Die Gartenlaube (1879)/Heft 1
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No. 1. | 1879. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
Nachdruck und Dramatisirung verboten.
Uebersetzungsrecht vorbehalten. |
Irrende Sterne.
„Sobald ich weg bin, lieber Rüchel, nehmen Sie alle die Sachen, die ich Ihnen bezeichnet habe, und schaffen sie in meine – in unsere neue Wohnung, wollte ich sagen.“
„Jawohl – in unsere neue Wohnung.“
Es war ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, der dieses zu einem älteren Manne sagte. Jener trug die dunkle, goldgestickte Uniform eines Civilbeamten, die auf irgend eine hohe feierliche Gelegenheit hindeutete, und warf im Spiegel noch einen letzten Blick auf seinen Anzug. Mit dem Menschenbilde, das ihm daraus entgegenschaute, konnte er gerade zufrieden sein. Nicht sehr Viele hatte Mutter Natur so wohl ausstaffirt in’s Leben gestellt. Eine ansehnliche Figur – schlank, in den Schultern breit, dabei in mannesbewußter Haltung, ferner ein Kopf mit ein paar großen, grauen und hellen Augen, aschblondes volles Haar und ein gerade nicht vernachlässigter Schnurrbart gruppirten sich zu einer männlichen Erscheinung, welche die Augen gar mancher Evatochter auf sich zu ziehen vermögend war.
„Jawohl, wenn ich so ausgesehen hätte, wie ich heirathsfähig war, dann hätte ich auch eine Andere bekommen, als die meinige. Sie können lachen, Herr Assessor.“
Der Andere, der sich außer dem Assessor in der einfach eingerichteten Stube befand und diese Bemerkung machte, war etwa um zwanzig Jahre älter. In seinem gebeugten Rücken und in den charakteristischen Bewegungen der Gestalt und Arme verrieth er das Metier, das er durch sein ganzes Leben getrieben hatte – die Stiefel so blank zu machen, daß sie seinem Herrn bei jedem Schritte dessen Spiegelbild vorhielten, und die Kleider so emsig und kräftig zu bürsten, daß er sie in möglichst kurzer Zeit selber tragen konnte. Rüchel suchte noch einige Sachen zusammen.
„Die Kaffeemaschine auch mit in’s neue Logis?“
„Die können Sie behalten, Rüchel.“
„Na freilich – der Kaffee wird Ihnen jetzt besser schmecken, als der, den ich Ihnen gemacht habe.“
Damit zog er ein rothes Tuch heraus und brachte es an sein Gesicht. „Die Mamsell von Gyps mit dem halben Beine – die soll auch mit in das neue Paradies wandern?“
„Die können Sie auch behalten – das heißt, wenn Ihre Frau nicht eifersüchtig darauf wird.“
„Auch noch Witze machen!“ murmelte der Diener und trocknete sein Gesicht wieder mit dem Taschentuche. „Freilich, Sie kriegen eine Schönere – die ist nicht von Gyps, und der alte Rüchel kann mit der da abziehen. Nichts hat auf der elenden Welt doch Dauer als das, was wechselt.“
Dabei stieß er plötzlich Laute aus, daß der jüngere Mann sich nach ihm umwandte.
„Was ist Ihnen, Rüchel?“ fragte er antheilvoll.
Keine Antwort. Rüchel hantirte nur um so eifriger. – Dann wurden ihm die Arme plötzlich gehalten, und der junge Mann schaute ihm fragend in’s Gesicht. Durch diese Bewegung brach letzterer die Zurückhaltung, welche der Diener noch mühsam sich erkämpft hatte. Dieser schluchzte laut auf.
„Aber Rüchel –“
„Nun ja – da soll man am Ende gar noch lustig sein, wenn man von einander geht! Sechs Jahre, Herr Assessor, seit Sie hier sind, sind wir beisammen, und ich war mit Ihnen zufrieden und Sie haben nicht einmal ein Stück Zeug oder einen Stiefel nach Einem geworfen, wie das unter gebildeten Menschen doch so vorkommt, und wenn zu Hause bei mir was passirte, so eine Erkrankung oder Feuersbrunst, immer waren Sie bei der Hand. – Es ist ein gottverfluchtes Schicksal, daß zwei so anständige, so liebe Menschen, wie wir sind, aus einander gehen müssen.“
„Und an mein Glück, Rüchel, denken Sie gar nicht? Nicht daran, daß in zwei Stunden mir das zu Theil wird, wonach Tausende ihr Lebtag vergebens gekämpft haben, was ich in meinem Herzen – ersehnt – o ja – aber nicht zu erhoffen wagte – meine Herzliebe als mein trautes Weib?“ Damit nahm der Sprecher vom Schreibtische ein Bild und drückte es an seine Lippen; dann stellte er es wieder hin und sagte seinem Diener: „Um das Bild brauchen Sie sich nicht zu bekümmern. Das soll kein Anderer berühren – das nehme ich gleich mit mir.“
Es war die mit Oelfarben gemalte Photographie eines jungen und schönen Mädchens. Rüchel betrachtete das Bild und sagte halblaut, gleichsam so für sich:
„Hm, hübsch ist sie – die hätte mir auch gefallen können“.
„Wer?“ fragte der Assessor.
„Na, die da – “
„Wer – die da?“
Rüchel verstand sehr wohl den erhobenen verweisenden Ton in der Stimme des Assessors und antwortete etwas kleinlaut und dabei pikirt:
„Ihr hochgeehrtes Fräulein Braut. Ich hatte es gleich weg, daß mit Ihnen was los war. Früher, da war Alles recht, was ich machte und wie’s war. Als Sie aber anfingen sich nach den [2] Marktpreisen immer zu erkundigen und am hellen lichten Tag Lackstiefel anzuziehen, da wußte ich, was die Glocke geschlagen hatte. Ei – der Assessor, der auch auf den Sprenkel! Sie waren geliefert, wie ich es schon an so vielen meiner Herren erlebt habe. Sie sind nicht der Erste, der –“
Der Assessor lachte und meinte, daß das eben keine sehr erfreuliche Hochzeitsstimmung sei, die Rüchel ihm da bereite.
„Man kann Einem vor dem Heirathen gar nicht genug Angst machen. Jeder glaubt, daß er mit dem Trauschein auch gleich eine gestempelte Versicherung auf ewiges Glück in die Rocktasche mitbekomme. Schön wär’s wohl – aber Sprenkel – Sprenkel!“ Dabei nahm er aus einer großen runden Dose eine Prise Tabak, zog das rothe Taschentuch wieder heraus und schnaubte sich. Der Assessor ärgerte sich im Stillen; er sah nach der Uhr und schaute dann durch das Fenster, ob noch kein Wagen vorgefahren sei.
„Den Wagen habe ich erst just um zwölf Uhr bestellt. Es sind kaum zwanzig Minuten über Elf. Freilich – weiß noch von meiner Hochzeit – und ich bin doch nicht in der Staatskutsche gefahren, aber die Stunde habe ich auch nicht erwarten können.“
„Werden Sie denn auch in die Kirche gehen, Rüchel?“
„Ich? Nein, Herr Assessor! Nur zu heiligen Zeiten und wenn was Freudiges los ist.“
„Rüchel, Sie sind aber von einer Rücksichtslosigkeit –“
„Es ist gut, wenn man auf das Schlimme vorher gefaßt ist,“ war des Famulus trockene Antwort.
Der Bräutigam warf wieder einen Blick in die Straße hinab. Noch ließ sich kein Wagen hören; dann versenkte er wieder Blicke und Gedanken in das Bild, das noch auf dem Schreibtische vor ihm stand.
Rüchel hatte den Vorwurf seines bisherigen Herrn empfunden und erachtete es für nothwendig, den üblen Eindruck abzuschwächen. Er begann davon zu sprechen, daß man seit lange kein so stattliches Paar in der ganzen Stadt zum Altare habe gehen sehen, als den Herrn Assessor von Rechting und seine Braut, Fräulein Doris Lammers. Er habe ihren Vater und ihre Mutter noch gekannt. Der Vater sei als armer Baubeflissener in die Stadt gekommen; die alte Schwiegermutter, also die Großmutter von Fräulein Doris, habe ihm sogar noch den Hochzeitsanzug kaufen müssen, dann aber, nach der Heirath, sei das Glück wie aus Scheffeln über sie gekommen.
„Nun, da sehen Sie es doch, Rüchel, daß Heirathen Glück bringt.
„Einmal ist kein Mal, Herr Assessor. Sie müssen nur nicht denken, daß es ihm von der Frau gekommen ist. Die Frau Bergräthin Lammers, die hätte das Vermögen auch nicht zusammengehalten; die hatte einen gar hohen Gusto – hui – haste was gesehen! Und wenn die Fräulein Tochter ihr nachschlägt – na! – Ein Glück eigentlich war’s, daß sie früh starb. Aber der Mann, der Herr Bergrath, der Vater von Fräulein Doris, der bedeutete drei Männer auf einmal. Auf einer ganz kleinen Klitsche, die er sich mit Schulden erkauft hatte, da hat er angefangen zu arbeiten, nicht über der Erde – Kohl, den kann jeder Stoffel bauen, aber was drunter ist unterm Kohl, das ist, was ihn fett macht. Der hatte gesehen, was da drinnen Alles gesteckt hat – die schönsten Kupfererze. Dann ging’s immer weiter mit dem Bohren hinein und mit dem Arbeiten drunter weg. Und so wurde er der reiche Lammers und Bergrath, und wo man einen gescheidten und braven Mann brauchte, hieß es: Wo ist Lammers? Wie oft habe ich bei den Diners im Hause aufgewartet! Nobel, Herr Assessor! Immer gab’s eine Flasche Wein extra. Die alten Hüte, die der Bergrath abgelegt hatte, die hab’ ich gekriegt, und die Tochter, die kriegen Sie nun, die wär’ mir schon lieber. Eigentlich kann man Ihnen gratuliren – das Kupfer hat viel Gold gebracht. Und wollen wir nur wünschen, daß des Vaters Art nachschlägt. Der infame Wagen kommt noch nicht.“
Wie langsam ging dem Bräutigam der Zeiger der Uhr! Seine Blicke richteten sich immer wieder nach dem Bilde der Braut hinüber, das aus dem dunklen Rahmen heraus mit verklärten Blicken nach ihm schaute. Sie trug ein weißes Kleid, um Kopf und Brust war ein schwarzes Spitzentuch geschlungen, eine dunkle Locke stahl sich aus diesem und ringelte sich auf die Brust. In der Hand hielt sie ihm einen Strauß von vollen Rosen entgegen mit einer Miene, als wollte sie sagen: Da, hier hast Du alle Blüthen, die ich zu bieten habe!
Der Bräutigam nahm das Bild, drückte seine Lippen darauf und flüsterte: „O Doris, wie glücklich werde ich sein!“
„Soll der Briefkasten auch mit in die neue Wohnung?“
„Ja gewiß, Rüchel. Hier nehmen Sie den Schlüssel und sehen Sie nach, ob kein Brief drin ist!“
Rechting hatte gestern im Laufe des Abends vergessen nachzusehen, auch heute. Nach einem Polterabende denkt man an keine Briefe, aber es mochte ja wohl der eine oder andere seiner auswärtigen Freunde oder Verwandten sich veranlaßt gefunden haben, ihm einen Glückwunsch zu schicken.
Rüchel ging und brachte einen Brief zurück. Es war der einzige in dem Kasten. Rechting schien die Handschrift nicht zu kennen; er öffnete das Couvert und sah nach der Unterschrift. Keine! Einen Moment war er unschlüssig, ob er lesen sollte. Er las.
„Anonyme Zuschriften können mehrfache Motive haben. Entweder will der Schreiber eine Bosheit an den Mann bringen oder eine Warnung, deren Quelle die Wahrheit und deren Absicht die der selbstlosesten Theilnahme ist. Der Schreiber dieser Zeilen bittet Sie, Letzteres anzunehmen. Vor dem Verdachte einer Bosheit schützt ihn die einfache Thatsache, daß er keine Verleumdungen gegen das Mädchen vorbringen will, das in wenigen Stunden Ihren reinen und ehrenvollen Namen tragen wird. Er sagt Ihnen nicht etwa: Fräulein Doris ist Ihrer unwürdig; ihr Herz ist kein so reines Gefäß mehr, daß es werth wäre, Ihre Liebe aufzunehmen – nein, selbst die böszüngigste Mißgunst könnte gegen Ihr Fräulein Braut nichts nach dieser Richtung hin vorbringen. Von Fräulein Lammers kann man das Beste sagen, was überhaupt von einem Mädchen gesagt werden kann: Sie hat keine Vergangenheit. Aber ebenso wenig, Herr von Rechting, werden Sie an ihrer Seite eine Zukunft haben. Sie liebt Sie nicht. Was Sie Ihrerseits als Liebe hinzunehmen versucht waren, das war Ihre eigene Herzensfülle, Ihre Sehnsucht nach einem andern Wesen, das Sie gleichsam aus sich selbst heraus im Drange Ihres Herzens sich neu erschufen. Der Reiz, die Anmuth Ihrer Braut, ein gewisser geistiger Anflug, dazu jener Grad von Liebenswürdigkeit und die magnetische Kraft des andern Geschlechts, die jeden Mann gewinnen müssen – diese Eigenschaften haben in der nur kurzen Zeit Ihres Brautstandes Ihre Augen geblendet, oder ich will sagen: Ihr eigenes Herz getäuscht. In Ihrem eigenen Lieben verwuchsen Sie der Art innerlich mit Ihrer Braut, daß es Ihnen zuletzt nicht mehr erkennbar war, wie viel von dem Gefühl Ihnen selbst zukam und wie wenig davon Ihrem zweiten Selbst, das Sie in Fräulein Doris Lammers erkannt haben wollen. Freilich ist nichts so undankbar für wohlmeinende Freunde, wie von Illusionen zu befreien. Wenn auch. Hier handelt es sich aber nicht um Dank oder Undank – nur um Ihr eigenes Heil, und das ist dem Schreiber Alles. Von anderer Seite wurden Ihnen, mein theurer Freund, jedenfalls kostbare Hochzeitsgeschenke dargebracht. Diese Zeilen sind die Hochzeitsgabe eines aufrichtigen Herzens und, wenn Sie diesen Fingerzeig beachten, vielleicht nicht die schlechteste.“
Nach einer halben Stunde fuhr der Wagen vor. Rechting hatte es nicht gehört; er hörte überhaupt nichts von dem, was um ihn her vorging; den Brief nur starrte er an und las ihn wieder und noch ein drittes Mal und noch öfter. Wer war der Schreiber? Diese Frage an sich selbst war das erste Symptom der Rückkehr seiner kritischen, wir wollen sagen: juristischen Verstandesthätigkeit. „Sie liebt Sie nicht!“ Wer kannte sie Beide, ihn und Doris, und ihre geheimsten innersten Berührungen so genau, daß er diese Zeilen schreiben konnte? Der Brief war von männlicher Hand geschrieben. Von einem Nebenbuhler, der ihm den Besitz seiner Braut neidete? Warum sollte das nicht sein? Es waren ja nicht Wenige gewesen, die um Doris geworben hatten, und ihm ward das Glück, die Braut heimzuführen. Ja wohl, ein Glück! Doris. Wie ein frischer Wind ein niederhängendes Segel plötzlich schwellt, so schlug sein Herz beim Gedanken an sie wieder hoch. Er warf all die scheinbaren Bedenken, Einwendungen, Warnungen über Bord. Er that recht so. Er mußte sich in dieser Stimmung erhalten. Räumte er einem einzigen dieser Sätze auch nur einen Moment des Nachdenkens ein, so nahm er die ganze Kette der Folgerungen auf, so mußte er alles Weitere zugeben, um zuletzt am Schlusse anzulangen: Sie liebt Dich nicht. Hiermit brach Alles zusammen; in diesem Falle durfte er seiner Braut nimmermehr das Jawort geben. Er zerknitterte den Brief [3] halb in Wuth, halb in Verzweiflung. Er machte sich selbst Vorwürfe. Wer ist auch so unklug, im Angesicht eines Schrittes, wie er zu thun im Begriffe war, einen Brief zu öffnen! Muß ein Bräutigam auf derartige Zuschriften nicht gefaßt sein, und muß es nicht in der männlichen Selbstständigkeit eines Charakters liegen, derartige Dinge mit verachtendem Stolze von sich zu weisen? Waren ihm in seiner juristischen, richterlichen Praxis nicht schon unzählige Beispiele vorgekommen? Ja wohl, aber da er nun selbst – weg – weg! Er setzte sich, den Kopf in beide Hände gestützt, vor seinen Schreibtisch, von welchem ihm das Bild entgegenlächelte.
Wenn seine heißen Lippen auf diesen dunklen Augen geruht hatten, und wenn diese dann unter den langen Lidern mit fast kindlichem Staunen nach ihm aufbrachen, war es ihm in dem glückschauernden Herzen dann nicht zu Muthe, als brächen vor ihm neue Quellen des Lebens auf? Und Solches könnte von einem Wesen gekommen sein, das ihm gegenüber fremd – kalt – innerlich unbetheiligt wäre? Die Rosen, die Doris ihm entgegen hielt, es war ihm jetzt, als wehte ihr Duft zu ihm herüber. Wie Balsam legte er sich auf sein Herz.
Er wurde ruhiger; das innere Aufwirbeln von finsteren Gedanken hatte sich gelegt; der Schluß war wie eine stille Abbitte an Diejenige, welche ihn jetzt zum verheißungsvollen Gange an ihre Seite rief. Eben ertönte die Stimme Rüchel’s:
„Herr Assessor, der Wagen ist unten.“
Der Angerufene, als wollte er das Bild aus allen Schatten von Zweifeln in sein künftiges Leben hinüber retten, nahm dasselbe mit raschem Entschluß und Griff und ging hinunter zum Wagen.
Rüchel trat an’s Fenster. Wie viele von seinen Herren hatte er schon einsteigen sehen, wie diesen da unten, und wie vielen wäre es besser gewesen, die Hochzeitskutsche wäre für sie nie vorgefahren – meinte er in seinen Gedanken. Er hatte Jeden gewarnt – aber mit dem Heirathen geht’s, wie mit allen anderen Erfahrungen. Jeder glaubt, das Schicksal hätte in das Näpfchen, das es ihm vorsetzt, gerade etwas ganz Besonderes hineingethan. Niemand auch geht dem Prellstein aus dem Wege, an dem sich schon Hunderte wehe gethan haben, außer wenn er sich selbst daran den Fuß verwundet hat. Aber dann ist’s meistentheils auch schon zu spät. Nun, immer zu! Glückliche Fahrt! Wer weiß? Einmal kann’s Einem ja wohl glücken.
Dabei nahm er eine Prise – der alte Pessimist. Der Wagen mit dem Bräutigam rollte davon, durch die Straßen, über die Plätze, und überall blieben die Leute stehen und warfen einen Blick der Neugierde in das Innere des Gefährtes. Kutscher und Diener auf dem Bocke trugen Rosensträuße in den Knopflöchern der Livréeröcke, und das deutete auf eine Hochzeit. Aber vorläufig fehlte die Braut, und ein Bräutigam allein hat für das große Publicum lange nicht das Interesse, wie jene. Rechting aber bemerkte das Alles nicht. Seine Gedanken waren weit voraus, die Stufen des Hauses, die Treppen hinauf, im bräutlichen Gemach bei Derjenigen, welche er nun in die Arme schließen sollte als sein und seines Herzens Eigenstes – vor Gott und Menschen. In aller Herzenslauterkeit, die er sich bewahrt, prüfte er sich auf diesem kurzen Wege noch einmal selbst; er fragte sich, ob er sein „Ja“ aus seiner Herzenstiefe heraus geben könne, und kam zu dem Ergebniß mit sich selbst. Ja, ja, tausendmal für einmal!
Da hielt nun der Wagen vor dem Hause, das rechts und links von dichten Zuschauermassen besetzt war. Des Bergraths Lammers Tochter war eine beliebte Persönlichkeit in diesem Stadttheile. Alle Welt hatte ihren Vater gekannt, und alle Welt glaubte sich daher berechtigt, sich um das künftige Schicksal der Tochter zu bekümmern. Wäre Doris ein armes Mädchen gewesen, würde sie unbeachtet und unbehelligt durch die Welt gegangen sein, aber so reich wie sie – und so hübsch und von allen Seiten so viel umfreit! bis der da kam – drinnen im Wagen; der mußte es sein. Hübscher Mann! Aber so ernst! Und ein Bräutigam, der eine solche Braut gewonnen, sollte doch von einem Ohr bis zum andern lachen! Wie er herausspringt und die Stufen zu dem Hause hinaneilt! Er wird sich jetzt wohl ein eigenes kaufen. Jawohl hatte er nach der Meinung dieser Leute Ursache, flink zu sein. Wer so ein Glück heirathet!
Der alte Diener des Hauses kam Rechting entgegen und zeigte ein recht frohes Gesicht. Ein paar Minuten vorher hatte er anders nach ihm ausgesehen – von Sorge bewegt. Und das sagte der Alte dem Bräutigam auch, daß man eben nach ihm hätte schicken wollen, aus Furcht, es möchte ihm etwas zugestoßen sein. – Der Brief kam dem Bräutigam wieder in die Gedanken, aber er sagte nichts.
„Soll ich Ihnen das da tragen, was Sie in der Hand haben, Herr von Rechting?“
„Nein, mein Freund. An das, was ich hier an meinem Herzen halte, soll keine fremde Hand rühren.“
Je weniger der mit einem neuen rothen Läufer bedeckten Treppenstufen wurden, desto rascher flogen seine Schritte hinauf in die erste Etage, wo die Hochzeitsgäste versammelt waren.
„Der Herr Assessor ist da, Fräulein Regina,“ rief der Alte einer Dame zu, die am Eingange zu den Gemächern stand und mit Spannung ihre Blicke nach der Treppe gerichtet hatte, um deren Biegung eben Rechting zum Vorschein kam.
Bei seinem Erscheinen schloß sie die Augen, wie Jemand zu thun pflegt, der innerlich tief aufringt, aber nur eine Secunde lang. Dann kam die in ein dunkelgraues Seidenkleid gehüllte hohe Gestalt ihm mit lebhaften, freundlichen Worten entgegen. Ein Ausdruck voller Güte beleuchtete ihr Gesicht.
„Wahrhaftig, wir waren schon in Sorge um Sie, Herr Assessor – vor Allen Doris. Die liebende Ungeduld einer Braut müssen Sie bedenken an einem Tage, wo Minuten zu Stunden werden und Stunden zu Minuten, wo man Allem eine Bedeutung beilegt. Aber kommen Sie! Ich will Sie zu Ihrer Braut führen.“
Sie führte ihn durch eine Flucht von Zimmern, wo die vollgedeckten Tafeln standen, und öffnete dann leise eine Thür, die in ein Damenboudoir sehen ließ. Da hinein schob sie ihn sanft, dann blieb sie vor der Thür stehen, machte eine Bewegung, als ob sie Mühe hätte, sich aufrecht zu erhalten und ging dann in die vorderen Zimmer, wo die Gäste versammelt waren. Die Diener präsentirten hier auf silbernen Platten Wein, Chocolade, Kuchen und Sandwiches. Wie die Tassen und Gläser von Hand zu Hand, so gingen die Reden von Mund zu Mund. Zwei Damen führten das Wort; die erste war eine Commerzienräthin von etwas ängstlichem Embonpoint, die andere die Frau Stadtsyndikus, dünn wie ein Zwirnsfaden.
„Ach ja, wenn sie nur glücklich werden!“ begann die Frau Commerzienräthin, „das ist das Einzige, was zu wünschen übrig bleibt. Das Uebrige haben sie ja Alles – in Hülle und Fülle. Der Vater hat für seine einzige Tochter mit aller Liebe gesorgt – und Alles in guten Papieren und festen Anlagen.“
„Das sagt mein Mann nicht, Frau Commerzienräthin,“ nahm die Frau Syndikus das Wort. „Erst jüngst war die Rede davon – mein Mann hatte Gelegenheit, einen Einblick in die Hypothekenbücher zu thun – überhaupt in Doris’ Vermögensverhältnisse.“
„Dem ältesten Sohne des Syndikus sollte Doris zum Opfer fallen, darum das rege Interesse,“ flüsterte die Commerzienräthin einer nebenstehenden Dame zu.
„Mein Mann wundert sich noch,“ fuhr die Dünne fort, „wie unvorsichtig der selige Bergrath gewisse Fonds und zwar den größten Theil derselben placirt hatte; mein Mann weiß das wohl zu beurtheilen –“
„Ihr Theodor sollte ja wohl um Doris freien?“ bemerkte spitz die Commerzienräthin.
„Albernes Gerede! Mein Theodor dachte nicht daran, und wir hätten es auch nicht gewünscht, ich und mein Mann nicht. Ja wohl, Doris ist ja ein vortreffliches Mädchen. Bei Leibe möchte ich nichts gegen sie sagen, aber die Erziehung durch die Mutter, die immer einen hohen Federbusch sich aufgesetzt hatte, und dann die splendide Gewöhnung des Mädchens, ist das der selige Bergrath wie in einen Spiegel hineinsah – wenn man erst zu Vermögen so allmählich parvenirt, ist das immer so, sagt mein Mann, der Syndikus. Hören Sie – Diener, Garçon – gehen Sie doch nicht so schnell mit den Austernbrödchen vorüber! Es ist noch lange hin bis zum Déjeuner dinatoire. Warum giebt man kein ordentliches Diner? fragte mich gestern schon mein Mann.“
„Da müssen Sie Fräulein Regina fragen,“ antwortete die Commerzienräthin, „Fräulein Regina dirigirt ja Alles bei Doris. Das ist ja eine Freundschaft, von der man nicht wußte, woher sie kam. Eines Tages war sie dann mit Sack und Pack hier angelangt. Bei Doris wollte sie nicht wohnen, um den Schein zu meiden, als würde sie von ihr ernährt. Stolze Unabhängigkeit! [4] Man kennt das. Sie ist Turnlehrerin; wie kann man sich da noch über etwas verwundern! Was es jetzt für weibliche Existenzen giebt! Wer hätte in unserer Jugend an eine Turnlehrerin gedacht! Und sind wir nicht auch in die Höhe gewachsen, haben wir nicht gute und angesehene Männer bekommen? Wie gefällt Ihnen übrigens Fräulein Regina?“
„Der jüngsten Eine ist sie nun gerade nicht mehr – nicht gerade häßlich. Wäre sie schöner, dann würde sich Doris wohl gehütet haben, sie an ihre Seite zu fesseln. So aber giebt sie ein bequemes Relief ab. Sie kokettirt mit Einfachheit – sehen Sie nur die Toilette! – wie eine graue Schwester sieht sie aus, was sogar meinem Manne auffiel.“
„Aber alles schwerer Rips,“ bemerkte die Commerzienräthin. „Was wohl Doris zum Brautkleid genommen haben mag? Das muß man sagen, die Herrschaften lassen Einen lange warten – natürlich wie alle vornehmen Leute. Auf den Adel ging der Sinn der Braut ja stets hinaus. Wir werden die längste Zeit mit Doris umgegangen sein!“
„Wie so?“ fragte mit gedehntem Gesicht die Frau Syndikus.
„Weil dort der neue Gesellschaftskreis der Frau von Rechting schon vertreten ist – der Geheime Legationsrath von Wandelt und Gemahlin.“
„Stolz und allein!“ höhnte die Dünne.
„Sie wissen, Herr von Rechting verkehrte viel in dem Hause – man glaubte, er würde die einzige Tochter Elsa heirathen; aber – wer kann’s ihm verdenken, wenn er einen Goldfisch haschte! Ob Doris den Assessor wohl aus Liebe heirathen mag?“
Die Frau Syndikus zuckte die Achseln und sprach ihre Zweifel aus, wie es auch schon ihr Mann gethan hätte.
„Haben Sie keine Sorge! Doris heirathet ihn aus Liebe; sie hätte auch keinen Andern geheirathet, so viele Freier sich ihr auch sonst in den Weg gestellt haben.“
Mit diesen Worten war Regina unter die Damen, welche diese Conversation führten, und mehrere eifrige Zuhörerinnen getreten, die sie um sich versammelt hatten. Die Zungen waren alsbald verstummt. Wüthende Blicke schossen auf das Mädchen, aber sie glitten an den grauen Augen desselben ab. Die Commerzienräthin verschlang ihren Aerger mit einigen Gänseleberbrödchen, und die Frau Syndikus arbeitete mit ihrem Flacon. Dann öffneten sich die Flügelthüren, und Erich von Rechting führte seine Braut in die Gesellschaft ein.
Das Bild im Sammetrahmen war durch den bräutlichen Schmuck in das züchtigste, seelenvollste Leben übertragen. Doris wagte aus den weißen Schleiern und Spitzen und dem Myrthengrün kaum aufzusehen. Sie hing an Erich wie eine Blume an ihrem Stengel, und die Glückwünsche, die von allen Seiten auf sie eindrangen, am eifrigsten von den Sprecherinnen, welche wir belauscht hatten, wurden von ihr mit einem zärtlichen Blick auf ihren Bräutigam beantwortet.
„Bist Du bereit, mein Lieb?“ flüsterte er ihr zu.
Statt aller Antwort gingen ihre Augen weit und voll nach ihm auf, und dann sanken die Blicke wieder in ihre Lider zurück. Das Uebrige war eine leise Neigung des Hauptes, als Zeichen der Uebereinstimmung.
Dann eilte der alte Diener die Treppen hinab, um den Befehl zum Vorfahren des Brautwagens zu geben. Im Flur hatte er eine alte Frau, eine Almosenempfängerin des Hauses, postirt. Von der sollte die Braut beim Ausgang aus dem Hause Brod und Salz empfangen und mit der linken Hand zu sich stecken; damit sichere sie sich Wohlergehen und Glück. Doris hatte dazu gelächelt, aber versprochen, es zu thun.
Während sich der Schwarm der Hochzeitsgäste, zumeist Verwandte und Bekannte der Familie, die Treppe hinunter ergoß, um dem Brautpaar vorauszufahren, war letzteres zurückgeblieben. Regina schloß voll Bewegung die jüngere Freundin in die Arme, küßte sie auf die bräutliche Stirn und sah ihr dann nochmals recht tief in die Augen, als wollte sie sagen: So warst Du mir theuer; so habe ich Dich gekannt. Wie wird es wohl nun mit uns werden?
„Werde glücklich!“ flüsterte sie. „Ich werde hier für Dich beten.“
„Kommst Du denn nicht mit in die Kirche?“
Ein leises Schütteln des Hauptes war die Antwort.
„Aber es war doch so bestimmt, Regina.“
„Ich fürchte mich – vor der Bewegung, Doris, ich muß mich schonen – meine Gesundheit – und die kalte Kirchenluft, die ich fürchte – ich kann nicht. Es ist am besten, ich bleibe hier.“
„Aber Regina, das macht mich fast traurig.“
„Laß’ nichts Dich traurig machen, wo Du glücklich werden sollst! Wozu nütze ich Dir denn? Hier, hier – der Gatte soll Dein Glück sein. Gott neige segnend sein Haupt über Dich! Ich werde hier für Dich beten.“
An den Fenstern der Wohnung erschien in dem Augenblick, als Erich und Doris zur Trauung abfuhren, die Gestalt Regina’s, wie ein Schatten, der im nächsten Moment wieder verschwunden war.
Im November 1778, als Lessing noch an seinem Schauspiel „Nathan der Weise“ arbeitete, kam er in einem Briefe an seinen Bruder Karl auf die Möglichkeit zu sprechen, daß das Stück endlich doch einmal auf’s Theater kommen könnte, und fügte hinzu: „Wenn es auch erst nach hundert Jahren wäre.“
Erst in den gegenwärtigen Wochen sind die hundert Jahre dieses Ausspruchs verflossen; aber schon vier Jahre nach dem Erscheinen des gedruckten Stückes, zwei Jahre nach dem Tode des großen Literatur-Reformators, hatte die erste Aufführung des „Nathan“ stattgefunden. In einem ungedruckt gebliebenen Vorwort zu dem Stücke sagte Lessing: „Noch kenne ich keinen Ort in Deutschland , wo dieses Stück jetzt aufgeführt werden könnte, aber Heil und Glück dem, wo es zuerst aufgeführt wird!“ Diejenige Stadt, welcher Lessing, mit Bezug auf die Tendenz dieser Dichtung, im Voraus „Heil und Glück“ wünschte, war Berlin. In der That konnte und durfte es keine andere sein, als die Hauptstadt desjenigen Staates, dessen großer König erklärt hatte, es könne hier „Ein Jeder nach seiner Façon selig werden“ – So gut wie das „Auch hier sind Götter!“ hätte auch jenes Wort Friedrich’s des Großen als Motto zu der Dichtung gepaßt.
Die sittliche und sociale Bedeutung des Lessing’schen Gedichtes überwiegt bei weitem dessen Wichtigkeit für die Geschichte und Entwickelung der dramatischen Poesie und des deutschen Theaters. In dieser Beziehung waren „Minna von Barnhelm“ und „Emilia Galotti“ folgenreichere Thaten. Für Lessing’s „Nathan“ ist deshalb auch das literarische Jubiläum von größerer Bedeutung als das theatralische. So groß auch die Kunst war, mit welcher er den so vorwiegend lehrhaften Charakter seines Gedichtes in dramatische Form zu bringen wußte, so hat doch auf dem deutschen Theater „Nathan“ seine feste Position nur durch seine Tendenz, durch seinen sittlichen Gehalt erlangt. Lessing selbst täuschte sich über den dramatischen Werth seiner Dichtung keineswegs. Er bezeichnet sie wiederholt in seinen Briefen als eine Frucht weniger des Genies als der Polemik, und schon im April 1779 schrieb er. „Es kann wohl sein, daß mein „Nathan“ im Ganzen wenig Wirkung thun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird. Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur Einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.“ Man beachte wohl: an der Evidenz und Allgemeinheit! Das
[5][6] heißt: an dem Alleinseligmachenden. Und hier sagt er nicht: der christlichen Religion, sondern „der Religion“ schlechtweg. Nur mit Bezug auf diese große Tendenz konnte auch ein Lessing, der so bescheiden von seinem poetischen Genie dachte, mit Stolz jene eben angeführten Worte schreiben. „Heil und Glück der Stadt“ etc.. In diesem Sinne ist das Werk das kostbarste Vermächtniß, das ein Dichter der deutschen Nation hinterließ, nicht nur der Nation, sondern der Menschheit; denn es ist das Evangelium der Toleranz, das Hohelied der Menschenliebe.
Die Vorgeschichte des Lessing’schen Dramas ist bekannt, aber wir müssen hier diejenigen Momente derselben berühren, die mit dem Kern der Dichtung im innigsten Zusammenhange stehen.
In den Jahren 1774 und 1777 gab Lessing, damals Bibliothekar an der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, die sogenannten „Fragmente eines Ungenannten“ heraus. Lessing hatte in seinem Vorbericht zu dem ersten Fragment die Meinung über den wahren Autor mit großer Vorsicht und aus triftigen Gründen irre zu leiten gesucht. Man hielt deshalb anfänglich Lessing selbst für den Autor. Erst später wurde es bekannt, daß der eigentliche Verfasser der im Jahre 1768 in Hamburg verstorbene Professor Hermann Samuel Reimarus war, ein entschiedener Anhänger der Wolf’schen Philosophie. In dem Manuscripte ist sein Werk betitelt: „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes.“ Lessing, der eine Abschrift dieses Manuscriptes von der Familie des Verstorbenen erhalten hatte, gab vor, dasselbe in der Wolfenbütteler Bibliothek gefunden zu haben. Er wollte dabei weder über den Autor etwas wissen, noch auch darüber, wie das Manuscript in die Bibliothek gekommen, ob es Fragmente eines Werkes seien etc..
Die Vorsicht bei der Veröffentlichung war durch die Rücksicht auf die Familie Reimarus, wie durch den Willen des Verfassers geboten, der eine so zeitige Veröffentlichung seines Manuskriptes nicht gewollt. Kühn genug war es, daß Lessing überhaupt von dem Manuscript etwas veröffentlichte. Denn da der Inhalt eine freimüthige Kritik der historischen Grundlagen des Christenthums war, und da in dieser Kritik die Auferstehung, die Wunder etc.. entschieden bestritten wurden, so konnte der Herausgeber erwarten, daß die Theologen in Eifer und Zorn gerathen würden. Lessing begleitete die Fragmente mit Bemerkungen, in denen er seinen eigenen Standpunkt durchaus wahrte; er deutete selbst an, was gegen die Einwendungen des ungenannten Autors zum Schutze der Bibel sich allenfalls sagen ließe. „Ja,“ fügte er hinzu, „selbst wenn nichts Entscheidendes sich dagegen sagen ließe, so wäre man darum noch keineswegs genöthigt, dem Ungenannten Alles zuzugeben, was er daraus zum Nachtheile der christlichen Religion folgerte.“ Noch bestimmter wahrte Lessing seinen eigenen Standpunkt in dem großen Satze: „Der Buchstabe ist nicht der Geist, und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen die Bibel nicht eben auch Einwürfe gegen die Religion.“
Trotz alledem machten die orthodoxen Theologen, an ihrer Spitze Pastor Melchior Göze in Hamburg, Lessing selbst für den Inhalt der Fragmente verantwortlich. Welche Streitigkeiten daraus sich entwickelten, ist bekannt. Die gegen Lessing gerichteten Angriffe des Pastor Göze riefen eine ganze Reihe von Schriften hervor, welche für seine unvergleichliche Meisterschaft in der Polemik Zeugniß geben. Aber die vernichtende Satire in der Form von Streitschriften, von denen die meisten unter dem Titel „Anti-Göze“ erschienen, ist es nicht allein, welche denselben Reiz und Werth verleiht. Der hamburgische Hauptpastor hatte ziemlich unverhohlen Lessing’s Christenthum selbst in Zweifel gezogen, und dagegen hatte sich Lessing mit dem höchsten sittlichen Ernste verwahrt. In seinem „Anti-Göze“ Nr. 7 bekennt er, daß der Verfasser der Fragmente, laut dem Vorbericht zu seinem Manuskripte, eine so baldige Veröffentlichung nicht gewünscht hatte, daß er die Gedanken nur zu seiner eigenen Gemüthsberuhigung niederschrieb. Sein Ungenannter habe geglaubt, daß die Zeiten sich erst mehr aufklären müßten, ehe man das, was er für Wahrheit hielt, öffentlich predigen könne. „Ich aber,“ setzt Lessing dem entgegen, „ich glaube, daß die Zeiten nicht aufgeklärter werden können, um vorläufig zu untersuchen, ob das, was er für Wahrheit gehalten, es auch wirklich ist.“ Und in einer späteren Schrift, die erst ist seinem Nachlasse sich vorfand, sagt er in Bezug auf die Fragmente und ihren ungenannten Verfasser: er habe denselben deshalb in die Welt gezogen, weil er nicht länger mit ihm allein habe unter einem Dache wohnen wollen „Ich bekenne, daß ich seinen Zuraunungen nicht immer so viel entgegen zu setzen wußte, als ich gewünscht hätte. Uns, dachte ich, muß ein Dritter entweder näher zusammen oder weiter auseinander bringen, und dieser Dritte kann Niemand anders als das Publicum sein.“ Solche Dinge sprach ein Lessing nicht, um sein Verfahren zu beschönigen, sondern weil dies seine wahrste, innerste Meinung war. Gleichwohl hatte der Lärm, welchen Pastor Göze gegen den Ungenannten und gegen Lessing selbst schlug, endlich doch zur Folge, daß im Juni 1778 die Waisenhausbuchhandlung von der braunschweigischen Regierung den Befehl erhielt, nicht das Geringste mehr von Lessing zum Druck anzunehmen, falls nicht die Handschrift zuvor einem fürstlichen Ministerium eingesandt und von demselben gebilligt wäre.
Lessing wollte die Confiscation des neuen Fragments gern geschehen lassen daß man aber seine eigenen Schriften ebenfalls confisciren wollte, mochte er nicht ruhig hinnehmen. Seinem Bruder Karl schrieb er deshalb im Juli 1778: „Darüber beiße ich mich auch noch gewaltig herum, fest entschlossen, die Sache auf’s Aeußerste ankommen zu lassen und eher meinen Abschied zu nehmen, als mich dieser vermeintlichen Demüthigung zu unterwerfen.“
Lessing hatte Ende 1777 und Anfang des folgenden Jahres furchtbar harte Schicksalsschläge zu erdulden, die seine kurze Vaterfreude und sein kurzes eheliches Glück vernichteten. Auch die theologischen Streitigkeiten mußten ihm, trotz der noch ungebrochen sein Wesen erfüllenden Kampfeslust, endlich herzlich überdrüssig werden, gerade weil er es redlicher mit der Sache meinte, als irgend Einer. Nach allem Erlebten war es begreiflich, daß er aus den theils widerwärtigen, theils rauhen Berührungen mit dem wirklichen Leben wieder einmal Zuflucht in der dichterischen Thätigkeit suchte. Den Ausschlag aber gab wohl sein Handel mit der braunschweigischen Regierung. Im August 1778 schrieb er seinem Bruder hierüber: um auf Alles dabei gefaßt sein zu können, müsse er Geld haben, und da sei ihm in der vergangenen Nacht ein „närrischer Einfall“ gekommen. Schon „vor vielen Jahren“ hätte er ein Schauspiel entworfen, dessen Inhalt eine Art von Analogie mit seinen gegenwärtigen Streitigkeiten habe. Er verweist hierbei seinen Bruder auf die dritte Novelle in Boccaccio’s „Decameron“, zu welcher er „eine interessante Episode“ erfunden habe, und er schickte ihm zugleich eine Ankündigung des Stückes zu, um damit eine Subscription auf dasselbe zu veranstalten.
Es ist rührend und schmerzlich, zu sehen, wie die heimliche Geldnoth den stolzen Mann antrieb, die Dichtung sobald wie möglich zu vollenden, und wie später, als durch seines Bruders Vermittelung ihm von einem seiner Verehrer, dem selber nicht wohlhabenden jüdischen Kaufmanne Wessely, eine Summe vorgeschossen wurde, die stete Sorge an ihm nagte, daß die Subscription vielleicht jene Schuld nicht decken könnte.
Noch ehe er im Besitze des Geldes war, schrieb er (den 20. October) an Karl G. Lessing: „Ich besorge schon, daß auch auf diesem Wege (dem der Subscription), auf welchem so Viele etwas gemacht haben, ich nichts machen werde, wenn meine Freunde für mich nicht thätiger sind, als ich selbst. Aber wenn sie es auch sind, so ist vielleicht das Pferd verhungert, ehe der Hafer reif geworden.“ Zwei Wochen später plagt er sich wieder mit dem Gedanken, daß die Sorge, Geld zu schaffen ihn in seiner Arbeit sehr stören werde. Und nochmals, im Mai 1779, schreibt er bezüglich der Subscription an seinen Bruder: „Ich weiß weder, wie viel Subscribenten Du, noch wie viel Voß hat. Am Ende kann ja Voß nicht einmal so viel haben, daß nur die dreihundert Thaler an M. W. in Leipzig davon bezahlt werden können. Alsdann käme ich gut an! Denn ich habe an M. W. einen Wechsel darüber auf vier Monate ausgestellt, der mir sodann auf den Häls käme, ohne daß ich die geringste Anstalt deshalb gemacht hätte. Du glaubst nicht, wie mich das bekümmert, und es wäre ein Wunder, wenn man es meiner Arbeit nicht anmerkte, unter welcher Unruhe ich sie zusammenschreibe.“
Von den ungeheuren Schätzen, dem ägyptischen Tribute, womit er im letzten Acte des Stückes seinen geldbedürftigen Saladin bereicherte, konnte Lessing sich selbst nichts andichten. Das Geschäft übernahmen dann spätere Andere, welche ihm in verleumderischer Absicht tausend Ducaten andichteten, die er für [7] seine Veröffentlichung der „Fragmente“ von der Judenschaft in Amsterdam als Geschenk bekommen haben sollte.
Kehren wir zu der dichterischen Arbeit und zu ihrer Geschichte zurück. Jene schon erwähnte „Ankündigung“ schickte er auch an seine Freundin Elise Reimarus (die Tochter des Verfassers der „Fragmente“) und bemerkte dazu. „Wenn Sie im ‚Decameron’ des Boccaz die Geschichte vom Juden Melchisedech, welche in meinem Schauspiele zu Grunde liegen wird, aufschlagen wollen, so werden Sie den Schlüssel dazu leicht finden. Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.“
In der That war ihm, wie er im October 1779 an seinen Bruder schreibt, vom braunschweigischen Ministerium sogar verboten worden, „auch nicht einmal auswärts etwas drucken zu lassen“, was er nicht zuvor der Censur eingesandt. „Das wäre mir eben recht,“ ruft er aus, „ich thue das nicht, mag auch daraus entstehen, was da will!“ Dann fährt er fort: „Jetzt ist man hier auf meinen Nathan gespannt und besorgt sich davon, ich weiß nicht was. Aber, lieber Bruder, selbst Du hast Dir eine ganz unrechte Idee davon gemacht. Es ist nichts weniger, als ein satirisches Stück, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlassen. Es wird ein so rührendes Stück, als ich nur immer gemacht habe“ etc..
Kurz darauf, im November desselben Jahres, kommt er in einem Briefe an seinen Bruder wieder darauf zurück, daß der Plan des Stückes schon vor drei Jahren gemacht war. „Ich habe es jetzt nur wieder vorgesucht, weil mir auf einmal beifiel, daß ich, nach einigen kleinen Veränderungen des Plans, dem Feinde auf einer andern Seite damit in die Flanke fallen könne.“ Dennoch setzte er, mit Bezug auf gewisse von dem Buchhändler Voß geäußerte Bedenken, hinzu, daß derselbe sich über diesen Punkt völlig beruhigen könnte. „Mein Stück hat mit den jetzigen Schwarzröcken nichts zu thun, und ich will ihm den Weg nicht selbst verhauen, endlich doch einmal auf’s Theater zu kommen, wenn es auch erst nach hundert Jahren wäre. Die Theologen aller geoffenbarten Religionen werden freilich innerlich darauf schimpfen, doch dawider sich öffentlich zu erklären, werden sie wohl bleiben lassen.“
Zu dem Prosa-Entwurfe des Schauspiels, der uns glücklicher Weise erhalten geblieben ist, hatte Lessing mehrere Notizen über den Fortschritt der Arbeit gefügt. Danach hatte er die Ausführung oder Versificirung der Dichtung Mitte November 1778 angefangen und Mitte März 1779 vollendet. Aber schon bald nach Beginn der Arbeit hatte er auch mit dem Drucke anfangen lassen, sodaß er schon den 1. December 1778 an seinen Bruder den Anfang des Stückes schicken konnte.
Die von Lessing als Quelle bezeichnete Geschichte aus Boccaccio’s „Decameron“, diesem so viel benutzten italienischen Novellenschatz, bildet in dem Lessing’schen Stücke nur eine hervorragende Scene, während alles Uebrige erfunden wurde. Das Bewundernswürdige bei dieser Erfindung ist nun weniger die poetische Inspiration, als die Schärfe des kritischen organisirenden Geistes, welcher alle Theile der Handlung zu dem Einen Punkte führt, auf den es ankommt. Auch diejenigen Abweichungen, welche der Dichter für zweckmäßig hielt, und welche hauptsächlich zu einer festern Zeichnung seiner Charaktere dienten, sind in Lessing’s Vertiefung und Erweiterung des Gedankens begründet. Die Geschichte von dem Sultan Saladin und dem Juden Melchisedech war übrigens auch nicht Boccaccio’s Erfindung, sondern sie findet sich ihren Grundzügen nach schon in den „Hundert Novellen“ und in den „Gesta Romanorum“. J. Dunlop, in seiner „Geschichte der Prosadichtungen“, meint, daß die meisten Geschichten, welche „einen Spott gegen die christliche Religion“ zu enthalten scheinen, von den Juden und Arabern Spaniens gekommen wären, und auch diese Geschichte sei wahrscheinlich irgend einer rabbinischen Tradition entsprungen. Dagegen muß aber bemerkt werden, daß es eine alte persische Erzählung giebt, die einige Aehnlichkeit mit der Ring-Geschichte hat; daß es sich aber dort weder um die jüdische noch um die christliche Religion sondern nur um drei verschiedene mohammedanische Secten handelt.
Wie dem auch sei: Lessing schöpfte direct aus dem „Decameron“ und ließ die Begebenheit in ihren äußeren Zügen ziemlich unverändert. Auch bei Boccaccio ist es Sultan Saladin, der – da er in großer Geldnoth ist – sich eines sehr reichen und sehr geizigen Juden (Melchisedech) erinnert, dem er, um von ihm durch eine List Geld zu erlangen, die Frage vorlegte, „welche von den drei Lehren, die jüdische, die saracenische oder die christliche, er für die wahrhafte halte.“
Von dieser Exposition der Geschichte ist Lessing nur darin abgewichen, daß er die List nicht vom heldenhaften Saladin selbst kommen läßt, sondern daß dieser erst durch seine Schwester dazu angetrieben wird, eine zwar für die Sache nicht wesentliche, für die Charaktere des Stückes aber vortreffliche Motivirung. Die Antwort, welche bei Boccaccio der Jude giebt, hat von Lessing zunächst das für seinen ethischen Zweck ungemein wichtige Motiv als Zuthat erhalten, daß der Ring, den der Vater stets nur Einem von seinen Söhnen hinterläßt, diesem nicht nur das größte Ansehen über seine Brüder verleiht, sondern daß der Ring zugleich die geheime Kraft besaß,
„Vor Gott und Menschen angenehm zu machen,“
ein Umstand, der gerade in der Anwendung auf die drei Religionen von größter Bedeutung ist. Bei Boccaccio schließt denn auch die Erzählung des Juden damit, daß die drei Söhne ihre Ringe nicht von einander unterscheiden können, und daß der Jude dieses Beispiel auch auf die drei Religionen bezieht. Alles was hiernach noch folgt, der Streit der Söhne unter einander, ihre Klage vor dem Richter und die herrliche Entscheidung des Richters, ist die Zuthat Lessing’s. Der Zug des feinen Spottes, der möglicherweise in der ursprünglichen Quelle gelegen, löst sich bei Lessing völlig in der Erhabenheit der Idee und in der ergreifenden Größe ihrer Durchführung auf.
Man hat dem Lessing’schen Stücke zum Vorwurf machen wollen, daß darin die Christen die unvortheilhafteste Rolle spielen. Man übersieht aber dabei, daß Lessing das Stück ausdrücklich gegen christlichen Hochmuth und christliche Intoleranz schrieb, weil diese in unseren europäischen Verhältnissen die eingreifendste Herrschaft übte, und weil ihm auch die Reinheit derjenigen Religion, welcher er selbst angehörte, mehr am Herzen lag, als die einer anderen.
Mit jener Sorte von „Toleranz“, welche nur das Negative dulden will, hat Lessing’s Anschauung nichts zu schaffen, und es ist unbegreiflich, daß auch heute noch Manche den Dichter in diesem Punkte mißverstehen. Gegen das Positive in der Religion wendet sich Lessing nur da, wo dasselbe eben die Unduldsamkeit in sich schließt. Läßt er es nicht z. B. in dem Klosterbruder, diesem entzückenden Musterbilde christlicher Demuth, Herzenseinfalt und Frömmigkeit, unangetastet? Die Fehler des jungen Tempelherrn sind Fehler seiner Jugend, Rauhheiten seines Standes; trotz derselben zeichnet ihn der Dichter doch vorwiegend als eine liebenswürdig männliche und offene Natur.
Unter den christlichen Personen des Stückes – die ausgezeichnete Charakteristik Daja’s betrifft doch mehr das Weib, als die Christin – ist mit unnachsichtiger Schärfe nur der Patriarch gezeichnet, als der unduldsame hochmüthige Pfaffe, dem nur die Macht der Priesterschaft, nicht aber die Reinheit und Größe des Christenthums am Herzen liegt. Uebrigens ist diese Figur auch eine historische, das Original war der Patriarch Heraklius in Jerusalem, ein notorisch nichtswürdiges Subject, und Lessing spricht in einer der Anmerkungen, die seinen Prosa-Entwurf zum Nathan begleiten, sein Bedauern aus, daß dieser Patriarch in seinem Stücke „noch bei weitem so schlecht nicht erscheint, als in der Geschichte.“ Allerdings hat Lessing in dem eigentlichen historischen Charakter des Stückes, dem Sultan Saladin, das geschichtliche Vorbild sehr verschönt und veredelt; aus dem einfachen Grunde, weil er ihn so für die Dichtung brauchte. Aber Saladin kann ebenso wenig als Repräsentant der mohammedanischen Religion betrachtet werden, wie der Patriarch als Vertreter der christlichen oder auch wie Nathan der jüdischen.
Nathan, als die Hauptperson des Stückes, mußte auch der Vertreter der sittlichen Idee desselben werden. Das war dem Dichter schon durch den Novellenstoff vorgeschrieben. Wer daraus folgert, daß in dieser Dichtung „der Jude“ auf Kosten der Christen erhoben ist, der vergißt zunächst, daß auch Nathan nicht als der strenge „Jude“ hingestellt wird, sondern als „der Weise“, nicht als der weise Jude, sondern als „der Weise“ überhaupt; nur als solcher war er im Stande, Recha weder als Christin, noch als Jüdin zu erziehen, sondern in der Religion der Sittlichkeit [8] und der Menschenliebe. Als strenggläubiger Jude würde Nathan am allerwenigsten eine solche Weltreligion der Menschenliebe gelehrt haben.
Der Lehrer dieser Religion ist aber der Dichter, ist Lessing selbst. Man hat Lessing’s Freund, Moses Mendelssohn, zum Vorbild für den Nathan machen wollen. Eines solchen Vorbildes bedurfte aber Lessing nicht, und jene Annahme ist allein darauf zurückzuführen, daß Lessing, da er den „Nathan“ schrieb, einen Moses Mendelssohn schätzte und liebte. Daß Lessing der jüdischen Religion denselben Vorwurf der Intoleranz machte, beweisen hinlänglich die Worte, welche er im „Nathan“ (2. Act, 5. Auftritt) dem jungen Tempelherrn in den Mund legt, über die Unduldsamkeit des jüdischen Glaubens, des jüdischen Volkes,
„seines Stolzes,
Den es auf Christ und Muselmann vererbte:
Dies ist des Dichters eigener Gedanke, der denn auch selbst wieder, in der Person des Nathan, darauf antwortet:
„Was heißt denn Volk?
Als Mensch?“
Sehr richtig aber hat Moses Mendelssohn geurtheilt, wenn er sagte, daß gerade der Christenheit Lessing’s Stück zur höchsten Ehre gereiche; denn ein Volk, in welchem sich ein Mann zu dieser Höhe der Gesinnungen hinaufschwingen konnte, mußte auf der höchsten Stufe der Aufklärung und der Bildung stehen.
Wenn wir, von der großen, erhabenen Tendenz absehend, die hell und klar wie die Sonne aus Lessing’s Dichtung uns entgegenstrahlt, den dramatischen Gehalt derselben prüfen, so können wir getrost zugeben, daß im „Nathan“ der eigentliche dramatische Pulsschlag kein besonders starker ist. Die ganze von Lessing erfundene Handlung besteht in den Verwandtschaftsverwickelungen oder vielmehr in der Lösung derselben; denn die Bedrohung Nathan’s durch den Patriarchen bringt, weil ohne Folgen dastehend, kaum eine stärkere Bewegung in die Sache. Aber auch die Verwickelung und Aufklärung der verschiedenen verwandtschaftlichen Beziehungen, obschon sie vortrefflich, wie die ganze Gruppe von Charakteren, der einen großen Idee des Dramas dient, hat an sich wenig Dramatisches oder Poetisches, so sehr sich auch in der Ausbeutung, in der lebendigen Farbe des Ganzen der wahrhafte Dichter zeigt. Mehr freilich noch in der vollendeten und lebensvollen Darstellung der Charaktere. In diesen Charakteren liegt der Schwerpunkt des Ganzen, nicht in der fortschreitenden Handlung. Diejenigen Scenen, welche unser Gemüth am stärksten bewegen, üben diese Wirkung durch die große Kunst des Dichters, mit der er den tiefsten geheimsten Empfindungen seiner Personen den ergreifendsten Ausdruck zu geben weiß.
Wo uns solche Schätze dargeboten sind, wäre es nicht thöricht, da zu sagen: Wir verlangen dafür etwas Anderes, wollen erschütternde Spannung und Aufregung, nicht das Labsal dieses reinen, erhebenden und läuternden Erquickungstrankes? Daß dieser ruhige, geräuschlose Gang der Handlung zu der Tendenz des Gedichtes vollkommen stimmt, darüber war sich Lessing selbst von vornherein vollkommen klar, und daß die Composition einer lebhafteren, schnell fortschreitenden Handlung nicht außerhalb seiner dramatischen Befähigung lag, sehen wir ja an „Emilia Galloti“. Aber ein Werk, das uns von den nichtigen Außendingen dieser Welt so ganz auf unser Innerstes, auf unsere reinste Menschlichkeit zurückführt, konnte und mußte sogar durch einen gemesseneren Gang auf unser Empfinden wirken. Nicht gewaltige Felsennatur, nicht stürzende Gewässer und brausende Stürme sind es, was uns hier umgiebt, sondern wir wandeln in einem heilig-stillen Haine, dessen hohe und leise sich bewegende Wipfel in den Himmel zu ragen scheinen.
David Friedrich Strauß hat Recht, wenn er in einer Vergleichung des „Nathan“ mit Mozart’s „Zauberflöte“ diese beiden Werke als schon „aus einer bessern Welt stammende Schöpfungen“ ihrer dem Heimgange nahen Schöpfer bezeichnet. Und wahrlich, wie vielen Patriarchen und andern Christenmenschen seit hundert Jahren auch Lessing’s „Christlichkeit" Scrupel gemacht hat: das reine Christenthum, diese Religion der Liebe, hat noch keine größere und beredtere Verherrlichung gefunden, als durch den Dichter des „Nathan“.
Kürzlich hörte ich von einer jungen Frau, die seit wenig Wochen glückliche Mutter war, die Aeußerung: „Es ist doch wunderbar, wie vollständig solch ein kleines Wesen unsere ganze Welt verändert! Viel, viel mehr, als es das Heirathen gethan hat. Der Schritt von der Frau zur Mutter ist noch viel bedeutender, als der vom Mädchen zur Gattin.“
Wie sehr hat sie Recht, die junge Mutter! In ihrem ganzen Leben hat eine Frau nie so viel Neues auf einmal zu lernen, wie in den ersten Wochen ihrer neuen Mutterwürde. Jede Person, die sich ihr nähert, spricht nur von kleinen Kindern, sodaß sie binnen vierzehn Tagen die Leiden und Freuden von vielleicht einem halben Hundert Wöchnerinnen herzählen hört. Es wird nach allen Richtungen hin die Pflege und Ernährung des kleinen Neugebornen besprochen, und von der alten Waschfrau an bis zur eleganten Freundin in der Seidenschleppe bringt jede Frau andere Erfahrungen und Beispiele an das Bett der jungen Mutter.
Wenn sie zum ersten Male wieder eine Zeitschrift in die Hand nimmt, ruft gewiß Jemand im Zimmer: „Du, da hinten steht ein interessanter Artikel über Ammen!“ Wird die Zeitung gebracht, so kann man darauf wetten, das junge Mütterchen schlägt sofort die Geburtsanzeigen auf, und es interessirt sie lebhaft von allen diesen wildfremden Frauen, ob sie Knaben oder Mädchen bekommen haben, und wie viele dieser Eltern von dem Ereigniß „hoch erfreut“ sind, wie viele andere es blos „ergebenst anzeigen“. Dies Alles ist von höchstem Interesse. Hat man es gelesen, so wird die Zeitung zugeklappt und weggelegt. Was könnte denn sonst noch darin stehen? – Die Welt ist ja doch nur dazu erschaffen, daß in ihr Babies geboren werden; was später aus allen diesen Säuglingen wird, ob sie sich verloben, heirathen und sterben, ob sie mit einander Krieg führen oder Frieden schließen – wie gleichgültig ist all dies einer Mutter, die ihr erstes Kindlein im Arme hält! – Aber langsam, ganz unmerklich rückt eine andere Zeit heran.
Wir meinen jetzt, die ganze Welt geht in die Schule und wird erzogen. Da ist so ein Zeitabschnitt von zehn bis zwölf Jahren im Leben unserer Kinder, wo die erste Frage, die man an neue Bekannte richtet, lautet: „In welche Schule schicken Sie Ihre Knaben?“ oder: „Haben Sie eine Erzieherin für Ihre Mädchen?“ Das Jahr wird nur nach den regelmäßig wiederkehrenden Prüfungen und Ferien gemessen.
„Wann ist der oder jener Besuch bei Euch gewesen?“ fragst Du, und die Antwort lautet:
„Gleich nach den Osterferien.“
„Wann hatten denn die Kinder die Masern?“
„Kurz vor den Herbstferien, also Anfang September.“
Es ist sonderbar! In dieser Zeit haben auch alle Leute, mit denen man verkehrt, schulpflichtige Kinder! Oder ist es umgekehrt? Verkehrt man nur mit solchen, die welche haben?
Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß die gleiche Spannung auf die nächsten Censuren, der gleiche Jammer über blässer und magerer werdende Kinder, dasselbe Schwanken zwischen Instituten und Hauslehrern wie bei uns in jedem Hause herrscht. Die ganze Welt ist eine einzige große Schule, in der alle Menschen sich blos in Lehrende und Lernende theilen. Und diese Periode ist vielleicht die Krone des Mutterlebens.
Noch halten wir das Schicksal der geliebten Kinder zum größten Theil in eigener Hand. Wenn es auch viele Sorge und Mühe kostet, man sieht doch täglich, ja stündlich die Resultate dieser Mühen! Man kann Alles ändern, was Einem fehlerhaft dünkt, und welche Befriedigung, wenn solche Aenderung sichtlich von gutem Erfolg gekrönt sein wird! Von Tag zu Tag
[9] entwickeln sich die Kinder mehr; sie sind schon im Stande, uns Freund und Freundin zu sein, und doch denken sie noch immer nur mit unseren Gedanken, fühlen nur unser eigenes Empfinden nach in dem reinen Kinderherzen. Noch ist keine Hoffnung geknickt, kein Traum zerstört; noch blickt die Mutter mit fester Zuversicht in die Zukunft. Sie hat ja die Kinder nach ihrem heiligsten Wissen und Können erzogen; sie hat ihr Herzblut daran gewendet, Tag und Nacht nie ein Opfer gescheut, um für ihre Lieben das zu ermöglichen, was ihr das erreichbar Beste schien; wie also könnte es ihnen jemals im Leben fehlen? Sie sind brav und gut; natürlich müssen sie auch glücklich werden. Da hat eines Tages die Mutter wieder einmal ein stilles Stündchen der Ueberlegung und bemerkt plötzlich, wie doch nach und nach Alles so anders geworden ist um sie herum. Es ist auch in ihrem Hause die Zeit herangerückt, wo man keinen Roman und keine Novelle mehr lesen mag, weil das, was man lebendig vor Augen hat, viel interessanter ist, als alle Bücher.
Das ist der zweite große Abschnitt im Frauenleben; ein Abschnitt, bei dem die Mutter all ihre Kraft, all ihren felsenfesten Glauben braucht, um ihn würdig zu durchleben. Jetzt ist mit Verstand und gutem Willen Alles, jetzt ist mit all der unermeßlich reichen Mutterliebe allein nichts mehr gethan. Das Kind verlangt, was Du ihm nicht geben kannst, und es treten neue menschliche Gewalten herein in sein Leben. Du bist nicht mehr die einzige Vermittlerin zwischen deinem Kind und seinem Schicksal: – das ist das Große, Erschütternde dieses zweiten Lebensabschnittes. So viele Eltern wollen es nicht begreifen und meinen, auch dann noch die Schicksalslenker ihrer Kinder bleiben zu können, wenn diese durch den urewigen Gang der Natur bestimmt werden, fortan die eigene Bahn zu wählen. Es liegt ja so nahe, es ist so begreiflich, daß treue Eltern auch den erwachsenen Kindern das bleiben wollen, was sie ihnen von Geburt an waren, aber es ist ein großer, oft sehr unheilvoller Irrthum. Unsere treu gemeinten, bestangelegten Pläne scheitern. Ergieb dich darein, sorgendes Mutterherz, und kämpfe nicht gegen das, was nie anders gewesen ist und nie anders sein wird.
Und wenn alles besser ausgegangen ist, als du gedacht, wenn Söhne und Töchter den Beruf gewählt und den eigenen Herd gegründet haben, dann fängt die Großmutter wieder von vorn bei den – Babies an und macht noch einmal bei den Enkelkindern denselben Kreislauf von Freuden und Sorgen durch, nur vergrößert durch das Weh, daß man oftmals ihrer Erfahrung nicht glauben will, und daß sie, den Enkeln gegenüber, wohl noch Rath, aber keine Entscheidung mehr hat. Endlich wachsen auch die Enkel heran und treten in die Welt; die Zahl der Lieben, über die man sich freut und für die man sorgt, wächst von Jahr zu Jahr; was interessirt dann zuletzt die Urgroßmutter ausschließend, sie, welche Kinder, Enkel und Urenkel von allen denkbaren Altersstufen besitzt? Ja, seht ihr, dann kommt eine Zeit, wo uns Hunderterlei ganz gleich lieb und wichtig ist, und wie man bei vernichtend schwerem Leide manchmal momentan nichts bemerkt, als eine an der Wand kriechende Fliege oder die am Fußboden tanzenden Sonnenlichter, ebenso kann eine alte Frau, die mehr als ein Viertelhundert Menschen ganz gleich innig liebt und völlig aufgeht in deren verschiedenartigen Freuden und Sorgen, in einer Art von Erschöpfung ihre Gedanken auf irgend eine Lappalie richten: ob der Tischler die Nägel gerade oder schief einschlägt, ob man die Fenster schon heute oder lieber erst morgen putzen soll, ob der eben gekaufte Stoff auch gut in der Wäsche halten wird? Man vergräbt sich förmlich in solch eine nichtige Sorge, schläft nicht ein darüber und bekommt Herzklopfen davon, und das kommt nur daher, daß keine unserer großen Sorgen die andere so zu überragen vermag, wie es in jüngeren Jahren die Ernährung unseres ersten Kindes, die erste Prüfung des Sohnes, das Liebedämmern im Herzen der ersten Tochter oder ihre Hochzeit und ihr erstes Wochenbett gethan hat.
Wie Unrecht geschieht aber dann oft solch einem alten Mütterchen! Da heißt es: Ach, die ist schon abgestumpft. Der ist ihr Strickstrumpf wichtiger als alles Uebrige. –
Und wer von Euch Allen, Ihr Jüngeren, kann es wissen, was in diesem alten Herzen noch lebt, so bunt, so reich, so tief versenkt, daß vielleicht nur die Abschnitzel davon, wie Schaum, an die Oberfläche ausgestoßen werden? Wer von Euch kann die Gedanken zählen, die sie geduldig und ergeben einstrickt, Masche um Masche, in das Strümpfchen für den jüngsten Urenkel; wer vermöchte es, die Bilder zu malen, die an ihr vorüber ziehen während der einförmigen Arbeit?
Ihr aber lächelt, wenn sie von dem seichten Alltagsgeschwätz um sie herum kein Wörtchen gehört und verstanden hat.
„Jeder Mensch hat einen Gegenstand, mit dem er Verschwendung treibt, selbst wenn er in allem Uebrigen sparsam ist.“ Das ist ein alter Ausspruch. So muß ich wohl eine große Verschwenderin sein, denn ich habe drei Dinge, mit welchen ich in unerhörter Weise verschwenderisch umgehe. Aber brecht nur nicht gleich den Stab über mich! Zum größten Glück sind die drei Dinge nicht sehr kostspielig. Man kann sie verbrauchen, ohne sich deshalb in Schulden zu stürzen; es müßte denn sein, daß der liebe Gott uns einst die Rechnung machte über das, was wir im Haushalte seiner Natur verschwendet haben.
Diese drei Dinge, mit denen es mir unerträglich, ja fast unmöglich ist, zu sparen, heißen: Luft, Licht und Wasser.
Wie oft habe ich nicht schon meine armen Zofen und Kinderwärterinnen gequält durch das Aufreißen der Fenster, die sie eben erst sorgfältig geschlossen und verriegelt hatten! Wie oft habe ich sie zur Verzweiflung gebracht, wenn ich die Vorhänge des Kinderwagens zurückschlug und sie dafür zwang, den Wagen in den Baumschatten zu fahren, wenn es auch viel amüsanter war, im sonnigen Hofe zu halten und dafür von dem armen Kindchen jedes Lüftchen abzusperren! – Ob das Thermometer draußen auch zwanzig Grad Kälte zeigt, nie würde ich zu Bette gehen, ehe nicht mindestens eine Stunde lang die Fenster meines Schlafzimmers offen gestanden haben. Das Schließen derselben ist täglich mein letztes Geschäft vor dem Auskleiden, das „Lüften“ mein erstes früh Morgens. Im Sommer lasse ich mich die Mühe nicht verdrießen, sogar die Nähmaschine in den Garten zu tragen; alle Gemüse werden dort zugeputzt und verlesen, jede Mahlzeit wird in der Laube eingenommen; vom Mai bis October benutzen wir das Wohnhaus buchstäblich nur als Nachtquartier und Zufluchtsort bei Regenwetter. Und auch in den übrigen Monaten des Jahres schwelgen wir, so viel es angeht, in der herrlichsten aller Gottesgaben, in reiner, kräftiger Luft.
Ganz ebenso wird es mit dem Licht gehalten. Wie hasse ich die sogenannten lauschigen, halbdunklen Boudoirs, in denen man stets das bedrückende Gefühl hat, als sollte der lieben Gottessonne irgend etwas verborgen werden, ein Stäubchen vielleicht im Winkel des Gemachs oder – in der Seele der Bewohnerin, die sich daselbst mit Vorliebe aufhält! Wie hasse ich die schweren dicken Portièren, Jalousien, Marquisen und wie alle die raffinirten Anstalten heißen, welche lichtscheue Menschen erdacht haben, um die hellen glänzenden Sonnenstrahlen mühsäm hinaus zu sperren aus unsern Wohnungen! Ein dünnes weißes Rouleau ist Alles, was ich noch allenfalls zugestehen kann, und sogar mit diesem liege ich beständig im Streite.
Und diese Leidenschaft für viel Licht dehne ich auch auf jene Beleuchtung aus, die wir mit Geld bezahlen müssen, und da verdient sie vielleicht in Wahrheit den Namen: Verschwendung! Welch ein Gräuel ist doch eine kleine, trüb brennende Lampe! Wie entsetzlich, wenn bei einem einzigen solch armseligen Flämmchen sechs bis acht Personen zugleich arbeiten, lesen, zeichnen, kurz, sich in allen Abstufungen die Augen verderben! – Sobald mehr als höchstens vier Personen an meinem Tische arbeiten, lasse ich stets zwei gute Lampen darauf brennen, und dem beständigen: „Aber Mama, ich versichere Dich, ich sehe hier ausgezeichnet!“ wird ein ebenso energisches: „Nein, rücke näher zur Lampe oder höre auf zu lesen!“ entgegengesetzt. Oft muß ich mir einen gutmüthigen Spott gefallen lassen, wenn ein paar intime Bekannte uns besuchen und Alles in der größten Einfachheit, aber in hellster Beleuchtung finden. Wenn zwei große Tischlampen auf Kartoffel, Wurst und Milchsuppe strahlen, das sieht gewiß lächerlich aus; ich erlaube es auch Jedermann, zu lachen, und sage höchstens: „Kinder, sehen muß ich, was ich auf dem Teller habe, und wäre es nur Salz und Brod.“
Ich glaube bestimmt, Licht schadet keinem gesunden, auch keinem schwachen Auge. Nur ein krankes Auge mag es meiden, und zwar nur auf ärztlichen Rath. Sobald aber dies Verbot
[10] einmal durchgeführt werden soll, darf der Patient sich auch gar nicht beschäftigen; so lange man sich beschäftigt oder aufmerksam im Zimmer umsieht, ist es gewiß besser, dies bei hellem Lichte zu thun, als im Halbdunkel.
Und nun das Wasser!
Das ist, Gottlob, wirklich recht billig zu haben, und doch werden so oft fast die Tropfen davon gezählt. Ist es nicht lächerlich, wie peinlich in manchen Häusern mit dem Wasser gespart wird? Ich habe es erlebt, daß Mütter ihren Kindern verbieten, sich am Tage öfters die Hände zu waschen, damit Abends nicht noch einmal die Krüge gefüllt zu werden brauchen. Nun, bei uns zu Hause ist es so eingerichtet, daß jedes „Waschen“ füglicher ein „Baden“ heißen könnte. Wenn ich einmal in einem Gasthofe übernachten muß, ist mein Erstes, den zierlichen Wasserkrug, der in dem trockenen, statt neben dem gefüllten, Waschbecken zu stehen pflegt, in dieses auszugießen und dann der Kellnerin zu sagen: „So, liebes Kind! Und jetzt bringen Sie mir noch drei solche Krüge Wasser!“ Ich frage Euch, Mütter, fängt diese Wassersnoth nicht schon beim Baden unserer neugeborenen Kinder an? Die „weisen“ Frauen nehmen gerade so viel Wasser in die Wanne, daß sie zur Noth den Schwamm damit tränken können. Welche Wonne dann, zum ersten Male solch ein armes Kindchen selber zu baden! Halbvoll zum mindesten muß dann die Wanne sein; da plätschert das kleine Ding lustig herum und streckt mit Behagen seine Glieder in der lauen Fluth und schwimmt uns fast unter den Händen davon – aber seid unbesorgt! – ertrunken ist mir keines meiner acht Kinder, die ich in Summa ungefähr sechstausendmal eigenhändig gebadet habe. Nein, es ist keines davon ertrunken; sie befinden sich allesammt wohl, wie die Mücken, die da draußen im Sonnenscheine tanzen; nur Eines steht zu befürchten: Sie sind Alle eben solche Verschwender geworden, wie ihre Mutter, und um’s Achtfache wächst meine Rechnung für verbrauchte Luft-, Licht- und Wassermengen in dem großen himmlischen Schuldbuche. Das ist freilich eine bedenkliche Sache.
Sonntag, den 25. Juli des Jahres 1574 war ein verhängnißvoller Tag für das edle Haus Venier. An diesem Tage erblickte Francesco Venier, damals der letzte Sproß des erlauchten Geschlechts, zum ersten Male die Signora Violanta, die Tochter des Messer Marcantonio Giustiniani. Diese Begegnung sollte den Beiden zu großer Freude, aber auch zu schwerem Leide gereichen. Es geschah aber auf folgende Weise, daß Messer Francesco die schöne siebenzehnjährige Donna Violanta sah, da doch sonst die Töchter der Patricier streng im Hause ihrer Eltern gehalten und nur von ihren Verwandten besucht werden. An jenem Sonntag jedoch gab die Republik, wie Jeder, dem diese Blätter einmal zu Gesicht kommen werden, wissen wird, dem Könige Heinrich dem Dritten von Frankreich, der die Stadt mit seinem Besuche beehrte, im Dogenpalaste ein herrliches Fest. Zweihundert Patricierinnen, Frauen und Mädchen, hatten an den Wänden des großen Rathssaales auf niedrigen, mit rothem Sammt gepolsterten Bänken Platz genommen. Sie alle waren in Weiß gekleidet und hatten Perlen um den Hals und Perlen in den Haaren. Der Senat hatte für diesen Tag die Gesetze, welche den Damen den übermäßigen Schmuck in Gewändern und Kleinodien verboten, aufgehoben und gestattet, daß eine jede sich so herrlich kleide, wie sie es vermöge.
Man kann sich vorstellen, welche Kostbarkeiten da zum Vorschein kamen. Die Wände des Saales waren mit seidenen Stoffen in Gelb und Türkischblau behängt, und ein prächtiger Teppich aus Persien bedeckte den Boden. Da wo sich sonst der Stuhl des Dogen erhebt, war ein Thron für den König errichtet mit goldstoffenem Baldachin und Vorhängen, die von der Decke bis zum Fußboden des Saales reichten. Rechts und links davon befanden sich Estraden für den Dogen und die Signoria, das Gefolge des Königs und die Gesandten der fremden Mächte. Als nun der König eintrat, blieb er und Alle, die ihn begleiteten, wie vor einem Wunder stehen. Denn dieser gewaltige Saal mit seiner vergoldeten Decke und den herrlichen Gemälden Giovanni Bellini’s, Tintoretto’s und Tizian’s an den Wänden, von diesen edlen Frauen und Mädchen, den Sternen der Schönheit, belebt, bot in dem hellen Sonnenschein, der durch die Fenster fiel, einen unvergleichlichen Anblick. Bevor der König auf dem Throne sich niedersetzte, sagte er, daß er den Duft dieses Blumenbeetes einathmen wolle, und schritt die Stufen hinab in die Mitte des Saales. Bei seinem Nahen erhoben sich die Damen und erwiderten seinen Gruß mit höflicher Verneigung. Zwei und zwei ordneten sie sich dann, bei den Klängen der Musik, zu Gruppen und vollführten einen kunstvollen Tanz, in dem jede Gruppe vor dem Throne des Königs schwebenden Schrittes vorüber zog. Nachher, beim Bankett in dem Saal, wo sonst die Wahlstimmen gesammelt werden, bedienten die jungen Patricier den König, den Dogen und die Schönen.
Unter diesen Schönen nun war Madonna Violanta eine der schönsten, und Messer Francesco Venier verlor bei ihrem Anblick das Herz an sie. Er gehörte zu den vierzig jungen Edelleuten, welche die Republik dem Könige zum Ehrengefolge während seines Aufenthaltes in Venedig bestimmt, und so konnte er in aller Freiheit und ohne daß sich Jemand von den Verwandten des Mädchens darüber hätte aufhalten dürfen, dasselbe während des ganzen Festes betrachten und, hinter dem Schemel Violanta’s stehend, bei dem Bankett ihr die Schüsseln reichen und den Wein in das Glas gießen. Dabei wurde es ihm möglich, einige zärtliche Worte flüsternd mit ihr zu wechseln, und was er wegen der Nähe der Andern nicht zu sagen wagte, das sagten statt der Lippen seine Blicke, welche die Jungfrau unter dem leisen Erröthen ihrer Wangen und dem Pochen ihres Herzens nur zu wohl zu deuten verstand. Wie viel nun aber auch zwischen ihnen unausgesprochen blieb, ihre Augen hatten, sich begegnend, eine Brücke zwischen ihnen geschlagen. Ganz tiefsinnig und schweigsam stieg die Jungfrau nach dem Schlusse des Festes mit ihrer Muhme die Riesentreppe in den Hof des Palastes hinab und schritt über die Piazzetta nach dem Ufer zu, wo unter den andern ihre Gondel lag. Das Gespräch ihrer munteren Verwandten zerstreute sie nicht, und als dieselbe nun gar den guten Anstand und die ritterliche Höflichkeit Messer Francesco Venier’s rühmte, hüllte sie sich in ihren Schleier, damit die Röthe ihres Antlitzes sie nicht verrathe.
Auch der Jüngling war in der heftigsten Bewegung, als wäre eine himmlische Erscheinung ihm zu Theil geworden. Am liebsten wäre er ihr gefolgt oder hätte in einer Gondel in der Nähe ihres Hauses Posto gefaßt, zu erwarten, ob sie auf den Balcon hinaustreten würde, die Frische des Abends einzuathmen. Aber er mußte der Pflicht und dem Dienste des Königs gehorchen und ihn im feierlichen Aufzuge nach seiner Wohnung im Palaste Foscari, da, wo der Canal die Biegung macht und man links nach dem Rialto und rechts nach dem Kloster der regulirten Chorherren und der Kirche Santa Maria della Carità sieht, geleiten. Und auch dann war er noch nicht frei, denn der König, der Geschmack an ihm gefunden, behielt ihn zum Ballspiel bei sich und fragte ihn nach dem Namen und den Verhältnissen der einen und der andern Schönen, worauf Messer Venier, so weit er es vermochte, bescheidene Auskunft gab. Erst spät am Abend entließ ihn der König aus seiner Gesellschaft, und einen weiten dunklen Mantel umnehmend, der sein Festkleid verbarg, fuhr der Jüngling an das andere Ufer des Canals, um einsam durch die Gassen und Gäßchen nach dem Platze von San Marco zu schlendern.
Mancherlei Gedanken bestürmten seine Seele; ging auch, wie die Verliebten sagen, der Schatten des schönen Mädchens neben ihm her, und sah er auch oft seufzend, wie jene zu thun pflegen, zu dem Monde empor, der am dunklen Himmel herrlich aufgegangen war, so ließen doch ernste Betrachtungen keine ungetrübte Freude in ihm zum Ausbruch kommen. Denn er bedachte, daß seit zwanzig Jahren ein erbitterter Streit die Familien Venier und Giustiniani trennte. Ursprünglich war es ein Rechtshandel zwischen den Geschlechtern wegen einer Besitzung im vicentinischen Gebiet gewesen, politische Gegensätze hatten den
[11] Streit verschärft. Messer Francesco’s Großvater war im Jahre 1554 gegen einen Giustiniani, der sich schon im Geiste mit der gehörnten Mütze geschmückt gesehen, zum Dogen gewählt worden: das hatten die Giustiniani’s niemals vergeben und waren überall den Venier’s als Widerpart entgegengetreten. Eine so große Feindschaft setzte den Wünschen des verliebten Jünglings gewaltige, fast unübersteigliche Hindernisse in den Weg. Weder sein Großoheim, der berühmte Feldhauptmann Sebastiano Venier, der mit Don Juan d’Austria und Marcantonio Colonna den ewig denkwürdigen Sieg bei Lepanto über die Türken erfochten, noch der Vater Violantens würden ihre Zustimmung zu dieser Verbindung geben. Aber wenn auch die Bitten der jungen Leute die beiden alten Herren besänftigt und für sich gewonnen hätten – die Hoffnung nimmt ja das Unwahrscheinliche zuerst als entfernte Möglichkeit und bald als sichere Gewißheit an – so war da noch ein viel schlimmerer Stein des Anstoßes. Im Hause der Giustiniani war Messer Marcantonio nur dem Namen nach der Herr. Das eigentliche Regiment führte sein Sohn Messer Pietro, ein hitziger und jähzorniger Herr. Während des Türkenfeldzugs und nachher bei den Festlichkeiten zur Feier des Friedens waren er und Messer Francesco oft hart genug an einander gerathen, und nur die Furcht vor den strengen Gesetzen der Republik hatte bisher Zweikampf oder Gewaltthat verhindert.
Trüb genug waren darum die Aussichten Francesco’s, denn wie sollte es ihm gelingen, Messer Pietro zu gewinnen? Allein wie man behauptet, daß die Kinder einen besonderen Schutzengel haben, so glauben auch die Verliebten unter dem Schutze freundlicher Engel zu stehen. Was Gutes oder Schlimmes ihm indessen die Zukunft vorbehielt, an diesem Abend drängte es den Jüngling, wenigstens das Haus noch einmal zu betrachten , in dem seine Schöne wohnte. Unweit von der Kirche San Geminiano, an der vorüber man auf den Marcusplatz geht, läuft eine kleine enge Gasse zum Großen Canal. Hier steht der stattliche und weitläufige Palast der Giustiniani, seine balcongeschmückte Front dem Wasser zukehrend, während der Seitenflügel die niedrigen Häuser der Gasse hoch überragt. Kein Mensch war zu sehen, wie durch eine Spalte blickte das Mondlicht in die schmale Straße. Hinauf und hinab schritt sie Francesco, und zu den Fenstern des Palastes hinaufschauend, suchte er zu errathen, hinter welchem seine Herrin weile. Denn aus dem Hause drang fröhlicher Lärm in die stille Nacht, Stimmengewirr und Guitarrenklang. Nun wurde auch das Thor, das nach der Gasse ging, von Dienern geöffnet, und Fackelschein beleuchtete hell eine Gesellschaft junger Männer, welche die Treppe hinabstiegen. Messer Pietro war unter ihnen. Er lachte überlaut, wie einer, der dadurch seinen Aerger verbergen oder vergessen will.
„Ich bin Dir nun manche tausend Ducaten schuldig,“ hörte ihn Francesco, der sich gegenüber an die Wand eines Hauses in den Schatten gedrückt, zu seinem Begleiter sagen, „und da ich stets Unglück mit den Würfeln habe und mein ehrwürdiger Vater, Messer Marcantonio, trotz seiner Gicht noch nicht daran denkt, mich zum Besitzer seiner Truhen zu machen, so wirst Du noch lange nicht bezahlt werden. Giovanni Soranzo, es sei denn, Du nimmst die Hand meiner Schwester als Zahlung an.“
„Topp,“ erwiderte darauf der Andere, „so soll es sein,“ und zu den Genossen gewandt, die jetzt in einer Gruppe vor dem Palaste beisammen standen, setzte er hinzu. „Ihr habt es gehört.“
„Und der Himmel über uns auch,“ lachte Messer Pietro. „Ihr Soranzo’s seid zwar nur von geringerem Adel, als wir Giustiniani’s, aber ich bin nicht stolz, und Du bist reich. Ehe ich meine Schwester dem verhaßten Venier gebe, der heute so unverschämt mit ihr liebäugelte, würde ich sie mit einem Ungläubigen vermählen; wär’ es auch nur, um diesem Burschen einen Streich zu spielen.“ Als Messer Francesco seinen Namen nennen hörte, wurmte es ihn, daß er hier stehen und den Lauscher spielen sollte, und ohne an die Zahl seiner Gegner und ihre von Spiel und Weingenuß erhitzten Köpfe zu denken, trat er mit leichtem Gruß aus seinem Versteck in das Mondlicht hinaus und sagte:
„Hier ist Francesco Venier, bereit zur Unterredung mit Jedem, den es gelüstet.“
Messer Pietro’s Gesicht flammte vor Wuth; so zornig war er, daß er nur einen heisern Laut auszustoßen vermochte, und seinen Dolch aus dem Gürtel reißend, würde er sich auf Francesco gestürzt haben, wären nicht die Besonneneren unter seinen Freunden ihm in den Arm gefallen und hätten ihn, so sehr er auch widerstrebte, mit sich fortgezogen, die Gasse hinauf nach dem Marcusplatze zu. Aber noch im Abgehen schüttelte er die Faust, in der das blanke Stilet blinkte, drohend gegen Francesco, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte, ruhig und edel den Angriff seines Feindes erwartend, und sein Mund stieß Racheschwüre und Verwünschungen aus. Das Geschrei und der Lärm hatte die Bewohner der stillen Gasse aufgeschreckt, hier und dort zeigte sich ein Gesicht an den Fenstern, verwundert und besorgt hinauslauschend, was es gäbe. Und plötzlich, wie Francesco noch unbeweglich dastand, seinen Gegnern nachblickend, die nun um die Straßenecke bogen, lag da eine weiße Rose auf den vom Mondlicht beschienenen Fliesen dicht vor seinen Füßen. Woher sie gekommen? Sein Herz sagte es ihm, und das Pfand der Liebe an seiner Brust verbergend, glücklich trotz der Wetterwolken, die über seinem Haupte schwebten, eilte er davon.
Dienstag, den 27. Juli, verließ der Allerchristlichste König Venedig, und der Doge und die vornehmsten Würdenträger der Republik gaben ihm bis nach Fusina auf dem Festlande, an dem Canale der Brenta, an dem die Straße nach Padua entlang geht, das Geleit. Die Stadt aber kehrte nach dem Festjubel und der Aufregung einer ganzen Woche wieder zu ihrem gewohnten Leben zurück. Da wäre es nun bei der strengen und guten Sitte der alten Zeit, nach der die Frauen und Töchter der Patricier noch nicht, wie heute, wo ich dies niederschreibe, im dritten Jahre der Regierung des erlauchten Dogen Giovanni Cornaro, in bunten Kleidern, Masken vor dem Gesichte, in Schuhen ohne Absätze auf der Piazza und der Piazzetta umherschwärmten und ohne Scheu und Scham die Besuche ihrer Freunde in ihren Häusern empfingen, sondern still und abgeschlossen für sich lebten – da wäre es dem Messer Francesco sehr schwer, wo nicht unmöglich gewesen, von Madonna Violanta Kunde zu erhalten, oder gar sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wenn er sich nicht in seiner Noth seiner Schwester anvertraut hätte. Diese, Madonna Emilia, war ein entschlossenes und muthiges Mädchen, und da sie mehr auf den Gütern der Venier’s, in den Bergen um Vicenza, als in der Stadt gelebt hatte, war ihre Erziehung eine freiere und männlichere gewesen, als sie den vornehmen Venetianerinnen zu Theil wird.
Sie verstand sich nicht auf die Kunst, ihre Haare goldblond zu färben und schön zur Laute zu singen; dafür war sie eine gute Reiterin und führte den Jagdspieß wie eine neue Atalanta; sie hat denn auch ein Jahr nach diesen Begebenheiten einen deutschen Grafen aus Görz geheirathet. Als diese nun ihren geliebten Bruder trübselig und bleich umherschleichen sah, nahm sie ihn in’s Gebet, und nach einigem Zögern gestand er ihr sein Leid, und wie er gehört, daß Giovanni Soranzo in der That um die Hand Violanta’s angehalten und Gefahr im Verzuge sei. Emilia wußte Rath; um so leichter, da sie mit Violanta’s Muhme, der jungen Frau Paolo Contarini’s, befreundet war. Die drei Frauenzimmer trafen sich nun, unter dem Vorwande eines gemeinsamen Gelübdes, in der Kirche San Geminiano, zu der Violanta nur wenige Schritte zu gehen hatte, sodaß es weder ihrem Vater noch ihrem Bruder oder irgend einem aus der Hausgenossenschaft auffallen konnte, wenn sie an jedem Morgen sich dorthin begab, die heilige Messe zu hören.
Ihre Begleiterin, ihre alte Amme, war bald gewonnen, und da kein Argwohn sich regte, die Drei sich schnell mit einander verständigten und Violanta’s Sehnsucht, den Geliebten zu sehen und mit ihm zu reden, ebenso groß war wie die Francesco’s nach ihrem Anblicke, so stellte sich eines Tages auch der Jüngling in der Kirche zur süßen Zwiesprache mit dem theueren Mädchen ein. Holde Schamröthe bedeckte ihre Wangen, als er sich ihr nahte; mit niedergeschlagenen Augen hörte sie seine leidenschaftlichen Reden, daß er ohne sie nicht zu leben vermöge und seinen Tod im Kampfe mit den Türken suchen werde, wenn sie ihn nicht mit ihrer Liebe beglücken wolle. Die Gegenwart ihrer Muhme und ihrer neuen Freundin machte ihr Muth zur Erwiderung. Während sie auf ihren Knieen lag, das Haupt auf die Brust gesenkt, hatte er ihr in’s Ohr geflüstert; jetzt wandte sie ihm einen Augenblick ihr Gesicht zu und stammelte: „Ich liebe Dich, Francesco.“
Vielleicht wäre sie zurückhaltender gewesen, wenn sie nicht
[12]das ihr bevorstehende Schicksal gefürchtet. Unvorsichtiger Weise aber hatte ihr Bruder zu ihr gesagt, daß er einen Freier für sie habe und daß es Zeit sei, an die Hochzeit zu denken. Die Angst, daß man sie wider ihren Willen mit einem ungeliebten Mann vermählen würde, zerstreute die Besorgnisse ihrer jungfräulichen Schüchternheit; es schien ihr edler und natürlicher, dem Freunde ihre Neigung zu gestehen, als einem Fremden, wohl gar einem Widerwärtigen vor dem Altare Treue zu geloben. Je häufiger sich nun die beiden Verliebten sahen, desto heftiger wurde ihr Verlangen, einander für immer anzugehören.
„Wenn Ihr nicht bald auf ein Mittel sinnt, mein Fräulein mit dem Messer Venier zu vereinigen, so giebt es ein Unglück,“ sagte die bedächtige Amme zu der Muhme Contarini.
Die junge Frau nun wünschte ihrer Verwandten das beste Glück und fürchtete mit Recht, daß, wenn dieses Abenteuer einmal an das Licht käme, die ganze Verwandtschaft der Giustiniani’s sie als die Hauptschuldige betrachten und verachten würde. So lieh sie denn den Bitten Francesco’s und Emilia’s ein geneigtes Ohr: eine heimliche Ehe sollte die beiden jungen Leute im Namen Gottes und der Kirche für immer verbinden, und wenn dann der erlauchte Messer Sebastiano Venier vor allen Senatoren dem Messer Marcantonio Giustiniani die Hand zur Versöhnung bieten würde, könnte derselbe nichts anderes thun, als dieselbe ergreifen und seiner Tochter verzeihen. Damals hatten die Novellen Luigi Bandello’s, die von Liebesabenteuern, Entführungen und heimlichen Ehen, zur Verderbniß aller Zucht und Ordnung, handeln, gar vielen Frauen und Mädchen den Kopf [13] verrückt, und sie träumten von nichts als von solchen losen Streichen und gefährlichen Unternehmungen.
Der Böse, der nur darauf lauert, die Menschen in Versuchung zu führen, ebnet denen, die er sich zu seinen Opfern ausersehen, auf wunderbare Weise die Wege zum Verderben. Als der Entschluß der Liebenden, zu diesem Mittel zu greifen, sich immer mehr befestigt hatte, reiste unerwartet Messer Pietro nach dem Festlande, wie es hieß nach Brescia, um dort zu jagen; es war im Anfang des Monats September. So gewannen Messer Francesco und seine Helferinnen Zeit, Alles zu ihrem Plane vorzubereiten, und Madonna Violanta wurde im Hause eines lästigen und unermüdlichen Spähers ledig, der ihre Absicht wohl noch in der letzten Stunde entdeckt haben würde. Zugleich traf es sich, daß Paolo Contarini mit einigen Galeeren der Republik ausgeschickt ward, das adriatische Meer von den räuberischen Uskoken zu reinigen und ihre Burgen an der dalmatinischen und albanesischen Küste zu zerstören. Ohne Widerspruch gab darum Messer Marcantonio Giustiniani seiner Tochter die Erlaubniß, einen und den andern Tag im Hause ihrer Muhme zuzubringen, und selbst wenn sie einmal über Nacht ausblieb, machte es dem Herrn, der sich ganz und gar der schwierigen und merkwürdigen Wissenschaft der Astrologie ergeben, keine Sorge.
Anderen, geringeren Leuten würde es nun das Schwierigste gewesen sein, einen Priester zu finden, der die Hände der Liebenden ohne Vorwissen und Einstimmen ihrer nächsten Verwandten in einander gelegt und den Segen der Kirche darüber gesprochen hätte, aber den Reichen und Vornehmen wird Alles möglich, zumeist in unserer Stadt, wo die großen Familien zwar ein eifersüchtiges Auge [14] auf einander haben und dafür sorgen daß keine sich über die andere erhebt, allein Alle für Einen gegen die niederen Stände und leider auch gegen die Kirche einstehen, die nirgends weniger Freiheit genießt, als in dieser erlauchten Republik. Indessen ich bin ein armer Diener und Schreiber des Hauses Venier und habe weder Recht noch Verständniß, mich über so hohe und gefährliche Dinge zu äußern. Die Dame Contarini kannte von ihrer Jugend her einen armen Priester, der sie damals das Schreiben gelehrt und der jetzt die uralte, einsam in der Düne des Lido gelegene Kirche des heiligen Nicolaus bediente. San Nicolò ist überdies von einem Dogen aus dem Hause Contarini erbaut worden, und wie viele hundert und aber hundert Jahre auch seitdem verflossen sind, wird San Nicolò doch noch immer von der Familie mit werthvollen Altardecken, Kerzen und Geräthschaften beschenkt, sodaß die Priester, die darin walten, sich als Clienten der Contarini’s betrachten. Fra Ambrogio, so hieß der Priester, besann sich darum auch nicht lange, dem Wunsche seiner Patronin zu willfahren. Im schlimmsten Falle, wenn der Rath der Zehn gegen ihn einschreiten sollte, versprach ihm Messer Francesco, ihm auf seinen Gütern auf dem Festlande Schutz und Sicherheit zu gewähren. Ist Einer, er sei hoch oder niedrig, vom Schicksal zwischen zwei gleich starke Antriebe gestellt, zwischen Hoffnung und Furcht, von denen die erste unmittelbar wirkt, die zweite erst in der Zukunft ihre Wirkung geltend machen kann, so wird er unbewußt der Hoffnung sich zuneigen, und wird er nun noch, wie Fra Ambrogio, von der Leidenschaft eines verliebten Jünglings, von den Bitten und Geschenken einer vornehmen Dame bestürmt, so wird er sich über jedes Bedenken wegsetzen und das Glück versuchen.
Als nun alle Vorbereitungen nach menschlicher Voraussicht auf das Beste getroffen waren, fuhren am Freitag, den 30. September – der Freitag war bis dahin in den Jahrbüchern der Venier’s ein Glückstag gewesen, und noch Messer Francesco’s Großvater war an einem Freitage zum Dogen gewählt worden – in den Nachmittagsstunden zwei Gondeln nach dem Lido di Malamocco; in der einen, die zuerst Venedig verließ, saßen Madonna Violanta mit ihrer Muhme und ihrer Amme, in der andern Messer Francesco Venier und seine Schwester Emilia mit einer Dienerin. Zwei vertraute Diener hatte Messer Francesco schon am Vormittage hinübergeschickt, welche die Umgebung der kleinen Kirche durchstreifen und überwachen sollten. Der Lido, wie Jedermann weiß, ist eine langgestreckte schmale Düne, die, in der Entfernung einer guten Stunde im Südosten der Stadt gelegen, die Lagunen, diese Meerseen, von dem offenen adriatischen Meere trennt. Nur mit spärlichem Gras, niedrigen Gebüschen und wenigen Baumgruppen ist dieser Erdstreifen bedeckt, hier und dort erheben sich einige Hütten und Häuschen. Die Nordspitze, dem Kirchlein von San Nicolò gegenüber, hat die Republik von dem hochberühmten Baumeister Sammicheli befestigen lassen und dort ein gewaltiges Castell aus istrischen Steinen aufgeführt, das jedem Feinde den Zugang wehrt. Der Anblick der ganzen Gegend hat etwas Düsteres und Trostloses, und die Wolken hingen an diesem Tage grau und schwer hernieder. Dennoch, wie sorgenvoll auch ihre Herzen sein mochten, tauschten die Liebenden entschlossen die Ringe und gelobten einander in Glück und Noth unerbrüchlich anzugehören, und der Priester betonte, wie um sich selbst zu beruhigen, das Wort der Schrift: Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht scheiden. So vereinigt aber vergaßen Messer Francesco und Donna Violanta Alles um sich her und verscheuchten die Zweifel über die Zukunft, die in ihnen eben aufsteigen mochten, mit gegenseitigen Liebesbetheuerungen und lagen einander ist den Armen und herzten sich.
Eine und noch eine Stunde verrann ihnen so, während sie Hand in Hand am Strande des Meeres in den Dünen saßen und die Wellen weißschäumend heran- und wieder zurückrauschen sahen. Dabei donnerte die Brandung gegen die Steinmauern des Castells: in der Ferne tauchten die Segel von großen Schiffen auf, und die Möven flogen unruhig hin und her. Dann mahnten die Anderen, da der Tag sich neigte, zur Heimkehr. Bald war die der Stadt zugekehrte Seite des Lido erreicht, wo die Gondeln die Herrschaften erwarteten. Die Neuvermählten wollten sich noch nicht so schnell von einander trennen, und so stieg die Gesellschaft mitsammen in eine Barke. Als die Schiffer vom Lande abstießen, schimmerte ihnen in der Ferne Venedig im Untergang der Sonne goldig und flimmern mit seinen Kuppeln und Palästen weithin über die Lagune entgegen. Die Sonne hatte gerade, wo sie sich zum Untergange neigte, die graue Wolkendecke zerrissen, ihr Licht blitzte auf den Wassern und färbte am Himmel die Wolken mit Purpur und Gold. Das schien denen in der Barke eine gute Vorbedeutung zu sein. Sie hielten auf die Punta della Motta, das weit nach Süden vorgestreckte Ende der eigentlichen Stadt zu – einen Hügel, auf dem herrliche Platanen stehen – wo Messer Francesco aussteigen und durch die Gassen nach dem Palaste Contarini sich schleichen wollte, während die Frauen, als kehrten sie von einer Spazierfahrt heim, recht geflissentlich, um von Vielen gesehen zu werden, den großen Canal entlang zu fahren gedachten.
Gott aber hatte es anders beschlossen. Denn als sie sich der Punta näherten, schoß, pfeilgeschwind durch das stille Wasser gleitend, eine andere Gondel auf sie zu. Ein Mann saß darin, der, als er sie erkannte, aufsprang, den Arm drohend gegen sie erhebend. Ein Ausweichen war wegen der Nähe des Ufers unmöglich, auch würde ihnen die Flucht nichts geholfen haben.
„Elender! Verräther!“ rief Messer Pietro Giustiniani – denn er war es – dem Messer Venier zu. „Hab’ ich Dich endlich, wo Du mir nicht entkommen kannst?“
Und das Schwert aus der Scheide reißend, stürzte er, indem die beiden Gondeln hart mit ihren eisenbeschlagenen Spitzen zusammenstießen, Francesco entgegen. Bei diesem Anblick war Donna Violanta ohnmächtig in die Arme ihrer Amme gesunken. Donna Emilia suchte vergebens sich zwischen die Streitenden zu werfen, aber sie rief ihrem Bruder zu, sein Leben zu vertheidigen. Einen Augenblick war Messer Francesco durch die ganz unerwartete Dazwischenkunft seines Todfeindes, den er in den Bergen um Brescia gewähnt, außer Fassung gebracht worden; als er indessen das von Zorn und Wuth entstellte Gesicht Pietro’s, dazu den Degen auf sich gezückt sah und erkannte, daß hier kein gutes Wort mehr nützen könne, sondern die einzige und letzte Schutzwehr bei der eigenen Waffe sei, zog auch er den Stahl. Ein-, zweimal trafen die Schwerter auf einander, über die Häupter der entsetzten und um Hülfe schreienden Frauen hin; dann versuchte Messer Pietro mit einem mächtigen Satze in die Gondel Francesco’s zu springen, aber er glitt auf dem Rande der Barke aus, verwundete sich an dem Degen seines Gegners und stürzte, sich überschlagend, in das Wasser.
Der Schrecken, den er Allen mit seiner Gewaltthat eingeflößt, verwandelte sich bei dieser Wendung des Geschickes in Mitleiden, die Schiffer, die Frauen beugten sich hinab, um dem Verunglückten Tücher und Ruderstangen entgegen zu halten. Aber die Strömung hatte ihn ergriffen, seine Kleidung und der Blutverlust raubten ihm Beweglichkeit und Kraft, immer weiter entfernte er sich von den Gondeln, die so in einander gefahren waren, daß sie sich nur mühsam von einander losmachen konnten und, beschädigt wie sie waren, so rasch es ging, das Ufer zu gewinnen suchen mußten.
Indessen war das Ereigniß von vorüberfahrenden Schiffern und auch von den Wächtern an der Punta bemerkt worden. In Eile näherten sich mehrere Barken dem Orte. Darunter war auch die Barke, die vorn an der Spitze auf ihrem Wimpel den Löwen des heiligen Marcus trägt, mit einem Hauptmann der Sbirren. Während von den Schiffern die Leiche Messer Pietro Giustiniani’s, deren Weg ein blutiger Schimmer auf dem Wasser kenntlich machte, am Gestade der Insel Lazzaro aufgefischt ward, brachte die verdeckte Gondel des Polizeihauptmanns den Messer Francesco Venier in das Gefängniß im Dogenpalast unter dem bleigedeckten Dache, wo man die Staatsverbrecher und diejenigen, deren Vergehen ein Geheimniß bleiben soll, zu bewachen pflegt. Die Frauen hatte der Hauptmann, da sie ihm ihre Namen genannt, zunächst ungekränkt entlassen. Sie kehrten mit tiefem Schmerz in ihr Haus zurück.
Aus dem Verlauf des Processes vor dem Rathe der Zehn, in den viele Personen verstrickt wurden, ergab es sich, daß Messer Pietro Giustiniani schon in Verona von einem Boten, den ihm Giovanni Soranzo mit einem Briefe nachgeschickt, Kunde von den Zusammenkünften seiner Schwester und Messer Francesco’s erhalten. Spornstreichs hatte er die Heimkehr angetreten und nachher, wie ich erzählt, seinen Tod gefunden. Von der Schuld des Todtschlags wurde Messer Francesco Venier freigesprochen, da alle [15] Zeugen, vornehmlich aber der Gondolier, der Messer Pietro gefahren, aussagten, daß er nur widerwillig in Vertheidigung seines Lebens zum Schwerte gegriffen und daß sein Gegner bei seinem Sprunge verunglückt sei; freilich konnte er sich nicht ebenso gut von der andern Anklage reinigen, die Tochter eines Patriciers gegen den Willen des Vaters geheirathet zu haben. Der hohe Rath verurtheilte ihn deshalb zu einer fünfjährigen Verbannung aus Venedig; Donna Violanta ward mit der Zustimmung ihres betrübten Vaters ihrem Gatten übergeben, und Beiden wurde die Stadt Treviso zum Aufenthalt angewiesen. Die Donna Contarini erhielt von dem Vorsitzenden des Raths eine strenge Verwarnung, die sie um so empfindlicher kränkte, da dieselbe bald genug bekannt und zum Stadtgespräch wurde. Donna Emilia verzieh man ihrer Jugend wegen. Am schlimmsten, wie er es denn auch verdient hatte, kam Fra Ambrogio bei dem Handel davon. Der Rath übergab ihn dem geistlichen Gericht zur Bestrafung, und der Patriarch ließ ihn für den Rest seines Lebens in die Pönitenz eines Klosters in Padua sperren.
Messer Francesco Venier tröstete sich nach der langen Kerkerhaft – denn der Proceß hatte mehrere Monate gedauert – in dem schönen Treviso mit seiner jungen Frau, um so mehr, als sie ihm nach Jahresfrist einen Sohn schenkte, der jetzt, Messer Gianpaolo Venier, mein gnädiger Herr und Gönner ist und im Rath und Kriegswesen dieser hochherrlichen Republik an hervorragender Stelle steht, wo ihn Gott nach lange erhalten möge. Sein Vater, den ich noch als ehrwürdigen Greis gekannt und verehrt, hat mir oft, besser und ausführlicher, als ich es hier gethan, die Geschichte seiner Liebe zu der Donna Violanta erzählt; so ist denn jedes Wort, das ich hier niedergeschrieben, der Wahrheit gemäß. Nun ruht er seit mehreren Jahren neben seiner geliebten Gattin, die ihm im Tode vorangegangen, unter den Marmorplatten der Rosenkranzcapelle in San Giovanni und Paolo.
Karl Gutzkow ist gestorben. Das Gefühl dieses unersetzlichen Verlustes wird der deutschen Nation am lebhaftesten in’s Gedächtniß zurückrufen, was der Todte für sie gewirkt und geschaffen hat. Die deutsche Nation wird sich ernstlicher als je fragen müssen, ob sie schon bei Lebzeiten des Dichters die Ehrenschuld an ihn abgetragen hat, die er zu fordern berechtigt war. Mag immerhin der Gutzkow-Fonds, der 1864 nach dem Selbstmordversuch des Dichters gesammelt wurde, ein Beweis dafür sein, daß Gutzkow nicht zu den Vergessenen gehörte. Aber stand der Antheil, den die Nation ihm schenkte, entfernt in dem rechten Verhältniß zu seinem Verdienst?
Keineswegs! Wir leben in einer Zeit der literarischen Moden. Gutzkow ist nie Mode gewesen, wie die kleinen artigen Talente, die man jetzt zu Classikern aufzubauschen sucht; immer rüstig voran im Kampfgewühle der Literatur, immer den alten Schlendrian, den Rückfall in die Romantik, die geistlose Lyrik der Miniaturpoeten, die akademischen Studien der Formtalente ohne jede Tiefe und Eigenart der Weltanschauung, den ästhetischen Schwulst der Krafttitanen bekämpfend, hat er mit seinen Kritiken eine Drachensaat ausgestreut, aus der ihm geharnischte Gegner erwuchsen.
Seit jenen Zeiten, wo Wolfgang Menzel ihn dem Bundestage denuncirte und das moralische Verdammungsurtheil über ihn aussprach, bis zur gehässigen und oft boshaften „Grenzboten“-Kritik und den fortwährenden Angriffen der literarischen Gothaner, bis zu den Injurien, mit denen die Hebbelianer ihn überhäuften: welch eine Reihe der böswilligsten kritischen Angriffe, Herabsetzungen, Beleidigungen! Und dafür entschädigte ihn keine Huldigung, wie sie oft geringen Talenten zu Theil wurde, es giebt immer ein großes Publicum in Deutschland, welches mit Behagen zusieht, wenn ein Pustkuchen an Goethe’s Lorbeer zerrt, und welches gelegentlich den literarischen Gamins und Lotterbuben zujauchzt, wenn sie mit schnöden Geberden ein echtes und bewährtes Talent verhöhnen.
Außer dem Festessen, mit welchem Leipzigs Schiller-Verein im Bunde mit der deutschen Genossenschaft dramatischer Autoren und Componisten im Jahre 1875 den Dichter ehrte, ist ihm seit langen Jahrzehnten keine öffentliche Huldigung zu Theil geworden. In dieser Zeit der Preisvertheilungen, in welcher die poëtae laureati dutzendweise herumlaufen, ist ihm von keiner Instanz in München, Berlin oder Wien jemals ein Preis zugekommen: er hatte es sich freilich verbeten in jenem glänzenden Artikel, in dem er die Alfred Timpe der Zukunft verherrlichte. Nicht einmal das Capitel des baierischen Maximilian-Ordens, das in den verlorensten Winkeln des Vaterlandes nach einem „tragfähigen“ Lyriker suchte, hat ihn dieser Auszeichnung würdig gefunden; man hat ihn bei Seite geschoben bei jeder Gelegenheit, wo öffentlicher Ruhm von Staatswegen oder durch akademische Commissionen ertheilt wurde; seine literarischen Gegner, einflußreich nicht durch ihre Leistungen, aber durch ihre Stellungen, haben auf der ganzen Linie triumphirt.
Und jetzt, wo er zum Abschluß seines Wirkens seine „Gesammelten Werke“ erscheinen ließ, jetzt, wo der Nation Gelegenheit geboten wurde, sich einer alten Schuld zu erinnern, es einem hervorragenden Autor am häuslichen Herde heimisch zu machen, jetzt verhielt sich unser Publicum zuwartend und ablehnend; wie dunkle Gerüchte gehen, hatte diese fleißig durchgearbeitete Ausgabe bisher keinen buchhändlerischen Erfolg. Noch ist es ist Deutschland nicht Ehrensache, die Werke der hervorragenden Schriftsteller in der Hausbibliothek zu besitzen – und doch sollte man meinen, daß ein Volk, welches auf seine Literatur etwas hält, sie nicht aus der Leihbibliothek bezieht und mindestens die Gesammtausgaben, das abgeschlossene Facit der Schöpfungen seiner großen Geister, als Privateigenthum zu besitzen den Ehrgeiz hat. Doch nein, wer nicht Mode war und noch nicht classisch ist, hat kein Recht auf solche Auszeichnung. Die Modeschriftsteller, auch wenn sie längst mit dem Pinsel Ming’s schreiben, wenn ihnen der Gott längst seine Mitwirkung entzogen und nur noch den erworbenen Ruhm gelassen hat, muß jede Dame auf ihrem Toilettentisch haben, mag die Mode auch noch so grausam sein und die schmerzlichste Langeweile über ihre zur Lectüre der Tagesgötzen verurtheilten Opfer verhängen; die Classiker, die bereits glücklich in den Hafen des Nachruhms eingelaufen sind, dürfen in den Privatbibliotheken nicht fehlen, aber die werdenden Classiker der Zukunft sind die Stiefkinder der Gegenwart.
Zu so trüben Betrachtungen und schweren Anklagen giebt gerade Gutzkow’s Tod besondere Veranlassung, denn gegen keinen Autor ist so ungerecht und undankbar vorgegangen worden, wie gegen ihn. Darf man sich da wundern über die krankhafte Gereiztheit des Dichters, von der selbst viele seiner Schriften angekränkelt waren, über die Geistesverwirrung, in die er einmal verfiel, sodaß er Hand an sich selbst legte, über den Verfolgungswahnsinn, der ihn längere Zeit erfaßt hatte? War er nicht ein Verfolgter? Bellte nicht hinter ihm eine literarische Meute, die den verschiedensten Racen und Mischgattungen angehörte, von dem zähnefletschenden Wolfshund bis zum kläffenden Bologneserhündchen? Darf man sich wundern, wenn er in seiner letzten Schrift: „Dionysius Longinus“, auf’s Höchste gereizt sich zur Wehr setzt und seinen Feind den Wolken zuschleudert, wenn er die glänzendsten Aperçus, die treffendste Kritik der Verirrungen unserer neuen Literatur in Manier und Schwulst durch die Heftigkeit beeinträchtigt, mit der er sich gegen seine literarischen Gegner wendet?
Es war eine innere Unruhe, die ihn von Stadt zu Stadt getrieben sein Leben lang; so war er auch zuletzt von Berlin nach Bregenz, von Bregenz nach dem Schlosse Waiblingen bei Heidelberg, von hier nach Sachsenhausen gezogen. Er selbst konnte nirgends Ruhe finden; er mußte ja daran zweifeln, daß ihm im Herzen seines Volkes eine sichere Stätte bereitet sei.
Und am Ufer des Mains, wo er seine ersten journalistischen Sporen sich verdiente, sollte die Unglücksnacht des 16. December ihn unserm Volke rauben – eine Unglücksnacht! Denn Gerüchte, daß er das Opfer eines schweren Unfalls geworden und im Rauch erstickt sei in seinem Krankenzimmer, gehen durch die Spalten der Zeitungen. Deutschland ist um einen großen Dichter ärmer geworden, [16] um einen Geistesgenossen jener Weimarischen Tafelrunde, welche allseitig gebildete, nach dem Höchsten strebende Heroen in sich vereinigte. Schon zweimal, 1854 (Nr. 26) und 1876 (Nr. 32), hat die Gartenlaube ein Gesammtbild der Leistungen des hervorragenden Autors mit Portrait desselben gegeben; wir verweisen auf die dort enthaltene Charakteristik und Analyse seiner Werke und heben hier nur noch einmal hervor, daß gerade die Summe seines Wirkens, der Reichthum seines Geistes, wie bei unseren Classikern, bei der Würdigung Gutzkow’s den Ausschlag geben muß. Denn nicht jeder Wurf ist ihm gelungen, und die Kritik hat leichtes Spiel, an vielem Einzelnen, das unser Dichter geschaffen, zu mäkeln, aber Alles, was er schuf, trägt das Gepräge eines eigenartigen und bedeutenden Kopfes, der nur in verschiedenen Formen nach dem Ausdruck für die Ideen sucht, welche die Zeit bewegen.
Nach einigen genialen Würfen im Stil der Kraftdramatiker, nach mehreren Bühnenstücken mit psychologischen und socialen Tendenzen gelang es dem Dichter, in „Zopf und Schwert“ und „Das Urbild des Tartuffe“ zwei geschichtliche Lustspiele, die ebenso viel Humor und Geist wie Bühnentechnik verrathen und dauernde Bereicherungen unseres Repertoires sind, sowie in „Uriel Acosta“ ein Trauerspiel von gedankenvoller Haltung, eigenartiger Prägnanz des Stils und zündender Wirkung zu schaffen.
Ebenso hält sich sein Lustspiel „Der Königslieutenant“ auf der Bühne; denn das etwas skizzenhafte, anekdotisch zusammengewürfelte Stück bietet eine Glanzrolle für den Charakterdarsteller. Auch ein gegen das Standesvorurtheil gerichtetes Stück „Werner oder Herz und Welt“ ist nicht von den Bühnen verschwunden. Und wenn das nur die Treffer auf dem Theater wären, so ist damit nicht gesagt, daß alle anderen Stücke als Nieten in der Literatur zu betrachten seien. Dem intimen Genuß bieten sie vieles Werthvolle und Erfreuende, einige wie „Ella Rose“ haben anregend auf nachfolgende Dramatiker wie Lindau und Wilbrandt gewirkt und sie ermuthigt, die Theaterzustände selbst auf die Bühne zu bringen; andere sind Schätze, welche vielleicht die Bühne der Zukunft noch heben wird.
Und wenn die großartigen Zeitgemälde „Die Ritter vom Geiste“ und „Der Zauberer von Rom“ als Spiegelbilder der politischen und religiösen Kämpfe unserer Zeit dauernde Bedeutung beanspruchen dürfen, so ist damit nicht erklärt, daß ein philosophischer Roman wie „Maha Guru“, ein satirischer, wie „Blasedow“, ein historischer, wie der neuerdings umgearbeitete Roman „Hohenschwangau“, daß die ganze an interessant behandelten Problemen, feinen und glänzenden Schilderungen reiche Novellistik Gutzkows der Vergessenheit anheimfallen werde.
Die ausnehmende Fülle von Essais und Portraits aus dem politischen und literarischen Leben, von Kritiken und Charakteristiken, polemischen Schriften, autobiographischen Darstellungen wird noch lange Zeit manchen Leser erfreuen und für den Literaturforscher eine Quelle bleiben für die Kenntniß der Regungen und Strömungen der Gegenwart auf allen geistigen Gebieten; überall ist Gutzkow’s Streben mit ihnen eng verknüpft.
Und nicht wandelbar im Wandel der Richtungen, im Wechsel der Zeiten hat dieser Dichter sich gezeigt. Wie er schon früh Börne’s Partei gegen Heine ergriff, so war er stets ein Anwalt des Charakters in der Literatur, der dem Talente erst den festen Halt giebt. Gewiß hat er vielfach geirrt, aber nur im Streben nach Wahrheit, deren Schein er nie geborgt hat für eine schlechte oder gute Sache, an die er selbst nicht glaubte. Ueberzeugungstreue war sein Motto, weit hinaus über den Gesichtskreis der Synagoge gehen die Worte seines Amsterdamer Helden, sie sind des Dichters eigenstes Glaubensbekenntniß:
Die Ueberzeugung ist des Mannes Ehre,
Ein golden Vließ, das keines Fürsten Gunst
Und kein Capitel um die Brust ihm hängt;
Die Ueberzeugung ist des Kriegers Fahne,
Mit der er, fallend, nie unrühmlich fällt.
Der Aermste selbst, verloren in der Masse,
Erwirbt durch Ueberzeugung sich den Adel,
Ein Wappen, das er selbst zerbricht und schändet,
Wenn er zum Lügner seiner Meinung wird.
Und solch ein Lügner seiner Meinung ist der Dichter nie geworden, an dessen Grabe wir jetzt trauernd stehen. Er hat dem deutschen Volke ein reiches Vermächtniß hinterlassen: möge es nicht länger säumig sein, den seltenen Schatz zu heben!
Daß die Kunst eine der edelsten Zierden des menschlichen Lebens sei, darüber ist unter den Gebildeten nur eine Stimme. Mit Entzücken stehen wir vor den Werken der griechischen Künstler, die einen Zeus, einen Apollo, eine Hera, eine Pallas in vollendeter Schönheit aus Marmor gebildet haben. In Schrift und Wort, in Liedern und Gesängen, in Formen und Farben, in profanen und religiösen Darstellungen entfaltet die Kunst ihre unerschöpflich reichen Kräfte, und täglich werden ihr neue Altäre errichtet; täglich strömen ihr neue Jünger und Verehrer zu. Wenn man in Zeitungen und Zeitschriften auf jeder Seite Besprechungen von Kunstwerken, Berichte über Kunstausstellungen, Recensionen über Theater und Concerte findet, so sollte man beinahe glauben, die Kunst sei längst Gemeingut Aller geworden, und die Musen seien tägliche Gäste in jedem Hause. Und doch: wie stiefmütterlich wird die Kunst gerade in den Räumen behandelt, die uns täglich umgeben, die uns an die Arbeit fesseln und zur Erholung rufen, die unser Theuerstes, unsere Familie einschließen – in den Räumen unseres Hauses! Nur Leute von fürstlichem Vermögen dürfen sich rühmen, in ihren stolzen Häusern auch den Künsten eine Heimstätte zu bereiten, und oft genug muß hier prahlende Eitelkeit den Mangel an Verständniß und Geschmack ersetzen. Was aber thun wir, die minder Begüterten, welche Sorgfalt wenden wir auf, um wenigstens nach unseren Kräften dem Dienste der Schönheit ein Plätzchen in unseren bescheidenen Wohnungen zu gewähren? Mustern wir nur flüchtig einmal diese unsere Räume mit dem Auge des guten Geschmacks!
Wir beginnen mit dem Kleinen, oder besser mit der Behausung des Kleinen, mit der Kinderstube. Daß Kinder Spielsachen haben müssen, ist eine Forderung, die dem Reichsten wie dem Aermsten einleuchtet. Und auch in der Wahl der Gegenstände macht die Verschiedenheit der Stände keinen großen Unterschied: in allen Kinderstuben findet man Geräthe, Thiere, Puppen, Bilderbücher. Nun aber gebe man sich die Mühe und nehme von diesem Spielzeuge das eine oder das andere in die Hand, um es aufmerksam zu betrachten! Was für Geräthe sind das! O ihr armen kleinen Mädchen, ist dieses eure Puppenstube und jenes eure Küche? Aus den schlechtesten Stoffen, mit den elendesten Bindemitteln, mit Leim, der nicht klebt, und mit Nägeln, die nicht haften, hat man euch einen Plunder zurecht gemacht, der schon nicht mehr zusammenhält, wenn ihr das luftige Zeug in die kleinen Finger nehmt. Ist das dein Säbel, mein Sohn, und das dein Schießgewehr? Elende Trümmer, obgleich erst vor einer Stunde der Vater die Sachen aus dem Fünfzigpfennigbazar heimbrachte; du sollst sie zerbrochen haben, behauptet die Dienstmagd, du hast sie nicht zerbrochen – sie waren schon zerbrochen, als du sie anfaßtest, denn sie waren niemals ganz. Und was für Thiere sind das? Grüne Ochsen und blaue Hunde, Pferde mit kerzengeraden, stricknadeldünnen Beinen, Katzen mit Hörnern und Füchse ohne Schwanz. Und gar erst die Puppen – daß Gott erbarm’! Naturwidrige Geschöpfe von Drechslers Gnaden! Und die feinen, die theueren in Sammt und Seide stolzirenden, Papa und Mama sagenden: wie unsäglich dumm und einfältig sie aussehen mit ihren Gründerfranzen vor der winzigen Stirn und den bemalten Wangen, gerade wie – die Puppen. Soweit es sich um unsere ganz Kleinen handelt, mögen wir immerhin, was die Haltbarkeit der Spielsachen betrifft, nicht gar zu ängstlich sein; denn die Lust des Zerstörens steckt nun einmal in diesen kleinsten unter den kleinen Weltbürgern, und auch das Haltbarste wird ihnen zum Opfer fallen. Aber geschmackvoll und vor Allem naturwahr soll auch all das sein, was wir unsern Jüngsten bieten, und Gott sei Dank! fehlt es in Deutschland neben
[17][18] vieler Dutzendwaare nicht an wirklich künstlerischen Leistungen auf dem Gebiete der Spielwaarenfabrikation.
Das Gefühl für das Schöne und Wahre will frühzeitig geweckt und geübt sein. Das gilt namentlich auch von den Bilderbüchern. Halt – da ist gleich eines. Bist du es, Unvermeidlicher? Wahrhaftig, es ist der alte Tröster, der Struwwelpeter. Die alten Fratzen, die alten Carricaturen! Aber sie machen den Kindern Vergnügen, versichert die Mama, die nicht wenig stolz darauf ist, ihren Lieblingen gerade diesen Schatz bescheert zu haben. Schlimm genug, wenn Nicolas mit dem großen Tintenfaß und Conrad mit dem Daumen im Munde den Kleinen Freude machen, und zugleich Beweis, daß sie nichts Besseres gewohnt sind. Wann wird man begreifen, daß für die Kinder das Beste eben gut genug sei? Nicht Zerrbilder, nicht Scheusale soll man den Augen derselben vorführen, sondern richtig gezeichnete, schön geformte, correct gefärbte, dichterisch verklärte Gestalten. Wie gern betrachten die Mädchen Blumen, die Knaben Thiere, und wie tief prägen sie die im Bilde geschauten Formen und Farben dem Gedächtniß ein, um in der Natur die Originale wiederzusuchen! Wie unermüdlich sind sie, sich selbst zu belauschen in den Darstellungen des Kindeslebens, denen Gott sei Dank auch Meister ihren Stift zu leihen beginnen! Aber wer kann die theuern Bücher kaufen? fragt der sparsame Vater. Sie sind nicht theuerer als der buntbeklexte Schund; für ein paar Mark erwirbt man heutzutage eine der köstlichsten Gaben von Ludwig Richter, Oscar Pletsch und Eugen Klimsch. Daß der Humor nicht ausgeschlossen werden dürfe, bestätigt ein Blick in die Werke der genannten Künstler. Wie bequem machen wir Eltern uns in der Regel dasjenige, dem wir aus Liebe zu unsern Kindern die peinlichste Sorgfalt schuldig wären! Wenn Weihnachten naht, bestellt die Frau Mama – denn der Papa hat keine Zeit, sich mit dergleichen Allotria zu kümmern – beim Buchhändler die obligaten Bilderbücher. Gretchen ist zehn Jahre alt, Ernstchen sieben, Laura drei; das Stück darf nicht über zwei Mark kosten – für das Uebrige wird der Buchhändler sorgen, dafür ist er ja Buchhändler. Und doch kommt für die geistige Entwickelung der Kinder unendlich viel darauf an, welche Speise man ihnen reicht.
Aber nicht blos empfangen wollen die Kleinen, sie wollen auch produciren. Welcher Dreijährige wollte nicht malen? Aus dem Papierkorbe sucht er die Fetzen, von des Vaters Schreibtisch stibitzt er die Stifte, um Tapeten zu bekritzeln. Habt ihr schon mehr dazu gethan, ihm das abzugewöhnen, als daß ihr ihn auf die Finger geschlagen habt? Lohnt es wirklich nicht der Mühe, fünf oder zehn Minuten des Tages euch abzumüßigen, um eurem Söhnchen einen Schimmel, eurem Töchterchen eine Rose zu zeichnen oder zu tuschen? Aber gesteht es nur, ihr könnt es nicht, denn ihr habt es nicht gelernt, so wenig eure Kinder es lernen werden. In der That, es ist erstaunlich, wie achtlos wir die Anlagen unserer Kinder vernachlässigen, deren Ausbildung ihnen zum Vergnügen und Nutzen gereichen würde. Dagegen wird ein Talent bei fast allen Kindern stillschweigend vorausgesetzt und rücksichtslos gefordert, das Talent zur Musik. An das Pianino müssen sie, sie mögen wollen oder nicht, die zarten Finger quälen sich, das vorgeschriebene Pensum herunterzuklappern; Thränen fallen auf die gemarterten Tasten – keine Gnade! Es wäre ja eine Schande, wenn Otto keine Mozart’sche Sonate und Laura keinen Chopin’schen Walzer spielen könnte. Die elende Clavierklimperei! Man zeige den Kindern gute Bilder; man lehre sie dieselben mit Verständniß betrachten und, soweit es angeht, nachbilden; man gebe ihnen Anleitung, Brücken und Thürme mit dem Baukasten zu construiren, und sie werden wenigstens nicht ganz unvorbereitet an öffentliche Bauten herantreten.
Von der Kinderstube pflegt es nicht weit zur Küche zu sein. Die Kunst in der Küche? höre ich verwundert fragen. Damit soll doch wohl nur die Kochkunst gemeint sein? Ich will nicht in Abrede stellen, daß sie nicht selten auch von ernsthaften Männern für eine edle Kunst gehalten wird. Allein nicht mit der eigentlichen Zubereitung der Speisen haben wir es hier zu thun, sondern mit der Herrichtung derselben für den Tisch und mit der Ausrüstung des Küchengeräthes und Eßgeschirres. Wie kommt es, daß ein sauber arrangirter Braten, ein zierlich geschmückter Salat uns besser munden, als ein in plumper Schüssel schmucklos dargebotenes Gericht? Der Magen ist ein Tyrann, aber er will gern von gefälligen Händen bedient sein. Und wie weit sind die Formen unserer Küchengeräthe hinter denen der Alten zurück! Welche schön gehöhlten Schüsseln, welche schlanken Kannen, welche geschweiften Krüge dort – und welche nichtssagenden, nüchternen Näpfe und Töpfe hier! Warum kaufen wir den Klempnern und Töpfern bereitwillig ab, was ihre ungeschickten Lehrlinge als Fabrikwaare dutzendweise herstellen? Warum zwingen wir nicht durch erhöhte Ansprüche die Meister, nach alten, guten Mustern zu arbeiten?
Das Mittagsmahl ist fertig; die Hausfrau ladet uns in das Wohnzimmer ein. Wie viel kann sie, wie viel können die heranwachsenden Töchter durch sinnige Anordnung des Tisches dazu beitragen, die Stillung des Hungers und Durstes zu einem doppelten Genusse zu machen! Eine Vase mit Blumen, eine geschmackvolle Schale mit Obst sollten nirgends fehlen, anstatt daß wir an schmucklosem Tische hastig verschlingen, was die Kelle bietet. Kaum haben wir Zeit, uns in dem Eßzimmer ein wenig genauer umzusehen. Und was wir sehen, ist in der Regel nicht geeignet, uns zu erfreuen. Denn unsere Tischler sind, dank den Fortschritten der Industrie, Möbelfabrikanten geworden; was sie liefern, ist meistens nichts als Fabrikwaare. Selten nur sieht man noch alten, würdigen, wohl erhaltenen Hausrath, solide eichene Tische, geschnitzte Stühle, aus edeln Holzarten kunstreich gebaute Schränke. Alles sieht bei Schulze’s aus wie bei Müller’s, bei Lehmann’s wie bei Schmidt’s. Die Originalität in der Ausstattung der täglich benutzten Wohnräume ist fast ganz abhanden gekommen. Ueberall nur leichte, zerbrechliche Waare, fade Linien, nüchterne Farben! An den Wänden eine Fünfzigpfennigtapete, grau in grau gedruckt, am Fußboden ein abscheuliches, monotones Deckenzeug, der Verdruß der Kinder, die darüber stolpern, der Aerger der Dienstboten, die den mißbräuchlich Teppich genannten Fetzen jeden Morgen vom Staube zu säubern haben.
Doch Geduld! Eine Flügelthür thut sich auf: treten Sie ein in die „gute Stube“! Ja, die gute Stube! Hier also ist das eigentliche Heiligthum des Hauses, der Raum, in welchem wir uns an Sonn- und Feiertagen mit der Familie zusammenfinden, um nach harter Arbeit der Muße und Erholung zu pflegen, die Stätte, wo wir aus festlicher Veranlassung unsere Gäste begrüßen. Sollte man nicht annehmen dürfen, daß alle Sorgfalt und aller Geschmack aufgeboten sei, um wenigstens diesen Raum würdig und elegant herzurichten? Und wie sieht er zumeist in Wirklichkeit aus! Zunächst die Möbel! Es ist nicht leicht, die vorhandenen Stücke so zu vertheilen, daß jedes einzelne an einer passenden Stelle seinen Platz finde und der Gesammteindruck dadurch ein angenehmer werde. Freilich ist dazu auch unbedingt nothwendig, daß Einheit in Form und Farbe vorhanden sei. Es ist schlechterdings unmöglich, daß ein hellpolirter Schreibtisch neben einen dunkelgefärbten Schrank zu stehen komme. Es giebt „gute Stuben“, wo die Sophas, Kommoden und Servanten in Paradestellung aufgepflanzt sind, wie die preußischen Grenadiere. Ein massives Musikinstrument macht sich dicht am Fenster breit, ein winziges Spieltischchen verschwindet in der dunkeln Ecke dahinter. Vor einem blauen Sopha steht ein schwarzer Tisch, auf dem eine gelbe Decke liegt; darunter ein in allen Regenbogenfarben schillernder Teppich. Der Divan ist nach französischer Art gepolstert, sodaß kein Holz sichtbar wird, die Fauteuils zeigen schwerfällige Holzlehnen.
Nicht besser steht es um den sonstigen Schmuck. Tapeten in schreienden Mustern, faustdicke Rosenbouquets in metergroßen Zwischenräumen beleidigen das Auge; ein centnerschwerer Kronleuchter droht ein ovales Tischchen mit zierlich geschweiften Beinchen zu erdrücken. Der Stolz jeder braven Hausfrau sind weiße Gardinen. Weiße Gardinen – unverzeihlich geschmacklose Erfindung einer alten Jungfer, deren Seele so rein war, wie die Vorhänge ihrer Fenster! Das einfallende Licht zu dämpfen, nicht es aufzufangen, es zurückzuweisen, es in hundert Falten und Spitzen widerzuspiegeln, ist die Aufgabe der Fensterverhüllungen.[2]
Wie traulich ist ein Gemach mit dunkeln, zweifarbigen oder bunten Gardinen! Und wie bequem für die Hausfrauen! Sie haben nicht nöthig, mit ängstlichen Blicken dem Brande jeder Cigarre [19] zu folgen, die der rücksichtslose Gatte im Heiligthume zu rauchen sich erkühnt. Sie brauchen auch nicht die gespenstischen weißen Fahnen alle vier Wochen herunter zu nehmen, um sie zu waschen. Lange wird der Gatte sich so wie so hier nicht aufhalten, denn die Stube ist kalt; sie wird nur zu Weihnachten geheizt. Und mit welchem Ofen! Kaum ist auf irgend einem Gebiete die Anspruchslosigkeit und der Ungeschmack größer, als auf dem der Oefen. Schwarze, rußige Eisenhaufen, oder spindeldürre, jedes Zierrathes entbehrende Kachelsäulen vertreten, namentlich in Mittel- und Süddeutschland, die Stelle künstlerisch aufgebauter Apparate, wie man sie allenfalls noch im Rheinlande findet, wo dieselben seltsamer Weise einen Theil des transportabeln Hausrathes bilden. Auch die Lichtspender zeichnen sich meist durch kahle prosaische, ungefällige Formen aus. Und doch ist eine Lampe mit lebendigem Fuße, der eine ganze Figur aus Bronzeguß oder auf kräftigem Sockel eine Karyatide bilden mag, nicht viel theurer, als der ewig wiederkehrende weiße Glasstengel.
Selbstverständlich darf in einer Putzstube der Bilderschmuck nicht fehlen. Wenn nur eine Spur von Kunstgeschmack in einem Hause ist, an diesem Punkte müßte sie sich doch zeigen. Aber wie unverantwortlich wird hier gesündigt! Es ist eine unbedingte Geschmacklosigkeit, Oeldruckbilder neben Oelgemälde, Kupferstiche und Photographie durch einander aufzuhängen. Photographien gehören überhaupt nicht an die Wände, sondern in die Mappen, um vorkommenden Falls hervorgeholt und betrachtet zu werden. Es ist ein nichtswürdiger Anblick, die ganze Familie, vom Großvater bis zum jüngsten Enkel, in unnatürlich gespreizten Stellungen photographirt, gruppenweise über dem Staatssopha aufgehängt zu sehen. Und dabei nimmt man es gar nicht übel, runde, ovale und viereckige Rahmen dicht neben einander abwechseln zu lassen. Daß die Gegenstände der bildlichen Darstellungen in einem und demselben Raume nicht völlig verschiedenartige sein dürfen, sollte kaum zu erwähnen nöthig sein. Ein Christuskopf von Guido Reni und die geschmückte Braut des Herrn Sohnes als Pendants sind ein Unding. Ich habe im Staatszimmer eines Gutsbesitzers erstens das Conterfei der Großmutter in Daguerrotypausführung, zweitens ein Preisdiplom auf den stärksten Zuchtstier einer Viehausstellung unter Glas mit Goldpapierborde, drittens eine büßende Magdalena, Stahlstich in braunpolirtem Rahmen, friedlich neben einander prangen sehen.
Aber unsere Predigt über die „Kunst im Hause“ kann nicht umhin, noch einen Schritt über die Einrichtung hinaus zu thun. Ich rechne zu meinem Thema die Kleidung, ich rechne dazu die geistige Beschäftigung mit der Kunst im Familienkreise.
Gewiß ist es richtig, die Bedeutung und den Werth eines Menschen nicht nach seiner äußeren Erscheinung, sondern nach seiner Gesinnung und sittlichen Beschaffenheit zu beurtheilen. Allein das Gewand steht doch für das Gefühl in einem gewissen, fast möchte ich sagen organischen Zusammenhange mit der Person, die es trägt. Wenn von Kleidern die Rede ist, lassen wir billiger Weise jenem Geschlecht den Vortritt, dem mit der Anmuth und Schönheit zugleich die Gabe und Aufgabe zuertheilt worden, die Reize der körperliche Erscheinung zu verhüllen oder durch Schmuck zu vermehrter Geltung zu bringen. Da ist nun ein großer Unterschied zwischen den Frauen im Hause und den Frauen außerhalb des Hauses. Die Frauen im Hause sind, um von gut bürgerlichen Verhältnissen zu reden, nicht selten Muster von Einfachheit und Anspruchslosigkeit, um nicht zu sagen von Nachlässigkeit und Nonchalance. Altmodische, vertragene Kleider, dicke formlose Tücher, massive Jacken, vertrackte Hauben, die von der Nachtmütze nur den Namen verleugnen, darunter ungeordnetes Haar, mit naiver Beiseitelassung der nur für die fremden Augen bestimmten Extra-Flechten und -Zöpfe, – in diesem Aufzuge bewegen sich vielfach die lieben Frauen den größten Theil des Vormittags im Hause umher. Für wen sollten sie sich auch schmücken, da sie doch Niemand zu Gesicht bekommt als – der Mann und die Kinder? Ihr irrt euch, ihr liebe Frauen, wenn ihr glaubt, für das Haus sei das Schlechteste eben gut genug. Wollt ihr stets anziehend sein, so müßt ihr auch stets angezogen sein, nämlich sorgfältig und gut angezogen, ohne Prunk, aber mit Geschmack, ohne Ballast, aber mit dem nothwendigen Schmuck. Doch wir schweigen schon, denn ihr vertröstet uns auf den Abend: „wir werden Gäste bei uns sehen“, und ihr werdet, wie die übrigen Damen, im allermodernsten Gesellschaftsanzuge euch präsentiren.
Es mag trivial erscheinen, wenn Männer über die Mode räsonniren, von der sie nach dem einstimmigen Beschlusse aller Frauen nichts verstehen. Es mag richtig sein, daß der männliche Anzug gleichfalls Angriffspunkte genug bietet – ich bin kein Vertheidiger des Fracks und des Cylinders, und der Mann thut am Ende auch nichts weiter im Interesse eines geschmackvollen Anzugs, als daß er dem Schneider „einen modernen Schnitt“ empfiehlt. Aber die stabile Form unserer Anzüge läßt kaum eine Wahl, um den Geschmack walten zu lassen, während die Veränderlichkeit des weiblichen Anzugs eine persönliche Verantwortlichkeit für den Ungeschmack mit sich führt. Und das behaupte ich, allen Pariser Modistinnen und allen Berliner Modezeitungen zum Trotz: die Kunst hat bei dem jüngsten Kinde der Mode nicht Gevatter gestanden. Den unkleidsamen, dreisten, stoffvergeudenden Reifrock sind wir glücklich los geworden, aber dafür sind wir aus dem Regen in die Traufe gekommen. Da thut man, als wolle man vor allen Dingen Stoff ersparen, und schneidet den abgeschrägten Rock so buchstäblich auf den Leib zu, daß derselbe mit unübertrefflicher Plastik dasteht, was man aber auf diese Weise erübrigt hat, das hängt man in Falbeln und Fetzen, in Falten und Streifen, in Frisuren und allerlei Schnickschnack dem eingeengten Kleide auf. Zu einer freien Bewegung, zu einem elastischen Gange, zu einem schönen Faltenwurf des Gewandes läßt die Fußangel, welche die Mode den armen Geschöpfen anlegt, es kaum noch kommen. Aber geduldig macht es die Eine der Andern nach, denn so will es die Mode. Ihr blindlings zu gehorchen, ist die erste Pflicht des Weibes – was fragt sie nach Schönheit und Kunst? Haltet euren Frauen ernsthafte Vorlesungen über die Häßlichkeit und Unnatur dieser Watschelei, verspottet sie durch Caricatur in Bild und Wort, sie werden lächeln oder zürnen und – fortfahren, sich mit sclavischer Selbsterniedrigung zu kleiden, wie die Mode es ihnen vorschreibt.
Dürfen wir nach dem unerschrockenen Aussprechen dieser Ketzereien noch wagen, Zeugen der geselligen Unterhaltung der Hausbewohner und ihrer Gäste zu sein? Nur noch ein Wort – eben über diese Unterhaltung! Die Kunst, behaupten wir, pflegt an ihr einen mehr als bescheidenen Antheil zu nehmen. Wehe, wenn die unvermeidlichen Photographie-Albums vorgezeigt und von kundigem Munde erklärt werden! Wer kennt die braven Tanten, und wen interessiren die pausbäckigen Neffen? Und doch – wie viel Gelegenheit bietet sich bei dem freundschaftlichen Verkehr mit den bekannteren Gästen des Hauses, auch die Kleinodien der Kunst mit prüfendem und beglücktem Auge zu betrachten! Gerade die Photographie ermöglicht es, Darstellungen aller Sehenswürdigkeiten der Welt bequem von Hand zu Hand gehen zu lassen, um sie in der Mappe bis zur nächsten Veranlassung aufzubewahren. Wir haben eine Schweizreise gemacht, und es gewährt uns ein eigentümliches Vergnügen, die Ufer des Vierwaldstädter Sees, das schneebedeckte Haupt der Jungfrau, den Rhonegletscher im Bilde abermals zu begrüßen. Wir wollen nach Italien reisen – wie dürften wir wagen, den geweihten Boden zu betreten, ohne vorher gewisse vorbereitende Studien gemacht zu haben? Glücklicher Weise haben wir in dieser Beziehung einen höchst erfreulichen Fortschritt in der Vervielfältigung der Kunstwerke zu verzeichnen. Unsere besseren illustrirten Zeitschriften überbieten sich in der Wiedergabe von Bauwerken, Sculpturen und Gemälden. Die Lust, unsere große Dichter zu lesen, Goethe, Schiller, Shakespeare zu täglichen Gästen unseres Hauses zu machen, hat durch die illustrirten Ausgaben der letzten Jahre einen neuen Antrieb erhalten. Wie kann die Kunst im Hause leichter und nutzbringender gepflegt werden, als durch „Reinecke Fuchs“, „Hermann und Dorothea“, Shakespeare’s Dramen u. s. f. in lebendigen Gestalten?
Aber wird denn wirklich die Kunst im Hause ganz und gar vernachlässigt? Eine Kunst wenigstens läßt sich fast in jedem Hause vernehmen, sie findet überall bereite Hände und offene Ohren: die Musik. Aber was für Musik? In neunundneunzig von hundert Fällen geht dieselbe nicht über Clavierspiel und etwas Gesang der Töchter hinaus. Wie mangelhaft die Durchschnittsleistungen derselben und wie zweifelhaft das Vergnügen sei, sie anhören zu müssen, ist ein öffentliches Geheimniß. Diese Stümperei und Klimperei – die auch zu den Ungezogenheiten der Mode gehört – ist eine Calamität ersten Ranges für unser gesellschaftliches Leben geworden. Kaum ist es gelungen, eine leidlich vernünftige Unterhaltung am Familientische zu Stande zu bringen, [20] so erinnert uns das „Erwachen des Löwen“, das „Gebet der Jungfrau“ oder gar der kleine vielgereiste „Postillon“ schmerzlich daran, daß unser Zeitalter das der musikalischen Unwahrheit ist. Denn wirkliches Gefallen an solchen Fingerübungen findet – die Hand auf’s Herz – außer der ausübenden Künstlerin gewöhnlich nur die Frau Mutter, die das Geld für die Clavierstunden nun doch nicht weggeworfen sieht.
Ja es liegt in dieser Modekrankheit eine positive Gefahr für die geistige und sittliche Entwickelung des weiblichen Geschlechts. Nichts liegt dem Weibe näher, als eine Fülle unklarer Empfindungen, deren Woher und Wohin gleich bedenklich ist, und nichts erscheint mehr geeignet, diesen unklaren, verschwommenen Empfindungen neue Nahrung zuzuführen, als das textlose und deshalb meist gedankenlose Clavierspiel. Man entlasse aus dem erzwungenen Unterricht alle unbegabten Schüler und Schülerinnen, man verlange von den wirklich talentvollen den Vortrag gediegener Tondichtungen, aber man füttere nicht die Mittelmäßigkeit mit den Bettelsuppen unbekannter Holzmißhändler, und man ziehe nicht die göttliche Kunst der Musik in den Staub durch ein erlogenes Dudeldei! Ich wenigstens gestehe gern, daß ein einziges Volkslied, deren wir Deutsche unendlich viele besitzen, von der ganzen singhaften Familie im Chor gesungen, wenn es nicht anders geht, einstimmig, wenn es sein kann, mehrstimmig, mir eine reinere Freude bereitet, als ein ganzer Abend voll Capriccios und Nocturnos, vorausgesetzt, daß diese Compositionen nicht von Künstlern gesetzt sind und von Künstlerhänden gespielt werden.
Mit der Musik verbinden sich von selbst dramatische Darstellungen. Sie gewähren die willkommene Gelegenheit, die Aussprache zu bilden, das Gedächtniß zu üben, die körperliche Haltung zu veredeln, selbst den Charakter zu kräftigen und zu heben. Kein bürgerliches Haus ist zu klein, um seine Räume von Zeit zu Zeit zur Vorführung von einzelnen Scenen aus Trauerspielen und Schauspielen oder von ganzen Lustspielen hergeben zu können. Der leitende Gesichtspunkt muß wirkliches Interesse an der dramatischen Kunst sein, nicht aber darf die Koketterie den Regisseur machen, nicht die Liebelei hinter dem Vorhang hervorgucken. Wie ärmlich sind meist unsere üblichen Declamationen bei Polterabenden und Hochzeitsfesten! Immer dasselbe: bestellte Arbeit, fades Zeug. Hat ein Goethe nicht verschmäht, eine ganze Anzahl von Gelegenheitsdichtungen aus festlichen Veranlassungen zu schreiben, so wird auch unseren Poeten keine Perle aus der Krone fallen, wenn sie zu ähnlichen Zwecken Festspiele kunstreich und geschmackvoll zusammenstellen.
Ich komme zum Schlusse mit dem Bewußtsein, daß ich noch nicht zu Ende bin. Denn überschwänglich reich und wahrhaft unerschöpflich ist die Kunst, die ein guter und freundlicher Gott uns gab, die Häßlichkeit der wirklichen Dinge zu verhüllen, die Niedrigkeit des täglichen Denkens zu erheben, die Traurigkeit schmerzlicher Erfahrungen zu erheitern, um aus der Noth und dem Jammer der Erde in einen reineren und glücklicheren Himmel zu entfliehen. Nur dann aber ist die Kunst ein Gemeingut des ganzen Volkes, wenn sie auch am Herd des Hauses eine Heimstätte findet.
Jedes Kunstsinnes baar ist Keiner; jeder pflege ihn nach dem Maße seiner Anlagen, seiner Zeit und seiner Mittel! Jeder sei darauf bedacht, durch die Gestaltung seiner täglichen Umgebungen, durch Schönheit der Form und Farbe, Zusammenstellung des Passenden, Vermeidung des Ungefälligen und Störenden, durch Wort und That, durch Beförderung des Kunstgewerbes aller Gattungen, sich und den Seinigen sein Haus zu einer Stätte des Geschmacks, zu einem Zufluchtsorte des Behagens, zu einem Tempel der Reinheit und edeln Freude zu machen. Dann werden wir nicht mehr mit Schiller zu klagen haben, daß die Götter Griechenlands auf ewig von uns geflohen seien, dann doppelt beglückt einander die stolzen Worte unseres Dichters zurufen dürfen:
„Im Fleiß kann Dich die Biene meistern,
In der Geschicklichkeit ein Wurm Dein Lehrer sein,
Dein Wissen theilest Du mit vorgezognen Geistern –
Die Kunst, o Mensch, hast Du allein.
Neujahr in China. Bei den Chinesen ist der Neujahrstag ein bewegliches Fest und fällt meist in den Februar, oft in den Januar, zuweilen in den März. Er gilt für einen der größten Feiertage. Schon zehn bis zwölf Tage vorher werden alle officiellen Bureaus geschlossen und bleiben es einen ganzen Monat hindurch, während welcher Zeit die Beamten Festlichkeiten und Unterhaltungen veranstalten. Unmittelbar vor dem eigentlichen Neujahrstage werden die Feuerherde zu Ehren des Hausgottes gereinigt. Um Mitternacht, wenn das alte Jahr scheidet, wird ein wohlriechendes Bad genommen und die besten Gewänder werden angethan. Einige Familienmitglieder begeben sich an die möglichst glänzend erleuchteten Hausaltäre, um ihre Götzen anzubeten, andere besuchen die Tempel. Bis zur Morgendämmerung wechseln religiöse Uebungen mit Abbrennen von Raketen, Weihrauch und buntem Papier ab.
Bei Tagesanbruch beginnt der Austausch der Besuche und die Verzierung des Hauses; unter letzterer sind besonders weise Sprüche in Transparenten zu verstehen. Das betreffende Papier muß jene Farben haben, die dem Grade der Trauer der Familie entsprechen, also weiß, blau, rosa, scharlachroth. Trauert man gar nicht, so ist das Papier carmoisinroth. Das Aeußere der Häuser ist mit Blumen geschmückt. Allenthalben werden Feuerwerke abgebrannt; wohin man während jener vier Wochen kommt, giebt es Feuerwerke, zahllos und ohne Ende. Auch Geschenke spielen eine große Rolle. Geht man am Neujahrstage durch eine chinesische Stadt, so fühlt man sich wie nach London an einem Sonntage versetzt. Alle Läden sind geschlossen, die Straßenverkäufer verschwunden, sogar Fußgänger schwer zu entdecken. Selbst die sonst lustigsten Menschen tragen an diesem Tage ein höchst ernstes Gesicht zur Schau. Auch im Zimmer geht es ganz ruhig her. Nach dem Speisen werden theils ernste Spiele, theils Theatervorstellungen arrangirt. So lebt man drei Tage in derselben Ordnung fort.
Vierzehn Tage nach dem eigentlichen Neujahrstage findet das Laternenfest statt, welches äußerst gewissenhaft beobachtet wird und unbedingt die glänzendste Augenweide ist, die man in China haben kann. Jede, selbst die ärmlichste Wohnung wird da mit Laternen jeder Gestalt und Größe illuminirt. Dieser Laternencultus geht so weit, daß die Leute sich lange vorher in ihren Bedürfnissen einschränken, um für das Ersparte desto mehr und möglichst elegante Laternen kaufen zu können. Was man von der Größe einiger dieser Beleuchtungsmittel erzählt, grenzt an’s Unglaubliche; man spricht von einer Laterne, die siebenundzwanzig Fuß im Durchmesser hatte und in der man speiste, schlief und tanzte. Der Effect der Laternen in Baum-, Felsen-, Thier- und Menschenformen in voller Beleuchtung ist feenhaft. Auch an diesem Tage mangelt es nicht an Feuerwerken. Ueber den Ursprung des Laternenfestes erzählt man: als einst eines Mandarinen Tochter ertrank, wären alle Bewohner des betreffenden Ortes mit Laternen auf die Suche nach dem Leichnam ausgezogen; seither hätten sie, da sie den Mandarinen liebten, alljährlich am Gedenktage ihre Laternen und andere Feuer angezündet, bis allmählich der ursprüngliche Zweck vergessen und jener Tag zum allgemeinen Feiertag gemacht worden sei. Daß dieser Erzählung ein uralter Mythus zu Grunde liegt, ist zweifellos. Wer übrigens in China am Jahresende seine Schulden nicht zahlt, dem wird das Leben sehr verbittert. Daraus erklärt sich, daß während der zwei letzten Wochen jedes Jahres die Zahl der Einbrüche und Ueberfälle rapid steigt.
Ein verfolgter Räuber. (Zu dem Bilde auf S. 17.) Ein gefährliches Wagestück ist es diesmal gewesen, auf welches Meister Reineke in unsrer Abbildung sich eingelassen hat, ein Wagestück, zu dem ihn nur der äußerste Mangel oder die allerverführerischste Gelegenheit ermuthigt haben kann. Denn der „Frischling“, welchen er erwischt und bereits zum Eingang seiner „Veste Malpartaus“ mit dem Baumwurzeldach geschleppt hat, gehört nicht zu den jüngsten mehr: bis auf eine letzte Spur sind die hübschen gelben Längsstreifen der ersten Monate schon von dessen Kleide verschwunden, und nur an das ganz kleine Volk wagt sich für gewöhnlich der Vorsichtige, dem die Last des größer gewordenen Frischlings zum schweren Hinderniß bei der raschen Bergung des Raubes werden muß. Dafür trollt wohl auch der größere Frischling im Gefühl wachsender Selbstständigkeit um so leichtsinniger von seiner Gesellschaft abseits; und so mag es gekommen sein, daß dem in der Nähe weilenden Fuchs der Erfolg eines Raubanfalls nicht ausgeschlossen schien. Freilich muß er jetzt mit aller Anstrengung schieben und stemmen, um sich und das Opfer leichtsinnigen Abweichens vom rechten Wege noch im letzten Augenblicke in Sicherheit zu bringen, denn: nur Secunden noch, und das Verhängniß da oben raset auf ihn herunter. Ein Bild zum Fürchten, dieser in maßloser Wuth schäumende „Keiler“, der – wie denn Wildschweine sich stets gegenseitig Hülfe leisten – auf das „Klagen“ des Verunglückten an erster Stelle die Verfolgung übernommen hat! Splitternd bricht der junge Stamm, der ihm den Weg sperrt, vor dem steinharten Schädel, und wehe, wenn der Räuber in die Gewalt dieses Gebisses käme! Das ist nun leider nicht wahrscheinlich, und so werden denn unsere Leser diesmal schon auf die rächende Hand der „poetischen Gerechtigkeit“ verzichten und sich an dem sprühenden Leben schadlos halten müssen, mit welchem der treffliche Fedor Flinzer diese seine Zeichnung durchgeistigt hat.
Vielen Fragestellern diene zur Nachricht, daß „Im Schillingshof“, der neue Roman unserer verehrten Mitarbeiterin E. Marlitt, nun definitiv mit der ersten Nummer des nächsten Quartals zur Veröffentlichung kommen wird.
Frl. Fr. M. Ein solches Buch existirt leider nicht.
Verantwortlicher Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
- ↑ In das mit dieser Nummer eröffnete Quartal fallen die Geburtsjubiläen Lessing’s (geboren 22. Januar 1729) und seiner hervorragendsten Dichtung „Nathan der Weise“ (vollendet Mitte März 1779). Dies die Veranlassung zu obigem Artikel.
Die Redaction.
- ↑ Wie sehr übrigens die Ansichten über diesen Punkt aus einander gehen, dürfte beispielsweise unsere „vernünftige Hausmutter“ (siehe die Plauderei auf Seite 8 ff. unserer heutigen Nummer!) bezeugen.
Die Redaction.