Die Gartenlaube (1878)/Heft 14
Die „Gartenlaube“ in Trauer! Unerbittlich und mit harter Hand hat das Schicksal an die kaum geschlossene Pforte des ersten Vierteljahrhunderts unseres Blattes ein frisches Grab gestellt – das Grab unseres Theuersten; unerbittlich und mit grausamer Hast hat es in ein schönes, thatenreiches Leben gegriffen und einen Edlen zerschmettert, der noch stark und wetterfest stand in allen Stürmen der Zeit: Wir kommen vom frischen Grabe unseres hochverehrten und innig geliebten Führers und Meisters, unseres
Noch am 8. März lag er froh und rüstig den Pflichten seines Berufes ob, und schon in der Frühe des 23. März hatte der Tod den Rüstigen nach unsagbar schweren Leiden hinweg gerafft. An seiner Gruft steht trauernd sein liebstes Geisteskind, das Kleinod seiner Seele, das er gehegt und gepflegt mit aller Kraft seines Denkens, mit all seiner warmen Liebe zu Volk und Vaterland, mit aller hingebenden Inbrunst seines starken und doch so weichen Herzens. Die Welt ist ärmer um einen der Besten und Tapfersten; Unzählige weinen ihm nach als ihrem Wohlthäter. Wir aber, seit Jahren die Genossen seiner täglichen Berufsarbeit, die Theilhaber seiner literarischen Mühen und redactionellen Sorgen, seiner Freuden und Erfolge, wir, denen er stets ein fester und treuer Freund war und die wir mit ganzer Hingebung sein großes Werk fortführen werden – wir blicken in tiefer Ergriffenheit auf die nun leere Stelle; ging doch von dort, wo nun Oede und Stille herrscht, noch vor wenigen Tagen der Zauber seiner anregenden und erfrischenden Persönlichkeit auf seine Umgebung aus.
In ihm hat die deutsche Literatur einen ihrer machtvollsten Beschützer, der nationale Journalismus einen seiner verdienstvollsten Vertreter und großartigsten Förderer, das deutsche Vaterland aber einen seiner besten Bürger verloren.
Möge er sanft ausruhen von dem gesinnungsfreudigen Kampfe, den er bis zum letzten Augenblicke für Humanität und Freiheit, für Bildung und Volkswohl, für Schönheit und Sitte gekämpft hat! Obwohl erschüttert bis in die tiefste Seele, rufen wir ihm in stolzer Freude nach: Du warst der Erwählten Einer, denen die Inschrift der Grabhalle von Westminster nachrühmt: „Alle diese Todten haben gelebt.“
Georg lächelte ein wenig schmerzlich, als er seine Hand auf
die Schulter des Freundes legte. „Mein lieber Max, ich weiß
sehr gut, wem Deine ganze Predigt gilt; sie nützt leider nichts. Du freilich wirst das nicht eher einsehen, bis Dir irgend eine Leidenschaft einen Strich durch Deine sämmtlichen Paragraphen und durch Dein Punctum macht.“
„Bitte, ich bin kein Schwärmer,“ protestirte Max. „Die Schwärmerei überlasse ich gewissen anderen Leuten. Wie steht es denn eigentlich mit der Deinigen? Habe ich auch hier Aussicht auf den Posten als Vertrauter und auf gelegentliche Verwendung als Schildwache? Ich stehe zu Befehl.“
Georg seufzte. „Nein, Max, davon ist keine Rede. Ich sehe Gabriele ja kaum und habe sie erst ein einziges Mal in Gegenwart ihrer Mutter gesprochen. Der Gouverneur hat einen förmlichen Wall vornehmer Abgeschlossenheit um sich und sein ganzes Haus gezogen; es ist unmöglich, ihn zu durchbrechen.“
„Armer Junge!“ sagte Max mitleidig. „Nun kann ich mir auch Dein elegisches Aussehen erklären. Siehst Du, das kommt davon, wenn man solche Dinge allzu gefühlvoll nimmt. Davor schützen mich mein Programm und meine Paragraphen, die Du wirklich ganz unnöthig verspottest.“
[224] Georg zog die Uhr und warf einen Blick darauf. „Verzeihe! Ich muß jetzt in die Kanzlei. Unsere Bureaustunde beginnt bald. Von drei Uhr an aber bin ich frei und suche Dich dann sofort auf. Soll ich Dich nach Deinem Gasthofe bringen?“
Der junge Arzt zog es vor, seinen Freund nach dem Regierungsgebäude zu begleiten, und die Beiden machten sich auf den Weg. Sie schritten in lebhaftem Gespräche durch die Straßen und holten am Fuße des Schloßberges den Hofrath Moser ein. Dieser wohnte zwar im Regierungsgebäude selbst, pflegte aber Morgens, vor Beginn der Bureaustunden, einen Spaziergang zu machen, von dem er jetzt eben zurückkehrte. Er schritt wie gewöhnlich langsam, steif und feierlich dahin, das Kinn in die weiße Halsbinde vergraben, und erwiderte mit vieler Würde den Gruß seines jungen Untergebenen.
„Sie sehen angegriffen aus, Herr Assessor,“ sagte er in wohlwollendem Tone. „Sogar Excellenz haben das bemerkt und sprachen mit mir darüber. Excellenz meinten, Sie arbeiteten zu viel und würden damit Ihre Gesundheit untergraben. Man kann auch des Guten zu viel thun; Sie sollten sich schonen.“
„Das predige ich meinem Freunde oft genug,“ fiel Max ein, aber immer ohne Erfolg. „Erst heute, am frühen Morgen, habe ich ihn wieder vom Schreibtische aufjagen müssen. Er schlägt all meine ärztlichen Rathschläge in den Wind.“
„Sie sind Arzt?“ fragte der Hofrath; er erwartete offenbar eine Vorstellung des ihm gänzlich unbekannten jungen Mannes.
„Mein Freund, Doctor Brunnow,“ sagte Georg. „Herr Hofrath Moser.“
Der Hofrath tauchte plötzlich aus seiner weißen Halsbinde empor. „Brunnow – Brunnow,“ wiederholte er.
„Ist Ihnen der Name bekannt, Herr Hofrath?“ fragte Max ruhig.
Aus dem Gesichte des alten Herrn war alles Wohlwollen verschwunden; es prägte sich eine Art von Entsetzen darauf aus, als er in scharfem Tone erwiderte:
„Der Name ist in früheren Zeiten oft genannt worden, zuerst bei der Rebellion, dann vor den Gerichten und später auf der Festung, bei der Flucht eines Gefangenen. Ich hoffe, Sie stehen in keiner Beziehung zu jenem Doctor Brunnow, den ich meine.“
„Doch,“ sagte der junge Arzt mit einer sehr artigen Verbeugung, „in der allernächsten. Doctor Brunnow ist mein Vater.“
Der Hofrath wich schleunigst einige Schritte zurück als müsse er sich vor einer etwaigen Berührung in Sicherheit bringen. Dann wandte er dem jungen Manne den Rücken und concentrirte seinen ganzen entsetzensvollen Zorn auf Georg.
„Herr Assessor Winterfeld,“ begann er in verachtendem Tone, „es giebt Beamte – sogar ganz tüchtige und fähige Beamte – die gleichwohl die erste und heiligste Pflicht des Staatsdieners nicht kennen oder nicht kennen wollen, die Loyalität. Kennen Sie solche Beamte?“
Georg gerieth in einige Verlegenheit.
„Ich weiß nicht –“
„Nun, ich kenne sie,“ sagte der Hofrath mit einer unheimlichen Feierlichkeit, „und ich beklage sie, denn sie sind meist nur das Opfer der Verführung und des bösen Beispiels.“
Der junge Beamte runzelte die Stirn; er war allerdings an ähnliche salbungsvolle Predigten seines Vorgesetzten gewöhnt, aber jetzt, in Gegenwart seines Freundes, fühlte er doch das Peinliche derselben und erwiderte daher gereizt:
„Seien Sie überzeugt, Herr Hofrath, daß ich meine Pflichten kenne, aber darüber hinaus –“
„Ja, ich weiß, die jungen Herren sind sämmtlich Weltverbesserer und halten es für charaktervoll, Opposition zu machen,“ unterbrach ihn Moser, der es sehr liebte, die Worte seines Chefs, die für ihn Orakelsprüche waren, bei passender und unpassender Gelegenheit anzubringen, „aber das ist gefährlich, denn die Opposition führt schließlich zur Revolution, und die Revolution,“ der Hofrath schauderte, „ist etwas Schreckliches.“
„Etwas sehr Schreckliches, Herr Hofrath!“ sagte Max mit Nachdruck.
„Finden Sie das?“ fragte Moser, etwas aus der Fassung gebracht durch diese unerwartete Zustimmung.
„Ganz unbedingt, und ich finde es überdies sehr verdienstlich, daß Sie meinem Freunde in’s Gewissen reden. Ich habe es ihm auch oft gesagt; er ist lange nicht loyal genug.“
Der Hofrath stand ganz starr bei diesen mit unverwüstlicher Ernst gesprochenen Worten. Er war im Begriff zu antworten, vergrub aber plötzlich sein Kinn in die Halsbinde und nahm eine devote Haltung an.
„Seine Excellenz!“ sagte er halblaut und zog ehrfurchtsvoll den Hut.
Es war in der That der Gouverneur, der vom Schlosse kam und sich zu Fuße in die Stadt begab. Er erwiderte den Gruß der Herren in seiner kühlen abgemessenen Weise, streifte mit einem flüchtigen Blicke den jungen Brunnow und wandte sich dann zu Moser.
„Gut, daß ich Sie treffe, lieber Hofrath! Ich wollte Ihnen noch etwas mittheilen – begleiten Sie mich auf einige Minuten!“
Der Hofrath schloß sich seinem Chef an und Beide schlugen die Richtung nach der Stadt ein, während die beiden jungen Männer ihren Weg nach dem Schlosse fortsetzten.
„Das ist also Euer Despot?“ fragte Max, als sie außer Hörweite waren. „Der vielgeschmähte und vielgefürchtete Raven! Eine imponirende Erscheinung ist er – das muß man ihm lassen. Eine Haltung und ein Anstand, die einem Fürsten gar nicht übel stehen würden, und dazu dieser Herrscherblick, mit dem er mich streifte. Man sieht es, der Mann versteht zu befehlen.“
„Und zu unterdrücken,“ setzte Georg mit Bitterkeit hinzu. „Davon haben wir erst kürzlich wieder eine neue Probe erhalten. Die ganze Stadt ist in Gährung wegen der unerhörten Polizeimaßregeln, die er über sie verhängt hat. Er will mit Gewalt die Opposition niederschlagen, die sich immer mächtiger und drohender zu regen beginnt. Es ist ein Schlag in’s Gesicht, den er der gesammten Bürgerschaft versetzt.“
„Und die guten Bürger von R. lassen sich das ruhig gefallen?“
Georg warf vorsichtig einen Blick um sich. Der Weg war völlig leer und das Gespräch sicher vor unberufenen Ohren; dennoch senkte der junge Mann die Stimme.
„Was sollen sie denn thun? Etwa rebelliren gegen den von der Regierung eingesetzten Gouverneur? Das würde die schwersten Folgen nach sich ziehen, und doch handelt es sich vielleicht nur darum, dieser Regierung die Wahrheit zu enthüllen und all die Willkür, all die Gewaltacte, mit denen ihr Vertreter seine Vollmacht mißbraucht, vor dem ganzen Lande aufzudecken. Geschähe dies, dann müßte sie ihn fallen lassen.“
„Oder sie beseitigt statt dessen den unbequemen Warner. Es wäre nicht das erste Mal, daß so etwas geschieht, und dieser Raven sieht nicht aus, als ob er sich leicht stürzen ließe; mindestes reißt er in seinem Sturze alles ihm Feindliche mit sich hinunter.“
„Und doch muß es früher oder später geschehen,“ sagte Georg entschlossen. „Es wird sich doch endlich ein Muthiger finden!“
Der junge Arzt stutzte und richtete einen forschenden Blick auf seinen Freund. „Der willst Du doch nicht etwa sein? Sei kein Thor, Georg, und wirf Dich nicht allein für alle Anderen in die Schanze! Es kann Dich Stellung und Existenz kosten, und überdies – hast Du vergessen, daß der Freiherr der Vormund Deiner angebeteten Gabriele ist? Wenn Du ihn reizest, so hat er Mittel genug in Händen, Dein Lebensglück auf immer zu vernichten.“
„Er wird es ohnehin thun,“ versetzte Georg düster. „Er wird jedenfalls versuchen, seine Mündel bald und glänzend zu vermählen, und sobald er erfährt, daß ich es bin, der dabei im Wege steht, habe ich Alles von ihm zu gewärtigen.“
„Und mit dem ist sicher nicht leicht kämpfen,“ fiel Max ein. „Ich begreife es, daß Du ihn in doppelter Beziehung hassest.“
„Hassen? Ich bewundere Vieles an ihm, und die Stadt und die Provinz danken ihm Vieles. Seine mächtige Energie hat überall neue Hülfsquellen aufgedeckt, überall neue Kräfte erweckt und dienstbar gemacht, aber er hat auch mit eiserner Hand jede Freiheitsregung niedergehalten und erstickt. Die Reactionsperiode verdankt ihm ihre schlimmsten Triumphe.“
„Sie geht ja jetzt zu Ende,“ warf Max ein.
„Ja, Gott sei Dank – sie geht zu Ende. Das alte System wankt bereits in all seinen Fugen und seine Diener suchen einzulenken, nur zu retten was noch zu retten ist. Nur Raven allein hält noch mit starrer Consequenz fest an der Vergangenheit; er läßt sich nicht die geringste Nachgiebigkeit, nicht das [225] kleinste Zugeständniß abringen und hört keine der warnenden Stimmen, die doch auch zu ihm dringen. Ist das Verblendung oder Charakterfestigkeit? Ich begreife es nicht.“
„Charakterfestigkeit – bei einem Renegaten?“
Georg sah gedankenvoll vor sich nieder; plötzlich sagte er: „Max, es giebt Augenblicke, wo ich eher an den Worten Deines Vaters zweifeln, als meinem Chef etwas Ehrloses zutrauen möchte. Ein Verbrechen der Herrschsucht, der Leidenschaft kann er begehen, aber gemeinen, niedrigen Verrath an seinen Freunden – jeder Zug in dem Manne spricht dagegen.“
„Und doch hat er ihn begangen. Glaubst Du, mein Vater würde sein einstiges Idol so grenzenlos hart verurteilen, ohne vollgültige Beweise? Was bedarf es ihrer auch? Das Leben dieses Arno Raven ist Beweis genug. Er war einst ein glühender Freiheitsschwärmer – was ist er jetzt?“
„Du hast Recht, und doch – laß uns abbrechen! Wir sind am Schlosse.“
Sie hatten in der That das Regierungsgebäude erreicht und mußten sich hier trennen. Es wurde noch rasch eine Verabredung für den Nachmittag getroffen, dann begab sich Georg in die Kanzlei und Max, der keine Eile hatte, in die Stadt zurückzukehren, nahm erst noch flüchtig das Schloß in Augenschein, das für Fremde allerdings eine der Sehenswürdigkeiten von R. bildet. Der junge Arzt kümmerte sich zwar herzlich wenig um Baustil und alterthümliche Romantik, aber das Schloß interessirte ihn seines jetzigen Bewohners wegen. Er streifte also durch die Bogengänge und Gallerien, so weit sie zugänglich waren, und wollte endlich wieder zurückkehren, irrte sich aber und gerieth, statt den Ausgang zu gewinnen, in einen der Seitenflügel. Er bemerkte den Irrthum erst, als er einen Corridor betrat, der zweifellos zu einer Wohnung führte, und war gerade im Begriffe, umzukehren, als die Thür jener Wohnung sich öffnete und eine ältere Frau heraussah.
„Da sind Sie ja, Herr Doctor,“ sagte sie erfreut. „Bitte, treten Sie nur ein! Das Fräulein wartet schon.“
„Auf mich?“ fragte Max, erstaunt über diese vertrauliche Begrüßung.
„Gewiß. Sie sind doch der Arzt?“
„Der bin ich allerdings.“
„Nun, dann kommen Sie nur herein! Ich werde Sie dem Fräulein melden.“ Damit verschwand die Frau, dem Anscheine nach eine Wirthschafterin oder Beschließerin, während Max in dem Entréezimmer blieb, wohin sie ihn genöthigt hatte.
„Das nenne ich Glück,“ sagte er halblaut. „Gleich bei den ersten Schritten, die ich hier in R. thue, fällt mir ganz unvermuthet eine Praxis in den Schooß. Sehen wir zu, wie die Sache sich entwickelt!“
Sie entwickelte sich ziemlich rasch. Schon nach einigen Minuten kam die Frau zurück und führte ihn in ein behaglich und freundlich ausgestattetes Wohnzimmer, wo eine junge Dame sich bei seinem Eintritte von ihrem Platze am Fenster erhob und ihm entgegen kam.
Es war noch ein sehr junges Mädchen, vielleicht sechszehn oder siebenzehn Jahre alt, hoch und schlank gewachsen, aber von sehr kränklichem Aussehen. Eine durchsichtige Blässe bedeckte das nicht gerade schöne, aber zarte und angenehme Gesicht. Um die Augen zogen sich bläuliche Schatten während Wangen und Lippen kaum eine Spur von Röthe zeigten. Die Kleidung war von einer fast übertriebenen Einfachheit und durchaus klösterlichem Zuschnitte. Das schwarze Kleid, ohne die geringste Verzierung, schloß hoch am Halse und dicht an den Handgelenken. Ein schwarzes Spitzentuch verhüllte vollständig das Haupt, sodaß nur ein schmaler Streifen des glattgescheitelten dunklen Haares sichtbar wurde. Die Haltung der jungen Danne war sehr schüchtern und verlegen, als sie mit niedergeschlagenen Augen vor dem Arzte stand, ohne ein Wort zu sprechen.
„Sie wünschen ärztlichen Rath, mein Fräulein?“ fragte Max endlich, nachdem er vergebens auf eine Anrede gewartet hatte. „Ich stehe Ihnen zu Diensten.“
Bei dem Klange seiner Stimme hob das junge Mädchen die Augen empor, ein paar ausdrucksvolle dunkle Augen, senkte sie aber schnell wieder und trat mit offenbarer Aengstlichkeit einen Schritt zurück. Auch ihrer älteren Gefährtin schien bei genauerer Betrachtung das jugendliche Aussehen des Doctors Bedenken zu erregen, denn sie verweilte dicht neben ihrer Schutzbefohlenen, die jetzt mit leiser, weich klingender Stimme antwortete:
„Mein Vater wünscht, daß ich den Rath eines Arztes in Anspruch nehme. Es ist gewiß nicht nothwendig; ich fühle mich nicht eigentlich krank.“
„Sie sind es aber gründlich,“ fiel die Aeltere ein, die mehr zur Familie als zur Dienerschaft zu gehören schien. „Und der Herr Hofrath besteht doch nun einmal darauf.“
„Herr Hofrath Moser?“ fragte Max, dem urplötzlich ein Licht aufging, in wessen Haus ihn der Zufall geführt hatte.
„Ja. Haben Sie ihn denn nicht gesprochen?“
„Vor zehn Minuten, ehe ich hierher kam,“ erklärte der junge Arzt, mühsam das Lachen unterdrückend. Er vergegenwärtigte sich das entsetzte Zurückweichen des loyalen Hofrathes, als der Name seines Vaters genannt wurde. Unter anderen Umständen würde er den Irrthum wohl aufgeklärt haben, jetzt aber dachte er nur an den Aerger des alten Herrn, der ihn so ungnädig behandelt hatte, wenn er den Demagogensprößling in seiner eigenen Wohnung entdecken würde. Brunnow beschloß auf alle Fälle seinen Platz zu behaupten.
„Sie sehen aber doch leidend aus, mein Fräulein,“ nahm er wieder das Wort, indem er ihre Hand ergriff und den Puls aufmerksam prüfte. „Wollen Sie mir einige Fragen erlauben?“
Das Examen begann. Sobald Max einen Patienten vor sich hatte, war er nichts weiter als Arzt, den nur der vorliegende Krankeitsfall interessirte, auch jetzt traten alle übermüthigen Regungen davor zurück. Er stellte seine Fragen kurz, knapp und klar, ohne viel Worte zu machen, ohne sich irgendwie von der Sache zu entfernen, und das schien seiner jungen Patientin allmählich Vertrauen einzuflößen. Sie wurde unbefangener, ausführlicher in ihren Antworten und sah sich nicht mehr bei jedem Worte ängstlich nach ihrer Beschützerin um. Endlich war das Examen zu Ende, und Max schien davon befriedigt zu sein.
„Ich glaube nicht, daß ein Grund zu ernsten Besorgnissen vorliegt,“ sagte er. „Ihr Leiden scheint nervöser Natur zu sein, vielleicht durch geistige Ueberreizung veranlaßt und durch Mangel an Luft und Bewegung verschlimmert.“
„Ja wohl,“ mischte sich die Wirthschafterin ein, die augenscheinlich gewohnt war, überall mitzusprechen. „Fräulein Agnes macht sich gar keine Bewegung und kommt nie in’s Freie, den täglichen Gang in die Frühmesse ausgenommen. Ich habe immer gesagt, daß das Beten, Kasteien und Fasten –“
„Aber Christine!“ unterbrach sie das junge Mädchen bittend.
„Ach was, dem Doctor muß man beichten,“ versetzte Christine. „Das Fräulein übertreibt es wirklich mit der Frömmigkeit, Herr Doctor, und liegt den ganzen Tag auf den Knieen.“
„Das ist sehr unzuträglich; das müssen Sie unterlassen,“ sagte der junge Arzt dictatorisch.
Fräulein Agnes sah mit einem Ausdrucke des Schreckens auf, als traue sie ihren eigenen Ohren nicht.
„Herr Doctor –“
„Auch der tägliche Gang zur Frühmesse muß unterbleiben,“ fuhr Max mit der gleichen Entschiedenheit fort, ohne den Einwand zu beachten. „Sie haben allen Grund, sich vor Erkältungen zu hüten, und die Morgen werden schon herbstlich kühl. Das Fasten aber verbiete ich ein für alle mal ganz entschieden; es ist geradezu Gift für Ihren Zustand.“
„Aber Herr Doctor!“ sagte das junge Mädchen zum zweiten Male, doch auch dieser Protest fand kein Gehör. Max ließ sich durchaus nicht beirren.
„Dagegen verordne ich Ihnen täglich einen längeren Spaziergang, aber in der Mittagsstunde, möglichst viel Luft, Bewegung und auch Zerstreuung. Die Wintervergnügungen nehmen ja bald ihren Anfang. Sie dürfen freilich nicht allzu viel tanzen.“
Jetzt zog sich Agnes mit der gleichen Schnelligkeit zurück, wie vorhin ihr Vater – um mindestens drei Schritte. „Tanzen?“ wiederholte sie ganz außer sich. „Tanzen?“
„Ja, warum denn nicht? Das thun alle jungen Mädchen. Sie werden doch nicht allein eine Ausnahme machen wollen?“
[226] „Ich habe nie getanzt,“ versetzte sie schnell und mit so viel Entschiedenheit, wie die weiche Stimme nur zuließ, „ich habe mich stets fern von den weltlichen Zerstreuungen gehalten. Sie sind sündhaft, und ich verabscheue sie.“
„Nun, Sie sollten es doch erst einmal probiren,“ meinte der junge Arzt wohlwollend. „Doch dergleichen Verordnungen gehen über meine ärztlichen Befugnisse hinaus. Ich werde Ihnen vorläufig eine Arznei verschreiben und in wenigen Tagen wieder vorsprechen; dann wollen wir weiter sehen. Haben Sie Papier und Feder zur Hand?“
Christine brachte beides, und er setzte sich zum Schreiben nieder. Agnes war an das Fenster geflüchtet und faltete, mit dem deutlichen Ausdruck des Entsetzens in den Zügen, die Hände. Als das Recept fertig war, trat Max wieder zu ihr und löste ohne Umstände die gefalteten Hände, um nochmals den Puls zu prüfen.
„So! Und nun bitte ich, daß meine Verordnungen pünktlich befolgt werden; dann wird sich hoffentlich bald Besserung einstellen. Leben Sie wohl, mein Fräulein!“
Er ging. Christine schloß die Thür hinter ihm zu und kam dann zurück. „Der versteht es,“ sagte sie. „Der befiehlt und commandirt ja, als wäre er allein hier Herr und Meister. Wie finden Sie denn eigentlich den Doctor, Fräulein?“
„Ich finde ihn sehr gottlos,“ erklärte Fräulein Agnes mit Nachdruck.
„Ja, die Aerzte sind alle nicht fromm,“ meinte Christine.
„Und noch so sehr jung!“ fuhr Agnes fort, in einem Tone, als hätte sie damit die schwerste Anklage ausgesprochen.
„Ich habe ihn mir auch älter gedacht. Aber gescheit sieht er aus und pünktlich ist er auch. Um neun Uhr hatte er seinen Besuch angekündigt, und Schlag neun Uhr stand er im Corridor. Ich begreife nur nicht, wo der Herr Hofrath bleibt, er muß irgend eine Abhaltung gehabt haben, denn er wollte doch zugegen sein.“
„Der Doctor hat meinen Vater gesprochen. Meinst Du denn, Christine, daß ich die Arznei nehmen soll?“
„Nun, gewiß! Deshalb haben wir ja den Doctor kommen lassen. Mir gefällt er trotz seiner kurz angebundenen Art. Geben Sie Acht, Fräulein – der stellt Sie wieder her.“
Es blieb unentschieden, ob Agnes derselben Meinung war oder nicht. Sie hatte das Recept in die Hand genommen und sah darauf nieder, endlich legte sie es bei Seite und sagte ernsthaft: „Wenn er nur nicht so gottlos wäre!“
Max stieg gerade die Treppe hinunter, als er einen älteren Herrn begegnete, der hinaufstieg. Derselbe trug eine goldene Brille, einen Stock mit einem vergoldeten Knopfe und hatte einen äußerst wichtigen Gesichtsausdruck. Der junge Arzt blieb stehen und sah ihm nach.
„Ich wette darauf, das ist mein verehrter College, der den angekündigten Besuch macht. Jetzt wird er sich den Kopf darüber zerbrechen, wer es ist, der ihm die Praxis so vor der Nase weggenommen hat. Und nun erst der Aerger dieses feierlichen, urloyalen Hofraths, wenn er die Geschichte erfährt und meinen Namen auf dem Recepte liest! Ich wollte, ich könnte mich ihm in meiner neuen Eigenschaft als sein Hausarzt vorstellen.“
Der boshafte Wunsch sollte in Erfüllung gehen; am Fuße des Schloßberges traf Max mit dem Hofrathe zusammen, der „Excellenz“ pflichtgemäß begleitet hatte und nun zurückkam. Sein Blick war kaum auf den Demagogensprößling gefallen, als er Miene machte, die unloyale Begegnung zu vermeiden und auszuweichen, der junge Arzt aber trat mit der größten Artigkeit auf ihn zu.
„Ich freue mich sehr, Sie nochmals zu sehen, Herr Hofrath,“ begann er. „Ich komme soeben von Ihrer Fräulein Tochter.“
Diesmal schoß das Gesicht des Hofrathes förmlich aus der weißen Halsbinde empor. „Von meiner Tochter?“ wiederholte er.
„Ja, von Fräulein Moser. Ich kann Ihnen die Beruhigung geben, daß der Zustand der jungen Dame nicht gefährlich ist, wenn die Patientin auch großer Schonung und Pflege bedarf. Sie ist allerdings sehr nervös, indessen –“
„Herr, wie kommen Sie zu meiner Tochter?“ rief der Hofrath.
„Indessen, das wird sich bei geeigneter Behandlung geben,“ fuhr Max fort, ohne sich in seiner Rede an Geringsten stören zu lassen. „Ich habe vorläufig eine Arznei verordnet, von der ich mir die beste Wirkung verspreche, und komme in einigen Tagen wieder, um nach dem Fräulein zu sehen.“
„Ich habe Sie aber gar nicht gerufen,“ protestirte der Hofrath, dem es jetzt ganz wirr im Kopfe zu werde begann, da er sich den Zusammenhang des ihm Berichteten gar nicht erklären konnte.
„Bitte, ich wurde gerufen,“ sagte Max. „Fragen Sie nur Frau Christine! Wie gesagt, ich hoffe sehr viel von der Arznei und komme übermorgen wieder. Bitte, keinen Dank, Herr Hofrath! Es geschieht mit dem größten Vergnügen. Wollen Sie mich dem Fräulein empfehlen? Auf Wiedersehen!“
Hofrath Moser stand einige Secunden lang starr, wie eine Bildsäule, dann aber eilte er im Sturmschritt nach seiner Wohnung, um dort die Aufklärung des Räthsels zu suchen, während der junge Arzt lachend den Weg nach der Stadt einschlug.
An des Winters Nebelgrenze
Seid gegrüßt vom jungen Lenze
In der alten lieben Welt!
Freut Euch, daß im festen Kreise
Wieder er den Einzug hält!
Wie der Geister Drang auch ringe,
Bleibt doch fest im Kranz der Dinge
Uns das Ewige gestellt.
Wieder sind’s die treuen Boten.
Die der Lenz zu uns gesandt:
Hoch ob Firn- und Wogenhügeln
Eilen auf der Sehnsucht Flügeln
Und zum Trotz dem kalten Hauche
Bricht die Blüth’ an Baum und Strauche
Grüßend ihrer Knospen Rand.
Also wird es ewig bleiben,
Auch nach fernen Zielen ringt,
Wie sie auch den Blitzesfunken,
Da nun Furcht und Wahn gesunken,
Kühn in ihre Dienste zwingt,
Er im Nu durch Dräht’ und Glocken
Botschaft fernen Völkern bringt.
Endlos reißt im Wandelleben
Fort den Menschengeist das Streben,
Endlos – bis zur Nebelgrenze! –
Ohne Wandel nah’n die Lenze,
In dem Schooße Luft und Schmerz.
Könntest, Schwalben gleich und Blüthen,
Lenz, doch auch – das Menschenherz!
Vor einiger Zeit befanden sich die Pariser Juweliere eines Tages in starker Aufregung, und man kann nicht leugnen: sie hatten auch Ursache dazu. Aus dem Sitzungssaale der Akademie der Wissenschaften war die Nachricht in die Oeffentlichkeit gedrungen, daß zwei Chemiker, die Herren E. Fremy und Feil, ein Verfahren ausgemittelt hätten, eine Reihe von Edelsteinen, die dem Diamant im Preise am nächsten stehen, ja bisweilen höher bezahlt werden als dieser, pfundweise darzustellen, nämlich den Rubin, den Sapphir und ohne Zweifel auch den kostbarsten von allen, den orientalischen Smaragd. Zuerst tröstete man sich mit dem Gedanken, daß die echten Steine immer den Vorrang vor den künstlichen behalten würden, aber die Aufregung wuchs, als man vernahm, daß es sich hier durchaus um keine Nachbildung handele, sondern daß diese Steine eben den Naturproducten völlig gleich seien, daß eine Uhr auf künstlichen Rubinen, weil bei beiden Steinen die Härte die gleiche sei, ebenso lange gehen werde, wie die auf natürlichen. Nun behaupteten die Inhaber der größten Edelstein-Vorräthe, daß es eine Sünde wäre, der Natur in’s Handwerk zu pfuschen, und daß dergleichen von der Regierung verboten werden müßte. Auf der anderen Seite jubelten einige feuilletonistische Schwärmer, daß man nun auch bald Gold und Diamanten machen werde, daß die Träume der Alchemisten sich erfüllen würden und daß dann alles Elend der Welt ein Ende haben könnte.
Was das Elend der Welt betrifft, so lassen wir es auf sich beruhen. Von der Verwandlung des Bleies oder anderer geringerer Metalle in edlere müssen wir mit Verlaub bemerken, daß bei dieser Abtheilung der alchemistischen Kunst die Sache doch ganz anders liegt, als bei den Edelsteinen. Die ungeheure Mehrzahl unserer heutigen Chemiker hält die Metalle für einfache, unwandelbare Elemente des Weltbaues, die von Ewigkeit waren, was sie sind und wohl ihre Gestalt und Verbindungsform, aber niemals ihre Natur ändern können. Mit den Edelsteinen ist es ganz anders. Die meisten darunter und gerade die kostbarsten sind vor den Augen des Chemikers ganz gemeiner Herkunft, die oben genannten und viele andere ebenso geschätzten Namens gelten ihnen für gleichwerthig mit den Bestandtheilen des Lehms, der Fürst der Edelsteine sogar mit dem schmutzigen Ruß und Rauch. Nichts als der besondere Zustand seiner Reinheit und Dichtigkeit unterscheidet den Diamanten von der Kohle, den Rubin, Sapphir und orientalischen Smaragd von der Thonerde, die in Verbindung mit Kieselsäure mächtige Lager bildet, aus denen wir das Material für unsere Ziegelbauten und Töpferei entnehmen. Andere Edelsteine, die nicht weniger hoch geschätzt werden, wie der gewöhnliche Smaragd, Aquamarin und Chrysoberyll einerseits und der Hyacinth andererseits, enthalten der Thonerde chemisch nahestehende „Erden“ zum Grundbestandtheile, nämlich erstere die Beryllerde und letzterer die Zirkonerde, aber diese Erden sind an und für sich weder selten noch kostbar, sodaß man in einigen Gegenden mit den weniger reinen Brüdern des Smaragds die – Straßen pflastert. Aehnlich verhalten sich alle anderen Schmucksteine, die Perlen einbegriffen; sie setzen sich der Hauptsache nach größtentheils aus so werthlosen und überall verbreiteten Stoffen zusammen wie Thonerde, Kieselsäure, Fluor, Borsäure, Kalk, Magnesia etc. Ihr einziger Vorzug besteht darin, daß der gemeine Stoff in ihnen seine ihm von Natur zukommende Krystallgestalt in ungewöhnlicher Größe erlangt hat, denn eben die Seltenheit des Vorkommens bedingt neben der natürlichen Schönheit am meisten den höheren Marktpreis.
Die chemischen Verbindungen und einfachen Stoffe der mineralischen wie der organischen Natur nehmen die ihnen zukommenden, oft dem geschliffenen Edelsteine sehr ähnlichen scharfkantigen Krystallformen nur dann an, wenn sie aus dem flüssigen Zustande in den festen übergehen, und wachsen nur dann zu einer ansehnlichen Größe, wenn der Uebergang recht langsam vor sich geht. Löst man z. B. in heißem Wasser so viel Alaun auf, wie sich überhaupt lösen will, und hängt in die Flüssigkeit, während man sie langsam an einem ruhige Orte abkühlen läßt, ein mit Wolle umwundenes Drahtgeflecht, z. B. ein Körbchen, oder eine Krone, Rosette u. dergl., so findet man am anderen Morgen jenes Drahtgerippe dicht mit glasartig durchsichtigen, mehr oder weniger großen, meist von acht Flächen begrenzten, glitzernden Krystallen (Octaëdern) bedeckt. Das kalte Wasser vermag nicht so viel von dem Salze aufgelöst zu erhalten, wie das heiße, und der Ueberschuß muß sich, der Abkühlung entsprechend, langsam ausscheiden. Es bilden sich dabei ganz kleine Krystalle, die beständig wachsen, so lange noch eine weitere Ausscheidung stattfindet, und wenn man die Lösung an der offenen Luft ruhig stehen läßt, sodaß sie langsam abdunstet, so kann man endlich sehr große Krystalle erhalten. Enthielt der Alaun gewisse andere Salze als Verunreinigung, so bleiben diese in der Mutterlauge der Krystalle zurück, die Krystallisation ist meistens zugleich eine Reinigung von fremden Beimischungen.
Auf dieselbe Weise haben sich wahrscheinlich auch in der Natur manche Edelsteine gebildet, und die meisten Mineralogen nehmen an, daß sich die aus reiner Kieselsäure bestehenden Bergkrystalle, die oft centnerschwer sind, auf ähnlichem Wege gebildet haben. Fast gewiß ist diese Bildung auf feuchtem Wege vor sich gegangen bei einer weiteren Reihe von Halbedelsteinen, die ebenfalls aus bloßer Kieselsäure bestehen, wie Quarz und Feuerstein, nämlich beim Achat, Jaspis, Opal, Chalcedon, Chrysopras, Karneol, Heliotrop u. A. In derselben Sitzung der Pariser Akademie, in welcher die oben genannten Chemiker ihr Verfahren zur Herstellung künstlicher Rubine und Sapphire beschrieben, theilte Herr Monnier mit, daß er künstliche Opale erhalte habe, indem er eine ganz verdünnte Auflösung von Klee- oder Oxalsäure vorsichtig auf eine syrupsdicke Auflösung von kieselsaurem Natron (Natronwasserglas) goß, wodurch eine langsame Ausscheidung der Kieselsäure bewirkt wird. Verwendete er dabei eine Auflösung von schwefelsaurem Nickeloxydul, so erhielt er apfelgrün gefärbte Steine, wie Chrysopras. Man sieht, daß man also von einem Wachsthume der Edelsteine, so lange der Abscheidungsproceß dauerte, reden darf, und erkennt aus den Gesetzen der Krystallisation, wie durch die Anziehung der gleichartigen Theile, bei Ausschluß der fremdartigen, die Bildung der Edelsteine von ganz reinem Wasser unter den freilich nicht seltenen unreinen verständlicher wird.
Ein anderer Krystallisationsweg ist die langsame Erkaltung geschmolzener Massen; man kann denselben den Studirenden der Chemie sehr schön veranschaulichen, wenn man einen Tiegel mit Schwefel oder geschmolzenem Wismuthmetall langsam abkühlen läßt, bis sich an der oberen Fläche eine Kruste von erstarrter Masse bildet. Wenn man diese dann in der Mitte durchstößt und einen Theil der flüssigen Masse herausgießt, so bilden sich an den Wandungen der dadurch entstandenen Höhlung meist sehr schöne Krystalle, und das Ganze gewinnt das Aussehen einer sogenannten Krystalldruse, wie sie Amethyste und andere Halbedelsteine öfter bilden. Man hat denn auch angenommen, daß es nur darauf ankäme, Kohle zu schmelzen, um künstliche Diamanten zu erhalten, aber leider ist eine solche Schmelzung bisher nicht in nennenswerthem Umfange gelungen.
Der fruchtbarste Weg der Natur zur Edelsteinbildung dürfte aber nicht eine einfache Schmelzung, sondern eine feuerflüssige Auflösung der Mineralien und langsame Ausscheidung der neugebildeten Verbindungen durch chemische und elektrische Einflüsse gewesen sein, wie wir alsbald genauer kennen lernen werden. Die Erde war offenbar ehemals, wie die Sonne und die meisten Fixsterne es noch jetzt sind, in einem feuerflüssigen Zustande. Damals gingen die Elemente, um mit der Bibel zu reden, durch einander, wie die Töne eines Psalters, alle Stoffe begegneten einander und gingen die besondersten Verbindungen ein; der gesammte Erdball war ein ungeheures chemisches Laboratorium. Die erdigen Stoffe mit den Leichtmetallen bildeten in der letzten Periode dieser Riesenprocesse wahrscheinlich die geschmolzene „Mutterlauge'“, aus der sich, durch chemische Vorgänge mancherlei Art veranlaßt, hier metallreiche Erze, da Körnchen von Edelmetall und öfter auch gewöhnliche Stoffe, welche die Krystallisation in den Adelstand erhob, langsam ausschieden. Die mitsammt ihren Ausscheidungen erstarrte Mutterlauge nennen wir Urgestein, Granit, Feldspath, Porphyr etc. Ich will hier nicht unerwähnt lassen, daß man diese Urweltsprocesse in neuerer Zeit zum Theil nachgeahmt und z. B. zwei Hauptbestandtheile der [229] Feldspathe, den Albit und den Orthoclas, vor Kurzem künstlich aus einer feuerflüssigen Mineralmischung hergestellt hat.
Die Edelsteine, welche sich auf ähnlichem Wege gebildet haben, würden nun sehr einförmig, meist wasserhell, ausgefallen sein, wenn nicht in der Höllengluth der Urwelt die feuerbeständigen Metalle jene Aufgabe übernommen hätten, die in der modernen Prachtfärberei die Anilinverbindungen erfüllen. Lange ehe es Pflanzen- und Thierfarben gab, spielten die Metalle die Rolle der Pigmente in der Natur und brachten so feurige Nüancen in den Gesteinen hervor, wie sie nur irgend die lebende Natur kennt. Rubin und Smaragd sind wahrscheinlich beide mit Chrom gefärbt, der Sapphir mit Kobalt, der Lapislazuli durch eine Eisenverbindung, andere Edelsteine mit Kupfer-, Nickel-, Manganverbindungen etc. Aber ich brauche den Leser nur auf die prächtigen Glasfenster der gothischen Dome zu verweisen, auf denen alle diese glühenden Farben durch Metallverbindungen im Feuer erzeugt sind, und bei denen das edle Gold den prachtvollen Goldpurpur des Rubinglases erzeugte, um darauf hinzudeuten, daß man wohl nicht mit Unrecht eine nähere Beziehung zwischen Metallen und metallfreien Farbstoffen gesucht hat, die in der Regel in compacter Masse (z. B. die Anilinfarben) lebhaften Metallschimmer zeigen. Die unechten Edelsteine, welche man besonders in Paris von großer Schönheit aus einem sehr stark das Licht brechenden, viel Blei enthaltenden und schweren Glasflusse (Straß) herstellt, sind oft mit denselben Metalloxyden und jedenfalls ebenso „echt“ gefärbt, wie die entsprechenden Edelsteine.
Der erste Edelstein, den man nicht blos dem Aussehen, sondern seiner wirklichen Natur und Zusammensetzung nach künstlich hergestellt hat und heute in großen Massen fabricirt, ist der Lasurstein oder Lapislazuli, der Sapphir der classischen Völker, nicht zu verwechseln mit obengedachtem Sapphir der modernen Juweliere. Dieser undurchsichtige, herrlich kornblumenblaue Stein stand bei den alten Indern, Assyrern Persern, Juden, Aegyptern, Griechen etc. wohl von allen Edelsteinen am höchsten in der Gunst und widerlegt dadurch schlagend die von einigen Sprachforschern auf Mißverständnissen ihrer eigenen Wissenschaft begründete Ansicht, daß die alten Völker kein Blau hätten unterscheiden können. Zerrieben giebt dieser Stein das herrliche Lasur- oder Ultramarinblau, mit welchem die Maler des Mittelalters den Mantel oder das Gewand der Madonna zu malen liebten, obwohl sie diesen Färbestoff mit Gold aufwiegen mußten, es aber auch den Bestellern eines Kirchenbildes stets besonders in Rechnung stellten. Vor etwa fünfzig bis sechzig Jahren entdeckte der deutsche Chemiker Gmelin, daß diese schönste aller blauen Farben durch Erhitzen von Thonerde mit Soda, Schwefel und Kohle künstlich erhalten werden kann, und jetzt, nachdem der Franzose Guimet das Verfahren in die Praxis eingeführt hat, stellt man in Europa jährlich ungefähr hundertfünfzigtausend Centner von diesem Edelsteinpulver dar, und zwar die größte Masse in Deutschland.
Schon sehr früh richteten die Chemiker ihre Augen auf eine künstliche Herstellung des Rubin und Sapphir, die ja, wie gesagt, aus bloßer krystallisirter und durch Metallspuren gefärbter Thonerde bestehen. Schon vor mehreren Jahrzehnten gelang es dem Chemiker Gaudin, reine Thonerde, die er aus Alaunlösung niederschlug und mit einer Auflösung von chromsaurem Kali durchfeuchtete, im Knallgasgebläse zu einem rothen Rubinkügelchen zu schmelzen, dessen Farbe je nach dem größeren oder geringeren Chromgehalt, wie in der Natur, aus dem Rosen- in’s Purpurrothe überging. Diese Kügelchen waren so hart, daß sie Glas, Granat und Topas mit Leichtigkeit ritzten, allein es waren keine Krystalle, und ihre Durchsichtigkeit ließ stets zu wünschen übrig. Aehnliche Versuche sind auch von den Chemikern Debray, St. Claire-Deville, Caron, Senarmont, Edelmann und Anderen angestellt worden. Man sah längst ein, daß man eine Krystallisation der Thon- oder Beryllerde anstreben müßte, und zu diesem Zwecke galt es, dieselben mit den erforderlichen Mengen färbender Metallverbindungen in einem feurigen Flusse aufzulösen, um sie daraus langsam auskrystallisiren zu lassen. Als Flußmittel empfahl sich zunächst die Borsäure, weil dieselbe die Eigenschaft besitzt, in der Hitze langsam zu verdampfen, wie sie denn in vulcanischen Gegenden als Dampf aus der Erde hervortritt; sie wird z. B. im Toscanischen gewonnen. Man konnte um so mehr denken, daß dieses feurige Lösungsmittel auch in der Natur bei der Edelsteinfabrikation seine Rolle gespielt habe, und brachte es in einem gewissen Ueberschusse mit Thon- oder Beryllerde in offene Platintiegel, die man in Porcellanöfen einer lange anhaltenden Gluth aussetzte. In der That scheiden sich, sobald der größte Theil der Borsäure verdampft ist, aus diesen im feurigen Flusse erhaltenen Gemengen kleine Rubine, Sapphire oder Smaragde ab, wovon man sich schon vor zwanzig Jahren überzeugte, aber die Krystalle waren zu klein, um die Mühe zu lohnen.
Viel günstiger sind nun die neuen Versuche Fremy’s ausgefallen, die von einem etwas anderen Grundsatze ausgingen, nämlich davon, die Thonerde aus ihrer gewöhnlichen Verbindung mit Kieselsäure, wie sie in der Natur überall vorkommt, durch Einwirkung eines Stoffes, der zu der letzteren eine größere Verwandtschaft besitzt, langsam zu verdrängen, wobei sich in der feuerflüssigen Mutterlauge kleine Thonerdekrystalle bilden, die durch fernere Ausscheidung langsam wachsen. In den Glasfabriken des Herrn Feil konnten mit Bequemlichkeit viertel und halbe Centner dieser Edelsteinmutterlauge zwei und drei Wochen lang in beständigem feurigem Flusse erhalten werden, und dem entsprechend erhielt man sehr günstige Resultate. Am vortheilhaftesten erwies es sich, die Trennung der Thonerde von der Kieselsäure durch Bleioxyd zu bewirken, und man brachte zu diesem Zwecke eine Mischung von gleichen Gewichtstheilen reiner Porcellanerde und Mennige in einen großen Tiegel aus feuerfestem Thon und setzte denselben einer mehrwöchentlichen lebhaften Rothgluth aus. In der Regel entzieht dabei das Blei auch den Tiegelwänden die darin enthaltene Kieselsäure und frißt durch dieselben; man muß daher, um Verluste zu vermeiden, den Edelsteintiegel noch in einen zweiten hineinsetzen.
Nach mehreren Wochen geduldigen Harrens, welches so recht an das erwartungsvolle Zuwarten der alten Alchemisten vor dem Tiegel erinnert, in welchem sich der Stein der Weisen bilden sollte, wird der Tiegel herausgenommen, und man läßt ihn erkalten. Man findet den Inhalt nach der Zertrümmerung des Tiegels in zwei Schichten gesondert, in eine obere glasige, welche vorzugsweise aus Bleisilicat besteht, und eine untere krystallinische, welche in rundlichen Ballen die schönsten Thonerdekrystalle enthält. Hatte man nichts als Thonerde und Mennige in den Tiegel gebracht, so sind diese Krystalle farblos wie Glas. Aber man kann sich bald überzeugen, daß sie Glas und Bergkrystall, ja sogar den sehr harten Topas ritzen, kurz, man hat den edlen Korund oder Diamantspath vor sich, so genannt, weil er nächst dem Diamanten (und dem Bor) der härteste aller Steine ist.
Rubine, Sapphire und orientalische Smaragde sind nun nichts Anderes als gefärbte Korunde, und die ersteren beiden ließen sich leicht durch Zusatz entsprechender Mengen der färbenden Metallverbindungen erhalten. Setzte man dem Gemische aus Thonerde und Mennige zwei bis drei Procent doppelt chromsaures Kali zu, so zeigten die Krystalle die schön rosenrothe Farbe der Rubine; nahm man nur eine Spur dieses Salzes und fügte zugleich eine kleine Menge Kobaltoxyd hinzu, so erhielt man Sapphire. Die so gewonnenen Edelsteine sind in der Regel mit einer festen Kruste von Bleisilicat bedeckt, welche man am besten auf chemischem Wege durch Schmelzen mit Bleioxyd oder Kali entfernt, oder mittelst Fluorwasserstoffsäure ablöst. Unter den mehreren Kilogrammen solcher Thonerdekrystalle, welche die Entdecker der Akademie vorlegten, befanden sich zahlreiche Stücke, die von natürlichen Rubinen und Sapphiren in keiner Weise zu unterscheiden waren. Sie besitzen ihre Krystallgestalt, ihre Schwere, Härte, Farbe und ihren Diamantglanz, obwohl der letztere noch ein wenig zu wünschen übrig ließ.
Wie vollkommen die Nachahmung der Natur geglückt ist, erhellt unter Anderem aus einer besonderen Eigenthümlichkeit, welche die künstlichen Rubine mit den natürlichen theilen: beide verlieren nämlich, wenn sie erhitzt werden, ihre rosenrothe Färbung und erlangen dieselbe erst nach dem Erkalten wieder. Die Steinschneider, denen man diese künstlichen Rubine zum Schleifen übergab, fanden sie nicht nur ebenso hart, wie die natürlichen, sondern sogar zum Theil härter; sie griffen sehr bald die besten Schleifsteine von gehärtetem Stahl an. Möglicher Weise würden sie sich also für die Uhrenfabrikation zu Zapfenlagern noch besser eignen, als die natürlichen.
[230] Aber auch das Juwelier-Geschäft wird jedenfalls von diesen Entdeckungen früher oder später Nutzen ziehen. Die bisher erhalteten Rubine kamen, obwohl sehr schön, der Prima-Qualität der natürlichen nicht gleich, aber es handelt sich hier auch nur um die ersten Ergebnisse eines neuen Weges, und es ist höchlichst anzuerkennen, daß die Entdecker ihr Verfahren sogleich und ohne alle Geheimnißkrämerei veröffentlicht haben. Nun können auch Andere diesem neuen Zweige einer hoffnungsvollen Alchemie nachgehen. Vielleicht muß man den Krystallen noch mehr Zeit lassen, sich auszubilden, denn die Natur hat sehr viel Zeit zu solchen Productionen gehabt, und vielleicht eben nur deshalb so vollkommene Leistungen hervorgebracht. Ohne Zweifel wird man in Zukunft diese Thonerde-Krystalle auch grün, gelb und purpurviolett färben, um so jene Edelsteine darzustellen, die man bisher als orientalischen Smaragd, Topas und Amethyst von den geringeren Steinen gleichen Namens unterschied. Der Beisatz „orientalisch“ ist hierbei immer nur ein nicht geographisch zu nehmender Titel gewesen, den die Juweliere den härteren Thonerde-Edelsteinen, zum Unterschiede von den gleichfarbigen, aber chemisch verschiedenen und billigeren eigentlichen Smaragden, Topasen und Amethysten, beilegten. Möglicher Weise werden in nicht zu ferner Zukunft diese orientalischen Steine billiger, als die letzteren, und der Mittelstand, der es bisher „nicht konnte“, kann dann im strahlenden Geschmeide mit den Fürstinnen der Vorzeit wetteifern.
Auch dem Diamanten hat man sich schon früher nach denselben Grundsätzen zu nähern gesucht, das heißt indem man auf chemischem Wege eine langsame Ausscheidung des Kohlenstoffs aus seinen Verbindungen herbeizuführen suchte. Indessen hier muß die chemische Wissenschaft vorläufig demüthig bekennen, daß sie noch gar keine bestimmte Vorstellung davon aufweisen kann, wie wohl der Diamant in der Natur entstanden sein mag. Die Einen meinen, er könne wohl nur aus einer ungeheuren Glühhitze hervorgegangen sein; die Anderen halten eine urlangsame Bildung auf kaltem Wege für wahrscheinlicher; ja es fehlt nicht an solchen, die ihn für das Product einer organischen Thätigkeit ansehen, weil man nämlich nicht selten in demselben grüne zellenartige Bildungen, die gewissen Algen ähnlich erscheinen, gewahrt. Vielleicht wäre es gegenüber den riesigen Fortschritten der synthetischen (das heißt: die Körper zusammensetzenden) Chemie gut, wenn der Diamant seinen alten Titel (Adamas, das heißt der Unbezwingliche) auch den Chemikern gegenüber in Respect hielte. Denn was sollte wohl eine anständige Frau in Zukunft tragen, wenn der Fürst des Steinreiches denen, die seinem Throne am nächsten stehen, nachfolgte und sich ebenfalls für wenige Mark herstellen ließe?
Im Stammhause des Reichskanzlers.
Fahren wir auf der Lehrter Bahn von Berlin nach Stendal, so begegnen wir eine Viertelmeile von der Stelle, wo der Zug die Elbe überschreitet, einer Station, die sich Schönhausen nennt. Etwa zehn Minuten Weges davon streckt sich ein langes Dorf gleichen Namens hin, aus dessen Gärten zwei größere Gebäude und eine stattliche Kirche aufragen. Schon mancher Fremde von nah und fern hat hier Halt gemacht und ist nach dem Dorfe hinübergewandert, um zu sehen und zu zeichnen; denn wir haben hier den Geburtsort Bismarcks vor uns, und das eine der beiden größeren Gebäude, das da drüben bei der Kirche aus hohen Baumwipfeln hervorschauende, ist sein Stammhaus. Auch wir wollen einen Gang hinüberthun, und zwar an der Hand von Erinnerungen an einen Besuch, den ich im letzten Herbste dem Orte abstattete.
Schönhausen liegt flach in weiter Ebene. Nur wo die Kirche und das Geburtshaus des Reichskanzlers stehen, erhebt sich der Boden ein wenig über die Felder und Wiesen der Gegend. Das Dorf hat über achtzehnhundert Einwohner und sieht recht wohlhäbig aus. Es bildet in der Hauptsache eine lange breite Gasse, die an den Fußwegen größtenteils mit Bäumen besetzt ist. Der Umstand, daß die Häuser an einigen Stellen dicht an einander treten, daß Handwerker und Krämer, drei oder vier kleine Gasthöfe und eine Posthalterei vorhanden, lassen den Ort mehr wie einen Flecken als wie ein Dorf erscheinen. Außer dem Bismarck’schen Gute befindet sich hier noch ein zweites, welches fast noch einmal so groß als das des Fürsten ist und in früheren Zeiten ebenfalls im Besitz von dessen Familie war, gegenwärtig aber dem Deichhauptmann Gärtner gehört. Ich traf Letzteren, als ich in den Ort gelangt, auf der Straße vor seinem Hofe und erhielt auf meine Frage nach dem besten der hiesigen Gasthäuser freundlich den Bescheid, „Die Post“ sei zu empfehlen. Ich begab mich dahin und sah mich bei dem Besitzer des kleinen Dorfhôtels, Herrn Hanxleben, wider Erwarten recht gut aufgehoben.
Nach vier Uhr hier angekommen, machte ich mich, bevor es Abend wurde, auf den Weg zu Inspector Kohnert, dem Verwalter des Fürsten, um bei ihm eine Empfehlung abzugeben, in der er gebeten wurde, mir das Haus und seine Umgebung zu zeigen. Er war in dem Augenblicke nicht daheim – „auf dem Felde,“ sagte die sauber gewaschene, sorgfältig frisirte Großmagd, bei der ich mich erkundigte. Ich fragte nach der Frau Inspectorin und erfuhr, daß sie im Garten, im Lusthause sei. Eben hatte ich sie auf dem Wege dahin getroffen und ihr mein Anliegen mitgetheilt, als ihr Gemahl dazu kam, eine hochgewachsene, kernige Gestalt mit blondem Vollbart und intelligentem Blick. Erst etwas kühl und zugeknöpft – vielleicht hatte er mit früheren Besuchen verdrießliche Erfahrungen gemacht – wurde er rasch wärmer und mittheilsamer, als er gewahr wurde, daß mich nicht die gewöhnliche Touristerei hierher geführt hatte, und nach einigen Minuten hatte ich offenbar sein Vertrauen gewonnen.
Da es heute zu einer gründlichen Besichtigung des Hauses im Innern zu spät war, so wurde dieselbe auf den nächsten Tag verschoben, und zwar wollte Herr Kohnert selbst dabei mein Führer sein, da die Inspectorin Bellin, welche bisher den Besuchern des Gutes als Begleiterin gedient, bei ihren Jahren nicht recht mehr fort konnte. Für jetzt wurde nur ein flüchtiger Blick auf das Aeußere des Hauses und die Allee vor und neben ihm gethan. Jenes ist ein schmuckloses graugetünchtes Herrenhaus mit hohem, steilem Dach und zwei Stockwerken über dem Erdgeschoß, welches letztere ungewöhnlich dicke Mauern hat. Das Gebäude ist nicht viel tiefer, als es breit ist, sodaß es fast einen Würfel bildet. Man sieht ihm an, daß es seit Jahren selten Bewohner gehabt hat. Die sinkende Sonne und der Herbst, welcher die Stelle vor der Thür mit gelben Blättern bestreut hatte, verstärkten den melancholischen Eindruck, den das verlassene Haus machte. Ueber der schlichten Flügelthür desselben, nach deren Schwelle weder eine Freitreppe, noch eine Rampe führt, sind zwei steinerne Wappen, rechts das Bismarck’sche mit dem doppelten Dreiblatt, links das Katte’sche, worin eine Katze mit einer Maus, angebracht. Darunter liest man die Namen August von Bismarck und Dorothea Sophie Katten sowie die Jahreszahl 1700. Jene bezeichnen das Ehepaar, welches das Haus zuerst bewohnte; diese giebt die Zeit an, in der dasselbe, nachdem es im dreißigjährigen Kriege zerstört worden und dann wüst gelegen, wieder aufgebaut wurde.
Wir waren unter verschiedenen Gesprächen wieder an die drei großen alten Kastanienbäume gekommen, welche den Platz vor dem Eingange beschatten, als Kohnert mich auf ein viereckiges Loch in dem Stamme des dritten aufmerksam machte. „Hier kann ich Ihnen gleich etwas zeigen, wovon die Anderen nichts wissen,“ sagte er. „In dieses Loch haben die Bismarck’s ihre Kelter gesteckt, wenn sie ihren Wein machten.“
„Also Sie bauen hier auch Wein zum Trinken?“ fragte ich, halb verwundert und halb erschrocken, indem ich in dem Augenblicke nicht daran dachte, daß noch weit höher im Norden, im Posenschen sogar, Weinbau dieser Art verübt wird.
„Johannisbeerwein,“ erwiderte der Inspector.
Ich hatte – so unwissend sind wir Großstädter – davon [231] noch nie gehört und gestand das, auch daß ich diese Gottesgabe einmal zu trinken verhoffte. Die Antwort war, da könnte ich den Bismarck’schen Wein von damals ja gleich einmal bei ihnen probiren. Ich sah keinen Grund, warum nicht, und nahm die Einladung zur Bereicherung meiner Kentnisse an. Wir gingen in die Wohnung des Inspectors, und ich blieb bis acht Uhr, aß zu Abend mit den liebenswürdigen Leuten und probirte. Der Wein, den die Bismarck’s einst an der großen Kastanie fabricirten und von dem Inspectors jetzt noch alle Jahre eine Anzahl Flaschen bereiten, schmeckt recht gut, fast wie der süße Ungar, den man in der Sächsischen Schweiz bekommt, und man kann dabei unter guten Menschen ganz genau so aufgeräumt werden, wie wenn man statt Johannisbeer Johannisberger im Leibe hätte. Wer daran zweifelt, der überzeuge sich durch einen Versuch im nächsten Sommer, wenn in seinem Garten diese Reben wieder tragen. Hier ist das Recept, das mir die Güte der Frau Inspectorin mittheilte: Man mische mit achtzehn Gewichtstheilen Johannisbeersaft vierundzwanzig Theile Zucker, der in Wasser aufgelöst worden, lasse die Mischung vergähren, ziehe sie auf Flaschen und stelle die an einen kühlen Ort. Dann – ich habe hoffentlich nichts falsch verstanden oder vergessen – trinkt man davon gelegentlich mit netten Leuten. Nicht so, Frau Inspectorin? Inspectors lesen nämlich die „Gartenlaube“ auch, und so erlaube ich mir durch sie zu fragen und einen schönen Gruß hinzuzufügen zum Zeichen, daß ich angenehmen Menschen ein freundliches Andenken bewahre.
Der Inspector ertheilte bereitwillig Auskunft auf die Fragen, die ich in Betreff der Verhältnisse des Gutes und des Dorfes an ihn richtete. Er kennt beide seit mehreren Jahren, wenn ich nicht irre, seit 1872, wo er, der aus der Gegend von Zerbst gebürtig und ein Zögling von Dietze in Barby, einem unserer größten und intelligentesten Landwirthe, auf Empfehlung des letzteren hierher kam. Das Gut hat „Capitalboden“, indeß ist das Land etwas naß, und Drainagen lassen sich wegen der zu tiefen Lage mit Vortheil nicht anwenden. Trockene Jahre sind daher hier die besten. Das Areal der Besitzung, vor einiger Zeit vom Fürsten durch Hinzukaufen von drei Bauergütern nicht unerheblich vergrößert, zerfällt in circa neunhundert Morgen Acker, etwa sechshundert Morgen Wiesen und Hutungen und ungefähr eintausenddreihundert Morgen Wald, der meist aus Kiefern besteht, und von welchem gegen fünfhundert Morgen vom Fürsten selbst aufgeschont sind. Er hat auch einen Versuch mit Anpflanzung von hundert Stück Eichen gemacht, der wohl gelungen ist, und über dessen Erfolg er seine große Freude hat. Der Viehstand umfaßt einhundertvierundzwanzig Stück Rindvieh und fünfundzwanzig Pferde und Fohlen. Auch an der Fohlenzucht des Inspectors, der augenscheinlich ein tüchtiger, seiner Sache gewisser Landwirth ist, hat der Gutsherr als Sachkenner, wenn er, wie alljährlich ein oder ein paar Mal, herkommt, sein Wohlgefallen. Ob Schafe gehalten werden, unterließ ich zu fragen. Im Wald giebt’s Damwild, Rehe und Hasen. Im Garten, der ungefähr zwanzig Morgen groß ist und in einen mit Obstbäumen und Gemüse bepflanzten Theil, sowie in tieferliegende parkartige Anlagen zerfällt, sind in jener ersten Hälfte die vorzüglichsten Obstsorten vertreten, die der Vater des Ministers aus Frankreich mitgebracht hat. Ursprünglich meist Zwergstämme, wie sie dort gezogen werden, sind sie im Laufe der Zeit hochgegangen und zum Theil auch ihrer Größe nach achtbare Bäume geworden.
Das Dorf hat außer den beiden Rittergütern einige vierzig andere Güter, von denen siebenunddreißig Bauernstellen und theilweise von erheblicher Größe sind, und die übrige auf Kossäthen fallen. Die Tracht der Bewohner des Dorfes unterscheidet sich, soviel ich bemerken konnte, nicht mehr von der in den meisten anderen norddeutschen Gegenden auf dem Lande üblichen. Die gewöhnliche Umgangssprache ist ein Dialekt, welcher den Uebergang aus dem Hochdeutschen zum Plattdeutschen bezeichnet. Früher wird das erstere vorgewogen haben; jetzt scheint das Umgekehrte der Fall zu sein.
Ehe ich mich verabschiedete, um am nächsten Morgen wieder zu kommen, hatte ich das Vergnügen, den neu eingezogenen Herrn Lehrer und Küster von Schönhausen kennen zu lernen, der seinen Antrittsbesuch machte und mir am Morgen die Kirche aufzuschließen versprach. Am folgenden Vormittag war ich, wie verabredet, bei Zeiten in der Kohnert’schen Wohnung, wo ich den Inspector bereit fand, mit mir die Wanderung durch die Säle und Stube des Herrenhauses anzutretem und mir dann Garten und Park zu zeigen. Bevor ich die Leser einlade, uns dabei zu folgen, bemerke ich, daß jenes, wenn man durch die gemauerten Pfeiler der Einfahrt in das Gut tritt, nicht sichtbar ist. Man sieht vielmehr hier nur links das vom Inspector mit seiner Frau bewohnte Haus, nach dem eine kleine Freitreppe hinaufführt, gerade vor sich in Entfernung einiger Schritte drei oder vier Reihen von Kastanien- und Lindenbäumen mit breiten schattigen Wipfeln, und rechts Wirthschaftsgebäude mit der Düngerstätte. Erst um die Ecke zur Linken biegend gewahrt man das oben seinem Aeußeren nach geschilderte Haus, wo ehedem die Gutsherrschaft wohnte. Die Thür desselben ließ sich mit keinem der Schlüssel, welche Frau Bellin gesandt, öffnen, und so mußten wir unseren Weg durch eine Hinterthür nehmen, zu welcher wir über den benachbarten Kirchhof gelangten. Dieselbe brachte uns zunächst im Erdgeschoß in eine weite, weißgestrichene, am Fußboden mit Ziegelsteinen getäfelte Hausflur, in der wir verschiedenen alterthümlichen Schränken, einer Mitrailleuse aus der Kriegsbeute von 1870 und einem Kellerhals begegneten, nach welchem einige Stufen hinaufführten. Im Keller läßt der Fürst seinen Nordhäuser alt werden. Die Thür über dem Kellerhals geht in das ehemalige Zimmer für Diener, wo jetzt, in Kisten und Ballen verpackt, allerlei Zeichen der Verehrung, welche Einzelne und Corporationen dem Regenerator der Nation darbrachten, Modelle zu Statuen und Büsten, Ehrenbürgerbriefe u. dergl. m. auf Raum und Zeit zur Auferstehung und passenden Ausstellung warten. [232] Auf der anderen Seite der Hausflur, links, wenn man das Gesicht der großen Hausthür zukehrt, führt eine weißlackirte Flügelthür in ein geräumiges Zimmer, das sich auf den Garten öffnet und darum der Gartensaal heißt. Die Tapete desselben zeigt auf ziegelrothem Grunde weiße und blaue Blumen. Der Fußboden besteht, wie beiläufig in allen Sälen und Stuben des Hauses, aus einfachen fichtenen Dielen. Die Decke aber ist hübsch mit Stuckarbeit verziert, welche wieder das Bismarcksche und Katte’sche Wappen darstellt.
In die Hausflur zurückgekehrt, stiegen wir die breite, etwas steile Treppe von braunem Eichenholz hinauf, die sich im Hintergrunde derselben befindet, und gelangten zunächst durch eine weiße Flügelthür in den großen niedrigen, weißtapezierten Mittelsaal über der Hausflur. Derselbe zeigt an der Decke und an seinen beiden weißen Kaminen Verzierungen von Stuck. Zwischen den drei Fenstern stehen birkene Kommoden. Auf der zur Rechten sehen wir eine Gypsbüste Friedrich Wilhelm’s des Vierten, auf der zur Linken eine Marmorbüste des Fürsten im Civilanzug, neben welcher wir auf einem Tischchen an der Wand eine in Kupfer getriebene Kolossalbüste desselben gewahren, die den oberen Theil des Kissinger Denkmals darstellt. Neben der Kommode auf der rechten Seite trägt ein anderer an der Wand befindlicher kleiner Tisch die Gypsbüste Friedrich Wilhelm’s des Drittem. Dann folgt an derselben Wand eine weiße Flügelthür. Weiterhin begegnen wir einem Schränkchen, hinter dessen Glasthür Tassen und Kannen von Porcellan mit dem Bismarck’schen Wappen stehen, während uns von oben her zwischen zwei Karaffen eine weibliche Büste von Gyps ansieht, welche die verstorbene Frau des Bruders des Fürsten darstellt. Ein zweiter Schrank für Geschirr, dem ersten gegenüber, eine Anzahl Stühle an den Wänden und in der Mitte zwei fichtene Tische, zu einem zusammengestellt, bilden die weitere Ausstattung des Saales.
Der Inspector öffnete die weiße Flügelthür zur Linken, und wir traten in das Visitenzimmer mit seiner stark nachgedunkelten Oeltapete, welche Landschaften zeigt, und feiner Stuckdecke. Ein altes, schwarzes Sopha erinnert an die ehemalige Bestimmung des Gemachs, ein paar Bettstellen mit darin aufgestapelten Federbetten zeigen, daß es zuletzt anderen Zwecken gedient hat. An das Visitenzimmer stößt ein zweites, dessen Tapete auf grünem Grunde große goldene Chinesen zeigt. Neben dem weißen Kamine, über dem ein Oelgemälde, das Portrait einer Frau, hängt, befindet sich ein Ofen. In der einen Ecke bemerkt man einen Abguß von Rauch’s Walpurga auf dem Hirsche, in der anderen eine Nachbildung der Kiß’schen Amazone in Gyps. Eine Nische, die mit einer rothen Portière von baumwollenem Stoffe verhangen ist, eine Kommode und zwei Sophas, das eine roth, das andere blaßgrün überzogen, vollenden die Ausstattung der ziemlich großen Stube.
Kehren wir in den weißen Saal zurück und treten wir durch die Flügelthür neben der Büste Friedrich Wilhelm’s des Dritten, so gelangen wir in die Stube, in welcher der Fürst von Bismarck wohnte und arbeitete, als er noch einfach Herr von Bismarck hieß. Die Tapete zeigt weiße Arabesken auf grünen Grunde. An der Wand rechts von der Thür steht ein grünes Sopha und davor ein Tisch mit grünbezogenen Polsterlehnstühlen. Ueber dem Sopha hängen drei Lithographien und das in Oelfarben ausgeführte Portrait der Mutter des Reichskanzlers in der Tracht der zwanziger Jahre. Weiterhin folgt an derselben Wand über dem Kamine das Medaillonbild einer Frau, über die mein Begleiter keine Auskunft zu geben wußte. In der Ecke daneben, deren Wände statt der Tapete blauglasirte Fließen mit kleinen, weißen Landschaften zeigen, befindet sich ein weißer Kachelofen, aus dem oben ein Stier von Gyps steht. Die Ecke gegenüber nimmt ein großes, braunes Uhrgehäuse ein, dessen Uhr ein zinnernes Zifferblatt und einen ungewöhnlich hellen Schlag hat. An der Wand, dem Sopha gegenüber, steht ein altmodischer Schreibsecretär und daneben hängen verschiedene Lithographien und Stahlstiche, darunter Bürgen’s Molly. An dem einen der beiden Fenster des Zimmers, zwischen denen ein Spiegel, kommen hierzu noch ein paar in die Scheibe eingefügte Lichtbilder mit bunten Glasrahmen. Aus dem Arbeitszimmer gehen wir durch die Thür rechts von den Fenstern in ein Ankleide- und Schlafzimmer. Die Tapete derselben ist grau übertüncht; von der weißen Decke hängt eine topfförmige, weiße Ampel mit einer grünen Guirlande herab; auf dem Ofen sitzt ein weißer Gypsadler. Sonst enthält die Stube einen alten röthlichen Kleiderschrank, ein mit Leder überzogenes Sopha und zwischen den beiden Fenstern eine Kommode, über welcher ein Spiegel hängt. Eine Portière von rothem Kattun theilt das Stück vom Zimmer ab, und in diesem alkovenartigen Raume befinden sich zwei Bettstellen. Dieselben bezeichnet den Ort, wo am 1. April 1815 Otto von Bismarck das Licht der Welt erblickte.
Begeben wir uns von hier ins Arbeitszimmer zurück und von da in die Bibliothek, so haben wir eine große, wie alle übrigen Gemächer des Hauses, verhältnißmäßig niedrige Stube vor uns, deren Wände rosenroth angestrichen sind und in deren Mitte ein schwerer, mit Wachstuch überzogener Tisch steht. Rechts von der Thür, durch welche wir eintreten, gewahren wir einen gelben Glasschrank mit drei Thüren, worin eine Menge Bücher und Broschüren, darunter viele in Folio und Schweinslederband, zu sehen sind. Dann folgen in der nächsten Wand zwei Fenster, zwischen denen ein Stehpult mit Schublade, aus welchem ein Schränkchen ruht. Neben dem zweiten Fenster hat ein alter, massiver Schrank aus Nußbaumholz, der vermuthlich ebenfalls Literatur beherbergt, mit seinen gewundenen Füßen Posto gefaßt. An der folgenden Wand treffen wir auf einen zweiten gelben Glasschrank, der wieder mit Büchern und Flugschriften, alten und neuen, gebundenen und ungebundenen, angefüllt ist. Die größeren Bände sind, wenn ich nach einer Musterung von einigen Minuten urtheilen darf, meist von älterem Datum, viele aus dem vorigen Jahrhundert. In dem ersterwähnten Schranke stoßen wir unter Anderem auf Zedler’s Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, auf das Theatrum Europaeum, auf Gottfried’s Chronik der vier Monarchien und Gladow’s Reichshistorien, auf Büsching’s Erdbeschreibung und Luther’s deutsche Schriften. Der andere Glasschrank enthält, wie es scheint, vorwiegend schöngeistige Literatur, darunter Werke von Voltaire und Friedrich von Schlegel. An derselben Wand wie dieser Schrank steht weiter einwärts im Zimmer ein schwarzer Divan, über dem Oel- und Pastellgemälde hängen, welche Glieder der Bismarck’schen Familie darstellen. In der letzten Wand befindet sich zunächst die Thür nach dem Arbeitszimmer. Daneben folgt ein Sopha mit gelblichem Muster auf grünem Grunde, über dem wieder ein Anzahl kleiner Bilder in Kupferstich oder Wasserfarben hängen. Beim Ofen, hinter welchem die Wand mit blau und weißen glasirten Platten belegt ist, schließt das Bild einer Dame, die mein Führer als eine Gräfin von Schulenburg bezeichnete, und welche dem Vater des Fürsten in seinen jungen Jahren zur Gemahlin bestimmt gewesen, es aber aus irgend welchen Gründen nicht geworden sein soll, die Reihe dieser Portraits, von denen ich sonst noch ein hübsches, kleines Brustbild der Großmutter des Fürsten – es ist die von mütterlicher Seite – hervorhebe.
Nachdem wir noch in die anstoßende kleine einfenstrige Stube mit ihrer blau und weißgemusterten Tapete, ihren alten Kupferstichen aus dem Leben Friedrich’s des Großen und ihrer riesigen Familienbibel einen Blick gethan, begeben wir uns in’s zweite Stock, wo sich über dem großen Saale des ersten ein gleich großer und ebenfalls von drei Fenstern erleuchteter befindet. Derselbe enthält nichts als einige Schränke und links an der Wand den Stammbaum des Geschlechts von Bismarck, der in seinem unteren Theile beschädigt ist – „durch 1813 hier einquartierte Franzosen“, berichtete mein Begleiter. Die übrigen Stuben dieser Etage scheinen gegenwärtig nur zu Rumpelkammer zu dienen oder ganz leer zu stehen. Vielleicht wohnt in einer derselben das Hausgespenst, von welchem Hesekiel als Gläubiger erzählt. Wahrscheinlicher ist, daß es verdrießlich über die neue Zeit ausgezogen und in das „alte romantische Land“ entflohen ist, wie die kleinen Puke und Kobolde, die ehedem, halb tückisch, halb drollig, bei guter Behandlung gewöhnlich hülfreich und gefällig, wie anderwärts in norddeutschen Dörfern, auch in den Ställen und Scheunen der Bauernhöfe Schönhausens gespukt haben werden. Mir beim Inspector Gewißheit über die Sache zu verschaffen, schämte ich mich. Er sah nicht aus, als ob man ihm mit solchen Schnack kommen dürfte.
Wem ich einen Rückblick auf das an diesem Morgen Gesehene werfe und mir den Gesammteindruck vergegenwärtige, den [233] das Stammhaus des Reichskanzlers nach seinem Innern zurückläßt, so gehört eine starke Phantasie dazu, um es überhaupt mit romantischen Velleitäten in Verbindung bringen zu können. Ein gewöhnliches gesundes Auge begegnet hier keinem einzigen Zuge, der an eine alte Burg oder an ein prunkvolles Schloß erinnerte. Die dicken Mauern, die tiefeingeschnittenen Fenstergewände geben ihm den Charakter stämmiger Ehrenhaftigkeit. Die niedrigen Zimmer mit den Stuckdecken lassen an bescheidenen Wohlstand denken. Die Möblirung und die sonstige Ausstattung der Gemächer unterscheiden sich in nichts von dem Bilde, welches in den ersten beiden Decennien unseres Jahrhunderts das Haus eines mäßig begüterten Bürgers darbot. Das Ganze ist noch heute wie vor fünfzig Jahren, wo sein Geräth, seine Tapeten, seine Bilder neu und nach der Mode waren, das schlichte, einfache, anspruchslose Haus eines märkischen Landedelmannes. Es könnte auch behaglich sein. Aber die Wärme der Bewohntheit fehlt. Man sollte es nicht des Morgens besuchen, wo das kalte Sonnenlicht seine Verödung noch kälter macht. Man sollte sich die stillen Säle und Stuben vom Lichte des Nachmittags wärmen und vergolden lassen und sich einen Abendwind dazu bestellen, daß er leise durch die Lindenwipfel vor den Fenstern ginge und Sonnenblicke mit Schatten auf die Wände und Fußböden würfe. Das gäbe dann Leben in das todte Haus, und in der dadurch erzeugten Stimmung sähe man wohl auch mehr, als das gaukelnde Licht- und Schattenspiel der Natur, sähe man wohl auch in der Bibliothek und im Arbeitszimmer bedeutungsvolle Momente im Leben dessen, der einst hier wohnte, aus der Vergangenheit zurückkehren und sich zu Bildern der Erinnerung gestalten.
Vielleicht versuche ich das in meinem zweiten Abschnitte, nachdem wir den Garten durchwandert haben. Dann wollen wir zwei anderen Gittern und Häusern des Fürsten einen kurzen Besuch abstatten und schließlich längere Zeit in Varzin zu verweilen.
Der Wiener lebt sehr viel außer dem Hause. Man kann wohl die Behauptung wagen, daß in der inneren Stadt auf jedes dritte Haus ein Gast- oder Kaffeehaus kommt, und wenn es auch erst jedes vierte Haus wäre, so sagt auch das schon genug. Diese Locale werden nicht cultivirt, weil sie zufällig existiren, sondern sie existiren, weil ein Bedürfniß nach ihnen vorherrscht, und dieses Bedürfniß läßt sich vorzüglich auf die höchst unbefriedigenden Wohnungsverhältnisse in Wien zurückführen. Unsere Zinsburgen gewähren dem Miether nur in seltenen Fällen ein trauliches, behagliches Heim, und darum wird nur zu gern ein Ersatz dafür in den meist sehr behaglich reich ausgestatteten öffentlichen Localen gesucht. Was aber die Zinsburgen nicht verschulden, das verschuldet die altererbte, hoch in Ehren gehaltene, aber recht unpraktische Sitte, das beste und größte Zimmer stets wiederum der Geselligkeit, das heißt als sogenannten Salon, zu opfern und sich dafür mit Kind und Kegel auf die kleineren, oft finsteren Zimmer zu beschränken.
Auch darüber sind die Acten geschlossen, daß Wien, was die Wohnungsmiethe betrifft, zu den theuersten Städten gehört, und vielleicht ist unsere Metropole sogar in dieser Beziehung die allertheuerste. Außerdem weist die Statistik nach, daß in keiner europäischen Stadt so viele Einwohner auf ein Haus kommen, wie in Wien. Ich spreche nicht davon, daß wir eine ganz beträchtliche Anzahl von Häusern haben, deren Einwohner nach Tausenden zu zählen sind; die können immerhin als Ausnahmen betrachtet werden, als Ausnahmen freilich, wie sie in anderen Städten sehr selten anzutreffen sein dürften, allein die offen zu Tage liegende Tendenz von Bauherren und Baumeistern, möglichst viele Menschen in ein Haus hineinzupferchen, darf wohl constatirt werden.
Aus allen diesen Mißständen entwickelten sich schließlich Verhältnisse, die sich als Mißverhältnisse bald sehr fühlbar machten, besonders zur Zeit des volkswirthschaftlichen Aufschwunges, der so viele Goldsucher nach dem Goldlager in der Reichshaupt- und Residenzstadt gelockt hatte. Man sann auf Reformen, und die Zeit war darnach angethan, jeder nur halbwegs plausiblen Unternehmung eine scheinbar sichere Prosperität zu gewährleisten. Eine Reihe intelligenter, von den besten Absichten beseelter Männer begann Propaganda zu machen für das Cottagesystem, für das Familienwohnhaus, wie es sich namentlich in England und an vielen Orten Deutschlands und Frankreichs glänzend bewährt hatte. „My house is my castle (mein Haus ist meine Burg)!“ Das war die Parole im Feldzuge gegen die ungeheuren Miethcasernen, die der einzelnen Familie für theures Geld weder genügend Licht und Luft, noch auch die nöthige Freiheit der Bewegung gewähren. Es wurde sowohl in volkswirtschaftlicher, wie in moralischer Beziehung der Beweis für die Vortrefflichkeit des Cottagesystems erbracht. Wer hätte auch etwas Stichhaltiges vorbringen können gegen die beigeschafften Argumente! Ein Haus für eine, höchstens für zwei Familien, für jedes Haus ein Garten, im Hause selbst große, lichte und luftige Räume, Alles auf das Zweckmäßigste in wirthschaftlicher, wie in sanitärer Hinsicht eingerichtet, dazu die Aussicht für einen Familienvater, für sich oder seine Kinder ohne besonderen Kostenaufwand ein Haus als Eigenthum zu erwerben, durch jährliche Ratenzahlungen, durch welche zu gleicher Zeit die Miethe und der Kaufpreis des Hauses berichtigt werden sollte und die doch sich nicht wesentlich höher stellen sollten, als der in Wien übliche Miethzins an sich – was in aller Welt hätte daran schlecht sein sollen?!
Der Wiener Cottageverein begann also zu Anfang des Jahres 1872 unter sehr günstigen Auspicien seine Wirksamkeit. Eine große Zahl von Mitgliedern trat demselben bei, und unter diesen eine verhältnißmäßig sehr stattliche Reihe von Capacitäten aller Kategorien. Der Verein war bald nach seiner Gründung schon in der Lage, ausgedehnte Kleefelder und Gartengrundstücke in der Umgebung Wiens zu erwerben und mit dem Baue von Familienhäusern zu beginnen, die, wie eine Denkschrift des Vereines besagt, „den Mittelstand und die sogenannten kleinen Leute, namentlich auch solche, welche auf jährlich gleichbleibende fixe Bezüge angewiesen sind, Beamte, Lehrer, Pensionisten u. dergl. m. vor den Calamitäten schützen sollten, welche aus der Wohnungsnoth erwachsen und welchen sie fast wehr- und schutzlos gegenüberstehen.“ Alles ging prächtig von Statten, bis der „schwarze Freitag“ für Oesterreich, der 9. Mai, mit seinen verheerenden wirthschaftlichen Katastrophen hereinbrach. Der Cottageverein hat sich allerdings, dank den ehrenhaften Männern, welche seine Leitung in Händen hatten, und die zumeist auch heute noch an der Spitze des Vereines stehen, mit Ehren aus der Affaire gezogen, allein es konnte doch nicht gehindert werden, daß auch ihm durch den Krach Wunden geschlagen wurden, so schwer, daß er sich vielleicht nie mehr ganz von denselben erholen wird. Mit heroischer Ausdauer trug der Verein die Verluste, die ihn trafen, er wankte nicht, als Zweig um Zweig abfiel, als viele Mitglieder ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkamen und ihm all die angefangenen und vollendeten Bauten auf dem Halse ließen; er kämpfte sich wacker durch, aber sein ursprüngliches Programm einzuhalten war er nicht mehr in der Lage, weil es ihm an einem Publicum fehlte, das ihm hätte entgegenkommen können.
Die fröhliche Gartenstadt, die der Leser in diesen Blättern abgebildet findet, liegt in Währing, einem Vororte von Wien, an der sogenannten Türkenschanze. Der Eindruck, welchen die ganze Anlage macht, ist ein sehr behaglicher, und überall bei der Anlage des Ganzen, sowie bei den einzelnen Hausplänen, ist ein praktischer, auf möglichsten Comfort gerichteter und doch nie die Rücksicht auf Sparsamkeit aus dem Auge lassender Sinn wahrnehmbar. Das Grundstück, auf welchem sich die Häuser und Gärten erheben, ist etwas über zwölf österreichische Joch (über sechs und einen halben Hectaren) groß, und wird durch drei Längen- und vier Querstraßen, die sich auf der Anlage kreuzen, durchzogen, sodaß sechs große Rechtecke gebildet werden, welche Raum für siebenzig Häuser sammt Gärten bieten. Die Häuser, zumeist an die Formen deutscher Renaissance mahnend und von anderen Baustilen durchbrochen, bieten in ihrem Anblicke angenehme
[234] Abwechselung, haben aber doch durch die fast durchweg gleich eingehaltene Höhe und sonstigen Merkmale wieder mancherlei Gleichartiges. Die Straßen sind durchweg sieben bis acht Klaftern (vierzehn bis sechszehn Meter) breit, haben zu beiden Seiten einen mit vortrefflichem Neuschateler Asphalt (bituminöser Kalkstein) belegten Bürgersteig (Trottoir), Wasserabläufe, unterirdische Unrathscanäle, Gasbeleuchtung, Wasserleitung aus der bekannten Hochquellenleitung, Alleen zu beiden Seiten der Straßen, kurz, es ist den Anforderungen der Annehmlichkeit ebenso Rechnung getragen, wie jenen, welche Reinlichkeit und Gesundheitspflege bezwecken. Hierzu gehört auch die Anlage der Gärten und Vorgärten, in denen die Häuser hineingestellt erscheinen, sodaß jedes Haus mindestens von drei Seiten Licht, Luft und Sonne hat und sich dadurch vortheilhaft von den Häusern in der Stadt unterscheidet. Die Häuser sind nach gleichen Principien gebaut, wie erwähnt, meistens gleich hoch, mit Souterrain, Hochparterre, erstem Stockwerke und Mansarden, und bei allem Comfort doch höchst einfach und solid erbaut. Wer auf diesem Terrain bauen läßt, muß sich den hier geltenden Grundsätzen anbequemen, wozu auch die Bestimmung gehört, daß nach vollendetem Baue weder ein Zubau noch Umbau gestattet wird, durch welchen die Aussicht oder das Licht benommen werden könnte. Ebenso dürfen in diesen Häusern weder lärmende, feuergefährliche, noch auch üblen Geruch verbreitende Gewerbe betrieben werden, eine Bestimmung, die darnach angethan ist, den Aufenthalt in den Cottages angenehm zu gestalten.
In allem ist die fürsorgliche Aufsicht des Vereinsausschusses sichtbar, welcher, unter der Leitung des Oberbaurathes Heinrich Ritter von Ferstel, des genialen Erbauers der alten Weltausstellungsbesuchern in bester Erinnerung stehenden Votivkirche, seine Geschäfte besorgt. Mit besonderem Geschick aber ist die schwierige Aufgabe gelöst worden, die mitunter knapp bemessenen Mittel des Vereins mit den Anforderungen in Einklang zu bringen, welche Schönheit, Eleganz und Zweckmäßigkeit an die einzelnen Bauten stellten. Architekt Karl Bockowski hat hier mitunter Ueberraschendes mit kleinen Mitteln zu leisten verstanden, sodaß manche Cottage schon mehr der prunkhaften Villa gleicht. Zu den sehenswerteren Bauten gehören die Cottage Ferstel, die Villa des Hofschauspielers Hartmann und jene des Leipziger Theaterdirectors Dr. Förster (obere, linke und rechte Ecke der Randzeichnung). Eine Specialität der Cottage-Anlage sind die vielen Aussichtsthürme, wie dies auch die Zeichnung kund giebt, und welche mancher sonst einfachen Cottage ein ganz stattliches Aussehen verleihen.
Ein solcher, ganz unvermuthet reizender Punkt ist die auf unserem Mittelbilde beflaggt gezeichnete Aussichtswarte, von welcher man nicht nur die ganze Cottage-Anlage wie auf einem Präsentirteller übersieht, sondern auch die große „Wiener Stadt“ sammt der herrlichen Umgebung: Leopoldsberg, Bisamberg, Marchfeld, Kahlenberg, Hermanns- und Tulbingerkogel, Sophienalpe, Heuberg, Satzberg, Galitzynberg, Aninger- und den Schneeberg.
Die Baukünstler, die das Alles so schön und dabei so praktisch hergestellt haben, tragen freilich keine Schuld daran, daß die Zeitverhältnisse den Verein verhindern, seinem ursprünglichen Zwecke voll und ganz zu entsprechen. Die „sogenannten kleinen Leute“, für welche doch in erster Linie der Verein in’s Leben gerufen wurde, können längst hier nicht mehr mitthun, denn das billigste Familienhaus des Cottagevereins stellt sich auf rund zehntausend Gulden und die jährlichen Kosten dafür betragen in runder Summe nahe an tausendfünfhundert Gulden. Für die „sogenannten kleinen Leute“ ist das zu viel; für das Geld könnten sie ja auch im Centrum der Stadt eine recht angenehme Wohnung haben, und dabei würden sie noch die Kosten sparen, die ihnen bei dem Aufenthalte in den Cottage-Anlagen durch die täglich doch mindestens zweimalige Benutzung von Stellwagen oder Pferdeeisenbahn erwächst.
Wenn es sich nun also auch herausstellt, daß der Verein seinen ursprünglichen Zwecke doch nicht zu entsprechen vermag, wenn es sich auch als unmöglich erwiesen hat, in Wien für den Mittelstand Wohnhäuser mit Gärten zu schaffen, so muß das selbstlose Wirken des Cottagevereins doch in hohem Grade anerkannt werden. Er hat Wien um einen reizenden Stadttheil bereichert; er hat siebenzig von freundlichen Gärten umgebene Familienhäuser geschaffen, die ja für Wien einen Fortschritt bedeuten, wenn sie auch vor der Hand den „kleinen Leuten“ noch nicht zu Gute kommen können, und er hat endlich die große Frage der Wohnungsreform in Wien, wenn auch nicht gelöst, so doch in Fluß gebracht. Eine Baugesellschaft, die Wien mit einem so schönen Schmucke bedacht hat, die siebenzig Bauten vollendet hat, ohne dabei einen selbstsüchtigen, materiellen Vortheil zu suchen, verdient die ungeschmälerte Hochachtung, und diese sei ihr auch gerne gezollt!
O winterlicher Frühlingstag,
Verschneit sind alle Blüthen;
Das erste Veilchen birgt am Hag
Sich vor der Stürme Wüthen;
Nur hier hat liebend sich vereint
Der Blumen ganze Fülle;
Ein duftumwehter Sommer scheint
Des frischen Hügels Hülle.
Und bleibt verhängt der Sonne Licht,
Das ihren Kindern leuchtet,
So fehlen doch die Tropfen nicht
Des Thau’s, der sie befeuchtet;
Es blickt kein Auge thränenleer,
Zum Troste für die meinen.
Ist ihm das Herz zum Brechen schwer,
Dann darf der Mann auch weinen.
O Gott, wie klingt es dumpf und hohl
Aus meinem Mund hernieder,
Für Dich das letzte Lebewohl,
Du Vater meiner Lieder!
Stets hab’ ich freudig offenbart
Mein Hassen und mein Lieben,
O, wäre ewig doch erspart
Mir dieses Lied geblieben!
Ernst Keil nun über zwanzig Jahr’
Steh’ ich bei Deinen Fahnen,
Und kämpfend sind wir immerdar
Geschritten gleiche Bahnen.
Nie hab’ ich auf dem schwanksten Steg
Mich rückwärts umgesehen,
Denn immer war’s der rechte Weg,
Sah ich voran Dich gehen.
Dich, eines deutschen Mannes Bild
In edelster Vollendung.
Voll heil’gen Ernstes, stark und mild,
Erfüllt von seiner Sendung –
So hast Du aus des Kerkers Nacht,
Wie eine Offenbarung,
Einst Deines Lebens Werk gebracht:
Des Deutschen Geistes Nahrung.
Der stets Dein tiefstes Herz bewegt,
An’s Vaterland der Glaube,
Mit treuem Sinn hat ihn gepflegt
Die deutsche „Gartenlaube“.
Und ihr, die unser Schirm und Hort,
Die unser letztes Lieben,
Der Freiheit bist in That und Wort
Ergeben Du geblieben.
Fahr’ wohl! Noch ist dem Schmerz verwehrt,
In Ruhe sich zu fassen.
Es darf in dieser Zeit vom Schwert
Der Mann die Hand nicht lassen.
Du bist am Ziel; einst sind auch wir
Erlöst vom Kampfgetriebe;
Ach, blieb’ uns Allen dann, wie Dir,
Zuletzt so viele Liebe!
Neben dem Einflusse der großen öffentlichen Monumentalbauten hat es wesentlich die Gründerzeit bewirkt, daß die Reichshauptstadt wieder zu einer Kunstbildungsstätte von Bedeutung erhoben wurde; denn besonders dem gewaltigen Aufschwunge, den die Production von Kunstwerken durch das Luxusbedürfniß dieser Periode nahm, ist es zu danken, wenn man dem früheren kläglichen, kopflosen, bureaukratisch beaufsichtigten Provisorium endlich von oben her ein Ende machte und die Akademie von Berlin vor gänzlichem Verfalle rettete, indem man ihr jenen jugendlich schmächtigen, aber von rücksichtsloser Energie und Zähigkeit wie von burschikoser Laune und geistiger Frische in jeder Faser erfüllten Anton von Werner zum Director gab. Von dem Moment ab, wo das Genie dieses Mannes mit Hülfe der einheimischen Kräfte von moderner Bedeutung und anderer Gehülfen, die er aus dem übrigen Deutschland herbeigezogen, das Institut zu regeneriren begann, erscheint die Kunstakademie von Berlin wenigstens in ihrem Lehrerapparat auf der Höhe, welche der Hauptstadt des neuen deutschen Reiches würdig ist. Und ob auch die Reorganisation sonst noch in den Windeln liegt, ob auch die alten Classenformen, der alte Raummangel und damit zusammenhängend der Mangel an Meisterateliers (nur Knaus und von Werner unter den Malern besitzen ein solches) bis jetzt bestehen: die völlige Umgestaltung des Instituts ist doch verbürgt, und jetzt schon – welch ein frischer Geist weht durch diese Berliner Schule! Man muß Anton von Werner kennen, um zu begreifen, wie sich alle Haare auf den Häuptern der alten Geheimraths-Bureaukraten sträuben mußten bei dem Gedanken, das gerade Gegentheil von zopfiger Würde und diplomatisch geschliffenem Anstande auf dem Präsidentenstuhle eines staatlichen Instituts von solcher Bedeutung zu sehen, – einen Mann, der durch nichts Respect einflößt, als durch sein Genie und die hinreißende, rücksichtslose Kraft seines Wesens.
Zwei Richtungen modernster Art theilen sich in die wichtigen Lehrstühle: jener Realismus, welcher im Großen und Ganzen nur malt, was man auch gesehen haben könnte, und welcher die Charakteristik, das Individuelle gegenüber der classischen Schönheitsschablone bevorzugt, und der Naturalismus eines Gussow, dessen Symbol das gelbe Schnupftuch geworden ist, das er so gern malt, des Meisters, von dem man behauptet, daß er einen photographischen Apparat im Auge habe. Gussow, der, nebenbei bemerkt, ein ausgezeichnetes Lehrtalent besitzt, ist jedenfalls ein Farbengenie ersten Ranges, aber ein abgesagter Gegner der Idee in der Malerei, ein Naturalist vom reinsten Wasser. Der Realismus ist in der deutschen Reichshauptstadt an der Spree sehr reich vertreten, zumal unter den Malern. Zu seiner Fahne schwören fast alle übrigen Häupter der Berliner Malerei, wie nachfolgende Namen zeigen: der Altmeister A. Menzel, Anton von Werner, Paul Meyerheim, Knaus; in der Sculptur neigt ausgesprochen R. Begas zu ihnen. Diese Elemente bedingen zweifellos die nächste Zukunft der Berliner bildenden Kunst, obschon die Akademie ausdrücklich das „Schule machen“ ablehnt und nur eine gründliche technische Ausbildung für den jungen Nachwuchs anstreben, die Richtung des eigenen Schaffens aber dann völlig der individuellen Neigung überlassen will. Wie groß der Einfluß der genannten Kunstprincipien schon jetzt auf die verschiedenen Schattirungen des älteren Idealismus ist, welche in Berlin officielle oder private Ateliers innehaben, kann man auf Schritt und Tritt gewahren.
Jedenfalls giebt es vorläufig alle möglichen Richtungen in den Kreisen der Berliner Kunst, und unter dem weiten Dache des „Vereins Berliner Künstler“, an dessen Spitze seit lange der allbeliebte Steffeck steht, vereinigen sich alle Elemente in munterer Geselligkeit. Leider fehlt dem eigenen Dache noch das eigene Haus; bis der Sammelfonds zu einem Künstlerhause die ausreichende Ziffer aufweisen wird, müssen die künstlerisch ausgeschmückten Miethsräume im Industriegebäude Unterkunft gewahren.
Für das diesmalige Winterfest, zu dem mit Rücksicht auf den Ausfall des vorjährigen ungewöhnliche Anstrengungen gemacht waren, hatte man sogar zu den Räumen des Kroll’schen Theaters gegriffen. Die Berliner Künstlerschaft sollte glanzvoll repräsentirt werden. Die kurz vorhergegangene Tizian-Feier konnte man trefflich in einem „Tizian-Feste“ nachklingen lassen. Julius Lohmeyer, der Begründer der unvergleichlichen „Deutschen Jugend“, hatte das eigentliche Festspiel gedichtet, von dessen ernster Haltung zwei dramatische Producte tollsten Künstlerhumors in heitere Festlaune zurücklenken sollten. Ein „Costümfest“ war angekündigt und zwar eines – ohne Damen. Das schwere Unrecht, das in dieser letzten Bestimmung enthalten war, hatte die Gewissen der Festveranstalter doch dermaßen beschwert, daß die Generalprobe, welche den Nachmittag des 16. März ausfüllte, zu einer Vorstellung für die schöneren Hälften der Künstlerschaft und ihrer Mäcenaten und Freunde ausgestaltet worden war. Sie waren denn auch zu dem sehr zweifelhaften Genusse erschienen – den sich übrigens auch Prinz Georg, der Dramatiker, vergönnte – und Julius Wolff, der reichbegabte Aventiurendichter, hatte sich in einem launigen Prologe alle Mühe gegeben, die Sühne für den Ausschluß vom Abende durch ein reuiges Bekenntniß vollständig zu machen.
Endlich sinkt die Dunkelheit über Berlin.
Vor dem Kroll’schen Etablissement rasselt Droschke nach Droschke heran, um sich wundersam verkleideter Insassen zu entledigen und den weiten, lichtbestrahlten, zum Saale umgewandelten Fond des Theaters füllen zu helfen. Spät erst schlüpfen wir hinein durch ein Spalier von Landsknechten, stattlichen Gestalten im „echten“ Costüme – denn „echt“ will der Künstler das Costüm haben, und mitleidige Blicke treffen den Unglücklichen, der aus historisch nicht gezügelter Phantasie oder aus Sparsamkeitsrücksichten die Trachtenbestandtheile der Jahrhunderte schnöde zusammenwirft. Nur ein Großer in der Kunst darf es, etwa in humoristischer Absicht, wagen: er bietet Garantie genug gegen den Verdacht mangelhafter Kenntnisse. Die Landsknechte mustern uns, und da wir weder im „Knallbonbonanzuge“ noch als „Kammerherren, Kattunmönche etc.“ auftreten, welche Trachten die Karte verpönt, so passiren wir unaufgehalten.
Welch ein lustiges, farbenprächtiges Gewühl! Das Auge schweift erst geblendet über das wogende Durcheinander, ehe es durch ein paar auffallende Erscheinungen auf die Einzelheiten gelenkt wird. Die Charakterfigur, die historische Tracht herrscht fast unbedingt. Reich vertreten ist besonders das Venedig des 15. und 16. Jahrhunderts, vom Dogen bis zum Fischer, aber auch die Trachten anderer Länder aus der nämlichen Zeit. War doch Venedig ein Sammelpunkt für Typen von aller Welt her. Zahlreich sind die Angehörigen des geistlichen Standes, die Cardinäle, Bischöfe, Mönche. Aber von einer durchgehenden Rücksicht auf die Tizian-Zeit ist keine Rede. Dort schreitet ein echter Incroyable aus der französischen Revolutionszeit neben einem riesigen Assyrer, der die altassyrische Kinnbart-Ergänzung vermittelst eines Wachsstocks mit vorgebogener Spitze hergestellt hat; Ritter und Eskimos, Mauren und das zierliche Rococo-Costüm daneben; ein Marokkaner, mit sicher echtem Costüme: denn der Träger ist Ludwig Pietsch, und die Kleider und Waffen sind ein Geschenk des Kaisers von Marokko an diesen; Chinesen (darunter zwei wirkliche), auch eine entzückend hübsche, vollendet imitirte Japanesin, von Kriegern ihres Landes geleitet und mit reizender Koketterie japanesische Bildchen und Schriften vertheilend, neben etlichen der Feuerwehr angehörigen Mohren; hier ein gut erkennbarer Napoleon der Erste, dort ein ungemein antik wirkender Nero, und da, mit stoischer Ruhe das Getümmel durchschreitend, ein Tabaksmonopol-Bismarck, der ein paar Fuß weniger an Größe aufweist, als das Original, und der ein offenes Kästchen mit Cigarren auf der Brust trägt. Er mahnt schon ein wenig wie Caricatur, und es fehlt nicht ganz an wirklichen Caricaturen, wie jenes Baby von sechs Fuß mit Puppe und Spielzeug zeigt, das, sich gegen die Liebkosungen der Umstehenden sträubend, ängstlich die Schürze der Amme festhält.
Wir wenden uns endlich durch ein paar Ausrufe der Ungeduld an das Festspiel erinnert, das eigentlich längst hätte beginnen sollen, der Bühne zu und bemerken jetzt erst, daß der Vorhang des Kroll’schen Theaters durch einen anderen offenbar nur für dieses Fest gemalten ersetzt ist. Hübner ist der Schöpfer, und das Werk lobt den Meister. Plötzlich fliegt ein Gerücht [237] durch den Saal: der Kronprinz kommt auf ein Stündchen; die Aufführung wird deshalb aufgehalten. Das Gerücht bestätigt sich; die Landsknechte, welche rechts vom Eingange bei ihrem fähnleingezierten Zelte ein mächtiges Faß Bier in Humpen zerlegen, rüsten sich schon, um einen Ehrentrunk zu präpariren.
Aber erst gegen halb zehn Uhr rasseln die Trommeln, und Commandorufe ertönen; endlich tritt die Ehrenwache allein in den Saal. Der Kronprinz hat es vorgezogen, die dort für ihn reservirte Tribüne mit einer der leeren Logen zu vertauschen; oben erscheint über der Balustrade das wohlbekannte Gesicht des leutseligen Fürsten, der nicht zum ersten Male der Gast des Künstlervolks ist.
Trommelwirbel, Fanfaren – im Dogengewande und von Hellebardieren geleitet, erscheint Rudolf Löwenstein, der Kladderadatsch-Gelehrte, und hält mit tönender Stimme die Begrüßungsrede an all das Volk, das zum Canale grande gewallfahrtet; ein Evviva! auf die Kunst, mit dem die launigen Worte schließen, findet jubelnde Aufnahme. Theuerkauf, der in allen Sätteln gerechte Vereinscomponist, dirigirt seine Fest-Ouvertüre, und der Vorhang rollt auf.
In zwei Acten spielt sich der „Tizian Vecellio“ Lohmeyer’s[1] ab, ein geschickt eingefädeltes Intriguenstück, das in poetisch glanzvoller Sprache dem Zwecke des Festspiels gerecht wird: eine weihevolle Stimmung zu Ehren des Titelhelden zu erzeugen und die Entfaltung eines Glanzes von scenischen Mitteln, einer Bilderpracht zu ernöglichen, die berauschend wirkt. Den Höhepunkt der Wirkung bezeichnet die Scene des zweiten Actes, in welcher die ehemalige Königin von Cypern, Katharina Cornaro, in der Verkleidung als Venetia vor dem zur Uebersiedelung nach Rom entschlossenen, weil vom hohen Rath gekränkten Tizian erscheint, um ihn zum Bleiben zu ermahnen. Fräulein Meyer vom Hoftheater hat diese Rolle übernommen; ihre Collegin, Fräulein Hofmeister, spielt die Braut Tizian’s. Auf dem Hintergrunde von Wilberg’s prächtigen venetianischen Landschaften wickelt sich das Stück ab, an den Glanzstellen von lautem Beifalle belohnt und am Schlusse zu dem unerläßlichen Festzuge überleitend, der sich von der Bühne herunter und zweimal um den Saal bewegt. Julius Lohmeyer ist der Erste gewesen, der seiner Zeit mit dem (jüngst auch bei Meister Lessing’s Jubiläum in Karlsruhe aufgeführten) Dürer-Festspiel in Berlin die feierliche Festpracht eingeführt hat, welche in München und Düsseldorf länger schon die dortigen Künstlerfeste mit strahlendem Märchenglanze umgeben. Und in der That: ein solcher Festzug ist von unbeschreiblicher Wirkung. Man höre!
Landsknechte mit Trommeln, Fahnenschwenker, ein Herold, Hellebardiere, Mohrensclaven, die einen mit Siegestrophäen und Gold- und Silbergeräthen reichbeladenen Wagen ziehen, Fahnenschwenker der Bannerträger mit dem Marcusbanner, der Doge, welchem Pagen die Mantelschleppe tragen, mit der ganzen Obrigkeit von Venedig, die fremden Gesandten, die Geistlichkeit, Alles in hoher Gala. Dann der prächtige Triumphwagen der Venetia mit goldenem Thronsessel, auf dem Fräulein Meyer vornehm prächtig als Cornara-Venetia unter ihrer phrygischen Mütze, einen silbernen Dreizack in der Hand, herunter lächelt. Sclaven mit Pfauenwedeln stehen ihr zur Seite; Pagen mit dem goldenen Buche und der Dogenmütze und kleine anmuthige Mädchengestalten in altrömischer Tracht, Rosenkränze im Haar, zieren den Wagen. Tizian (beiläufig: Maler Paulsen in prächtiger Maske) und Cäcilia, seine anmuthige Braut, folgen, dahinter Tizian’s Freunde, Künstler, Nobili und Bürger, ein Wagen mit dem reichausgeführten Schiffsmodell des „Bucentoro“, Schiffsvolk und Fischer, die im Netz ein Ungeheuer von Fisch tragen, endlich Chinesen, Japaner, Assyrier, welche die Spitze ihrer Wachsstockbärte angezündet haben, Flaggen von Cypern und Candia und das Banner des heiligen Theodor, zum Schluß wieder Hellebardiere.
Das ungefähr waren die Bestandtheile eines Zuges, dessen Pracht und Farbenreichthum jeder Beschreibung spottet. Nach seiner Rückkehr auf die Bühne schließt das Ganze mit einer Apotheose des Tizian.
Der Kronprinz hat seine Loge bereits verlassen. Der ganze Trubel löst sich auf und ergießt sich in die Tunnelräume des Erdgeschosses, während im Saale die Tafeln schnell hergerichtet werden. Der übrige dem leider nur allzulange vernachlässigten Magen und der Entfaltung übermüthigsten Künstlerhumors gewidmete Theil des Festes zieht sich bis zum Morgengrauen hin. Die großen Tischpausen dieses wunderlichen, in seinen Genüssen allerdings tadellosen Soupers, das erst gegen fünf Uhr mit den Compots und mit Eis schloß, verstatteten doch nicht recht, in zwanglosem Verkehr unter den bunten Trachten die Träger weitbekannter Namen aufzusuchen, von denen es wimmelte; denn ein ganzes Stück Kunst- und Literaturgeschichte saß da essend und plaudernd umher. Als daher der officielle Theil des Abends mit der Aufführung der beiden Festschwänke vorüber war (ein paar Toaste und die humoristische Erklärung der von Skarbina gezeichneten Tischkarte durch Rudolf Löwenstein fügten sich vor und hinter den ersten Schwank), da begann ein Ausschwärmen wie von Bienen, daß die Kellner nicht mehr wußten, wo sie ihre sehr schätzenswerthe Last an den Mann bringen sollten. –
Aber wir dürfen nicht so über die Festschwänke hinweggehen. Man denke sich nur ein musikalisches Quodlibet, wie es E. Jacobsen mit Capellmeister Steffens so hochkomisch zusammengestellt hatte und welches als „Arien-Fricassée, ein Rendezvous in der Wolfsschlucht“, in Scene ging: ein Zusammentreffen des Caspar aus dem „Freischütz“ und des Banditen Barbarino aus „Stradella“ mit dem in Geld- und Liebesnöthen schwebenden Grafen Almaviva beim Gastwirth Samuel in der Wolfsschlucht zu einem Wurstpicknick, zu dessen Herstellung die Wildsau aus dem „Freischütz“ geschlachtet worden! Der „steinerne Gast“ aus dem „Don Juan“ gab diesmal keine „Gastrolle“, sondern erschien im Gegentheil als Kellner. Ein paar der beliebtesten Bühnensänger – Woworski besonders durch Beifall ausgezeichnet – waren bei der Aufführung der tollen Farce betheiligt und sangen die besten Arien ihrer Rollen, natürlich mit sehr verändertem Text. Und nicht minder burlesk war die zweite Posse „Hamlet“, von dem naturwissenschaftlichen Humoristen Stinde, eine so geistreiche wie drollige Verarbeitung des Gegensatzes zwischen Idealismus und Realismus in der Malerei. Die komischste Figur darin ist Hamlet’s spukender Vater – nach seiner eignen Versicherung „der Geist, der, wie Jedermann weiß, der jetzigen Malerei fehlt“, ein wie ein weißer Mehlsack in Unterkleidern und Zipfelmütze umherwandelndes Individuum, welches lange Thonpfeifen raucht und einer wahren Manie des Pfeifenzerbrechens huldigt, nebenbei gelungene Couplets singt, wie: „O, welche Lust ein Geist zu sein!“ nach einer bekannten Melodie aus der weißen Dame. Ophelia gab der Verfasser selber, der sich eines ziemlich herculischen Gliederbaues und einer wahren Bärenstimme erfreut, und der Hamlet war ein Meisterstück von Coulissenreißerei.
„Heiter ist die Kunst“, das konnte der Zuschauer und Zuhörer bei diesen Schwänken mit Händen greifen. Aber die heitere Kunst amüsirte sich und Andere bei einer Temperatur, welche durch die guten Weine nicht herabgemindert wurde, die zu diesem Zwecke reichlich in Verwendung kamen.
Ziehen wir uns in die kühlen Kellerräume des Tunnels zurück! Der liebenswürdige Paul Thumann, der schönheitsgesättigte Poet mit Stift und Pinsel, als Zeichenlehrer eine der besten Kräfte des Berliner Instituts, winkt uns drunten. Bald haben wir Anton von Werner neben uns, welcher mit uns über die Beschickung der Pariser Ausstellung durch die deutsche Kunst und über Berliner Akademiezustände plaudert; das gemüthlich-derbe, rothe Gesicht Gussow’s, der seinen Eisenhelm mit der Rose und dem berühmten gelben Tuche auf den Tisch setzt, erscheint gleichfalls in nächster Nähe; noch mancher andere Held des Pinsels und der Feder kommt und geht. Nur unser freundlicher Tischnachbar Arthur Levysohn, der Ausgewiesene von Wien, der Begründer des „Deutschen Montagsblattes“, ist uns unwiederbringlich verloren – es ist schon Sonntag geworden – ein schlimmer Tag für den Redacteur einer Montagspost!
Und endlich kommt auch für uns der Kehraus. Es gewährt einen seltsamen Eindruck, wie ein paar der letzten Nachtschwärmer neben uns im Costüm italienischer Banditen müde an den phantastischen Wagen des Festzuges im Vorraum vorüber und in den grauen Morgen des Thiergartens hinausschwanken.
[238]Ernst Keil’s Begräbniß. In den Vormittagsstunden des 26. März haben wir unseren unvergeßlichen Ernst Keil zu seiner ewigen Ruhestätte geleitet, und unzählige treue Leser seiner „Gartenlaube“ erwarten von uns nun Bericht und Rechenschaft über die Vorgänge des erschütternden Actes, dem sie aus der Ferne, wie wir das aus einer fast erdrückenden Menge von Zuschriften ersehen, so viele stille Grüße inniger Theilnahme gewidmet haben. Was nur Liebe und schmerzlichste Bewegung einem Hingeschiedenen auf seinem letzten Wege noch zu spenden, was Ehrfurcht vor seiner Mannestugend und seinem unbestrittenen Verdienst in eifervollem Drange ihm noch darzubieten vermag, das hatte sich von den verschiedensten Seiten her vereinigt, um die Feier der Bestattung Ernst Keil’s nicht blos in hohem Grade imposant zu gestalten, sondern auch mit dem Glanze einer Weihe zu durchwärmen, wie ihn conventionelle Beileidsbezeigungen und blos äußerliches Gepränge einem solchen Traueracte nicht zu geben vermögen. Es war das Bezeichnende und Denkwürdige an diesem Glanze, daß er zweifellos aus der innersten Tiefe der ergriffenen Seelen kam, daß er so überwältigend aus allen Worten und Aeußerungen, aus den gebeugten Mienen und umflorten Blicken, aus vielen Hunderten von Männer- und Frauenaugen geleuchtet hat. Niemals haben wir ein so mannigfaches und erschütterndes Bild aufrichtigen und heiß ausströmenden Männerschmerzes gesehen, als an dem Sarge und Grabe Ernst Keil’s. Und welch eine Versammlung hervorragender, durch Geist, Charakter und Verdienst ausgezeichneter Männer war es, die sich da eingefunden hatte!
Als die unerwartete Todesnachricht am 23. März plötzlich in der Stadt sich verbreitet hatte, bemächtigte sich eine wehmuthsvolle Bestürzung der weitesten Kreise, und es erfolgte natürlich in den nächsten Tagen ein Herbeiströmen zahlreicher Personen, um den tiefgebeugten, von herbstem Schmerze erfaßten Angehörigen die Hand drücken und dem so schnell hinweggerissenen Freund einen letzten Gruß der Liebe widmen zu können. Der Verewigte bot einen Anblick, der dem Bilde des Todes seine Schrecken nahm. In einem Walde von hohen Palmen und sonstigen Blattpflanzen, umgeben von einem wahrhaft strahlenden Blumenfrühling, lag die stattliche Gestalt im Sarge, aufrecht das Antlitz, eine stolze und doch unendlich milde Hoheit in den verklärten Zügen, wahrlich ein jäh dahingestreckter Held, ein schlafender Kämpfer, der zum ersten Male die Ruhe gefunden nach Lebenstagen voll erfolgreicher zwar, aber unablässig sturm- und drangvoller Arbeit.
Schon am Morgen des Begräbnisses füllten sich die Straßen in der Nähe des Trauerhauses mit dichten Menschenmassen. Wer sich da bewegte, konnte herzliche Aeußerungen der Trauer und des Lobes über den Verewigten aus dem Munde schlichter Leute hören. Es waren da Viele, denen er freundlich gewesen, die er reichlich unterstützt hatte, denen er ein Wohlthäter, vielfach ein Retter war mit seinem weichen und großen Erbarmen für alle menschliche Noth. In den hohen und weiten Räumen der Keil’schen Familienwohnung hatte pünktlich neun Uhr das außerordentlich zahlreiche Trauergefolge aus allen Schichten der Bevölkerung sich zusammengefunden; vom Arbeiter der Druckerei bis zu den höchsten Spitzen der städtischen Behörden waren hier alle bürgerlichen Stände durch namhafte Repräsentanten vertreten. An der Seite des Sarges saß die gebeugte Gattin mit den trauernden Töchtern, im engeren und weiteren Kreise umgeben von den Schwiegersöhnen, den sonstigen Verwandten und näheren Freunden des Hauses. Auf dem weiten Corridor vor der geöffneten Thür des betreffenden Saales drängte sich Alles, was in demselben einen Platz nicht mehr hatte finden können.
Der ausgezeichnete Gesangverein „Typographia“ hatte sich die ihm gern gewährte Ehre erbeten, die Ausführung der Trauergesänge übernehmen zu dürfen. Mit dem herrlich ausgeführten Liede Kreutzer’s: „Ich suche Dich, o Unerforschlicher!“ wurde die ernste Feier eröffnet, und Professor Riedel, der gefeierte Tonmeister, sprach zuerst als Schwager des Heimgegangenen in tiefempfundenen Worten den gewaltigen Schmerz der Familie aus über die unausfüllbare Lücke, welche der Tod eines solchen Hauptes in diesen liebevollen Kreis gerissen hat; hierauf feierte der Buchhändler Stadtrath Wagner im Namen des deutschen Buchhandels das Andenken des großen Berufsgenossen; die eigentliche Trauerrede im Namen der Presse und des deutschen Volkes hielt sodann Albert Traeger, der von Berlin herbeigeeilt war, wo er als Mitglied des Reichstages weilt, um beredtes Zeugniß abzulegen für den langjährigen väterlichen Freund. In kurzen Zügen und in meisterhafter, von hohem Schwunge der Rede und des geschmack- und poesievollen Ausdrucks beseelter Schilderung entwarf Traeger ein dem tiefsten Herzen entströmtes, durch überzeugende Wahrheit packendes Charakterbild Keil’s als Schriftsteller und Redacteur, als Mensch, Bürger und unentwegter Mann des Volkes. Unbeschreiblich war der Ausdruck der Ergriffenheit und Erhebung, welche bei und nach diesen Worten durch die Gemüther der Anwesenden zogen, und rings umher sah man Thränen fließen, als die Klänge eines lieblichen Schlußliedes „Lebe wohl in schön’rer Welt“ mit sanfter Tröstung in diese bewegte Stimmung fielen. Mit diesem Liede hat es eine eigene Bewandtniß, die so ganz der Gemüthsart Keil’s entsprechend war, als ob er die Wahl des Textes selber getroffen hätte. Wohl in einer Anwandlung von Todesahnung hatte der wenige Tage vorher gleichfalls schnell verstorbene Gustav von Meyern, ein Freund Keil’s (auch Verfasser der schönen Erzählung „Teuerdank’s Brautfahrt“ im letzten Jahrgang der „Gartenlaube“), den herrlichen Abschiedsgruß vom Leben auf seinem Krankenlager verfaßt. Beim Begräbniß des Dichters ist das Lied nach der Melodie Mendelssohn’s zu „Wer hat dich, du schöner Wald“ zum ersten und am Sarge Keil’s zum zweiten Male gesungen worden.
Zwischen den stark angesammelten Massen der herbeigeströmten Zuschauer bewegte sich der großartige Leichenzug durch die nach dem Friedhof führenden Straßen. Bis in die obersten Etagen waren die Fenster vieler Häuser geöffnet und mit Zuschauern besetzt. Dem Zuge voran schritten Turner mit ihrer Fahne. Dicht hinter dem Leichenwagen, zu dessen beiden Seiten die zahlreichen Markthelfer Keil’s hohe Palmen trugen, kamen zunächst die Mitglieder der Redaction der „Gartenlaube“, zum Theil seine langjährigen, mit ihm ergrauten Freunde. An diese schlossen sich die ihrem Chef gleichfalls sehr treu anhängenden Comptoirbeamten des Hauses, fast lauter gereifte Männer, von denen sich Einige schon zwanzig und dreißig Jahre im Dienste desselben befinden. Es folgten nun die bei der „Gartenlaube“ und dem Keil’schen Verlag beschäftigten Schriftsetzer, Drucker, Buchbinder etc. Ein großes Gefolge von Deputationen und privatim erschienenen Freunden, sowie eine kaum übersehbare Reihe von Wagen, in deren ersten die nähern und entfernteren Leidtragenden Platz genommen hatten, beschloß das Ganze.
Feierliche Posaunentöne begrüßten den Zug, als er auf dem Friedhofe sich dem Grabe näherte, das dem Verstorbenen dicht neben der Gruft des geliebten einzigen Sohnes bereitet war. Schreiber dieser Zeilen hatte noch vor nicht viel mehr als drei Wochen fast um dieselbe Tagesstunde mit dem rüstigen Manne an demselben gestanden. Die Feier war hier kurz und schlicht, aber eindrucksvoll. In Vertretung der Redaction legte Dr. Ernst Ziel einen Lorbeerkranz mit einigen herzlichen Worten ehrenden Angedenkens auf den Sarg. Dann pries Dr. Goetz von Lindenau im Namen der deutschen Turnerschaft in frischer, kerniger und scharf zugespitzter Turnerrede noch einmal das Wirken und die großen Verdienste Keil’s als schlichten Bürgers, als treu, mannhaft und unerschütterlich für die Grundsätze des Volksrechts und Volkswohls, für die Sache des deutschen Vaterlandes kämpfenden Patrioten. Noch mehrere Redner wünschten zu sprechen, aber die Rücksicht auf das unfreundlich gewordene Wetter gebot den Schluß. Lange aber dauerte es, ehe nach den nächsten Angehörigen und Freunden die letzten der Anwesenden sich herbeigedrängt und ihre Handvoll Blumen in das Grab gestreut hatten. Fassen wir aber den Sinn und Eindruck aller Einzelnheiten dieser ganzen Trauerfeier zusammen, so war sie eine nicht künstlich gemachte, sondern einmüthig, warm und unmittelbar dem Drange der Ueberzeugung entsprossene Demonstration, ein glanzvolles und hochermuthigendes Anerkennungszeugniß für die große volksthümliche Mission der liberalen Presse, für den entschieden freisinnigen und humanen, aus edelster Sittlichkeit und Idealität erwachsenen Geist, der das Wesen Ernst Keil’s in so ausgeprägter Weise bestimmt und bezeichnet hatte. – Aus der Nähe und Ferne waren dem Verewigten im Ganzen gewidmet worden: hundertsechs Kränze und dreiundzwanzig Lorbeerkränze, sechsundsechszig Palmenzweige und vierzehn große Fächerpalmen, darunter auch eine von Marlitt, nebst einem Kranze von derselben Hand, aus dessen Band in rührenden Worten der Schmerz und das unauslöschliche Dankgefühl der Dichterin ausgesprochen waren. Aus Langensalza, dem Geburtsorte Keil’s, war der Bürgermeister nebst einer Deputation des Gemeinderaths beim Begräbniß erschienen. Der Gemeinderath der Stadt Ilmenau sandte für den Ehrenbürger derselben einen Lorbeerkranz mit herzlichem Beileidsschreiben. Unübersehbar bis jetzt ist die Zahl der Zuschriften und Gedichte, welche aus allen Gegenden Deutschlands und des Auslandes bei der Familie und Redaction eingegangen sind.
Wir schließen unsere traurige Mittheilung mit dem Bemerken, daß die „Gartenlaube“ im Laufe der nächsten Zeit ein ausführlicheres Lebens- und Charakterbild Ernst Keil’s nebst dem Portrait desselben ihren Lesern vorführen wird.
Von Seiten der meisten Mitarbeiter und vieler Leser der „Gartenlaube“ ist in Folge des Trauerfalls, der uns und sie alle so schwer betroffen hat, bei der Redaction eine, wir dürfen wohl sagen, fast erdrückende, aber in ihrer Bedeutung auch herzerhebende Zahl von innigsten Beileidsbezeigungen eingegangen, Schmerzensäußerungen in jeder Form, in Briefen, in Telegrammen, in geschriebenen und selbst in gedruckten Gedichten. Aus ihnen allen spricht und athmet nur das Eine: die Bestürzung über ein Unglück, an dessen Hereinbrechen Niemand glauben wollte, auf dessen unerbittlichen Schlag Niemand außerhalb unserer Stadt, ja in Leipzig selbst, vorbereitet war. Alle diese Schriftstücke sind, als treueste Zeugnisse der wahrhaft großartigen Verehrung und Liebe, die der eine und einzige Mann sich im Leben erworben, mit gewissenhafter Pietät gesammelt und geordnet worden und werden für immer eines der Denkmäler bilden, die des Verewigten Heim- und Arbeitsstätte zieren.
Dagegen – und diese Entschuldigung wird man ja rücksichtsvoll gelten lassen – ist es uns unmöglich, für alle solche Einsendungen unsern Dank anders auszusprechen, als mit diesen Worten, die wir hiermit an Alle zugleich richten. Unsern Mitarbeitern danken wir ganz besonders für ihre Zusicherung der unwandelbaren Treue und redlichen Begeisterung, mit welcher sie auch ferner an der alten lieben „Gartenlaube“ festhalten wollen, und den Lesern und Freunden unseres so froh und hoffnungsstolz gefeierten Weltblattes wiederholen wir hiermit öffentlich das Gelöbniß, daß wir, die wir unter Ernst Keil’s Führung zur Mitwirkung an der Redaction der „Gartenlaube“ berufen wurden, Alles daran setzen werden, um dem Blatte die außerordentliche Theilnahme zu erhalten, durch welche es ein hochgeschätztes Eigenthum des deutschen Volkes auf der ganzen Erde geworden ist.
- ↑ Die drei Künstler-Festspiele des Dichters, welche der Verein zur Aufführung gebracht hat, darunter der „Tizian“, sind gelegentlich dieser Festaufführung bei Georg Stilke in Berlin in äußerst geschmackvoller Ausstattung erschienen D. R.