst eine Liste zu engerer Wahl aufgestellt,“ meinte der Doctor leichthin. „Ich gedenke, die Namen auf Zettel zu schreiben und mir irgend einen Waisenknaben zu miethen, der für mich in kindlicher Unparteilichkeit das Loos zieht. – Aber zum Henker mit diesen Grillen! Was macht die hohe Politik?“ – und er zog aufspringend einen Stuhl zum Sopha, goß sich aus einer Caraffe ein Glas Rothwein ein, welches er rasch hinunterstürzte, und begann so schnell hinter einander zu reden, als beabsichtige er, seinem Besuch jedes weitere Wort abzuschneiden. „Es scheint fast, als sollten wir die Franzosen gar nicht nöthig haben, bis der Tumult möglich wird. Wenn die Verhandlungen in Berlin so weiter gehen wie bisher, dann kann schon die Rückkehr unsrer rheinischen Ständemitglieder die Veranlassung geben. Ich habe directe Nachricht, daß der König keine Lust hat, sich gegen unsre Wünsche nachgiebig zu zeigen. Die meisten von unsern Leuten werden sich der Abstimmung enthalten, wenn es an die Wahl des ständischen Ausschusses geht, trotz der Willfährigkeit der andern Provinzen. Laß den Landtagsabschied so schroff abweisend ausfallen, wie die Haltung des Königs voraussehen läßt, dann bereiten wir unsern Leuten einen Empfang, der Tausende auf die Beine bringen soll, und ist der Trubel da, so läßt sich mit einigem Geschicke die Flamme entzünden, welche den ganzen luftigen Bau dieser Februarcharte zu Asche frißt. Wir brauchen nicht das Maß der Schande überfließen zu lassen und zu warten, bis wir mit Guizot und Consorten die Schweizer Jesuiten unterstützen und mit Oesterreich gegen die Italiener ziehen. Je früher wir zum Losschlagen gezwungen werden, desto besser! In der Union wird gearbeitet wie in einem Ameisenhaufen. Sie wollen noch einmal alle Hebel in Bewegung setzen, um Militär hierher zu bekommen und rasch einen kräftigen Belagerungszustand proclamiren zu können. Der Genuß, diese Halbmillionärs in Aengsten zu sehen, ist unbeschreiblich, Karl. Jede Regung des Proletariats erfüllt sie mit der Ueberzeugung, daß es auf ihr Geld abgesehen sei, und ihre Arbeiter betrachten sie wie der Thierbändiger seine Löwen im Käfig, die über Stöcke springen und Geld verdienen helfen müssen, von denen er aber nebenbei sehr wohl weiß, daß ihnen nichts Angenehmeres blühen könnte, als ihn selber zum Frühstücke verspeisen zu dürfen. Aber entschuldige mich, Freund!“ unterbrach er sich plötzlich, nachdem er die Uhr gezogen. „Ich habe noch dringend ein paar Besuche zu machen.“

Der Pascha, welcher nur mit halbem Ohre zugehört hatte, erhob sich schweigend, bis das Klirren und Klappern in seiner Tasche ihn an etwas Vergessenes erinnerte. „Ja so, ich habe Dir etwas mitgebracht,“ meinte er eintönig und holte aus der Tiefe seiner Tasche nacheinander drei mäßig große Flaschen heraus, welche mit einer Flüssigkeit von seltsamem Aussehen gefüllt waren: die untere Hälfte bestand aus einem schlammigen, gelbbräunlichen Bodensatz, über welchem ein flüssiges Decoct von tief schwarzbrauner Farbe ungefähr den gleichen Raum einnahm.

„Die Arznei?“ sagte der Doctor überrascht, indem er eine der Flaschen nahm und den Inhalt zu einem mißfarbenen Gemisch durcheinander schüttelte.

(Fortsetzung folgt.)



[129]

Ein Mann der „Gegenwart“.
Von Albert Traeger.


Berlin (S. W., so will des deutschen Reiches General-Postmeister), Lindenstraße Nr. 110 tritt ein Haus durch eigenartigen Geschmack aus den bürgerlich dareinschauenden Nachbarn hervor. Ein einladendes Haus – das wissen die Treppen sehr wohl, denen bei Tag und Nacht selten Ruhe vergönnt ist. Vielleicht getrösten sie

Paul Lindau.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

sich, daß die Ruhestörer zu den Besten ihrer Zeit gehören und daß die meisten der nach Berlin kommenden oder dort wohnenden literarischen und künstlerischen Berühmtheiten sie betreten. Und wenn zu jenen zweifelhaften Stunden, um welche Nacht und Morgen streiten, oben im zweiten Stock die gastlichen Räume sich öffnen, deren Einrichtung der geistreichen Illustration eines duftigen Märchens gleicht, und eine fröhliche Schaar mit dem letzten Lachen zum Ausbruch in die erste Dämmerung hinabeilt, dann verhallt von schönen Lippen wie ein Seufzer: „Es ist doch zu reizend bei Lindau’s.“

Eine glückliche und beglückende Häuslichkeit hat Paul Lindau hier begründet, nachdem er in Anna Kalisch, der einzigen Tochter des unvergeßlichen Vaters des „Kladderadatsch“, sein Glück gefunden. Geist- und gemüthvoll, anmuthig und liebenswürdig, ist sie ihm zugleich eine stille, aber nicht zu unterschätzende Mitarbeiterin, deren Spuren in seinem Wesen und Wirken unverkennbar. Kurz zuvor hatte er „Die Gegenwart“ in das Leben gerufen und damit über sein Verbleiben in Berlin entschieden, das sich soeben an die Spitze des jüngsten Kaiserreiches gestellt sah. Lindau hat stets in der Wahl des Ortes und der Zeit ein untrügliches Geschick bewiesen. Beide waren dem neuen Unternehmen entschieden günstig; diese Gunst begriffen und verwerthet zu haben, ist sein unleugbares Verdienst. „Die Gegenwart“ hat sich auf der Höhe ihres Namens behauptet, und die innere Bedeutung eilt dem stetig wachsenden äußeren Erfolge voraus – ein Beweis, daß Lindau ein hervorragender Redacteur. Wenn aber in dem großen Leserkreise die Mehrheit zunächst nach den von dem Herausgeber gezeichneten Beiträgen späht, und eine nicht unbeträchtliche Minderheit vielleicht damit die Lectüre sogar [130] beschließt, so dürfte dies ergeben, daß Lindau nicht minder vortrefflich schreibt.

Und er ist kein bloßes Kind des Glückes oder des Talentes; Fleiß und Willenskraft haben dieses gefördert und jenes angezogen; er hat von unten auf gedient und als Journalist und Schriftsteller eine so strenge und mannigfaltige Schule durchgemacht, daß der noch so jugendfrische Kämpe fast einem in den Waffen Ergrauten gleicht. Localreporter, Berichterstatter, Correspondent, Feuilletonist, Kunstkritiker, Leitartikelschreiber, Redacteur des Wolff'schen Telegraphen-Bureau, der „Düsseldorfer“ und „Elberfelder Zeitung“, sowie des „Neuen Blattes“, dies Alles ist er gewesen, noch ehe er das dreißigste Lebensjahr hinter sich hatte. Seit seinem fünfzehnten stand er auf eigenen Füßen, als Schüler und Student bereits ein sich selbst helfender Mann. Die „Elberfelder Zeitung“ hat er zu einem unsrer bedeutendsten Provinzblätter emporgebracht, auch in der besonders am Rhein so aufgeregten Zeit der Wahlen zum constituirenden und ordentlichen Reichstage als geschickter Agitator sich erwiesen und häufig den Muth gehabt, stürmischen Arbeiterversammlungen und ihrem Präsidenten von Schweitzer allein entgegenzutreten, dann aber mit der praktischen Politik unwiderruflich abgeschlossen und wiederholte Aufforderungen zur Candidatur abgelehnt. Noch heute ein sehr willkommener Ehrengast bei den Festen des Reichstages, hat er denselben auf seinen früheren Ausflügen und Luftfahrten allen als Berichterstatter begleitet. Lindau ist ein echt deutscher und wahrhaft freisinniger Mann, aber die Formen der Partei beengen ihn und der Lorbeer des Volks- und Parlamentsredners lockt ihn nicht; sein Kranz erblüht in einer reineren Luftschicht. Dagegen kommen jene reichen Erfahrungen dem Redacteur der „Gegenwart“ trefflich zu statten, dem auch die Leiden des Standes nicht erspart geblieben. Der so Bewegliche hat zweimal wider seinen Willen „gesessen“, vor Jahren ein paar Tage als Opfer des Zeugnißzwanges, vor Kurzem ein paar Wochen, auch für einen Anderen und zwar keinen Geringeren als Johannes Scherr, der in der „Gegenwart“ eine Religionsverspottung verübt haben sollte, aber für den Staatsanwalt nicht gegenwärtig war. Der Director von Plötzensee hat Lindau mit dem Zeugniß entlassen, daß er durchaus kein Talent zum „Sitzen“ habe, und noch heute geräth der nervöse Bestrafte in eine unbeschreiblich qualvolle Aufregung, wenn er seiner Gefängnißzeit gedenkt. Material aus der Gegenwart für die Gesetzgebung der Zukunft!

Dem Journalisten und vorzüglich dem Redacteur Lindau war es zunächst gelungen, weithin Ruf und Geltung sich zu verschaffen. Der Schriftsteller ließ 1864 ein Bändchen „Aus Venetien“ erscheinen, Reiseschilderungen, deren Stimmung bis zum lyrischen Erguß sich steigert, und die Verse erwecken fast das Bedauern, daß ihr Urheber diese Jugendsünde für immer abgeschworen. Nachdem er noch unter dem Titel „Aus Paris“ eine Sammlung von Aufsätzen über das kaiserliche Frankreich veröffentlicht, errang er seinen ersten großen Erfolg anonym.

Ein wirkliches Ereigniß waren die „harmlosen Briefe eines deutschen Kleinstädters“, die 1869 in Rodenberg’s „Salon“ abgedruckt wurden; mit jedem neuen wuchs Aufsehen, Spannung und Nachfrage nach dem Verfasser.

Diese Natürlichkeit der Sprache, diese Anmuth der Schilderung, diese neckische Grazie des Witzes, die auch dann noch bezauberte, wenn die Harmlosigkeit längst aufgehört, das Alles war neu, trat aus dem Rahmen des Gewohnten und Gewöhnlichen so vollständig heraus, daß es überraschte, fesselte und den Namen Lindau, als er endlich bekannt ward, mit einem Schlage zu einem allbekannten machte. Er selbst hat seine Schule nie verleugnet.

Lindau hatte nach Beendigung seiner Studien mehrere Jahre in Paris verlebt und dort Eingang in alle maßgebenden Kreise, namentlich die literarischen und gesellschaftlichen, gefunden. Er ist durchaus kein Nachahmer der Franzosen, auch nicht in der äußern Manier; er hat nur ihre Vorzüge so trefflich in sein eigenstes Deutsch übersetzt, daß sie für ursprüngliche gelten können und müssen. Das bei uns leider gewohnheitsmäßig vernachlässigte „Wie“ hat ihm zuerst Anerkennung und Ansehen im Sturme erobert; beide steigen stets höher und begründen sich immer tiefer durch die Erkenntniß der Einsichtigen, daß auch ihm das „Was“ die Hauptsache.

Dies bewies er schon durch seine „Literarischen Rücksichtslosigkeiten, gesammelte feuilletonistische und polemische Aufsätze“, die kurz nach ihrem Erscheinen (1871) vergriffen waren und seitdem wiederholt neu aufgelegt sind. Sie haben viel Staub aufgewirbelt wegen einiger Angriffe gegen namhafte Schriftsteller, die jedoch weder einem Mangel an Pietät noch der Lust am Scandale, sondern dem achtungswerthen Gerechtigkeitsgefühle entspringen, das da, wo es der Sache gilt, auch vor dem Ansehen der Person nicht zurückweicht. Ist doch der Angreifer wiederum der Erste gewesen, die Verdienste der Angegriffenen nach Gelegenheit und Gebühr zu würdigen. Jedes Jahr bringt neue Bücher von Lindau, nach Lage der Verhältnisse meist Sammlungen seiner journalistischen Arbeiten, aus denen er mit strenger Kritik das dauernd Werthvolle auszuwählen versteht. Die „Nüchternen Briefe aus Baireuth“, soeben in neunter Auflage gedruckt, üben noch die frischeste Wirkung und werden sie behalten, so lange jener wunderbaren Tage gedacht wird. Sie erinnern lebhaft an den „Kleinstädter“ und sind bemerkenswerth durch die tactvolle Beschränkung auf literarische und gesellschaftliche Gesichtspunkte bei völliger Schonung, ja Anerkennung der musikalischen Seite des Festes. Die unerbittlichen Schildknappen des „Meisters“ haben Unrecht, sich empört zu zeigen; jeder schwüle Sommerabend führt nothwendig Stiche in seinem Gefolge, die jucken mögen, aber kein Herzblut kosten.

Ganz vor Kurzem hat der Unermüdliche wieder drei neue Werke hinausgesandt. Die „Ueberflüssigen Briefe“ haben, zum größten Theile wenigstens, schon in der „Gegenwart“ durch ihren übersprudelnden Humor das allgemeinste Behagen erregt; „Wie ein Lustspiel entsteht und vergeht“ ladet in reizender Form zu Einblicken in die Dichterbrust und hinter die Coulissen ein, und eine solche Einladung wird niemals ausgeschlagen; von weitaus hervorragenderer Bedeutung aber ist „Alfred de Musset“, herausgegeben von dem verdienstvollen „Allgemeinen Verein für deutsche Literatur“. Berthold Auerbach, dessen neidlose Anerkennung Anderer auf das Bewußtsein des eigenen Werthes sich stützen darf, schrieb an Lindau, daß er sich mit diesem Buche „eine neue, unerschütterliche Position“ errungen habe, und daß „eine solche psychologische Ausgründung“ vielleicht noch niemals dagewesen sei. Durch eine ähnliche Arbeit über Molière hat sich Lindau vor Jahren die Doctorwürde erworben; Verständniß und Würdigung des großen Franzosen in Deutschland immer weiter zu verbreiten, ist ihm wirkliche Herzenssache, und mit schwermüthigem Lächeln schaut die wundervolle Büste Molière's, des eingebildeten Kranken, auf den Schreibtisch des deutschen Freundes hernieder.

Alfred de Musset war auch ein großer Dichter und kein eingebildeter, sondern ein wirklich und schwer Kranker, der lange vorher todt, ehe man den zerfallenen Leib endlich zur Ruhe trug, dessen Name aber unter die ewigen Sterne versetzt ist. Schon Heinrich Heine nennt ihn den ersten Lyriker Frankreichs, und keiner unter allen steht uns Deutschen in der Tiefe und dem Ausdruck des Gefühles näher; dessen ungeachtet ist er in Deutschland nur wenig bekannt geworden, am meisten vielleicht durch einige seiner frühesten Lieder, die Freiligrath mit gewohnter Vollendung übertragen hat. Ein großer Dichter und ein uns verwandter Dichter – gewiß eine so dankenswerthe wie dankbare Aufgabe, und schon die Wahl des Stoffes macht Lindau alle Ehre, die Meisterschaft aber, mit der er die Aufgabe gelöst, den Stoff bewältigt, fordert geradezu das Erstaunen heraus. Er rückt den Dichter und den Menschen in unsere unmittelbarste Nähe; er erklärt den einen aus dem andern mit solch überzeugungskräftiger Folgerichtigkeit, daß wir das unselige Leben auf jedem Schritte begleiten und jene duftigen Blumen, die unter diesen Schritten erblühen, aus den geheimsten Keimen und Wurzeln emporsprießen sehen. Auch die äußeren Einflüsse, die so mächtig auf die Entwicklung des Menschen und des Dichters einwirken: Zeit, Umgebung, Verhältnisse sind geschickt zu dem Hintergrund verwoben, von welchem das Einzelbild sich abhebt. Es ist ein Stück Geschichte, ein Stück Literatur, vor allem ein psychologisches Meisterstück; umfassendes Studium, ehrlichster Fleiß stecken und verstecken sich in diesem Buche. Auch über diesem Werke schwebt der Zauber reizvollster Anmuth; es unterhält und fesselt, während es belehrt. Leichtflüssig strebt die Entwicklung fort; wir lernen das Leben und die Werke des Dichters zugleich kennen, ohne jemals eine Lücke zwischen beiden zu empfinden. Die Nacherzählung der schönsten Dichtung Musset's: „Rolla“ [131] im siebenten Capitel ist selbst ein Gedicht, der Stil überall von tadelloser Schönheit und wechselnder charakteristischer Färbung. Gewiß hat sich Lindau mit diesem Buche eine „neue Position“ in der deutschen Literatur errungen, die unerschütterlich bleiben wird, und sollte er jemals eine Sünde begangen haben, oder noch zu begehen gedenken, im Namen Alfred de Musset's sei sie ihm vergeben!

Auf einem Boden von noch viel gefährlicherer Schlüpfrigkeit hat er bereits seit Jahren festen Fuß gefaßt: auf der Bühne. Seine ganze Veranlagung, Neigung und Beruf für unmittelbare Wirkung mußten ihn gebieterisch dem Theater zuführen. Schon sein erstes Drama „Marion“, eine höchst interessante Verwerthung französischer Erinnerungen und Vorbilder, erregte Aufsehen, wegen des wenig anmuthenden Halbwelt-Stoffes aber überwiegendes Bedenken. Auch das kleine Lustspiel „In diplomatischer Sendung“, von Laube mit dem Preise des Wiener Stadttheaters gekrönt, war nur eine liebenswürdige Plänkelei, eine versuchsweise Vorbereitung zum ernsthaften Angriff. Er erfolgte bald darauf und mit einem so vollständigen Siege, wie er seit langen Jahren auf deutschen Brettern nicht erfochten ward. „Maria und Magdalena“, ein Schauspiel in vier Aufzügen, kam im Winter 1872 zuerst in Wien, abermals bei Laube, alsdann im Berliner Hoftheater zur Aufführung, ging in einem Jahre über einhundertzwölf deutsche Theater, erlebte überall zahlreiche Wiederholungen, in Berlin allein sehr schnell fünfzig, hat heute noch nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt, seinem Autor grüne und goldene Lorbeeren in reichster Fülle eingebracht und neulich, in italienischer Uebersetzung, auch die Römer entzückt. Das Publicum war hingerissen; die Kritik konnte den Sturm der Aufregung nicht beschwören, sie mußte den ungetheilten Erfolg besiegeln. Und wiederum war es der Reiz der Neuheit, der so widerstandslos packte.

Das Theater war verschwunden; man sah, man hörte, man fühlte sich selbst; man befand sich unter lauter guten Bekannten, denn auch die Angehörigen der schlechten Gesellschaft hatte man nur allzu häufig gestreift. Was halfen dagegen alle nachträglichen Nörgeleien: daß die ganze Geschichte auf einer Unwahrscheinlichkeit beruhe – was ist unwahrscheinlicher als das Leben? – daß die Handlung manchmal Sprünge mache – geht denn Alles schnurgerade vor sich? – daß mancher Witz doch zu verwegen – ist die Verwegenheit nicht die Würze des Witzes? Lindau, dessen Name auf Aller Lippen, durfte kühnen Muthes weiter streben. Die allgemeine Erwartung hob ihn schon zu den höchsten Zielen empor. Und doch schien er bei dem nächsten Schritte zu straucheln. „Diana“, das neue Drama, das im folgenden Jahre erschien, stimmte etwas herab; seine Aufnahme und Verbreitung würde bei jedem andern Schriftsteller ungemein befriedigt haben, für den Dichter von „Maria und Magdalena“ aber genügten sie nicht. Die Begeisterung versagte; der Triumphzug stockte; aus den Reihen traten die Tadler hervor, und die Kritik der beiden deutschen Hauptstädte vereinte sich zu einem abfälligen Urtheile, dessen absichtliche Schärfe den Rache-Act deutlich verrieth: man holte nach, was man das vorige Mal nicht hatte wagen dürfen. Dem verwöhnten Sieger war die erste Verwarnung ertheilt – es kam noch schlimmer. Sehr bald verbreitete sich das Gerücht, daß er, unbußfertig und unentmuthigt, an einem Stücke schreibe, dessen Stoff die Geschichte des vorigen mit pikanten Zuthaten von persönlicher Portraitirung und anderem Gräuel. So war eine künstliche Aufregung hervorgerufen und diese sichtlich in dem Publicum verkörpert, das am 7. November 1874 im königlichen Schauspielhause zu Berlin der ersten Aufführung von Lindau’s „Erfolg“, Lustspiel in vier Acten, entgegen harrte. Einen solchen Abend hatte die vornehme Stätte noch nicht erlebt. Die zügellosesten Ausbrüche der Leidenschaftlichkeit begleiteten und störten die Vorstellung; der Kampf kam dem Handgemenge immer näher, und der schließlich durchgesetzte Hervorruf des Dichters glich einer Vorladung zur Schlachtbank. Aber mit der Schleunigkeit einer Bühnenverwandlung ward aus der scheinbaren Niederlage ein wirklicher Sieg. Schon der zweite Abend brachte einen Erfolg, der dem von „Maria und Magdalena“ nichts nachgab und mit dem Stücke ständig sich erhalten hat, welches auch das Hofburgtheater in Wien für Lindau eroberte und siegreich behauptete.

Und die Kritik? Die Berliner zerfleischte Dichtung und Dichter und hallte von dem Tone des ersten Abends wieder; die Wiener folgte, mit völliger Nichtbeachtung der ihr vorliegenden Thatsachen, dem nordischen Beispiele.

Das Publicum, das inzwischen sein selbstständiges Urtheil abgegeben, schüttelte die Köpfe, diesseits wie jenseits des Oceans, denn ehe der „Erfolg“ seine Rundreise durch Deutschland angetreten, hatte er bereits in New-York zwölf Mal hinter einander die herzlichste Freude erregt. Daß Lindau, dem alle bei solchen Gelegenheiten unvermeidlichen bitteren Erfahrungen nicht erspart blieben, auf das Tiefste ergriffen war, läßt sich leicht nachfühlen, daß er aber alle Verbitterung überwand und die Gegnerschaft durch eine neue That zu widerlegen suchte, zeugt für seine Schaffensfreudigkeit und den Glauben an den eigenen Beruf. Und abermals war am 21. December 1875 das königliche Schauspielhaus zu Berlin bis auf den letzten Platz gefüllt, und, verborgen in einer Loge des zweiten Ranges, folgte mit athemloser Spannung und hochklopfendem Herzen eine junge Frau dem Verlaufe und telegraphirte von Act zu Act dem Gatten, der zu derselben Zeit in Wien eine Vorlesung zum Besten des Schriftstellervereins „Concordia“ hielt. Die letzte Depesche blieb ihr erspart, denn an Stelle des herausgejubelten Dichters erschien der Regisseur mit der Verkündigung, daß dem leider Abwesenden der Dank und die Anerkennung „des Hauses“ sofort durch den Draht übermittelt werden sollte.

Die Abende kehren wieder, aber sie gleichen sich nicht. Eine so freundliche erste Aufführung hat dieses „Haus“ selten zu verzeichnen gehabt; die Theilnahme, die Begeisterung war eine verständnißinnige, hingebende, fast zärtliche, überall die Stimmung getreu in Einklang und Wechselwirkung mit der auf den Brettern. Und dieses erste Urtheil ward aller Orten bestätigt, auch von der Kritik, die, bis auf ein verschwindendes Häuflein Verbissener, eine neue Schraube einsetzte und ihr Instrument wieder nach der Seite der Anerkennung hin drehte, wenn auch hier und da mit etwas zweifelhaft gedämpften Tönen.

„Tante Therese“, Schauspiel in vier Acten ist die beste und gereifteste dramatische Schöpfung Lindau's. Mit allen Vorzügen seiner früheren, der fesselnden Handlung, der sicheren Zeichnung der Verhältnisse und Figuren, der photographisch treuen Wiedergabe der heutigen Gesellschaft, der geistreichen und doch überall angemessenen Sprache, verbinden sich innerliche Vertiefung und äußere Abrundung, die bei Lindau bisher zuweilen vermißt wurden; auf dem Ganzen ruht der Zauber echter Poesie. Das Stück, welches mehr gefangen nimmt, als blendet, ist ein bürgerliches Schauspiel im edelsten Sinne und eine Zierde dieser bei uns leider so vernachlässigten Gattung. Für den gegenwärtigen Winter hat Lindau nur eine mustergültige Bearbeitung der hochinteressanten „Fremden“ des jüngeren Dumas geliefert, die ihm unter anderem einen vierzehnseitigen Brief und das Portrait des einlenkenden Deutschenhassers eingetragen. Eine Originalarbeit wird indessen nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Paul Lindau, am 3. Juni 1839 zu Magdeburg geboren, hat die Lehrjahre längst hinter sich, auch die Sturm- und Drangperiode überwunden, und ist in voller Jugendblüthe ein reifer Mann mit erfolgreicher Vergangenheit und gewiß auch ein Mann von bedeutender Zukunft. Was er bisher geleistet, würde genügen, ein Menschenleben auszufüllen, und heute schon läßt sich seine Bedeutung nicht mehr bestreiten. Sie erhellt am klarsten aus dem Streite, der um ihn entbrannt ist und noch nicht gänzlich ruht. Kein Name wird vielleicht häufiger genannt, sicherlich keiner mit so unbedingter Anerkennung auf der einen, solch ingrimmigem Haß auf der andern Seite. Es giebt eine ganze Literatur für und wider ihn. Offenherzig und rückhaltslos, mitunter etwas hastig und ungeduldig, ist er doch ein treuer Geselle und guter Cumpan im Leben wie im Schreiben, und gerade jene ersten Eigenschaften werden so häufig mißverstanden, oder gar absichtlich mißdeutet.

Welche Schmähungen sind schon auf den Kritiker Lindau gehäuft! Und doch ist Keiner ehrlicher bei der Sache, anerkennt und fördert Keiner mit größerer Freudigkeit das wahrhaft Gute; ist es seine Schuld, wenn er ihm nicht allzu häufig begegnet, und hat Unerbittlichkeit gegen breitspurige Mittelmäßigkeit oder wirklich Schlechtes jemals für ein Verbrechen gegolten? Lindau ist nicht nach und nach fertig, nicht begünstigt und großgezogen worden; wie eine Ueberraschung stieg er plötzlich aus der Versenkung empor, und seine ersten Erfolge sind maßgebend [132] geblieben und haben sich immer mehr befestigt. Auch das nehmen ihm Manche übel; es ist das nicht die herkömmliche und zunftgemäße Entwickelung. Für Herkömmliches und Zunftgemäßes hat Lindau weder Neigung noch Verständniß. Gerade darin versteht ihn aber das Publicum, und daher dessen Neigung für ihn. Vom ersten Augenblicke an hat es sich auf seine Seite gestellt und sich immer dichter und enger um ihn geschaart; das Publicum hat, eine in Deutschland seltene Erscheinung, den Kampf gegen die zünftige Kritik für seinen Liebling aufgenommen und das Feld behauptet. Und diese Anhänglichkeit ist keine zufällige oder willkürliche. Lindau steht mitten im Publicum und im Tage; in ununterbrochener Fühlung mit Beiden, hat er für die leiseste Regung das richtige Verständniß und den treffendsten Ausdruck. „Es ist Fleisch von unserem Fleische und Geist von unserem Geist,“ schloß Karl Frenzel seine Kritik über „Maria und Magdalena“. Dieses Wort ist der Schlüssel des Geheimnisses, die Erklärung aller Erfolge, die Lindau, gleichgültig auf welchem Gebiete, errungen hat und noch erringen wird; bei aller gerechten Anwartschaft auf die Zukunft ist er zunächst voll und ganz ein Mann der Gegenwart.




Ein Malerhaus in Wien.


Am äußersten Westende Wiens, hart neben der Gumpendorfer „Linie“, liegt ein mäßig großes einstöckiges Haus, welches seltsam und scharf von seiner ganzen Umgebung absticht. Während die daran grenzenden Bauten entweder dörflich bescheiden aussehen oder einen Anlauf dazu nehmen, den Hauscasernenstyl in verjüngtem Maßstabe wiederzugeben, gleicht dieses dunkle, von einem Gärtchen und hoher Mauer umschlossene Haus einem vornehmen Flüchtlinge aus weit entferntem Lande. Es ist ein deutscher Renaissancebau, bei aller Einfachheit in reinem Style aufgeführt, mit vielen Giebeln, Vorsprüngen und Erkern geziert. Die Fenstergitter erinnern an jene Zeit, da das Schmiedehandwerk noch eine halbe Kunst war; die kleinen in Blei gefaßten Scheiben lassen vermuthen, daß es hinter ihnen gar trauliche „Kemenate“ geben müsse. Ein Hauch der Vergangenheit, eine Empfindung, nur mit jener vergleichbar, die ein Gang durch Nürnbergs Straßen erweckt, faßt uns an der Schwelle dieses Hauses, das weit und breit im Munde der Leute „das Schloß“ heißt. Es ist das Heim Friedrich Amerling's, des greisen, aber immer noch jugendfrischen Künstlers, der hier inmitten seiner Schätze haust und Jeden, der sie bewundern will, als liebenswürdiger Hüter des Hortes begrüßt.

Treten wir durch die schmale Pforte in das Gärtchen, so ertönt freudiges Gebell. Zwei gewaltige Hunde – die Alten würden sie Molosser genannt haben – kommen uns entgegen und wedeln zum Zeichen der Freundschaft. Das ist eine sichere Bürgschaft für den herzlichen Empfang, der uns von Seiten ihres Besitzers erwartet. Wer sich etwas auf die Physiologie der Thiere versteht, dem kann es nicht entgehen, wie die Hunde in der Regel den Charakter ihres Herrn annehmen. Wo dir ein bissiger Köter knurrend an die Beine fährt, da ziehe schleunig von dannen – denn da ja nicht gut sein. Wo aber der vierfüßige Wächter des Hofes seinen Kopf gemüthlich an dir reibt, damit du ihn streicheln und krauen sollst, da tritt vertrauensvoll ein! Du kommst zu guten Menschen.

Während wir zwischen den zwei Hunden der Hausthür zuschreiten, hören wir einen feierlichen Choral von oben herab klingen. Es sind Orgeltöne, die langgezogen und mächtig an unser Ohr schlagen; sie passen wunderbar zu dem Hause, dessen Inneres uns wie ein Märchen aus alten Zeiten anmuthet. Kaum haben wir die erste Stufe der Treppe betreten, so ist die Gegenwart hinter uns versunken; wir sind in einem verzauberten Schlosse, das vor zweihundert Jahren oder noch länger von der Dornhecke umgeben und seitdem unverändert erhalten worden ist. Da hängen die alten Bilder in geschnitzten Rahmen, daneben Helme, Schwerter und Speere über den riesigen Eichenschränken; die Sonne scheint nur wie verstohlen durch farbige Gläser, die ein gedämpftes Licht verbreiten. Wäre nicht Alles so blank und rein, könnten wir einige Spinnennetze erblicken, wir fragten: „Wo ist Dornröschen?“ Aber hier waltet offenbar die Hand einer emsigen Hausfrau; hier herrscht frisches Leben, und plötzlich hören wir eine helle Kinderstimme, dann eine andere, und neben dem Vorhange, hinter dem wir die schlafende Prinzessin suchen wollten, taucht ein rosiger Blondkopf auf und sagt: „Papa ist zu Hause.“

Wir schlagen den Vorhang zurück, drücken auf die Klinke des schweren, alterthümlichen Schlosses und sind im Atelier. Der Meister, der noch immer an der Orgel sitzt, hat uns gar nicht bemerkt, und wir müssen ihm erst ein lautes „Bravo!“ für sein Spiel zurufen, bis er uns gewahr wird. Nun springt er mit der Lebendigkeit eines Zwanzigjährigen empor und schüttelt die dargereichte Hand so warm und herzhaft, daß es dem Gaste wohlthut. Hat man, wie das wohl vorkommt, einen Fremden mitgebracht, so fühlt sich dieser nach zehn Minuten heimisch, denn Amerling's offene, frische, allem Zwang und jeder Heuchelei feindliche Natur, sein unbefangenes Wesen voll echter Naivetät sprengen sofort die Schranken gleichgültiger Höflichkeit. In ganzen und vollen Menschen bleibt stets etwas Kindliches; es ist ihr Talisman, der sie vor jeder Berührung mit dem Gemeinen bewahrt und innerlich jung erhält. Amerling hat neben der Kunst des Pinsels auch die andere inne, niemals alt zu werden. Sein Haupt- und Barthaar sind weiß, wie es an einem Dreiundsiebzigjährigen wohl nicht anders sein kann, aber seine hohe Gestalt ist ungebeugt; seine Sinne sind scharf. Er hält sich stramm und läuft über Stock und Stein, ja vor Kurzem sah ich ihn noch im Freundeskreise ein Tänzlein wagen. Stundenlang steht er unermüdet an der Staffelei, und der kleine Blondkopf, dessen wir schon gedachten, ist der lebendige Beweis der ungebrochenen Lebenskraft, welche Fritz Amerling noch heute genießt. Manchmal hat er schon weit jüngere Männer, die ihn besuchten, dadurch fast zur Verzweiflung gebracht, daß er ihnen, selbst stehend oder auf- und niederschreitend, keinen Stuhl anbot. Der Glückliche denkt gar nicht daran, daß man müde sein könne.

Dicht aneinandergedrängt, schmücken über ein halbes Hundert Bilder von des Meisters Hand die Wände des Ateliers. Er hatte stets die Gewohnheit, interessante Personen, die er portraitirte, noch einmal für sich selbst zu malen. So hängt hier eine ganze Galerie merkwürdiger Männer und Frauen, unter den Letzteren vor allen durch ihre Schönheit hervorragend das Bildniß der einstigen Fürstin von Serbien, der reizenden Julie Obrenowich, die ihr Gemahl kurze Zeit vorher verstoßen, ehe er an der Seite seiner zweiten Braut im Parke von Toptschider ein blutiges Ende fand. Zwischen den Portraits sehen wir eine Reihe anderer Werke. Holde Frauengestalten der Mythologie oder der Dichtung entnommen, bevölkern das Atelier. Die tragische Muse zückt den Dolch; Ophelia flicht sich am Rande des Baches Blumen in die blonden Locken; ein Cromwell'scher Krieger blickt hinüber zu Shylock, der eben zu sagen scheint: „Ich wollte, meine Tochter läge todt zu meinen Füßen und hätte die Diamanten in den Ohren.“ Zu den beiden letzten Bildern hat, wie der Beschauer unschwer erkennt, ein und derselbe Bürgersmann aus der Nachbarschaft als Modell gedient, der im Leben weder einem Puritaner noch dem Juden von Venedig gleicht. Es ist merkwürdig, wie Amerling denselben Kopf für zwei grundverschiedene Typen benutzen und ihn jedesmal charakteristisch gestalten konnte. Neben dem in doppelter Ausgabe verewigten Gumpendorfer stehen die beiden jüngsten, noch unvollendeten Bilder des Meisters; das Portrait Anton von Schmerling’s mit den harten, verständigen Zügen, und eine „Lady Macbeth“. Ein ausgezeichnetes Selbstbildniß Amerling's und, als Curiosum des Ateliers, eine Landschaft von seiner Hand – denn auch in diesem Zweige der Malerei hat er sich versucht – seien noch erwähnt. Wollte man alle Bilder beschreiben, die sich hier aus den verschiedensten Epochen des Künstlers zusammengefunden und die Laufbahn eines halben Jahrhunderts bezeichnen, man würde nicht fertig werden. Auch läßt Amerling den Gästen, die er zum ersten Male bei sich sieht, gar nicht lange Zeit, die Arbeiten seines Pinsels zu betrachten, sondern er führt sie gern rasch über den Gang zu seinen Prunkgemächern, auf deren Inhalt er als echter und rechter Sammler fast stolzer ist als auf seine eigenen künstlerischen Leistungen.

[133] In den Zimmern ist hier eine solche Menge des Seltenen, Schönen und Werthvollen aufgehäuft, wie es in Wien wohl kein zweiter Privatmann besitzt. Durch Jahrzehnte hat Amerling, mit einer wunderbaren Spürkraft für verborgene Schätze begabt und mit dem feinsten Verständnisse für alle Zweige der Kunst und des Kunstgewerbes ausgerüstet, rastlos gesammelt und stets neue Stücke erworben, bis der Raum seines Hauses zu enge ward und er den weniger ausgezeichneten Sachen Plätze auf dem Dachboden anweisen mußte. Die drei Zimmer des ersten Stockwerkes, in welche Fremde Zutritt finden, enthalten die Auslese seines Besitzes. Da sind kostbare Schränke in Ebenholz und Elfenbein, andere mit reicher Intarsia, dazwischen feine Schnitzereien aus verschiedenen Zeiten und Ländern, Rüstungen, Waffen in Ueberfluß, an den Wänden Bilder berühmter Meister, darunter ein herrlicher Van Dyk, der aus dem Besitze eines leichtsinnigen Kunstgenossen in jenen Amerling’s überging und wiederholt Gegenstand vergeblicher Bewerbung von Seite öffentlicher Galerien war, Majoliken, Fayencen und Schmelzglasarbeiten von Murano, altes Wiener und Meißener Porcellan an allen Ecken und Enden. In einer Ecke eine Terracotta-Büste, die, wenn nicht Luca della Robbia selbst, sicher seiner Schule angehört. Die Mittelnische des letzten Zimmers ist geschmückt durch die Marmorcopie des „Ruhenden Mercurs“ Thorwaldsen’s , in Rom von einem seiner Schüler unter Leitung des Meisters ausgeführt. Kleine Kästchen in Holz und Bronze, deutsche und italienische Renaissance, theilweise von wunderbarer Schönheit der Ausführung, wechseln mit Thonkrügen und böhmischem Glaswerk. Dazu gesellen sich, um das Museum vollständig zu machen, Bruchstücke aller Art, so eine Dogenmütze und die Uhr Wallenstein’s, letztere von einem Nachkommen des großen Feldherrn erworben.

Haben wir die Sammlungen des ersten Stocks bewundert und gehören wir zu den Freunden des Hausherrn, dann können wir hinabsteigen in das Erdgeschoß, wo die eigentlichen Wohn- und Schlafzimmer der Familie liegen. Die Einrichtung da unten ist nicht weniger sehenswerth, denn Amerling besitzt kein einziges modernes Möbel. Die Schränke, Tische und Stühle sind alle von schöner alter Arbeit, und wenn die liebenswürdige Hausfrau uns einen Imbiß anbietet, so speisen wir von Tellern, die sich von heutiger Fabrikwaare sehr zu ihrem Vortheile unterscheiden. Der Hausherr hat selbst seinen Anzug, ohne gerade eine auffallende Tracht zu tragen, der Einrichtung etwas angepaßt. Der Maler hilft dem Schneider nach, der für ihn arbeitet. Sein Sammetrock, seine Plüschweste haben einen schöneren Schnitt, als die Mode will, und auf den weißen Haaren sitzt zu Hause ein schwarzes Barett, auf der Straße ein weicher breiter Schlapphut. Von jenem entsetzlichen Kleidungsstücke, welches die heiteren Götter „Schwalbenschwanz“, die staubgeborenen Menschen „Frack“ benennen, bleibt Amerling’s Leib unberührt wie sein Haupt vom Cylinderhute. Er hat die meisten Mitglieder des kaiserlichen Hauses gemalt und Audienzen bei dem Monarchen genommen, ohne seinen äußeren Menschen in herkömmlicher Weise zu verunstalten, denn Schönheitssinn und berechtigtes Unabhängigkeitsgefühl bilden die Grundlage seines Wesens.

Mancher jüngere Maler, der nicht gleich Makart hohen Gewinn aus seiner Kunst zieht und die schlechte Zeit bitter empfindet, mag wohl ein bischen neidisch werden, wenn er Amerling’s Haus betritt und den hohen Wohlstand desselben betrachtet. Selten gelang es einem Wiener Künstler der ältern Zeit, sich durch sein Talent allein ein so behäbiges Hauswesen zu gründen. Amerling war aber immer ein guter Wirth, warf sein Geld nicht in dummen Streichen und „genialen“ Ausschweifungen zum Fenster hinaus, sondern lebte bei aller Fröhlichkeit und Frische seines Naturells als vernünftiger, solider Familienvater. Er heirathete sehr früh. Seine erste Frau ist lange todt, aber die Jugend blieb so treu bei ihm, daß die Spätblüthe seiner zweiten Ehe sich voll und glücklich entwickeln konnte. Betrachtet man die Lebensfreudigkeit, die noch heute in ihm waltet, so möchte man glauben, er sei stets ein Liebling des Glückes gewesen und von einer freundlichen Fee gegen alle Widerwärtigkeiten beschützt worden. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Der Pfad seiner Jugend war steinig und steil; aus eigener Kraft hat er sich emporgerungen. Als Schüler der Wiener Kunstakademie – Anfangs der zwanziger Jahre – mußte er lange sparen, bis er sich die nothwendigen Geräthschaften zur Oelmalerei ankaufen konnte, und als er durch einige Portraits ein paar hundert Gulden verdient hatte, däuchte er sich ein Crösus und unternahm das Wagestück, mit diesen geringen Mitteln nach London und Paris zu reisen. Noch heute gedenkt er dankbar der freundlichen Aufnahme, welche zwei hochberühmte Meister dem armen, unbekannten Jünglinge gewährten: der Engländer Lawrence und der Franzose Horace Vernet. Sie erkannten und würdigten die hohe Begabung des bescheidenen Wieners, und ihre Aufmunterungen waren ihm ein mächtiger Hebel; ihr Lob gab ihm das Maß seiner Kraft. Bald darauf stieg sein Ruf durch einige historische Bilder („Dido auf dem Scheiterhaufen“ und „Moses in der Wüste“); er gelangte zu Ruhm und Geld. Dann zog er nach dem gelobten Lande der Kunst, nach Italien, das er seitdem mehr als ein dutzendmal besucht hat und an dem er mit wahrer Schwärmerei hängt. Dort fand er das Geheimniß der Schönheit, dort die tiefen, leuchtenden Farben, in welchen seine Gemälde prangen. Bald wollten alle hochgestellten und vornehmen Leute von ihm gemalt sein – ein Auftrag drängte den andern, und durch fast dreißig Jahre war er der gesuchteste Portraitmaler Wiens.

Zwischen den Bildnissen entstand eine Menge anderer Werke, die theilweise durch den Kupferstich ungeheure Verbreitung erlangten, so die „Lautenschlägerin“, die „Morgenländerin“, die „Schlafenden Kinder“, „Rebekka“ etc. Nicht ein einziges dieser Bilder, die vor so langen Jahren entstanden, erscheint uns heute altmodisch, während die Arbeiten der gleichzeitigen Wiener Meister bei aller sonstigen Bedeutung an einer gewissen Steifheit leiden, ja selbst in Danhauser’s Gemälden zuweilen Spuren derselben hervortreten. Amerling’s Bilder altern so wenig wie er selbst, der mit Rückert von sich sagen mag:

„Aber jung geblieben
Ist mein altes Lieben
Und der Himmelsschwung
Der Begeisterung.“

Es giebt manchen Maler in Wien, der im eigenen Hause wohnt. Der treffliche alte Schilcher, der jetzige Vorstand der Wiener Kunstgenossenschaft, der Schlachtenmaler Sigmund l’Allemand, der Sohn des „alten Fritz“ mit der unsterblichen rothen Weste und dem Räuberhute, der Landschafter Obermüllner und Andere zählen zu den Glücklichen, die jeder niedern Sorge enthoben sind. Ebenso der ewig frohe Felix; ein echter Träger seines Namens, hat er sich gar auf dem Gipfel des Kahlenbergs ein stolzes Schloß in französischem Renaissancestyl erbauen lassen, aber kein Zweiter hat sein Heim so feinsinnig geschmückt wie Amerling, und nirgends waltet so wohlthuende Herzlichkeit, wie in dem Giebelbau an der Gumpendorfer Linie, dem wahren Malerhause Wiens.

Karl von Thaler.




Ein Diplomat der alten Schule.


In seinem Wirken vom bedeutendsten Einfluß auf die Geschicke Preußens und Deutschlands, in seinem äußeren Auftreten einer der liebenswürdigsten Salondiplomaten, ist Fürst Hardenberg, der als preußischer Staatskanzler zwölf Jahre hindurch sich in so hoher Stellung behauptete, unter allen Vorgängern des jetzigen Reichskanzlers als der bedeutendste zu bezeichnen, obgleich er sich gerade in seinem Wesen am meisten von ihm unterschied; denn er gehörte zu den Diplomaten der alten Schule, denen weltläufige Gewandtheit und die Kunst, mit einer gewissen Grazie über alle Schwierigkeiten hinwegzugleiten, das Ideal ihres Wirkens war, zu den Diplomaten des Salons, während man den Fürsten Bismarck einen Diplomaten des Schlachtfeldes nennen könnte, der selbst mit soldatischer Bravour für seine Theorie von Blut und Eisen eintritt. Auch Hardenberg’s Charakterbild schwankt, von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, in der Geschichte. Wie schroff stehen sich die Urtheile der Zeitgenossen über [134] den einflußreichen Staatsmann gegenüber! Berthold Niebuhr nannte ihn den „elendesten Menschen“, einen schwachen Thoren von flachster Unwissenheit, Selbstzufriedenheit und ungeschickter Hand. Bischof Eylert dagegen nennt ihn einen seltenen Mann von klarem Verstande und gewandter Klugheit, einen „geborenen Diplomaten“, schlau, glatt und gewandt, dabei gutmüthig, wohlwollend und treuherzig, frei von den Vorurtheilen der Geburt und des Standes. Ebenso begeistert für ihn ist Ritter Lang, der die Leutseligkeit, Liebenswürdigkeit und Zugänglichkeit Hardenberg’s nicht genug rühmen kann gegenüber dem Benehmen der steifen, schulmeisterischen, hinter einem halben Dutzend Vorzimmern verschlossenen und von Bettelvolk belagerten Minister der deutschen Kleinstaaten.

Zur Klärung des Urtheils über den jedenfalls ebenso bedeutenden wie liebenswürdigen Staatsmann werden die vom Altmeister deutscher Geschichtschreibung, Leopold von Ranke, herausgegebenen Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg (vier Bände, Leipzig, Duncker und Humblot 1877) wesentlich beitragen. Der Nachlaß des Fürsten mit seinen Memoiren war bei dem Tode desselben 1822 versiegelt auf fünfzig Jahre in dem Archiv deponirt worden. Nach Verlauf dieser Zeit löste Fürst Bismarck, dem der Archivdirector die Papiere überreichte, das Siegel und gab sie dem ehrwürdigen Historiker, der über ihren Werth entscheiden sollte. In diesem Nachlaß befand sich ein Memoire von Hardenberg’s eigener Hand über die Jahre 1804 bis 1807, die in der Geschichte Preußens eine so unheilvolle Rolle spielen, außerdem eine ausführliche Ausarbeitung über des Staatskanzlers Leben in französischer Sprache, die eine lange Reihe von Bänden füllt und den Zeitraum von 1794 bis 1812 am eingehendsten behandelt. Verfasser derselben war ein Freund Hardenberg’s, Friedrich Schöll. Ranke giebt nun Hardenberg’s eigene Memoiren heraus, ergänzt sie aber, auf Grundlage der Schöll’schen Denkwürdigkeiten, durch einen einleitenden Band und einen Schlußband, der leider auch nur bis zum Jahre 1813 reicht, sodaß die so umfassende Biographie doch nur ein Bruchstück bleibt. Der Sinn, der nach künstlerischem Abschluß und harmonischen Verhältnissen der einzelnen Theile eines Werkes drängt, ist deutscher Geschichtschreibung immer verschlossen; ihre Veröffentlichungen haben meistens einen archivarischen Charakter. Leopold von Ranke giebt uns in seiner gewohnten feinen und geistreichen Weise in den Bänden, wo er selbst das Wort ergreift, ein Bild der politischen Geschichte gegen Ende des achtzehnten und im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, in welchem er besonders die sich stets verschiebende Gruppirung der Hauptstaaten mit Meisterhand zeichnet. Diejenigen, welche das Biographische, das Anekdotische aus erster Hand erwarten, werden sich freilich enttäuscht fühlen; die Theilnahme Ranke’s ist den allgemeinen Angelegenheiten zugewendet, die er für das eigentlich Lebendige in der Geschichte erklärt. Gleichwohl zeichnet sich auch das mehr persönliche Lebensbild des berühmten Staatsmanns in seinen Hauptumrissen deutlicher als früher ab.

Karl August Freiherr von Hardenberg wurde zu Essenrode am 31. Mai 1750 geboren, aus einem alten Geschlechte, das schon längere Zeit im Dienste des welfischen Hauses stand; seine Mutter war eine geborene von Bülow. Durch einen Hofmeister vorgebildet, bezog Hardenberg schon im Jahre 1766 die Universität Göttingen und begab sich im Jahre 1768 nach Leipzig, wo er Gellert’s Schüler wurde, der von ihm große Erwartungen hegte, doch auch Besorgnisse wegen der Versuchungen, denen er durch sein Temperament ausgesetzt war.

Nachdem er 1770 seine Studien in Göttingen mit dem Examen abgeschlossen, trat er in den hannoverischen Staatsdienst und unternahm nach fehlgeschlagenen Versuchen, in London eine Rathsstelle zu erhalten, 1772 eine Rundreise durch Deutschland, um sich mit den Verhältnissen an den Höfen und im Reiche vertraut zu machen.

Sein Reisetagebuch liegt noch vor; es zeugt für seine scharfe Beobachtungsgabe und giebt ein sprechendes Bild von den damaligen Zuständen des deutschen Reiches. So viele kleine Höfe, so viele verschiedene Physiognomien. Der junge Reisende fällt oft ein sehr entschiedenes Urtheil. Er schildert z. B. den Aufwand des Casseler Landgrafen, die gewaltigen Anlagen am Weißen Stein, ihre Dimensionen, ihre Kosten, nicht ohne Staunen, fügt aber die Bemerkung hinzu: zweckmäßiger würden gute Wege sein, als dieser Prachtbau, der nur dazu diene, den Stolz des Fürsten zu nähren. Der regierende Graf von Neuwied machte auf ihn den Eindruck eines Bürgermeisters aus einer kleinen Stadt; die Gräfin hatte zwei Hofdamen von vornehmer Herkunft und wurde, wenn sie ausfuhr, von sechs Husaren mit gezogenem Säbel escortirt. In Darmstadt fiel ihm das große Exercirhaus auf, welches Landgraf Ludwig hatte bauen lassen; er fand indeß, daß es für den König von Preußen schicklicher wäre, als für den Landgrafen von Darmstadt. „Bei dem Landgrafen gilt nichts als der blaue Rock; er soll ein vortrefflicher Trommelschläger sein. Man hört in Darmstadt nichts als Exerciren, Trommeln, Pfeifen und Werda-Rufen, sowohl Tag als Nacht. Man ißt schlecht bei Hofe, und alles sieht sehr mustricht aus.“

Welch ein Glanz dagegen in Mannheim! Da blühen die Künste, Gemäldegalerien, Musikaufführungen, ein glänzender Hof, die Damen in Juwelen, auf das Reichste gekleidet; der Kurfürst Karl Theodor hat eine Passion für die Frauen; es herrschte ein unanständiger Ton, und man erzählte sich die anstößigsten Geschichten. Desto ökonomischer geht es in Karlsruhe zu; das früher bestehende Serail von Tänzerinnen ist abgeschafft; man speist nur gute Hausmannskost. Die Markgräfin zeichnet und malt gut; sie illustrirt alle Thiere aus Buffon’s Naturgeschichte; sie mußten in natura herbeigeschleppt werden, um sie recht nach dem Leben zu machen. Auch den Herzog Karl Eugen von Württemberg und seine Solitüde schildert Hardenberg; er tadelt ihn, daß er so hart mit seinen Leuten umging. Für alles hat der junge Reisende offenen Sinn, für Ackerbau, Manufactur, für technische und artistische Talente, für neuerschienene Schriften; er schildert das Reichskammergericht in Wetzlar und den Reichstag in Regensburg mit scharfer Beobachtung.

Auf seiner Reise war Hardenberg auch nach Nassau gekommen, dem Stammsitze der Familie von Stein, und Luise, die Schwester des berühmten Diplomaten, machte auf ihn einen tiefen Eindruck; er selbst bekennt, er liebe sie unbeschreiblich, und hat nur Scrupel darüber, daß er kein Engagement habe. Doch es war ihm nicht bestimmt, der Familie des Diplomaten anzugehören, mit dem er später Hand in Hand die innere Umgestaltung Preußens in’s Wert setzen sollte. Nach seiner Rückkehr und nach einem abermaligen Ausfluge, der ihn bis über den Canal führte, gab er den Wünschen seiner Familie nach, welche seine Verlobung mit einer reichen Erbtochter der Gräfin Reventlow in Holstein wünschte. Sie lebte bei einem Stiefvater, Herrn von Thienen; ihre Mutter war in Folge geistiger Störung nicht zugegen. Hardenberg’s Vater begleitete den Sohn auf der Brautreise; alle Arrangements wurden getroffen; nur die Einwilligung der Vormünder in Kopenhagen machte anfangs Schwierigkeiten. Hardenberg schrieb in einem Briefe: „Die Pacta dotalia werden wohl überaus vortheilhaft für mich ausfallen, ohnerachtet wir gar nichts dazu gesagt; mir wird wohl ususfructus an ihrem ganzen Vermögen zugeschrieben werden, und sie wird sich nur 3000 Thlr. jährlich Taschengeld reserviren. Uebrigens bin ich so vergnügt, so zufrieden und so verliebt wie möglich; und was mich am innigsten bei der Sache freut, ist, daß ich sicher bin, daß ich recht sehr und aufrichtig geliebt werde. Meine kleine Braut ist liebenswürdig, gut erzogen; es fehlt ihr gar nicht an Verstande, und was alles dieses noch mehr erhebt, ist eine ungekünstelte Unschuld in ihrem ganzen Betragen, die mich ganz eingenommen hat und die ich nie vorher gekannt hatte.“ Hätte sich die kleine Braut als Frau diese Unschuld bewahrt, wer weiß, ob Hardenberg je der große preußische Staatsmann geworden wäre und ob er sich nicht mit einer untergeordneteren Rolle hätte begnügen müssen. Merkwürdiger Weise war es immer sein Familienunglück, was seine politische Carrière förderte.

Am 8. Juli 1775 fand die Vermählung statt; er war vorher schon Kammerrath geworden; jetzt wurde er zum Geheimen Kammerrath ernannt. Doch sein Ehrgeiz ging darauf, die Ministerstelle in London zu erhalten, schon um die preußische Politik Friedrich’s, zu der er und seine Familie hinneigte, fördern zu können, die von London aus gekreuzt wurde. Seine Reise nach England hatte aber den entgegengesetzten Erfolg; seine Frau, die schon in Hannover durch ihr Benehmen Anstoß erregt hatte, begünstigte den Prinzen von Wales, der in leidenschaftlicher Liebe für sie entbrannt war; die Zeitungen selbst nahmen von diesen Vorgängen Notiz. Hardenberg bat den König um den Posten [135] des Reichstagsgesandten in Regensburg, damit er durch ein öffentliches Gnadenzeichen seine Ehre bei dem Publicum rette, und als der König dies abschlug, verließ der junge Beamte den hannoverschen Dienst. Den glänzenden Aussichten, die sich in Dänemark ihm eröffneten, entsagte er, ja er machte sich von allen eingegangenen Verpflichtungen frei und folgte den Anerbietungen des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, der ihn zum Großvoigt, Präsidenten der Klosterrathstube und zum Mitgliede des geheimen Rathscolleginms ernannte. Hardenberg riß sich damit von einer Politik los, deren Charakter auf einer Verbindung Englands und Hannovers beruhte, und gesellte sich einem Fürstenhause zu, welches die gemeindeutschen Interessen stets im Auge gehabt und sich von jeher zu Preußen gehalten hatte. In den Verhandlungen wegen des Fürstenbundes war er ein eifriger Vertreter der Anschauungen Friedrich's, soweit es die engen Verhältnisse des verschuldeten Landes zuließen. Wegen einer Schulreform im Sinne Campe's geriet die Regierung in Händel mit den Ständen. Doch diese mißlichen Verhältnisse allein hätten ihm seine Stellung nicht verleidet, wären nicht wieder häusliche Störungen dazu gekommen. Das Benehmen seiner Frau erregte abermals Anstoß; außerdem machte sie einen Aufwand, der sein Vermögen überstieg und ihn in Schulden stürzte.

Sein Haus war auf das Glänzendste eingerichtet; er und seine Gemahlin fuhren in besonderen Wagen mit prächtiger Bedienung aus, Jedem ein Läufer voran. Erregte das Benehmen der Frau wachsenden Anstoß, so war dasjenige des Gatten keineswegs vorwurfsfrei. Die Ehe mußte im Jahre 1787 getrennt werden. Die Gemeinschaft des Vermögens, auf der das Hauswesen beruhte, wurde aufgelöst. Dadurch verlor der an Glanz gewöhnte Minister den beträchtlichsten Theil seines Einkommens, aus welchem die Kosten seines bisherigen Haushaltes bestritten worden waren; auch mußte er die Schulden allein übernehmen. Der Herzog von Braunschweig half aus, doch in spärlicher Weise. In dem folgenden Jahre vermählte sich Hardenberg mit echt diplomatischer Leichtfertigkeit wiederum und zwar mit einer Jugendgeliebten, Sophie von Leuthe, die sich von ihrem Gatten ebenfalls scheiden ließ. Auch sie hatte sich ähnliche Vorwürfe in ihrer ersten Ehe zugezogen wie seine frühere Gemahlin. Seine Leidenschaft wurde mit entgegenkommender Neigung erwidert. Ritter von Lang beschreibt Sophie als eine schöne romantische Dame, die aus Schwärmerei für Hardenberg ihren ersten Mann verlassen habe. Sie wurde indeß bei Hofe nicht nach Wunsch und Anspruch behandelt. Die Herzogin vermied es, sie bei sich zu sehen. Zuweilen mußte Hardenberg bemerken, daß er absichtlich allein geladen worden war, während andre Gäste mit ihren Damen erschienen.

So war durch die neue Ehe seine Stellung in Braunschweig unhaltbar geworden. Vergebens wandte er sich an den Herzog von York und König Georg von England, um wieder in den hannoverschen Staatsdienst eintreten zu können; er erhielt von dem Könige keine Antwort. Bei einem Aufenthalte in Berlin im Jahre 1790 wurde der braunschweigische Minister, der dieser Stellung längst überdrüssig war, dem Markgrafen von Anspach-Bayreuth durch Herzberg empfohlen als der geeignetste Mann, die Umwälzung durchzuführen, welche der Markgraf mit dem verrotteten frühern Systeme und gegen dessen Vertreter in seiner eigenen Regierung begonnen hatte. In der That wurde Hardenberg zunächst brandenburgischer Minister in Anspach, und auf diesem Umwege, nachdem Anspach-Bayreuth definitiv an Preußen gefallen war, preußischer Minister, als welcher er seine weltgeschichtliche Rolle spielen sollte.

Von seinen häuslichen Schicksalen giebt uns Ranke keine Kunde mehr; wir müssen uns an die Memoiren des Ritters von Lang halten. Hardenberg blieb seiner zweiten Frau nicht treu; es entspann sich ein Liebesverhältniß zwischen ihm und einer frühern Schauspielerin, Charlotte Schönemann; sie hatte dem Minister in Frankfurt gegenüber gewohnt, wo er aus den Fenstern seines Hôtels zuerst mit ihr Beziehungen anknüpfte. Frau von Hardenberg vergaß sich aus Rache noch ärger als ihr Gemahl; sie ging von Anspach fort und suchte die Verborgenheit in der Nähe von Leipzig auf. Im Jahre 1801 wurde auch diese zweite Ehe des Ministers aufgelöst. Frau Schönemann war anfangs Freundin und Ehrendame, wurde nach der Schlacht bei Jena Hardenberg’s Gemahlin und später auch Fürstin Hardenberg. Man sieht, daß der große Staatsmann in Sachen der Ehe leider ein sehr weites Gewissen hatte.

Als preußischer Minister trat er jetzt bald in die Mitte der polnischen Ereignisse, in der er mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tode bleiben sollte. Die Geschichte seines Lebens ist von jetzt ab auf’s Engste verknüpft mit der Geschichte Preußens. Er folgte dem Könige auf dem französischen Feldzuge, 1792, und verhandelte in Frankfurt mit Lord Malmesbury über die englischen Subsidien, sowie später im Jahre 1794 mit den Vertretern des französischen Wohlfahrtsausschusses; er war es auch, der im Jahre 1795 den übelberufenen Separatfrieden Preußens mit Frankreich zu Basel abschloß.

Bestimmend für seine damalige Politik wurden zwei Gedanken: er war überzeugt, daß zu dem politischen Gleichgewicht von Europa ein mächtiges Frankreich gehöre, und ferner davon, daß ein Verhältniß mit Frankreich dahin führen würde, die Autorität des Königs in Deutschland durch Vermittlung eines Reichsfriedens zu verstärken. Im Jahre 1797 nach Friedrich Wilhelm’s des Dritten Thronbesteigung nach Berlin berufen, betrachtete er sich dort selbst als Provinzialminister, und erst im Jahre 1803, als Napoleon Hannover besetzt hatte, erhielt er das Portefeuille des Aeußern, anfangs als Stellvertreter des Grafen Haugwitz. Ueber diese wichtige Epoche seiner Geschäftsführung giebt er selbst in seinen Memoiren Aufschluß; es war die Epoche des „Durchwindens“ zwischen Frankreich und Rußland. Hardenberg erklärte sich zwar auf das Entschiedenste gegen den jesuitischen Grundsatz der Politik, daß der Zweck die Mittel heilige, und doch war die preußische Politik damals zu Halbheiten und Schleichwegen verurtheilt, welche doch nicht zum Ziele führten, sondern den Untergang der Monarchie zur Folge hatten. Dieser selbst fiel nicht mehr in die Zeit der Hardenberg’schen Geschäftsführung; im Jahre 1806 vor Ausbruch des Krieges hatte er sich auf sein Gut Tempelhof zurückgezogen, von wo er anfangs noch die geheimen Verhandlungen mit Rußland leitete. Die alte Sage, der Erwerb Hannovers durch Preußen sei der Grund seines Rücktrittes gewesen, ist jetzt vollständig widerlegt; Hardenberg stimmte für denselben und hatte als alter Hannoveraner noch ein besonderes Interesse daran.

Das bisherige Wirken Hardenberg’s gehört den Annalen der Diplomatie an; es ist angekränkelt von den Erinnerungen an eine der traurigsten Epochen deutscher Geschichte, wenn er selbst auch von Ranke zu den Staatsmännern gerechnet wird, „in denen das Bewußtsein europäischer Nothwendigkeiten stets lebendig war“. Ruhmreicher und dauernder ist das Angedenken an sein Streben zur innern Wiedergeburt Preußens, in welcher er mit Stein Hand in Hand ging. Wie bedeutend sein Antheil an dem Grundgedanken dieser Reform war, das ist durch seine Denkschrift „Ueber die Reorganisation des preußischen Staats im September 1807“ jetzt offen dargelegt.

Hardenberg geht in dieser Denkschrift nicht ganz soweit wie Freiherr von Stein, indem er z. B. zwar die Aufhebung der Erbunterthänigkeit der Bauern und alle Freiheit für sie zur Erlangung des Eigenthums fordert, aber doch die Aufhebung der Frohnverfassung nicht für nöthig hält. Dagegen proclamirt er nicht nur das Princip der allgemeinen Wehrpflicht, er verlangt sogar, daß die Unterofficiere von den gemeinen Soldaten nach der Mehrheit gewählt würden, ebenso die Officiere ersten Grades von den Unterofficieren. Ueber den Adel, den Fortfall vieler seiner Vorrechte, besonders des Rechts zum ausschließlichen Erwerb der Rittergüter, spricht er sich in durchaus liberalem Sinne aus. Alle innere „Polster der Faulheit“ im Verwaltungswesen sollen fortfallen und dasselbe, besonders auch das Finanzwesen, auf neuen Grundlagen geordnet werden. Zwölf Jahre hindurch, von 1810 bis 1822, hatte Hardenberg als Premierminister und Staatskanzler volle Muße, diese inneren Ordnungen in Preußen durchzuführen, und er hat in der That dem preußischen Beamtenthum jene Grundlage gegeben, auf der es seine jetzt allgemein anerkannten Vorzüge entwickeln konnte.

Jene Denkschrift hatte er in Gemeinschaft mit Altenstein und Niebuhr ausgearbeitet, die er ebenso wie Schön und Stägemann dem König als ausgezeichnete Beamte empfahl, doch für die preußische Reform-Aera wird man mehr als früher und in gleicher Linie mit dem Namen Stein’s denjenigen Hardenberg’s nennen müssen. Auch bei der Verordnung vom 22. Mai 1815, welche [136] eine allgemeine Staatsverfassung im Zusammenhang mit den bereits vorhandenen oder zu bildenden ständischen Einrichtungen der verschiedenen Landschaften für Preußen verheißt, wirkten Hardenberg und Stein zusammen.

Ranke schließt seine Schrift mit einer interessanten Parallele zwischen den beiden Staatsmännern. In Stein lebte der Impuls ursprünglicher Gedanken und Gefühle, in Hardenberg mehr Empfänglichkeit für die allgemeinen Tendenzen, welche die Welt beherrschten. Stein war ein gläubiger Orthodoxer; Hardenberg’s Religiosität hatte mehr einen philosophischen Anstrich; er war ein Mann der allgemeinen Bildung. Stein dachte die Kirche aufrechtzuhalten; Hardenberg verwandte sich für die Universität; Stein hatte mehr aristokratische, Hardenberg mehr demokratische Sympathien, doch hätte keiner darüber das Recht des Ganzen oder den Willen des Königs aus den Augen gesetzt. Die kräftigsten Anregungen zu einer populären Erhebung gegen Napoleon rühren von Stein her – Hardenberg war ihnen nicht entgegen, aber er suchte sie zu mäßigen. Hauptsächlich von Stein ist die Allianz zwischen Rußland und Preußen zum Zwecke einer unmittelbaren Waffenerhebung angebahnt und durchgesetzt worden. Daraus entsprang der Entschluß, der französischen Herrschaft von Grund aus ein Ende zu machen und Napoleon zu stürzen. Eine großartigere Wirksamkeit läßt sich kaum denken. Aber ohne Hardenberg wäre sie doch nicht zum Ziele gelangt. Die ganze Geschicklichkeit eines geübten Diplomaten gehörte dazu, um dem preußischen Staate für seine Wiedererhebung Raum zu verschaffen und dabei doch die Feindseligkeit des übermächtigen Gegners nicht vorzeitig zu erwecken. Wenn in den Augen der Nachwelt Stein als der Größere erscheint, so rührt das daher, daß er sich weniger auf den gewohnten Bahnen bewegte und einen moralischen Schwung besaß, welcher Ehrfurcht erweckte; es war etwas an ihm, das einen großen Mann charakterisirt. Von Hardenberg läßt sich das nicht sagen, aber er hatte den Schwung des politischen Gedankens und alle die unbeugsame Zähigkeit und Unverdrossenheit, die dazu gehört, ihn zu verwirklichen. Von Allem, was ihm gelang, möchte das Vornehmste sein, daß er die Idee einer Coalition gegen die Obermacht Napoleon’s, mit der er sich von jeher getragen hatte, in dem rechten Momente wieder aufnahm und durchzuführen wußte. Davon aber hing die Wiederherstellung Preußens ab. Um Preußen, als Staat betrachtet, hat Hardenberg sich ein nicht hoch genug anzuschlagendes Verdienst erworben. Nach dem großen Kampfe ließ er sein ganzes Bestreben sein, die Einheit des gleichsam umgeschaffenen Staates fest zu begründen. Mit aller Energie zeichnete er ihm auch die Bahnen der Zukunft vor, durch jene Verordnungen, welche die Vermehrung der Staatsschulden an die Einwilligung der Reichsstände knüpfte.

„Tiefer als Hardenberg,“ sagt der Altmeister unserer Geschichtsschreibung am Schluß, „hatte noch niemals ein Staatsmann seinen Namen in die ehernen Tafeln der preußischen Geschichte eingegraben.“

Rudolf Gottschall.

Der kleine Bernardino in Rom.
Nach dem photographirten Gemälde N. Schmitt’s auf Holz gezeichnet von Ad. Neumann.




Aus dem Herzensleben unseres Lieblingsdichters.
Von Fr. Helbig.
IV.

Selbst räumlich hat sich Schiller in seiner Phantasie das Verhältniß, das gemeinschaftliche Zusammenleben der Drei zurecht gelegt. „Ich weiß Euch in meinem Zimmer. Du, Caroline, bist am Clavier, und Lottchen arbeitet neben Dir, und aus dem Spiegel, der mir gegenüber hängt, sehe ich Euch Beide. Ich lege die Feder weg, um mich an Euren schlagenden Herzen lebendig zu überzeugen, daß ich Euch habe, daß nichts, nichts Euch mir wieder entreißen kann. Ich erwache mit dem Bewußtsein, daß ich Euch finde, und mit dem Bewußtsein, daß ich Euch morgen finde, schlummere ich ein. Der Genuß wird mir nur durch die Hoffnung unterbrochen und die süße Hoffnung nur durch die Erfüllung, und getragen von diesem himmlischen Paare verfliegt unser goldenes Leben.“

Die Erscheinung dieser Doppelliebe ist so einzig in ihrem Wesen, daß die Geschichte des menschlichen Herzens kaum eine zweite wird aufzuweisen haben. Die Lösung dieses psychologischen Räthsels hat Verehrer und Biographen Schiller’s schon mannigfach beschäftigt. Schiller gesteht es sich einmal selbst, daß [137] die Welt diesem Verhältnisse kein rechtes Verständniß entgegen bringen werde. „Daß allerlei über unser Verhältniß gesprochen würde, war zu erwarten. Hätte man uns erst in unserem engeren Kreise beobachtet, wo wir Drei ohne Zeugen waren, wer hätte dieses zarte Verhältniß begriffen? Eine freie schöne Seele gehört dazu, unsere persönliche Stellung gegen einander aufzufassen; die ganze Geschichte unserer keimenden und aufblühenden Werbung unter einander müßte man übersehen haben und seinen Sinn genug haben, diese Erscheinungen in uns auszulegen.“

Doch erleichtert er dem Forscher die Schwierigkeit der Lösung, indem er selbst einmal in die innere Struktur des Dreibundes uns hineinblicken läßt, indem er bemüht ist, dieselbe gleichsam für sich selbst dialektisch zu zersetzen. „Wie könnte ich mich,“ schreibt er in einem Briefe aus jener Zeit, „zwischen Euch Beiden meines Daseins freuen, wie könnte ich meiner eigenen Seele immer mächtig genug bleiben, wenn meine Gefühle für Euch Beide, für Jedes von Euch nicht die höchste Sicherheit hätten, daß ich dem Andern nicht entziehe, was ich dem Einen bin. Frei und sicher bewegt sich meine Seele unter Euch, und immer liebevoller kommt sie von Einem zu dem Andern zurück; derselbe Lichtstrahl – laßt mir diese stolz scheinende Vergleichung – derselbe Stern, der nur verschieden wiederscheint aus verschiedenen Spiegeln.“

Was Schiller hier nur andeutet, das bestand in der That. Es bestand bei aller harmonischen Ueberdeckung doch im Grunde eine wesentliche Verschiedenheit in den Einzelbeziehungen der Drei. Aus dem ganzen Verlaufe seiner Entwickelung erhalten wir zunächst die volle Gewißheit, daß sich das Verhältniß zwischen Lottchen und Schiller von vornherein auf der Basis einer wirklichen Liebesneigung bewegte und naturgemäß fortentwickelte. Es war der Proceß einer natürlichen reinen Herzensliebe, der sich, und zwar ganz seinem Charakter nach, mehr geheim als offen bis zum beglückenden Geständnisse abspann. Unzweifelhaft trifft dies nicht blos bei Lottchen, sondern auch bei Schiller zu. Selbst mitten durch die spätere dithyrambische Feier des Dualismus bricht diese wirkliche Liebesflamme hervor. Wenn er in einem Briefe vom 6. November 1789 an Lottchen schreibt: „Dein liebes Bild schwebt mir vor Augen, und ich umschließe es mit Sehnsucht und Liebe; es wird mich vielleicht in einem Traum von Dir hinüber begleiten. Meine liebe theure Lotte, lebe wohl!“ so sind dies Worte, wie sie nur die naturwüchsige Liebe mit ihrem tiefen Sehnsuchtsdrange nach der Geliebten redet, Naturlaute, wie sie in gleicher Weise Carolinen gegenüber nie gefallen sind.

So nimmt auch Lottchen Schiller stets ganz und allein für sich in Anspruch. Die wahre Liebe kennt keine Theilung. Nur an einer einzigen Stelle ihrer Briefe vertauscht sie das Ich mit dem Wir, indem sie schreibt: „O gewiß, wir werden es nicht bereuen, alles Glück unseres Lebens auf Deine Liebe gesetzt zu haben.“

„Du bist mein!“ sagt sie dafür an einer andern und an vielen ähnlichen Stellen. „Ich trage das schöne Gefühl, Dir anzugehören, in meinem Herzen mit süßer Gewißheit. Und gingst Du auf Jahre von uns, unsere Seelen würden sich nicht fremder.“

Dagegen ruhte das Verhältniß Schiller’s zu Carolinen auf einer ganz anderen Basis. Es lag etwas geistig Verwandtes in beiden Naturen, das Beide anzog. Eine solche Aehnlichkeit der Geister erzeugt bei längerer Reibung das Feuer einer gewissen Sympathie; diese Sympathie trägt aber noch nicht den Charakter der natürlichen Liebe, so nah sie auch mit derselben verwandt zu sein scheint. Es entsteht wohl das Verlangen, das Bedürfniß nach dem geistigen Umgang mit dem Andern, nicht aber entsteht jener tiefe Sehnsuchtsdrang, jenes namenlose Sehnen, das das Herz zum Herzen zwingt. Bedeutungsvoll wird hier die Schilderung, welche Schiller in einem der ersten Briefe nach seiner Liebeserklärung gegen Lottchen über Carolinen entwirft. „Unsere Caroline,“ sagt er von ihr, „habe ich blos ahnen können. Ihr Geist überraschte mich; in ihr ist etwas Edles, Feines, das man idealisch nennen möchte. Wie wahr und tief sie fühlt, müßte ein längerer Umgang mich lehren; daß ich im Voraus daran glaube, versteht sich, aber die Erscheinung ging an mir zu flüchtig vorüber, und ihr ganzes Wesen hat einen gewissen Glanz, der mich blendet. Sie ist ein ungewöhnliches Geschöpf, und wollte der Himmel, es würde wahr, und sie würde auf ewig die Unsere!“ Dies ergiebt deutlich, daß sein innerstes Gefühl von ihr nicht gefangen war, sondern nur ihr ungewöhnlicher Geist ihn geblendet hatte.

Da nun Lottchen ihm das Gleiche nicht geben konnte, da die Schwester das vor ihr voraus hatte, so erschien das Wesen jener als eine nothwendige Ergänzung des Wesens der Geliebten. In der Verbindung beider Charakter-Elemente, bot sich ihm etwas wirklich Vollkommenes. So wurde diese Verbindung ihm zum Ideale, an dessen Verwirklichung er unbefangen glaubte. Wie er nun die beiden Objecte seiner Neigung gleichsam zu einem verschmolz, so suchte er auch in gleicher Weise eine Verbindung seiner subjectiven Gefühle herbeizuführen. Gleich wie er seinen

Neapolitanische Bettlerin.
Nach dem photographirten Gemälde N. Schmitt’s auf Holz gezeichnet von Ad. Neumann.

[138] geistigen Reichthum auch Lottchen mittheilte, übertrug er auch sein seelisch-sinnliches Liebesgefühl zu Lottchen auf die Schwester. Er schritt auf dieser gefahrvollen Bahn mit der ganzen ahnungslosen Naivetät des Genies, und doch befand er sich in Bezug auf seine Liebe zu Carolinen in jener Selbsttäuschung, der phantasievolle Naturen so oft unterliegen. In Wahrheit hat er Carolinen nicht geliebt. Die fast zur Tradition gewordene Annahme, daß er Carolinen geliebt und Lottchen geheirathet habe, wird durch nichts begründet, wohl aber durch den Schiller-Lotte’schen Briefwechsel auf’s Genaueste widerlegt. Seine Annäherung an Caroline war deshalb eine äußerlich stärkere, weil zwischen ihr und ihm eine größere Mannigfaltigkeit von Beziehungen bestand. Sein Verkehr mit ihr war ein lebhafterer, weil er äußerlich sich mehr aussprach, weil er ihr von vornherein weit unbefangener gegenübertrat. Das spricht er Lotte gegenüber einmal selbst aus, nachdem diese ihm ihre frühere Furcht darüber, daß die Schwester ihm mehr sein könne, gestanden hatte: „Caroline ist mir näher im Alter und darum auch gleicher in der Form unserer Gefühle und Gedanken. Sie hat mehr Empfindungen in mir zur Sprache gebracht, als Du, meine Lotte – aber ich wünschte nicht um Alles, daß dieses anders wäre, daß Du anders wärst, als Du bist. Was Caroline vor Dir voraus hat,“ fährt er dann fort, „mußt Du von mir empfangen. Deine Seele muß sich in meiner Liebe entfalten, und mein Geschöpf mußt Du sein. Deine Blüthe muß in den Frühling meiner Liebe fallen. Hätten wir uns später gefunden, so hättest Du mir diese schöne Freude vorweggenommen, Dich für mich aufblühen zu sehen.“

Auch hier spricht sich seine Liebe zu Lottchen wahr und echt aus, und kommt ihm das eigentliche Verhältnis zu beiden Schwestern einmal klar in’s Bewußtsein.

Welche Stellung aber nahm Caroline zu Schiller ein? Leider fehlen uns gerade aus der Zeit, wo der Dualismus eine etwas leidenschaftlichere Färbung annahm, die meisten Briefe Carolinens. Daß solche geschrieben wurden, geht aus verschiedenen Andeutungen in den Briefen Schiller’s hervor. Ebenso zweifellos dürfte es sein, daß Caroline dieselben eigenhändig vernichtete. Ging sie doch sogar so weit, daß sie in den Briefen Schiller’s an beide Schwestern Correcturen vornahm, indem sie an die Stelle des Duals den Singular setzte, damit es den Anschein gewinne, als wären sie nur an Lottchen gerichtet, daß sie die „Theuere Caroline“ in eine „Theuere Lotte“ umschrieb. Es erinnert dies lebhaft an eine Aeußerung, welche sie bereits vor ihrer Bekanntschaft mit Schiller ihrem Vetter und späteren Gatten Wolzogen gegenüber brieflich kundgab. „Es ist,“ schreibt sie da, „mein Grundsatz, daß eine Correspondenz zwischen Personen, die sich wirklich dem Herzen nach etwas sind, blos unter ihnen Beiden bleiben muß. Niemand kann sich in die Eigenheit der Lage, die unter ihnen ist, versetzen.“

Zu derselben Zeit war es, als sie den Ausspruch that: „Mein Herz bedarf der Liebe, innigerer, reinerer, wahrerer Liebe, als die meisten Menschen sie geben.“ Und noch in den späteren Tagen ihres Lebens vertraut sie ihrem Tagebuche das Geständniß an: „Größe zu lieben, war meine Seligkeit.“ Ihre Ehe mit Beulwitz gab ihr nach keiner dieser beiden Richtungen hin eine wenn auch nur annähernde Befriedigung. Ihm gehörte weder ihr Herz noch ihr Geist. Wie tief ihre Abneigung gegen ihren Gatten sein mußte, geht aus einer brieflichen Aeußerung Schiller’s an Körner hervor, wonach sie nicht im Stande gewesen sein soll, mit ihm allein zu leben, ohne die Vermittelung von Schwester und Mutter.

Es ist deshalb wohl anzunehmen, daß in ihrem Verhältnisse zu Schiller, das ihrem ganzen Wesen eine so hohe Befriedigung verlieh, ihr Herz tief mit betroffen war. Aber ihr starker Geist hatte früh die Herrschaft über das Herz und seine Leidenschaft erlangt; in dem Martyrium ihrer glücklosen Ehe hatte er sich in dieser Herrschaft geübt. Sie hatte gelernt, ihre Gefühle im Wege der Abstraction und durch dialektische Mittel gleichsam zu vergeistigen und damit sie der Leidenschaft zu entkleiden. So schrieb sie noch in früher Jugend : „Es ist mir gewiß, daß eine Kraft in der Seele, des Menschen ist, die ihn vor allzu heftigen Eindrücken schützt, die ihn von ungestümem Wünschen und Streben nach Allem, was nicht in dem Kreise seines Wirkens liegt, abhält. … O, mein ganzes Leben dient dazu, diese Kraft zu üben, denn wie selten werden unsere Wünsche erhört!“

Als sie das entscheidende Wort sprach, das Schiller Lotten für immer zuführte, that sie es wohl nicht am wenigsten mit um deßwillen, weil ihr Interesse für Schiller damals hoch in’s Wachsen gekommen war und sie sich ihres Herzens nun nicht mehr sicher glaubte. Schiller ehrte wohl diese Großherzigkeit; vielleicht hatte sie in jenem Briefe, der Schiller „so tief ergriffen und bewegt“, in welchem sie ihn „in den ganzen Himmel ihrer Seele hatte blicken lassen“, ihm dieselbe aufgedeckt, und das meinte er ihr mit einer gleichen Hochherzigkeit vergelten zu müssen, indem er den Reichthum seines Herzens gleichmäßig zwischen ihr und der Schwester vertheilte. Sie wehrte ihm dieses Beginnen nicht; denn sie wußte, daß seine Leidenschaft ihr nach dem Obsieg ihres Geistes über ihr Herz nicht mehr gefährlich werden konnte, vielleicht durchschaute ihr kluger Sinn auch, daß diese Leidenschaft Schiller’s keine echte war, sicher aber, daß das Schiller’sche Ideal des Herzensdualismus nur ein vorüberhuschender Traum war, wie alle Ideale unter der Sonne.

Sie kannte ja auch das ganze hoch und rein angelegte Wesen Schiller’s; sie wußte, daß „hinter ihm im wesenlosen Scheine lag, was uns Alle bändigt, das Gemeine“, und hatte darin eine Bürgschaft wider alle Grenzüberschreitung. So war es möglich, daß das Verhältniß andauern konnte, ohne die Gefahr eines Conflictes heraufzubeschwören, ohne die geringste Einbuße an der Makellosigkeit der Charaktere. Die lange Gewohnheit des Zusammenlebens hatte es geheiligt; unbegrenzte Offenheit, ein aller Heimlichkeit fernes gsgenseitiges Vertrauen schützte es vor dem Eindringen der finsteren Geister des Argwohnes, des Neides, der Eifersucht.

Im Hafen der Ruhe.

Es waren keine geringen Sorgen, welche jetzt Schiller und die Schwestern gemeinsam beschäftigten, die Sorgen um die Begründung einer auskömmlichen häuslichen Existenz. Sie warfen wechselnde Schatten auf die hellen Wege, welche die Drei wandelten. Die buntesten Pläne wurden erdacht; durchsprochen, festgehalten und wieder verworfen, bis endlich der Herzog Karl August von Weimar durch einen festen, wenn auch nur kargen Jahresgehalt wenigstens eine Basis gab, auf der der Nestbau weiter geführt werden konnte. Nun wurde auch die Einwilligung der Mutter eingeholt, der man durch einige für das Gesehenwerden geschriebene Briefe, und begünstigt durch deren fortwährenden Aufenthalt am Hofe, wo sie eine Hofmeisterinstelle bekleidete, die Verlobung noch glücklich verheimlicht hatte. Nachdem nun so Alles zur Hochzeit vorgerichtet worden war, nimmt ein gar lustiger Geselle in den gegenseitigen Briefen seine Einkehr, ein neckischer Humor. Dann ging es rasch und resolut in die Ehe hinein, noch in der Zeit der Fasten und nach einem einfürallemaligen Aufgebote.

Von dieser Trauung haben wir vor Zeiten in diesen Blättern schon berichtet.

Die Doppelliebe fand nun ihr natürliches und voraussichtliches Ende. Sie ließ sich denn doch nicht so verwirklichen, wie es im Haupte des Dichters stand. Selbst das unter Berücksichtigung „aller Anforderungen der Decenz“ von Schiller arrangirte Zusammenwohnen unter einem Dache kam nicht zur Ausführung. Caroline blieb bei der Mutter. Noch schreibt er ihr in einem Briefe vom 3. Mai (1790) die warmen Worte: „Ich kann nicht sagen, daß wir getrennt sind von Dir. Du bist mein, wo Du auch immer bist. Freilich ist es anders, wenn meine ganze Seele in Worten und Augen sich gegen Dich ausbreiten darf, aber nur die ungewisse Sehnsucht macht die Entbehrung für mich zum Schmerze. Doch könntest Du immer an Deine Hierherreise denken.“

Es war der letzte Ausklang des Herzensdualismus. Er fand keinen Wiederhall mehr und bleibt für immer verklungen. Ruhige, verständige Freundschaft löste ihn ab.

Lottchen ließ es auch nicht fehlen, ihm die mangelnde Ergänzung, die er einst in Carolinen fand, in sich selbst zu gewähren oder sie ihn doch nicht vermissen zu lassen. „Ich werde ihm,“ schrieb sie an den Vetter Wolzogen, der ihr einst den Geliebten zugeführt hatte, „durch meine Liebe sein Leben immer freundlich erhalten, und er ist glücklich, sagt mir mein Herz.“

Und er war es. „Ich fühle mich glücklich,“ gesteht er Freund Körner, „Alles überzeugt mich, daß meine Frau es durch mich bleiben wird. Was für ein schönes Leben führe ich jetzt! [139] Ich sehe mit fröhlichem Geiste um mich her, und mein Herz findet eine immerwährende sanfte Befriedigung außer sich, mein Geist eine so schöne Nahrung und Erholung. Mein Dasein ist in eine harmonische Gleichheit gerückt; nicht leidenschaftlich gespannt, aber ruhig und hell gehen mir die Tage dahin.“

Und später schrieb er an Wilhelm von Wolzogen: „Meine Lotte wird mir mit jedem Tage theurer. Ich kann sagen, daß ich erst jetzt mein Leben lieb habe, seitdem das häusliche Glück es mir verschönert.“

Den ganzen Werth seiner Lotte lernte er aber erst kennen, als schwere körperliche Leiden über ihn hereinbrachen. „Ihr liebes Leben und Weben um mich herum, die kindliche Reinheit ihrer Seele und die Innigkeit ihrer Liebe giebt mir selbst eine Ruhe und Harmonie, die bei meinem hypochondrischen Uebel ohne diesen Umstand fast unmöglich wäre. Wären wir Beide nur gesund, wir brauchten nichts weiter, um zu leben wie die Götter.“

Auch geistig ihm nahe zu kommen, sein „Geschöpf“ zu werden, war sie redlich bestrebt, und so konnte sie zwei Monate nach seinem frühen Tode das Resumé ihres Lebens mit ihm dahin zusammenfassen:

„Die Jahre verbanden uns immer fester, denn er fühlte, daß ich durch das Leben mit ihm seine Ansichten auf meinen eigenen Weg gewann und ihn verstand wie keiner seiner Freunde. Ich war ihm so nöthig zu seiner Existenz wie er mir. Er freute sich, wenn ich mit ihm zufrieden war, wenn ich ihn verstand. Dieses geistige Mitwirken, Fortschreiten war ein Band, das uns immer fester verband.“

Ja, er war reich beglückt, reich belohnt in seinem Lieben, unser Schiller. Ein gnadenvolles Schicksal lieh ihm damit einen versöhnenden Ausgleich für manches schwere Leid, das ihm der herbe Kampf um das Dasein reichlicher zollte als seinem hierin beglückteren Freunde Goethe.




Blätter und Blüthen.


Der Uhrendieb. Erinnerung an den letzten Krieg. Nach einem starken Marsch, der uns über Avenay geführt hatte, war unsere Compagnie am Nachmittag des 8. September 1870 in’s Quartier nach Mutigny gekommen, einem kleinen Dorfe, welches bis dahin deutsche Einquartierung noch nicht gehabt hatte. Malerisch auf einer kleinen Anhöhe gelegen, wurde es umgeben von den herrlichsten Weingeländen, aus denen uns strotzende Champagnertrauben verlockend entgegen lachten.

Mein Quartierwirth, Victor Jobin, war ein armer, aber braver Gärtner, der sehr erfreut war und mittheilsam wurde, als er sah, daß der erste der so sehr gefürchteten Preußen, welcher seine Schwelle überschritt, nicht nur ein Mensch war, wie er selbst, sondern sich noch dazu ganz leidlich mit ihm in seiner Muttersprache zu verständigen wußte. Bald war dies in der ganzen Nachbarschaft bekannt geworden, und nun kamen eine Menge Einwohner zu mir, die sich mit der Einquartierung nicht verständigen konnten, oder sonst Anliegen oder Beschwerden hatten, um mich als Dolmetscher zu benutzen. Müde, wie ich war, suchte ich mich der schnatternden Gesellschaft zu entledigen, als plötzlich ein heftiges Geschrei vor dem Hause entstand und bald darauf ein Dörfler in blauer Blouse und mächtigen Holzschuhen in mein Zimmer polterte und mir in höchster Erregung auseinandersetzte, daß ihm einer der bei ihm einquartierten Soldaten eine Taschenuhr gestohlen habe. Auf meine Frage, ob er den Thäter bezeichnen könne, antwortete er mir mit einem Schwall von Worten, denen zu folgen ich Mühe hatte, daß er denselben zwar nicht genau angeben könne, daß es aber einer der bei ihm wohnenden Soldaten gethan haben müsse. Er habe den Letztern kurz vorher und in Gegenwart eines Nachbarn die betreffende Uhr, welche er in einem unverschlossenen Tischkasten verwahre, gezeigt und die alte Arbeit daran bewundern lassen; dann habe er die Uhr wieder an ihren Platz gelegt, jedoch eine halbe Stunde später sei sie verschwunden gewesen. Ich forschte weiter, ob er sicher sei, daß nicht etwa der mit anwesend gewesene Nachbar der Dieb sein könne, und machte den Bestohlenen auf die unangenehmen Folgen aufmerksam, die eine unbegründete Anklage gegen unsere Leute für ihn haben könne; doch er behauptete stets von Neuem, der Nachbar sei ein alter guter Freund und selbst reich genug und nur die Soldaten seien die Diebe.

Es blieb mir sonach nichts übrig, als zum Hauptmann zu eilen, ihm vom Vorgekommenen Meldung zu machen und mir weitere Instructionen zu erbitten. Der Compagniechef ertheilte mir die Weisung, zunächst die Corporalschaft, welcher die Beschuldigten angehörten, antreten zu lassen und die Taschen der Leute, sowie gleichzeitig deren Tornister zu visitiren. Falls die Uhr nicht zum Vorschein käme, solle dann die ganze Compagnie antreten und die Visitation nochmals im großen Maßstabe vorgenommen werden.

Da meine Nachforschungen in der Corporalschaft nicht zur Ermittelung des Diebes führten, so mußte ich schließlich die ganze Compagnie in strömendem Regen antreten lassen, indem ich die Mannschaften mit der Anschuldigung bekannt machte und zugleich aufforderte, mir den etwa bekannten Thäter namhaft zu machen. Ein unwilliges Murren aus den Reihen zeigte mir, wie sehr das Ehrgefühl der braven Schlesier durch den ausgesprochenen Verdacht verletzt worden war, und ich durfte mit Bestimmtheit annehmen, daß man mir den Dieb nennen würde, wenn solcher dem Einen oder dem Andern bekannt und überhaupt unter unsern Leuten sein sollte. Indessen nichts Derartiges erfolgte; die Visitation der Leute wie der Tornister blieb ohne jeden Erfolg und die Uhr war und blieb verschwunden.

Ich war einigermaßen in Verlegenheit wegen dieses Mißerfolges, und zwar nicht sowohl dem bestohlenen Bauer und den nach Hunderten zählenden Zuschauern, sondern auch den eigenen Leuten gegenüber, deren Unwille um so größer wurde, je mehr der anhaltende heftige Regen sie bis auf die Haut durchnäßte.

Nochmals wandte ich mich an den Bestohlenen, der in der Nähe stand und sich nicht den Triumph versagen mochte, die Uhr aus der Tasche eines der verhaßten Prussiens zum Vorschein kommen zu sehen, ob nicht möglicher Weise doch sein Nachbar der Thäter sein könne, aber mit Beharrlichkeit wies er diese Möglichkeit auf das Entschiedenste zurück, indem er dessen Ehrlichkeit außer Frage stellte. Doch der erwachsene Zweifel ließ mir jetzt keine Ruhe mehr, und so forderte ich den Kläger auf, mich zu seinem Freunde zu begleiten.

Einige handfeste Unterofficiere bedeutete ich, uns zu folgen, und bald fanden wir den Gesuchten inmitten einer Anzahl Bauern, denen er, heftig gesticulirend, etwas erzählte, vielleicht den Uhrendiebstahl, der rasch im ganzen Dorfe bekannt geworden war. Der Mann machte einen entschieden ungünstigen Eindruck, und es hätte kaum des momentanen Zusammenschreckens bei unserm Anblicke bedurft, um uns auf den ersten Blick erkennen zu lassen, daß wir den Dieb vor uns hatten. Ein Wink, und zwei meiner Leute hatten den Burschen am Kragen, während gleichzeitig ein Dritter in seine weiten Hosentaschen fuhr und die gestohlene Uhr zum Vorscheine brachte. Die Menge verstummte und suchte sich still und so rasch wie möglich zu entfernen, denn die Mienen meiner Begleitung deuteten auf nichts Gutes, und auch der Bestohlene, sprachlos vor Staunen, hätte sich jetzt gern aus dem Staube gemacht, wenn nicht die Faust eines meiner Leute ihn ebenfalls an die Stelle gebannt hätte. Es waren keine Schmeicheleien, welche der Unglückliche auf dem Wege zum Quartiere des Hauptmanns zu hören – wenn auch nicht zu verstehen bekam, und mancher Puff dürfte ihm einen Vorgeschmack von dem gegeben haben, was ihm noch bevorstand.

Der Hauptmann war anfangs selbst im Zweifel, was mit dem Burschen anzufangen sei. Sie einsperren zu lassen, das hätte keinen Zweck gehabt, weil die Compagnie am nächsten Morgen mit dem Frühesten wieder abmarschiren mußte. Sie straflos laufen zu lassen, wäre gegen jedes Gerechtigkeitsgefühl gewesen; hiergegen sprachen auch die Mienen unserer vor dem Quartier angesammelten Leute, welche auf das Entschiedenste die Forderung einer entsprechenden Genugthuung für die schmähliche Anschuldigung ausdrückten.

Die beiden Bauern, der Bestohlene und der Dieb, hatten sich inzwischen etwas gefaßt, und Letzterer hatte nun die Frechheit zu behaupten, er habe die Uhr nur genommen, um solche vor den lüsternen Augen und Fäusten der Soldaten in Sicherheit zu bringen, habe aber die feste Absicht gehabt, dieselbe ihrem Besitzer nach unserm Abmarsch wieder zuzustellen. Dieser Letztere, der es augenscheinlich mit seinem reichen Nachbar nicht verderben wollte, stimmte dieser Controverse jetzt eifrigst bei.

Diese Frechheit mußte natürlich dem Fasse den Boden ausstoßen, und sie zumeist verhalf den Beiden zu der gerechten Strafe, die nun folgte. Rasch hatte sich die zuerst verdächtigte Corporalschaft mit tüchtigen Knütteln versehen, alsdann vor der Thür eine offene Gasse gebildet, in welche endlich die beiden Delinquenten hineingestoßen wurden. Was nun folgte, ist unschwer zu errathen: die Execution war streng, aber gerecht, und jedenfalls die wirksamste Strafe, die wir im Augenblicke verhängen konnten.

Die Franzosen können sich heute noch nicht über die deutschen Pendulen-Räuber beruhigen, denen sie mit beispielloser Frechheit alle möglichen Schlechtigkeiten andichten; sollten nicht tausend andere Fälle in ganz ähnlicher Weise ihre Erklärung finden, wenn man sich nur die Mühe nehmen wollte, ihnen näher auf den Grund zu gehen?

Collmann, Reserveofficier. 


Für Mütter. Nach der Impfung. Der fünfzehnte Paragraph der Instruction für Impfärzte lautet: „Nach Ausführung der Impfung ertheilt der Impfarzt den Angehörigen des Impflings, beziehentlich diesem selbst, die erforderlichen Belehrungen bezüglich der während des Verlaufes der Kuhpocken zu beobachtenden Maßregeln.“

Das Impfgesetz sucht zwar durch diese wohlgemeinte Verordnung den Nachtheilen zu begegnen, welche die Impfung in seltenen Fällen, besonders bei falscher Behandlung der Schutzpocken, mit sich bringt, doch kann der obige Paragraph in seiner jetzigen Fassung nur bei Impfungen in der Privatpraxis von Erfolg begleitet sein, bei den Massenimpfungen dagegen, wo die Kenntniß desselben gerade besonders nothwendig ist, verhindert die Menge der Impflinge seine genaue Ausführung. Der gewöhnliche Verlauf der Schutzpocken ist bekannt: Am dritten Tage gelinde Röthung an der Impfstelle; auf der gerötheten Hautpartie entwickelt sich eine kleine wasserhelle Blase, welche an dem achten Tage zu ihrem vollen Umfange gelangt. Der Inhalt trübt sich darauf, trocknet zu einer Kruste ein, und unter dieser bleibt die erst rothe, später weiße Impfnarbe zurück. Die Abweichungen, welche die normale Abheilung erleidet, sind in der Regel zweifacher Art. 1) Die beinahe stets um die Pusteln bestehende sonst [140] geringe Entzündungsröthe breitet sich weiter aus und ergreift schließlich bei sehr reizbarer Haut den ganzen Oberarm; 2) die Impfstellen fließen, besonders wenn vermittelst langer Querschnitte geimpft wurde, bei scrophulösen, blutarmen Kindern zu einem unter Umständen thalergroßen, langsam heilenden Geschwüre zusammen. An dieser verderblichen Ausdehnung, welche der sonst so gutartige Proceß gewinnt, trägt aber nicht die Impfung, sondern allein das nicht rechtzeitige Einschreiten von Seiten der Mutter die Schuld. Schon vom Beginne an ist das beliebte Bedecken der Impfpusteln mit Fett oder Hirschtalg streng zu verwerfen. Im Sommer zersetzen sich die Fette rasch zu riechenden gährenden Stoffen, welche die wunde Stelle nur reizen und entzünden. Es muß dem Fette eine die Zersetzung hindernde Substanz beigesetzt werden, am besten Carbolsäure (ein halbes Gramm Carbolsäure aus dreißig Gramm Fett). Mit dieser Salbe wird vom dritten Tage an das zweimal täglich zu erneuernde Leinwandstückchen dünn bestrichen, darüber eine leinene Binde nicht zu fest gebunden und, um jede Reibung zu verhindern, der Arm mit unter dem Kleid befestigt. Sollte sich dennoch die Entzündungsröthe oder Eiterung steigern, so bringen kalte Umschläge, wenn möglich mit Eis gemischt (Servietten in das Wasser getaucht, ausgedrückt, um den Arm geschlungen, mit einem wollenen Tuche bedeckt und höchstens eine Viertelstunde liegen gelassene dieselben binnen Kurzem zum Stillstande. Selten entwickeln sich gleiche Impfpusteln wie am Arme auch an anderen Körperstellen, sie gelangen gleich diesen gefahrlos zur Abheilung.

Ungerechtfertigt ist die Furcht so mancher Mutter vor dem Abimpfen; die Oberfläche der Pustel, ein todtes Stückchen Haut, wird nur angestochen; der Inhalt tritt von selbst heraus, ohne den geringsten Nachtheil oder Schmerz für das abgeimpfte Kind hervorzurufen. Leider herrscht aber heute die Ansicht, die Impfung habe den schlechten Zustand unserer Generation verschuldet; man bedenkt nicht, daß die angeborenen Körperstörungen, wie Scrophulose und englische Krankheit, sich erst nach dem ersten Jahre offenbaren, und eine unparteiische Beobachtung zeigt genügend andere, freilich für die Eltern nicht so schmeichelhafte Entstehungsursachen wie die Impfung. Der Arzt möchte verzweifeln, wenn eine vollständig scrophulöse Mutter ihm ihr augenkrankes Kind mit den Worten bringt. „Sehen Sie, Herr Doctor, das kommt nur vom Impfen.“

Vor Kurzem verschoben wir die Impfung eines Kindes wegen eines anhaltenden Hustens. Zufällig entwickelte sich bei dem bis dahin vollständig gesunden Knaben (Vater aber schwindsüchtig) gerade unterhalb der Impfstelle am Arme eine scrophulöse Drüseneiterung, welche sogar die Mutter zu dem Ausspruche veranlaßt: „Wie gut, daß Sie ihn nicht impften! Ich hätte sicher nur hierin den Grund der Erkrankung gesucht.“ Die „Gartenlaube“ hat nicht die Pflicht, wie immer noch Anfragen fordern, die Scheingründe der Impfgegner zu besprechen. Dagegen möchten wir die Letzteren bitten, vorurtheilsfreier als zeither in manchen Fragen der Medicin zu urtheilen und vor allem endlich die Spitzpocken von ihrer Pockenstatistik auszuschließen. Gegen letztere übrigens ungefährliche Kinderkrankheit, welche, wie jetzt wissenschaftlich feststeht, nichts anderes mit den Pocken gemein hat, als eine oft sehr große Aehnlichkeit, kann die Impfung ebenso wenig schützen, wie gegen Masern und Scharlach. Im Interesse der Impfung ist es aber dringend wünschenswert, die oben beschriebenen Abweichungen dadurch zu vermeiden, daß:

a. entweder in den Impflocalen gedruckte Verhaltungsmaßregeln ausliegen oder der Impfling, weil ein richtiges Verständniß solcher Verordnungen oft einige Schwierigkeit verursacht, noch zu einer kurzen dritten Besichtigung bestellt wird;

b. man sich an Stelle der immer noch vielfach üblichen langen Querschnitte überall kurzer, vollständig gefahrloser Längsschnittchen bediene.

Dr. -a-.






Johannes Scherr als Novellist. Wer Johannes Scherr bisher nur aus seinen zahlreichen Leistungen aus dem historischen, politischen und literarisch-historischen Gebiete kennen gelernt hat, der wird bei einigem Blicke für schriftstellerische Begabungen wohl längst erkannt oder herausgefunden haben, daß in der blutwarmen Eigenartigkeit dieses hervorragenden Geschichtsschreibers, dieses tapfern Kritikers und Publicisten auch das volle Zeug zu einem Poeten steckt. So scharf und lebendig finden sich in den Producten seiner wissenschaftlichen Arbeit schon alle die Züge ausgeprägt, deren Vereinigung auch das Talent des wirksamen dichterischen Schilderers, des eindrucksvollen Romanschriftstellers und Novellisten bildet. In der That hat denn auch Scherr auf dem Felde des freien poetischen Gestaltens sich hinlänglich bewährt und im Laufe der Jahre unsere novellistische Literatur mit einer ganzen Reihe werthvoller und anziehender Schöpfungen bereichert, die schon durch seine gedankenreiche Weltanschauung und umfassende Bildungstiefe sich empfehlen, welche zu allen Zeiten die unentbehrliche Grundlage auch alles bedeutsamen dichterischen Schaffens gewesen ist. Die Bücher haben aber ihre Geschicke wie die Menschen, und trotz aller nachdrücklichen Hinweisungen der Presse ließen manche äußerliche Zufälligkeiten die Erzählungen des beliebten Autors nicht zu einer so weiten Verbreitung gelangen, wie sie der Mehrzahl seiner anderweitigen Schriften geworden ist. Wir haben jedoch allen Grund zu der Hoffnung, daß dieser Bann sich jetzt lösen wird, seitdem eine tätige Hand (die Verlagshandlung von J. E. Günther in Leipzig) der Sache sich angenommen und eine Nebeneinanderstellung jener Schätze dem Publicum zu bequemerem Genusse dargeboten hat.

Vor uns liegen zu unserer Freude neun elegant gebundene und hübsch ausgestattete Bände dieser Sammlung Scherr’scher Novellen, eine bunte Mannigfaltigkeit von Gaben, nicht gleichartig allerdings in Bezug aus ihren Werth, hie und da auch unserer eigenen Auffassungs- und Empfindungsweise nicht entsprechend, meistens aber Erzeugnisse einer mächtigen Darstellungskraft, fesselnd durch Form und Gehalt, durchwärmt auch von dem mannhaften Ernst, dem reichen Gemüthsleben und dem urkräftig-drastischen Humor des charaktervollen Denkers und Dichters. Da ist zunächst „Michel, Geschichte eines Deutschen unserer Zeit,“ unter den Romanwerken Scherr’s wohl das älteste und am meisten bekannt gewordene, da es jetzt bereits in dritter Auflage erscheint. Wir müssen davon absehen, die sittliche und literarisch-ästhetische Bedeutung dieses vielseitigen Lebensgemäldes hier mit einigen Strichen bezeichnen zu wollen, gewiß aber würde es uns als ein Fortschritt in den Geschmacksrichtungen des Publicums erscheinen wenn für derartige Lectüre eine immer größere Empfänglichkeit sich zeigte. An den „Michel“ schließt sich sodann das siebenbändige „Novellenbuch“, dessen Stütze gleichfalls eine Perle Scherr’scher Darstellungskunst bildet, eine zweite Auflage der in urtheilsfähigen Kreisen längst hochgeschätzten culturgeschichtlichen Novelle „Schiller“ , so recht eine Lectüre für die Winterabende gebildeter deutscher Familien. In den weiteren Bänden folgt dann ein reicher Wechsel der verschiedensten größeren wie kleineren Erzählungen. Nicht jeder gerade dieser Leistungen und nicht allen Einzelheiten in jeder derselben vermögen wir unbedingt beizustimmen - eine selbstständig geartete Natur wie Scherr wird immer Manches zeigen, was eben nur als Ausfluß dieser Individualität berechtigt ist. Dennoch aber hat eine wiederholte Prüfung uns jetzt wiederum das Urteil bestätigt, daß dieses „Novellenbuch“ eine durchweg charakteristische und im Ganzen außerordentlich wert- und reizvolle Erscheinung ist. Das Gebotene wirkt meistens durch das eigenthümliche Gepräge der Schilderung, durch den von dem Autor ausstrahlenden Zauber des Colorits, der Ausführung und Auffassung. Auf seinen Wanderungen und Erholungsreisen in das Schweizergebirge, inmitten einer großartigen, meisterhaft von ihm geschilderten Naturscenerie, hat er vielfach die Menschengestalten und Lebensläufe, die Cultur- und Gesellschaftsbilder gefunden, die er mit frischester Lebendigkeit und in stets bedeutsamer Weise vor uns ausrollt. Ergreifende und idyllische Gemälde aus der Abgeschiedenheit des Dorflebens, Geschichten aus der philiströsen Enge der kleinen Städte wechseln da mit weiten Ausblicken in die brausende und glänzende Welt des modernen Bewegens, und aus aller dieser Mannigfaltigkeit der Farben und Gestalten blicken uns in eigenthümlicher poesie- und humorvoller Beleuchtung die ernsten Fragen der Zeit, die großen Probleme des Menschendaseins entgegen. - Die Romane und Novellen Scherr’s haben einen Eroberungszug angetreten; wir glauben, daß ihnen der Sieg nicht fehlen kann.

-l.






Chemisch-physikalische Ueberraschungen. Auf dem letzten Weihnachts- und Neujahrsmarkt tauchten unter andern Neuigkeiten auch sogenannte thermographische Zauberbilder und Neujahrswünsche auf, weiße Blättchen Papier, aus denen sich erst beim Erwärmen Märchenbilder, Scherzfiguren, humoristische Neujahrswünsche etc. farbig entwickeln um mit der Abkühlung - das heißt wenn man die Erhitzung nicht zu weit getrieben hat - ebenso spurlos wieder zu verschwinden und beliebig oft neu hervorgerufen werden zu können. Es ist eine hübsche, wenn auch im Grunde ziemlich alte Ueberraschung, die darauf beruht, das verschiedene, im gewöhnliche Zustande farblose Metallverbindungen beim Austrocknen lebhafte Farben annehmen welche letzteren mit der freiwilligen Feuchtigkeitsaufnahme wieder verschwinden. Daher lassen sich die hervorgerufenen Bilder am schnellsten mit dem Munde „wegblasen“, indem der Hauch die zum Verschwinden nötige Feuchtigkeit hergiebt. Die Bilder, welche Referent gesehen hat, waren mit Chlorkobalt gedruckt, und erschienen deshalb in einem angenehmen Himmelblau, da uns aber andre Kobalt-, Kupfer- und Platin-Verbindungen zu Gebote stehen, die vorübergehend alle möglichen Farben in der Wärme annehmen, so könnten derartige Wärmebilder auch in vielfarbigem Druck hergestellt werden, die einen ungleich schöneren Anblick gewähren würden, z. B. Winterlandschaften, die sich in grüne Sommerlandschaften mit bunten Blumen und lachend blauem Himmel verwandelten. Der Chemiker G. Reisenbichler in Kiel hat kürzlich die Ausbeutung derselben Idee der Papiertechnik empfohlen, z. B. zur Anfertigung von Ofenvorschirmen, die sich erst beim Heizen mit bunten Farben schmücken, von Lampenschirmen u. dergl. Eine sehr sinnreiche Anwendung dieser Kobaltauslösungen läßt bekanntlich Jean Paul im „Siebenkäs“ in Form eines Mene Tekel machen, das einem alten Schurken an die Wand hinter dem eine Themis vorstellenden Ofen geschrieben wird. Noch verführerischer erscheint ein Vorschlag des obengenannten Chemikers zur Herstellung „lichtregulirender Zimmertapeten“, die bei hellem Sonnenschein dunkel und lichtdämpfend, bei trübem Wetter hell und lichtreich erscheinen, mithin das Ideal einer Tapete darstellen würden. Dies ließe sich durch eine mit oxalsaurem Kupferoxid grundirte Tapete mit kleineren hellen Mustern erreichen, denn diese Verbindung färbt sich bei hellem Lichte dunkelbraun und wird im dunklen wieder hell. Nicht übel ist auch ein Vorschlag Reisenbichler’s, freudige Familienanzeigen, Festeinladungen u. dergl. mit einer Druckerschwärze zu drucken, die erst, wenn der Brief an’s Licht gezogen wird, allmählich diesen Namen zu verdienen anfängt, nämlich mit einer Abreibung von Silberchlorid, Pfeifenthon und Leinölfirniß, die sich erst am Lichte schwärzt. Die betreffenden Drucksachen müßten freilich bei Lampenlicht angefertigt und in farbige Couverts gesteckt werden, um dem Empfänger die volle Ueberraschung zu sichern.






Wieder zwei Bilder aus dem italienischen Volksleben, der römische Knabe Bernardino mit den großen dunkeln Augen voll südländischen Feuers, der schon so manchem Künstler als willkommenes Modell gedient, und ein bittendes neapolitanisches Mädchen, eine von den anmutigen Erscheinungen, wie sie nur die prächtige Stadt am Vesuv so zahlreich hervorbringt. Die Bilder stammen aus dem Atelier Nathanael Schmitt’s in Rom und machen der deutschen Kunst jenseits der Alpen alle Ehre. Es ist etwas von dem eigenthümlich melancholischen Reize, der die italienischen Volksgestalten kennzeichnet, in diesen beiden jugendlichen Typen von den Straßen Roms und Neapels. Das Original des „Bittenden Mädchens“ befindet sich im Besitze des Herrn G. Kolle in Berlin, in dessen Verlage auch eine Vervielfältigung durch Farbendruck erschienen ist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Her
  2. Vorlage: das