Die Gartenlaube (1881)/Heft 34

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 34.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)
13.

Der April brachte ungewöhnlich warme Tage, und schon lockte die seit länger als einer Woche stets unbewölkte Sonne junges Laub und Knospen hervor. Kirschen und Aprikosen standen in voller Blüthe. Die von Genoveva mit Vorliebe gezogenen Zierpflanzen, welche im Verandazimmer überwintert hatten, waren bereits draußen, zu dem grünen Winkel geordnet, welcher den Ausblick freiließ, während er die dort Sitzenden verbarg.

Es war Sonntag Nachmittag. Fügen saß, ein Buch in der Hand, hinter den breiten Palmenblättern, auf deren glänzender Fläche die bereits auf der Heimreise begriffene Sonne funkelnd spielte. Der Meister las aber nicht in dem Buche; er sah träumerisch hinab in’s grüne Thal, auf den blitzenden Strom. Drunten läutete es hier und dort von den Glockentürmen; es war um die Vesperzeit. Ganz nahe tönte das Frühlingslied einer Grasmücke in die Feierklänge hinein zuweilen auch eine Kinderstimme.

Auf der mit Obstbäumen bestandenen Wiese, welche die innere Eingangspforte begrenzte, saßen Siegmund und Maxi einträchtig beisammen auf einem über das noch lichte Gras gebreiteten Teppich, dessen einen Zipfel der Neufundländer so gravitätisch inne hatte, als habe er das Amt übernommen, die zuweilen von einem Windhauche gelüftete Schutzdecke festzuhalten, eine um so großmütigere Leistung, als die Kinder heute keinerlei Notiz von ihrem geduldigen Spielgefährten nahmen. Sie waren eifrig mit einer gezähmten Jochdohle beschäftigt, die zwischen ihnen hin und her hüpfte und sie mit den klugen Augen abwechselnd ansah. Maxi hatte ihr ein scharlachrothes Band um den Hals geschlungen und auf dem schwerfällig beweglichen Kopfe saß ein Käppchen voll Goldpapier; dieser seltsame Aufputz, zusammen mit dem tiefschwarzen, glänzenden Gefieder und dem rothen Schnabel verliehen dem Vogel etwas besonders Phantastisches. Vor Sigmund, der auf der dem Hunde gegenüberliegenden Teppichecke kniete, lag ein Haufen bunter, glitzernder Steine und Schieferstücke, woraus er einen Bau aufthürmte. Der Eifer, mit dem er sich dem Geschäfte hingab, ward höchstens von der Lebhaftigkeit Maxi’s übertroffen, welche mit der Dohle sprach, fest überzeugt, von ihr verstanden zu werden, und daß der Vogel jetzt ein Prinz und der entstehende Prachtbau sein Palast sei. Die Kinderphantasie schwang ihren Zauberstab, der alle Dinge sicherer verwandelt, als das Gebot einer Märchenfee.

Hinter der Gruppe, wenige Schritte von ihr entfernt, saß Jana mit ihrem Bruder Lois unter einem blühenden Birnbaum im Gespräch. Der gedämpfte Klang ihrer Stimme ließ Fügen den Kopf wenden und niederschauen; sein zerstreutes Ohr und Auge nahm erst jetzt das stille Leben auf der Wiese wahr. Jana’s dem Bruder zugewandtes Profil hob sich klar von dem dunklen Stamme ab, gegen den sie gelehnt saß; so oft der Wind sich regte, taumelten einzelne Blüthen nieder und hingen sich ihr in das Haar. Die reiche Flechte schien heute besonders schwer über dem seinen Köpfchen zu lasten, vielleicht weil das Gesicht zarter noch als sonst aussah; es war farblos wie die fallenden Blüthen. Fügen sah unverwandt auf sie hinab und seufzte; er lehnte sich ein wenig vor, um ihre sympathische Stimme besser zu hören, sie sprach aber zu leise, um von hier aus verstanden zu werden. Dafür hörte er Sigi’s klares Stimmchen ernsthaft sagen:

„Wie ich noch ein Vogel war, hab’ ich droben auf der Heitern Bahn gewohnt, bin immer rundum geflogen, und hab’ ganz tief in den Himmel hineingucken dürfen.“

Es war nicht zum ersten Male, daß Fügen Aehnliches aus dem Munde des kleinen Poeten vernommen; warum trafen ihn diese Worte so tief?

„Als Du noch ein Vogel warst –“ murmelte er, und die Gedanken irrten um das Wort, weiter und weiter. „Ich war auch einmal einer – ein Singvogel, ein Wandervogel. Da hab’ ich auch in den klaren Himmel hineingeschaut, oft und tief. Was bin ich denn heute?“

Es überlief ihn. Alles, was er je erlebt, kam ihm vor, als sei unermeßliche Zeit inzwischen vergangen; es war ihm, als wäre er gar nicht derjenige gewesen, an den sich jene Erlebnisse knüpften, sondern als wäre es ein Anderer, von dem man ihm erzählt hatte, Dieser Andere hatte nichts von dem Druck gewußt, der jetzt so schwer auf ihm lag. Er besann sich im halben Traum, wann doch das angefangen habe, und da glitt ein lichter Morgen vor seinem Geiste vorbei, wo er die Augen geöffnet und gesehen hatte, wie die Sonne auf der bunten Decke seines Bettes spielte. Ganz deutlich erinnerte er sich, wie das ihm so wohl gethan, da ihm war, als hätte er einen Alpdruck überstanden und dürfe sich jetzt freuen, wen das vorbei und weil es Tag war. Aber er konnte sich nicht freuen. Wie frisch war er dann auf seine Füße gesprungen, und wie fröhlich hatte er den Laden zurückgeschlagen! Da war die Sonne voll hereingeströmt, so licht, so gesund, daß ihm tröstlich zu Muth geworden. Damals, ja, da hatte es angefangen. Seitdem war er den fremden Druck nicht mehr los geworden; seitdem zog seine Symphonie so fern über ihm dahin, wie Wolken am Himmel; seitdem hatte er sich wie ein abgerissenes Blatt, das vom Baum [554] in den Strom gefallen, dahintreiben lassen durch fruchtlos gelebte Tage. Darauf besann er sich heute zum ersten Male. Wie ein plötzliches Zürnen über seine eigene Schwäche kam es nun über ihn, da er so scharf in sich hineinsah. Niemand wirft sich Schwäche so bitter vor, wie ein starker Mensch. Sich in Arbeit und Genuß an das Leben hinzugeben – das war das Ideal des Mannes in Fügen. Und daß nur in der größten Ruhe, im ungestörten Streben nach dem Unendlichen, die Kunst gedeihen kann – das war in ihm das Glaubensbekenntniß des Künstlers. War das Alles auf einmal Nichts? Warum blieb er hier, wo Kraft und Stolz und Manneswerth in jeder Stunde gefährdet wurden? Das mußte ein Ende nehmen. Der Entschluß zu gehen, und bald zu gehen, stand auf einmal so fertig vor ihm da, daß er es wie einen heimlichen Trost empfand, dieser Gedanke müsse doch schon lange in ihm gewesen sein, nur verschüttet, sodaß er nicht früher hatte zu Worte kommen können.

Mit letztem Hall zog ferner Glockenton durch die Luft. War es die hierauf folgende Stille, oder hatte sich der Wind gewendet – genug, die vorhin nur in einzelnen Lauten vernehmliche Stimme Jana’s und ihres Bruders berührten jetzt Fügen’s Ohr klar und deutlich; vielleicht hatte sie sich auch im Eifer des Gesprächs etwas erhoben. Mit seinen eigenen Gedanken vollauf beschäftigt, dachte er nicht daran, darauf hinzuhören, hörte aber dennoch.

„Wenn Du mir helfen könntest, Jana!“ sagte Lois eben eindringlich. „Es wär’ mein Höchstes. Aber sie wollen daheim nichts davon wissen, der Vater nicht, und die Mutter noch weniger.“

„Meinst Du denn wirklich, daß es sein muß?“ wendete Jana in sanftem Tone ein. „Bedenk’ nur, wer soll einmal auf der Mühle hausen? Der Florian, den unsere Theres’ heirathet, bekommt sein väterlich Hofgut; ich geh’ nie von meiner Gnädigen; übrigens gehört dort auch ein Mann hin. Wer also soll’s übernehmen? Das Mühlwerk ist unserem Geschlechte so lang schon eigen gewesen – bedenk’s doch, Lois! Wie kommst Du nur darauf, daß Du jetzt auf einmal geistlich werden willst?“

„Wie ich darauf komme? Weißt noch den Tag, Du warst noch nicht lang wieder hier, wo der Bartelmä Pichler dazumal seine Primiz gefeiert hat? – Da ist’s über mich kommen. Wie er im Priestergewand so dagestanden hat, vor dem nämlichen Altar, wo ihm die erste heilige Communion ausgeteilt worden ist, und wie er unter dem großen Glockenläuten seiner eigenen Gemeind’ den Segen hat geben dürfen, und ihm vor Freud’ die hellen Tropfen über’s Gesicht gelaufen sind, da hab’ ich auch anfangen müssen zu weinen, und da hat mir mein Schutzpatron den Gedanken eingeben, geistlich zu werden. Ich hab’ zur Muttergottes aufgeschaut; die hat zwischen lauter goldigem Sonnenstaub geflimmert über dem Altar. Da bin ich glückselig gewesen, wie ich mein Lebtage nicht war, und hätt’ ihr gleich das Gelöbniß gethan wenn ich gedurft hätt’. Weil aber doch Vater und Mutter erst Ja sagen müssen, hab’ ich mich nicht wirklich verlobt; nur vorgenommen hab’ ich mir’s so fest, wie man sich vornimmt, in den Himmel zu kommen.“

„Mit dem Vater wird’s schwer halten, die Mutter wär’ schon eher herum zu bringen. Und Du bist halt noch so viel jung und müßtest dann ja schon zu Pfingsten nach Hall auf die Schulen, und später könnt’s Dich reuen, Lois. Das Mühlgut ist fein. Manch Einer gäb’ den Finger gern von der Hand, wenn’s das seine wär’.“

„Gerade das freut mich,“ sagte Lois. „Ist’s nicht noch feiner, dem lieben Gott recht was Großes als Opfer schenken zu können?“

Ein braunes Händchen zupfte an seinem Aermel; in seinem Eifer hatte der Knabe nicht bemerkt, daß Maxi herangelaufen war und mit großen Augen zuhorchte.

„Was will der Lois dem lieben Dott schenken?“ fragte sie begierig. „Thu lieber Maxi was schenken, lieber Dott is gar nis da.“

Der Knabe wandte dem Kinde sein glühendes Gesicht mit einem Blicke der tiefliegenden Augen zu, der wie aus weiter Ferne zurückzukehren schien.

„Der liebe Gott ist immer da, Maxi; Du siehst ihn nur nicht,“ sagte er, indem er das Kind auf seinen Schooß hob.

„Warum sieht ihn Maxi nit? Siehst ihn Du?“

„Nicht ich, und Keiner kann ihn schauen.“

Des Kindes dunkle Augensterne vergrößerten sich. Offenbar machte das Problem dem klugen Köpfchen zu schaffen, auf einmal erhellte sich das gespannte kleine Gesicht, und mit einem schelmischen Blitz in den Augen rief sie triumphirend mit dem hellsten Tone ihrer hellen Stimme:

„Wenn der liebe Dott in Spiegel duckt, kann er sich doch sehen.“

Ein kurzes Lachen unmittelbar hinter ihm machte Fügen zusammenfahren. Als er jäh den Kopf wandte, ließ Frau von Riedegg sich eben auf dem zweiten Sitze nieder. Er nahm sich zusammen; er that sich immer Gewalt an, wenn er in ihre Nähe kam; heute ward ihm das nicht schwerer, als sonst, eher leichter. Ein gefaßter Entschluß ist wie ein Damm; er hält die brausende Strömung auf.

„Sie hat das letzte Wort behalten, wie gewöhnlich,“ sagte Genoveva. „Dinge der Welt, oder Dinge des Himmels, der Instinct dieses originellen Geschöpfes erfaßt blitzartig jede Möglichkeit.“

„Gefährliches Talent für ein Mädchen! Doppelt gefährlich vielleicht für Diese,“ erwiderte er. Dann, nach einer Pause: „Wenn ich fragen darf, gnädige Frau, was haben Sie in Zukunft mit dem Kinde vor?“

Frau von Riedegg sah ihn erstaunt an.

„Was ich vorhabe mit dem vierjährigen Mädchen? Nun sie wird leben, um zu lernen, wie alle Menschen. Was sie aber lernen, was aus ihr werden mag, wer sagt das heute? Vielleicht eine Dorfschullehrerin, vielleicht eine Kränzewinderin, wie ihre – wie Jana.“

„Nun bin ich befriedigt. Mir war, offen gesagt, bange, daß Ihr Interesse an dem aparten Naturell Sie daran denken ließe, Maxi als Kind des Hauses zu erziehen. Und das fällt selten gut aus! Ich weiß, daß sie Ihnen zugeweht ist wie eine Schneeflocke von irgendwo her. Sie gaben dem Findelkind eine Heimath – das war ein Werk der Barmherzigkeit; nur dann kann es aber ein solches bleiben, wenn Sie den Pflegling einzig für Pflichten erziehen. Wollten Sie ihr Rechte geben, oder nur irgend einer Anspruch darauf wecken, so würde die rechtlos Geborene dem gegenüber wahrlich nicht das letzte Wort behalten.“

„Wie meinen Sie das?“ fragte Genoveva.

„Ich meine, daß ein Wesen, welches im bürgerlichen Sinne keinen festen Boden unter sich hat, nur auf bescheidener Stelle leisten und genießen kann, was dem Leben Werth giebt – auf untergeordneter Stelle, wenn ich mich klar ausdrücken soll. Wollten Sie Maxi geschwisterlich neben Ihrem Sohne heranwachsen lassen, so hieße das nicht nur Siegmund beeinträchtigen – ihr selbst müßte solche Zwitterstellung verderblich werden. Sie wollen eine Arbeiterin aus ihr machen – gut und recht!“

Genoveva antwortete nicht. Ihr Auge hing an den Kindern, die wieder dicht neben einander spielten.

„Wie sagten Sie doch?“ sprach sie endlich in bedecktem Tone. „Ein Wesen, das keinen festen Boden unter sich hat, könne nur auf untergeordneter Stelle gedeihen? Ein seltsamer Satz im Munde eines so eifrigen Verfechters der Menschenrechte! Aber wahr – wahr! Und eben darum, damit es mir nie geschehen mag, dies zu vergessen, soll das rechtlos geborene Kind neben meinem Sohne aufwachsen.“

Fügen sah betroffen in ihr marmorstarres Gesicht; ein plötzliches Hellsehen durchzuckte ihn. Zugleich entwich jeder Gedanke an sein eigenes Selbst in weite Fernen; es war einzig sein braves, menschenfreundliches, jeder Noth zugewandtes Mannesherz, was jetzt zu Worte kam:

„Ich bin Ihnen längst kein Fremder mehr, Frau von Riedegg; Sie haben mich wiederholt mit dem Namen eines Freundes geehrt, und ein Freund verdient Vertrauen. Nicht erst heute ahne ich, daß Sie Sorgen um Siegmund’s Zukunft tragen. Darf ich davon erfahren? Ich stehe vor Ihnen, ein Mann, der jeden Augenblick bereit ist, Alles, was er vermag, für das Kind einzusetzen, welches auch sein Kleinod geworden.“

Genoveva sah ihn unverwandt an: sein treuherziger Blick, der redliche, männliche Ausdruck seiner Züge ergriffen sie mit der vollen Macht der Wahrheit. Sie faßte und hielt einen Augenblick die ihr dargebotene Hand; dann antwortete sie ernst:

„Ich danke Ihnen. Vielleicht kommt wirklich der Tag, an dem ich Sie fragen werde, ob Sie Ihr. Wort einlösen wollen. [555] Zunächst kann uns Keiner beistehen, wir müßten uns denn selbst helfen können. Mein Sohn ist zu großen Ansprüchen berechtigt – jeder Anspruch wird ihm bestritten. Lassen Sie sich hierin genügen! Es giebt Dinge, welche nur Schweigen behütet. Ich war kühn genug, zu glauben, daß es blos der Energie bedürfe, um dorthin zu dringen, wo man das Recht hat, zu stehen – inzwischen bin ich weiser geworden und habe begriffen, daß ich an fremder Gewalt scheitern mußte, weil ich nur ein Weib bin und – allein.“

Wie eine Fluth brach des Mannes lang zurückgedämmte Empfindung bei diesem Worte zu Tage:

„Nicht allein, nie wieder allein, sobald –“

Sie hob leicht die Hand. Es war nur eine leise abwehrende Bewegung, doch verstummte er davor augenblicklich, während ihm das erregte Blut zurück zum Herzen trat. Schon einmal hatte ihm diese fast unmerkliche Geberde das Wort auf der Lippe, fast den Gedanken in der Seele erstickt; das war vor Wochen gewesen; seitdem lag es wie ein Riegel vor seinem Innersten – was hatte diesen zurückgleiten lassen in einem Moment, wo jeder Wunsch, sich zu äußern, ferner von ihm gelegen als je?

Genoveva’s kühle Hand berührte flüchtig die des Verstummtem

„Irre ich nicht, so sprachen Sie mir einst vom Richteramte der Zeit,“ sagte sie gelassen, „sie mag unsere Bundesgenossin werden. Warten ist auch eine Kraft. Die meisten Menschen wollen und suchen Vieles; Einiges davon wird ihnen dann auch wohl zu Theil. Ich will nur Eines; es giebt für mich nur Eines zwischen Himmel und Erde: meinen Sohn!“

Sie schwieg, wie erschöpft; ein tiefer Athemzug hob ihre Brust. Dann erhob sie sich und stand vor Fügen, der aufgesprungen war, als ihm zuvor die leidenschaftlich erregten Worte entschlüpften; etwas gegen ihn vorgeneigt, sagte sie mit großer Anmuth:

„Sie forderten Vertrauen, lieber Freund – ich gab es. Sie kennen nun den Grundton meiner Gegenwart und Zukunft.“

Ihre dunklen Augen forschten einen Moment in seinem abgewandten Gesicht und senkten dann den Blick auf die Baumwiese, über welche Jana’s leichte Gestalt eben dem Hause zuschritt.

„Vertrauen fordert Vertrauen,“ sagte Genoveva immer noch mit dem halben Lächeln, welches ihre letzten Worte begleitet hatte; „auch mir ahnte vor Kurzem noch etwas, was Sie betrifft; hätte ich nur geträumt?“.

Er wendete sich rasch; sein Blick folgte ihrem auf Jana gerichteten Auge.

„Geträumt!“ sagte er schroff mit dicht an einander gerückten Brauen. „Oder sagen wir lieber wie im Märchen: es war einmal. Uebrigens habe ich Ihnen wirklich etwas mitzutheilen, gnädigste Frau. Briefe – Sie wissen, ich erhielt heute Morgen Briefe – rufen mich ab, früher als ich dachte. Man hat mir die Stelle als Capellmeister des P…’schen Conservatoriums angeboten; ich bin nicht entschlossen, will aber zunächst an Ort und Stelle. So stehe ich unerwartet vor raschem Abschied. Sie entlassen einen Dankbaren, Ihnen tief Verschuldeten“

Er hatte dies hastig, fast athemlos gesprochen. Als er nun doch Genoveva ansah, blickte er in ein seltsam befremdetes Gesicht. Während er sich längst von ihr errathen glaubte, selbst ihre Abwehr zu empfinden gemeint, war sie himmelweit davon entfernt gewesen, ihn zu sich in irgend einer Beziehung zu denken. Ihre frappirte Miene gab ihm sofort Stolz und Maß zurück.

„So plötzlich?“ fragte sie. „Und Ihre Symphonie?“

„Sie hören das Finale wohl einmal vom Orchester. Statt dessen, gnädige Frau, gestatten Sie mir, ein Heft Lieder auf Ihre Schwelle zu legen, ehe der wandernde Musikant morgen darüber hinausschreitet.“

„Morgen schon? Wahrlich, ein kurzer Abschied für die lange Freundschaft.“

„Ist es nicht genug am Abschied – sollte er auch noch lange währen? Zwischen heute und morgen giebt es viele Stunden.“

Er trat ein paar Schritte vor und blickte nun, die Hand auf dem Geländer, in den leuchtenden Abend hinaus. Ja, mit Abschiedsaugen sah er auf Berg und Thal. Die Sonne stand schon hinter dem Gebirge und jeder Gipfel begann sich zu färben; röthliche Flöckchen irrten am Gestein entlang und zerflossen. Hoch darüber standen die goldbesäumten Wolken, als spiegelte sich das Gebirge am Firmamente wie in einem See. Er hätte die Arme ausbreiten mögen; tief innen sprach eine Stimme mit vollem, süßem Klang: „Es war doch eine schöne Zeit“

Ob das Wort wirklich auf die Lippen getreten, ob Genoveva es in seinen schimmernden Augen gelesen? Sie stand an seiner Seite; ihr herrlicher Kopf war von Licht umflossen; nie hatte er in ihren Augen diesen hinreißenden Ausdruck gesehen

„Eine schöne Zeit!“ sprach auch sie. „Viel brachten Sie uns; viel nehmen Sie mit sich, wenn Sie uns verlassen. Ich habe auf der Welt keine große Summe von Freunden zu verlieren. Haben Sie Dank! Und Sie wissen, Dank ist neue Bitte. Ich zähle auf Ihre Wiederkehr, zähle darauf, voll Ihnen zu hören.“

Ehe er geantwortet, trat Jana auf die Terrasse. Hatte sie diese letzten Worte vernommen? Vielleicht; vielleicht auch hatte es einen anderen Grund, warum das Theebret, welches sie in den Händen trug, so erzitterte, daß die darauf stehenden, mit Erfrischungen gefüllten Glasschalen leise an einander klirrten. Genoveva sah sie nachdenklich an. Als Jana die leichte Last auf dem Tische niedergestellt hatte, ging Frau von Riedegg an ihr vorüber, dem Zimmer zu.

„Ich bin gleich zurück,“ sagte sie, auf der Schwelle den Kopf nach ihr gewendet; „laß Dir inzwischen erzählen, daß unser Hausgenosse von uns gehen will in die weite Welt hinaus! Darum nehme ich Dir für heute Dein Amt; der letzte Abend soll festlich sein – das will ich selbst anordnen.“

Sie nickte und verschwand in der Thür.

Jana blieb, wie angewurzelt, stumm dort stehen, wo sie die unerwartete Kunde vernommen. Aus ihren bang auf Fügen gerichteten Augen sprach so unverhülltes, tiefes Leid, daß sein ohnehin zum Aeußersten angespanntes Fühlen überwallte. Mit zwei Schritten war er neben ihr, faßte ihre beiden Hände und sah ihr mit dem treuesten Blick in das bebende Gesicht.

„Jana, liebe Jana!“ rief er innig, „es ist wahr: ich will, ich muß fort. Wie viel hätte ich Ihnen zu sagen und kann doch Nichts sagen, Nichts. Kann Sie nur um Verzeihung bitten tausendmal, wenn ich mich an Ihrem goldenen Herzen versündigt habe – nicht zu meinem Heil, o, nicht zu meinem Heil.“

Er war in diesem Moment fassungslos; während er ihre kalten Hände zu seinen Augen emporhob und diese dagegen drückte; vernahm er des Mädchens sanfte, zitternde Stimme:

„Ich verstehe Sie nicht, lieber Herr Fügen. Das heißt, ich weiß ja Alles, was Sie mir nicht sagen; ich habe es ja schon lange gesehen, und es ist so natürlich. Wer könnte mit ihr zusammen sein, und sie nicht – auch hat es mich wohl bekümmern müssen, da ich weiß, wie sie einzig nur trauert, wenn sie das auch nicht zugiebt, trauert, und einzig um Sigi sorgt. So mag’s denn gut sein, wenn Sie fortgehen. Sie waren längst nicht mehr froh, nicht mehr wie sonst – es wird also gut sein. Was Sie aber von Verzeihung sagten, das verstehe ich nicht. Mir – ich – ich habe nur zu danken.“

Dies Alles war stockend, allmählich zu Worte gekommen. Er ließ ihre Hände los und sagte traurig, ohne sie anzusehen:

„Es war eine Zeit, Jana, da habe ich einen schönen Traum geträumt. Da sah ich ein liebes Mädchen, ein treues Herz an meiner Seite, lebenslang, als mein gutes Weib, mit dem der Weg eben und sonnig wäre, oder doch leichter zu gehen, falls er einmal steil würde. Jana, zuweilen spricht man aus dem Traume heraus, und vielleicht ist mir das auch geschehen, mit und ohne Wissen und Wollen – das möcht’ ich mir von Ihrem guten Herzen verzeihen lassen. Denn – Sie haben recht gesehen – und mein schöner Traum ist aus.“

Ihr zartes Gesicht glühte. Seliges Lächeln theilte ihre Lippen, ging in den lieben Augen auf.

„Jetzt träum’ ich selber wohl,“ sagte sie ganz, ganz leise. „Oder könnt’ es wahr sein, hätten Sie wirklich je, auch nur einen Augenblick lang, so an mich gedacht, mich werth gehalten –? Ich bin es gar nicht werth, aber ich dank Ihnen tausendmal dafür, wie für Alles, Alles, was Sie mir jemals gönnten. Nie – Gott ist mein Zeuge – nie hatt’ ich so hohe, so unmögliche Gedanken; nie hätte das auch sein können, lieber Herr Fügen; denn ich hab’ ein heiliges Gelöbniß gethan, bei meiner Herrin und den Kindern zu bleiben, so lang ich lebe. Das dürft’ ich nicht brechen, auch nicht um den höchsten Preis. Was Sie mir da sagten, hat mir Armen, Geringen aber eine Krone aufgesetzt, die Keiner jemals sehen wird, die ich nur allein weiß, und daran gedenken werde ich bei Tag und bei Nacht, um ihrer werth zu sein, so weit ich’s vermag. Seit Sie bei uns sind, bin ich viel besser geworden – das ist gewiß; [556] bei jedem heimlichsten Gedanken steht gleich der zweite, was Sie darüber denken würden, und das macht so gut.“

Dem Manne gingen die Augen über. Ihm war, als sähe er auf einem Strom all sein reichliches Hab und Gut an sich vorüberschiffen in’s Weite. Es anzuhalten war aber unmöglich.

„Ja, wir wollen versuchen, gut zu sein, Jana,“ sagte er weich. „Und Freundschaft halten, ob nun so und so viel Meilen dazwischen stehen oder nicht. Versprechen Sie mir Eins in die Hand: Sie rufen mich, wenn Sie je meines Beistandes bedürfen, Sie oder die Andern. Verlassen Sie sich darauf – ich komme.“

Vor Vesperläuten des folgenden Tages hatte der Wintergast die Moosburg verlassen. Es ist seltsam, wie still und leer plötzlich alle Räume erscheinen, wenn ein Genosse des täglichen Lebens daraus verschwindet. Eine Stimmung geht durch das Haus, wie sie Einen überkommt, wenn Glocken aufhören zu läuten – die Welt steht und geht wie zuvor, aber sie scheint auf einmal stumm geworden. Genoveva hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen; die Kinder spielten auf der Wiese. Jana ging lautlos im Hause umher und besorgte pünktlich die täglichen Abendgeschäfte. Dann stieg sie still hinauf in die verlassenen Zimmer – auch hier zu ordnen, war ihr Amt. Als sie die Thür öffnete, überkam sie ein Abschiedsweh, das sie nur einmal ähnlich empfunden – damals galt es dem Tode. Ist Scheiden, Verschwinden nicht auch ein Sterben? Ihr war es so – in diesem Augenblick schwand Alles dahin, was sie getröstet; sie wußte nur Eins: es war vorbei. Still, mit überströmenden Augen, ging sie umher, ordnete, glättete hier und dort, berührte, wie liebkosend, jedes Geräth. Kaum wagte sie zu athmen, als ob ein Seufzer schon den Hauch von Gegenwart verscheuchen könnte, der hier noch zögerte und für ihr Empfinden noch Alles füllte, wie der Odem der Natur die Welt füllt. Auf dem Tische des Schlafzimmers, wo Fügen mit Vorliebe zu arbeiten pflegte, obgleich ihm andere anstoßende Räume zu Gebote standen, lag neben dem Schreibzeug eine Feder; es war ein Kiel, wie ihn der Meister stets zum Notenschreiben benützte. Wie manchesmal, wenn sie ihm eine Erfrischung in das Zimmer getragen, hatte sie solchen Kiel in der Hand gesehen, die Melodien festbannte. Feines Roth stieg ihr bis unter die Haare; sie streckte fast scheu die Hand aus und barg die Feder in ihrem Gewande. Als sie dann in das Musikzimmer hinaustrat, lag auf dem Pult des geöffneten Flügels ein Heft. Sie beugte sich hinab; ihr ahnte schon, was das sei. Ja wohl zögerte hier noch seine Seele. Genoveva’s durchcomponirte Lieder füllten die Blätter, welche des Mädchens Hand jetzt langsam umwendete. Seltsam zwiespältiges Empfinden ergriff sie. Zwei Seelen zugleich blickten ihr entgegen, die der Herrin und die seine; diese Gemeinsamkeit that ihr wehe. Während sie vor dem Flügel saß und, die Linke auf den Tasten ruhend, Seite um Seite durchblätterte, flog ihr Auge über die Textesworte, welche er gewählt. Das Meiste war ihr unbekannt; die letzte Seite trug die Ueberschrift: Scheiden.

Auch die Rechte sank nun auf die Tasten nieder; halb unbewußt schlug Jana die einfachen Accorde der Begleitung an, und mit leiser, durch das heftige Klopfen ihres Herzens halb erstickter Stimme intonirte sie die schlichte, innige Weise:

Leb’ wohl, leb’ wohl! kurz ist das Wort,
Der Inhalt aber tief –
Lang tönt es noch im Herzen fort,
Nachdem der Mund es rief.

Auf Wiederseh’n! melodisch Wort,
Voll Trug und Süßigkeit,
Du ruhst als tief verhüllter Hort
Im Schooß der Ewigkeit.“

Ihre Stimme brach in Schluchzen. Um wen weinte sie so trostlos? Um den Lebenden, oder um einen Todten?

(Fortsetzung folgt.)




Max Bruch.
Ein musikalisches Charakterbild.

Wer in der ersten Hälfte der sechsziger Jahre einem der größeren deutschen Männergesangvereine angehörte, der wird sich des tiefgehenden Interesses erinnern, welches damals in jenen Kreisen ein die Phantasie mächtig ergreifendes Opernwerck hervorrief: Max Bruch’s „Frithjof“. Der Componist hatte sich mit einem Schlage einen gewaltigen Respect und große Liebe erworben, und obgleich er den meisten Sängern ein Neuling war, so hieß er doch sehr allgemein „unser“ Bruch.

Als Max Bruch seinen „Frithjof“ schrieb, war er noch ein ziemlich junger Mann (er ist am 8. Januar 1838 zu Köln am Rhein geboren). Seine Fähigkeiten hatten sich aber frühzeitig bemerkbar gemacht und waren – zum Theil von der eigenen Mutter - so eifrig und sorgfältig gepflegt worden, daß der Knabe in seinem vierzehnten Jahre bereits an siebenzig Compositionen geschrieben hatte, darunter eine Symphonie, welche in Köln im Jahre 1852 zur Aufführung kam. Von da ab studirte er einige Jahre als Stipendiat der Mozart-Stiftug bei Ferdinand Hiller und fing nun auch an, einige Compositionen drucken zu lassen. Den Winter von 1857 zu 1858 verbrachte er in Leipzig; dann lebte er wieder in seiner Heimath, wo immer weitere und weitere Kreise sich mit den veröffentlichten Werken des Componisten befaßten.

Neben manchen Artigkeiten, welche er der Hausmusik erwies – er componirte Clavierstücke, Lieder für eine und zwei Stimmen – waren es namentlich zwei kleine Chorwerke, durch welche sich der junge Bruch als einen begabten Componisten documentirte. Sie hießen „Birken und Erlen“ und „Jubilate, Amen“. Die letztere, sein 0p. 8, zeigt ihn zum ersten Male in jener Virtuosität des Klanges, der die Mehrzahl seiner Compositionen, die Chorwecke voran, so viele blendende Wirkungen verdanken. Hier hat er einen Solosopran mit einem vierstimmigen Chor gemischt, dessen feierliche Weise bald wie aus der Luft, ganz aus der Ferne herüberklingt, bald schwebend näher rauscht wie mit Wetternacht – und darüber der Solisten süß schwebende Melodien! Und das ist kein bloßer Ohrgenuß, sondern der innere Zusammenhang mit dem Texte macht die Musik poetisch und führt sie in die Seele.

Das erste größere Werk, welches Max Bruch in die weite Welt schickte, war die Oper „Loreley“. Das Textbuch zu derselben hat Emanuel Geibel geschrieben und zwar für Felix Mendelssohn-Bartholdy, der aus demselben jenes Fragment componirt hat, das man in Concerten oft genug hören kann. Geibel schildert in dieser Dichtung, wie aus einem jungen anmuthigen Kinde, mit Namen Leonore, die arge Rheinhexe Loreley wird. Betrogene Liebe ist das Motiv, welche das gutherzige Landmädchen im Augenblicke der Verzweiflung den Teufeln des Stromes in die Arme treibt und den Bund mit ihnen schließen läßt.

Wie von einem so feinen und geschmackvollen Dichter zu erwarten, hat Geibel sein Hauptinteresse darauf verwendet, bei der Darstellung dieser Metamorphose uns sehen zu lassen, was dabei in der Seele der Heldin vorging, nebenbei aber auch die Handlung mit vielerlei Aeußerlichkeiten ausgestattet, wie sie nach einer älteren Auffassung für eine Oper wünschenswerth erschienen. Gerade für diesen Theil der Oper bewährte sich Bruch’s Talent nun sehr glänzend. Da, wo die Geister triumphiren oder klagen, wo das Volk ein Weinfest feiert, wo die Fluthen des Rheines rauschen, hat der Componist starke und eindringliche Töne.

Das Werk wurde zuerst in Mannheim aufgeführt (im Jahre 1863), und fand von dort aus den Weg auf viele andere Bühnen; auch größere, wie Hamburg, Leipzig führten die „Loreley“ wiederholt unter vielem Beifall auf. Daß sie vom Repertoire verschwunden ist, bleibt zu bedauern – es hat aber seinen guten Grund darin, daß das Werk wohl einen theatralischen, aber keinen eigentlich dramatischen Geist besitzt. Die seelischen Momente sind matter ausgeführt als die scenischen. Die Phantasie des Componisten hat sich in Aufzüge und andere Bilder äußerer Natur viel lebhafter vertieft, als in den Gemüthszustand einer betrogenen Geliebten; die nebensächlichen Gefühle der Massen sind breit und in Naturtreue wiedergegeben, die Stimmungskrisen der Hauptpersonen meist mit dem gleichen Nachdruck und zuweilen conventionell.

Ungefähr ein Jahrzehnt später schrieb Bruch wieder eine große Oper „Hermione“. Sie ist nach dem Shakespeare’schen „Wintermärchen“ bearbeitet. In Berlin und Dresden errang sie einen sogenannten Achtungserfolg – im Ganzen ist sie sehr wenig gegeben [557]

Max Bruch.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.



worden. Schade um den schönen zweiten Act, der uns Hermione im Gefängniß und vor Gericht sehen läßt! Die Musik spricht dort das Traurige wie das Gespannte der Situation im vollen Strome aus und gehört zum Besten, was die neuere Zeit aufweisen kann. Mit diesen Werken ist die Thätigkeit Bruch’s als Operncomponist bisher abgeschlossen; denn die kleine einactige komische Oper „Scherz, List, Rache“, das Op. 1 des Componisten, darf wohl nicht mitzählen. Es ist möglich, daß er in der Zukunft das Feld der Oper nochmals betritt. Man sieht es den Recitativen seiner zweiten Oper, der „Hermione“ an, daß er gestrebt hat sich nach dieser Richtung zu vervollkommnen.

Bruch’s Eigenthümlichkeit besteht nun in der Frische und Wärme, mit welcher er allgemein menschliche Gefühle, wie die Elternliebe, das Heimweh, die Freude an Gottes schöner Sonne, trotz der Abgebrauchtheit derselben, wohlthuend und frisch zu äußern weiß, und dies namentlich, wenn sie freudiger Art sind.

Es ist in Bruch eine schöne reine Naivetät. Darin liegt ein starker Zug von Ursprünglichkeit, der um so höher zu schätzen bleibt, als er in unserer Zeit so selten ist. Diese Naivetät giebt den Bruch’schen Werken etwas Jugendliches, und so ist es denn auch namentlich die Jugend, aus der dem Componisten seine begeistertsten Bewunderer zuströmen. Die jungen frischen Studenten, die seinen „Normannenzug“, seine „Waldpsalmen“, seinen „Frithjof“, sein „Lied der Städte“ singen, erblicken in ihm einen von der Muse Gekrönten, zu dem sie selbst in einer Art geistiger Vetterschaft stehen. Aber auch die Alten haben ihn gern; denn er läßt ihnen die Tage der Jugend wieder aufleben und macht, daß ihr Blut heftiger pulsirt beim Anblick der Freuden, die der gütige Schöpfer Allen ohne persönliches Entgelt gespendet hat.

Das erste Werk nun, in welchem dieses specifische Talent Bruch’s in den Vordergrund treten und voll zur Geltung kommen konnte, das war eben der oben genannte „Frithjof“, welchen der Componist nach der Oper „Loreley“ schrieb und im Jahre 1864 in Aachen zur ersten Aufführung brachte. Der große Erfolg, welchen das Werk in allen namhaften Städten Deutschlands, ja auch in England, Amerika und Rußland errang, ist bekannt. Gewiß haben ihn äußere Umstände stark gefördert: In der Literatur des Männergesangs war gerade damals das Bedürfniß nach einem neuen größeren Werke sehr fühlbar; auch der dichterische Stoff, wie er in der herrlichen schwedischen Dichtung Esaias Tegnér’s zum Ausdruck kommt, war an sich schon sehr fesselnd, und die Neuheit der gebrauchten musikalischen Mittel, die Zuziehung der Frauenstimme namentlich, mag die Reize des Werkes sehr erhöht haben. Aber der letzte Grund der großen Wirkung, den die Scenen aus „Frithjof“ übten, lag in der eigenen Natur des Componisten: in seiner starken Gabe – von Heimath und von Freiheit zu singen. Das war ein ungekünsteltes,

[558] gesundes Empfinden, das waren kräftige Töne, ein langer Athem und ein frisches Leben. Eine blühende Phantasie sprach sich in fest gefaßten Bildern aus: furchtbar und majestätisch grauenvoll stand die Scene da mit dem brennenden Göttertempel, groß belebt von Mannesmuth und von Wellengewalt durchweht, die Meeresfahrt, mit der das Werk endet. Und die Melodien und Formen, in denen das ausgesprochen, waren nahezu volksthümlich, einfach. Denn fast gleich stark wie im Ausdrucke der uralten, edlen Menschen- und Massengefühle, ist Bruch’s Talent in der Andeutung äußerer Naturbilder: in jener Art von Malerei, durch welche die Meister von jeher den geheimen Zusammenhang zwischen der sichtbaren Welt und dem Tonleben bestätigt haben.

Auch der „Frithjof“ hat in den psychologischen Partien seine Schwächen, aber mehr als in anderen Werken half eben hier der kräftige, herrliche Text über solche Mängel hinweg. – Wenn Tegner’s Held ruft: „Still, Priester mit dem Opferstahl, bleiche Mondscheinfürsten!“ – was braucht’s da noch der Musik?

Aber trotz alledem hat der „Frithjof“ Schule gemacht; er ist oft nachgeahmt worden. Sicherlich wird er und Bruch’s Name mit ihm in der Geschichte des Männergesangs unvergessen bleiben.

Daß der junge Componist durch dieses Werk einer der populärsten Künstler wurde, liegt in der Natur der Sache; denn ein gelungenes Werk auf diesem Gebiete erwirbt sich Freunde und Kenner in denjenigen Kreisen des Volkes, welche der Kunst im Uebrigen ferner stehen.

Die außerordentliche Gunst, die man dem Componisten jetzt entgegentrug, kam auch seinen früheren Werken zu Gute. Namentlich war es ein Männerchor, der von nun an auf den Repertoiren der Vereine erscheint, der „Römische Triumphgesang“ (Op. 19). Er bietet ein stark realistisches und kräftiges Bild von einem Einzug jener Prätorianerhorden, vor denen die Welt zitterte. Aus diesen Rhythmen klingt ihr fester, wuchtiger Tritt, aus diesen schweren Harmoniemassen ihr unwiderstehlicher Ansturm, und aus den jauchzenden Melodien sprüht jener halbverwilderte Geist, der die unglücklichen Gefangenen den Bestien preisgab.

Bruch wird unstreitig von den kräftigen Gestalten und Ereignissen der Historie besonders angezogen. Er begegnet sich hierin mit Hermann Lingg und Victor Scheffel, zwei Dichtern seiner Wahl und seiner Art. Ich wüßte keinen von unseren Componisten, der den frischen, herb-kurzen Ton des „Normannenzuges“ besser getroffen hätte, als Bruch in seiner Composition. Wenn man das: „O Kreuz und Buch und Mönchsgebet! – wir müssen Alle von dannen,“ und ähnliche kernige Worte des Dichters nur einmal in dieser knappen, stahlfesten Melodie gehört hat, so steht sie fest im Gedächtniß für immer. Der „Normannenzug“ (Op. 32) gehört der Zeit nach dem „Frithjof“ an, jener reichen, fruchtbaren Periode, welche der Componist in angenehmen Dirigentenstellungen zu Coblenz und Sondershausen verbrachte und in der seine frischesten Werke entstanden sind: sein „Salamis“, „Schön Ellen“, „Frithjof auf seines Vaters Grabhügel“, „Die Flucht nach Aegypten“, das erste Violinconcert und die beiden Symphonien, sowie die werthvollen Lieder „Biterolf im Lager vor Akkon“ und „Altdeutscher Herbstzeitreigen“.

Bei der obigen kurzen Aufzählung sind zwei Werke Bruch’s nur gestreift worden, die ausdrücklich betont werden müssen. Es sind dies das Violinconcert in G-moll (Nr. 5) und die erste Symphonie in Es-dur. Der Erfolg dieser Compositionen berechtigte Max Bruch nun auch zu einem ehrenvollen Platze unter den Instrumentalcomponisten. Das Violinconcert war für die Violinvirtuosen fast eine ähnliche willkommene Ueberraschung, wie seiner Zeit der „Frithjof“ für die Männerchöre. Man kann wohl sagen, daß seit dem Mendelssohn’schen Geigenconcert kein anderes Werk dieser Gattung wieder eine so allgemein freundliche Aufnahme gefunden und verdient hat. Der Hauptvorzug des Violinconcertes ist die möglichst enge Verbindung von Mensch und Virtuos, die dieser Composition zu Grunde liegt. Dieses Geigenspiel gleicht dem Lerchengesang; es erscheint durch und durch wie der unwillkürliche und natürliche Erguß einer Seele, die in Tönen spricht. Wiederholt steigt beim Anhören und Studiren des Werkes vor Einem das Bild des einsamen Pußtensohnes auf, dem die treue Fiedel den nächsten Freund, das andere Ich bedeutet. Es liegt etwas ungewöhnlich Poetisches, etwas Ursprüngliches und Elementares in der Art, wie Bruch hier den Geigenton verwendet. Unwiderstehlich zwingen diese männlichen tiefen Töne zum Lauschen. Sie klingen wie in die Nacht hinaus, lang und ernst. Der Spieler versucht das Instrument bald in tändelnden, bald in wild jagenden Klängen. Es gehorcht, und nun beginnt eine geordnete Erzählung in ihren drei Theilen: Klage und Leidenschaft, sodann weiches Sehnen und endlich kräftig trotziges Aufraffen. In diesem letzten Satze strecken sich Glieder, schnellen Muskeln von Riesenanlage; im zweiten Satze schweben wunderbar milde Melodien, das Schönste des ganzen Werkes bleibt aber doch das kurze freie Stückchen Präludium vor dem Beginn des ersten Satzes – ein wirklich genialer, echt Bruch’scher Zug!

Bruch hat für die Violine später noch mehrere Werke geschrieben, auch ein zweites Concert, das aber die Sympathien der Virtuosen nicht in gleicher Weise wie das erste erhalten hat. Das zweite Concert Bruch’s ist jedenfalls bedeutend, wenn auch ohne Spuren jener glücklichen Naivität, welche seinen Vorgänger auszeichnen, und nach der Seite des melancholischen Ausdrucks sogar ein Fortschritt. Ein frischer Erstling steht aber den nachfolgenden Geschwistern oft im Wege. Das bekannte Beispiel, welches hierfür die Geschichte der Weber’schen Opern bietet, hat sich bei Bruch nicht nur bei seinen Concerten, sondern auch bei seinen Symphonien mehrfach wiederholt. Die erste schlug durch, bei den Musikern wegen der Durchführung und Anlage des ersten Satzes, beim allgemeinen Publicum namentlich wegen des urwüchsigen, volksthümlich lustigen Trios im Scherzosatze.

Es ist doch ein großer Unterschied zwischen dem gewöhnlichen Leben und der Kunst. Dort ist es eine Herzenssache, auch an den schweren Stunden eines Menschen Theil zu nehmen, dem wir angenehme Erinnerungen verdanken. Von den Freunden eines Componisten aber gehen in der Regel „tausend auf ein Loth“, sobald er zum ersten Male mit düsteren und traurigen Mienen auftritt. So ist auch Bruch von den Verehrern und Bewunderern seines ersten Violinconcertes und seiner Es-dur-Symphonie einfach im Stich gelassen worden, als er mit seiner zweiten Symphonie (F-moll) erschien. Sie ist ein durchaus pathetisches Werk und zeigt uns den Componisten zum ersten Male ernstlich im Kampfe mit jenen finsteren Mächten begriffen, mit welchen der Dramatiker umzugehen verstehen muß. In Folge dieser Eigenschaft wiegt die zweite Symphonie unseres Künstlers schwer und ist für dessen Beurtheilung eines der interessantesten Werke. Sie beweist, daß es dem Componisten darum zu thun war, seine Begabung zu ergänzen und sich mit der Handhabung tieferer subjectiver Stimmungen und seelischer Conflicte vertrauter zu machen.

In seinen späteren und letzten Werken hat Bruch diesen Weg der Entwickelung wieder verlassen. Während es ihm bei diesem augenscheinlich um Vertiefung und Erweiterung seines Talentes zu thun war, hat der Componist in seinem „Odysseus“ und der „Glocke“ den Versuch gemacht, die ihm von jeher eignen alten Gaben an breiteren und imposanteren Gebilden zu bethätigen. „Odysseus“ und die „Glocke“ sind Compositionen größeren Stiles und größeren Umfanges für gemischten Chor, Soli und Orchester. Das Schiller’sche Gedicht für einen solchen Zweck zu wählen, war wohl ein Mißgriff, der in derselben Verlegenheit um Stoff seine Entschuldigung finden muß, an welcher alle Oratoriencomponisten des neunzehnten Jahrhunderts gelitten haben. Der „Odysseus“ – der Text ist von dem talentvollen Paul Wilhelm Graff – steht dichterisch auf besseren Füßen und imponirt durch den Glanz und Reichthum derjenigen Partien, welche sich auf die Scene beziehen; Einzelbilder, welche Jeder beim Lesen des Homer geträumt hat; der Nymphenhain der Kalypso, das Ballspiel der Nausikaa, die stürmische Meerfahrt, erstehen hier in der vollen Lebendigkeit ihrer Wonnen und Schauer. Ueber die früheren Werke erhebt sich Bruch, um dies noch zu erwähnen, in dem „Odysseus“ durch die Instumentation. Seine von jeher glückliche Anlage für diesen Theil des musikalischen Ausdrucks zeigt sich hier in ganz frappantem Lichte, und ein Haupteffect ist namentlich das große Pizzicato sämmtlicher Geigen im Rhapsodenchor. Eine so naheliegende Idee, den Chor der Streichinstrumente wie eine Riesenharfe zu gebrauchen, und doch so neu! – Schließlich weisen wir noch auf seine Werke für gemischfen Chor, Rorate coeli und die Meßsätze, hin.

Zu verwundern ist, daß Bruch nichts auf dem Gebiete der Programm-Ouverture veröffentlicht hat. Sie entspricht seinem Talente doch so augenscheinlich. Von dem fruchtbaren Componisten steht nicht nur noch vieles zu erwarten, sondern – wenn in seiner weiteren Entwickelung die Frische seines „Frithjof“ eine Verbindung mit der Tiefe seiner zweiten Symphonie eingeht – auch Monumentales.

Hermann Kretzschmar.
[559]
Nihilismus und russische Dichtung.
Studien von Wilhelm Goldbaum
3. Nicolaus Gogol.

Von dem Tode Alexander Puschkin’s bis zur Blüthe Nicolaus Gogol’s ist eine kurze Zeit. Aeußerlich hat sich während derselben nichts in Rußland verändert. Der herrschgewaltige Czar hat seinen Machtkreis erweitert; das Beamtenthum, dieser alte Vampyr, saugt mit gesteigerter Gier an dem Blute des russischen Volkes. Aber eine mächtige Wandlung ist dennoch vor sich gegangen; der Statistiker, der Politiker, der Ethnograph vermag sie nicht zu ermessen, der Poet aber, welcher ein Seelenkundiger ist, giebt ihr in seinen Dichtungen den entsprechenden Ausdruck. Puschkin hat das Elend seines Volkes nur gespürt bei dem Anblicke der zahlreichen gebrochenen und entwaffneten Existenzen, die ihm begegneten, bei der Betrachtung seines eigenen Lebens, dem die schönsten Ziele grausam entrückt worden waren. Gogol dagegen enthüllt die Ursachen dieses allgemeinen Elends; er zerrt unbarmherzig das Beamtenthum hervor, um es in seiner ganzen Verworfenheit dem Volke zu zeigen; er erfindet das fürchterliche Wort von den „todten Seelen“, mit welchem er das Wesen des russischen Staates und die Lage des russischen Volkes treffender bezeichnet, als es die redseligsten Betrachtungen zu Stande brächten.

Alexander Puschkin ist der Dulder, der fatalistisch sein Leid erträgt; Nicolaus Gogol ist der Angreifer, der den Urhebern seines Leids schonungslos den Krieg macht. Das Mißvergnügen ist es müde geworden, nur sich selbst zu beschauen; es sucht nach Opfern, um sich auf dieselben zu entladen – und es findet sie.

Merkwürdig ist es, mit welcher Schnelligkeit sich dieser Uebergang von der Defensive zur Offensive vollzogen hat, fast merkwürdiger noch, wie er sich in der Dichtung äußerst. Der Humorist mußte kommen, um den Geist der Zeit zu bezeugen, und zwar nicht der Humorist, dem das Vergnügen an der Satire aus dem Antlitz grinst, nicht ein Juvenal, sondern der Humorist, der zugleich weint und lacht, wie Dickens. Vielleicht niemals ist ein Russe patriotischer gewesen als Nicolaus Gogol. War Puschkin von echt nationaler Gesinnung erfüllt, so lebte in Gogol ein nationaler Fanatismus, und allen Ernstes hielt er Rußland für berufen, die ganze Welt zu beherrschen.

Auch darin liegt ein Zeichen der folgerichtigen Entwickelung, welche zum Nihilismus geführt hat: Puschkin hat die äußeren Einflüsse noch zu würdigen vermocht, und wenn er z. B. von den Deutschen sprach, so zeigte er immerhin einen gewissen Respect vor ihnen wie in dem Drama „Boris Godunow“, wo der falsche Demetrius von ihnen sagt:

„’s sind wackre Burschen, wahrlich wackre Burschen.
So hab ich’s gern. Ich will in kurzer Zeit
Aus ihnen eine Ehrentruppe bilden.“

Wo Gogol aber von den Deutschen redet, fliegt ihm ein Zug von Geringschätzung über das Antlitz; er schildert ein „auf deutsche Manier“ eingerichtetes Gasthaus mit cynischem Wohlgefallen an den Lappen und Fetzen, die er denselben als charakteristische Merkmale andichtet; heute, dreißig Jahre später, hat diese Abgunst gegen das Deutschthum sich in offenen Haß verwandelt und ist zu einem Programmpunkte des Nihilismus geworden. –

Will man nun Nicolaus Gogol nicht aus dem beschränkten Gesichtspunkte literar-historischer Kritik, sondern aus dem weiteren der nationalen Entwickelung beurtheilen, so darf man nicht davor zurückschrecken ihn als den Propheten des Nihilismus zu bezeichnen; denn er hat zu jener unerbittlichen Literatur der Selbstvernichtung den Anstoß gegeben, welche in der Folge darauf verzichtete, an dem eigenen Volke auch nur die leiseste Schonung zu üben, welche vielmehr mit unerhörter Grausamkeit die wunden Punkte des russischen Staats- und Nationalwesens bloßlegte. Eine beneidenswerthe Mission ist das nicht; wem sie auf die Schulter gelegt ist, der habe Acht darauf, daß er selbst nicht tragisch ende! Und Gogol hat tragisch geendet, tragischer als Puschkin, Lermontow, Kolzow. Der die „todten Seelen“ der Welt gezeigt hatte, ward am Ende selbst zur „todten Seele“.

Er war aus Kleinrußland nach Petersburg gekommen, aus jenem südlichen Striche, wo es wie schwermüthige Poesie über der weiten Steppe liegt. Einen „Chachol“ nennt der Großrusse seinen kleinrussischen Mitbürger von den Ufern der Wolga, der Kama, der Oka und des unteren Dniepr, und ein „Chachol“ - das Wort bedeutet einen Tannenzapfen - ist nicht viel mehr als ein Narr. Der großrussische Moskal schaut auf den kleinrussischen „Chachol“ fast mit Verachtung herab. Zwei Chachols, erzählt er, gingen einst im Mondenschein spazieren.

„Was ist das?“ fragte der eine, auf den Mond zeigend.

„Ich weiß nicht,“ erwiderte der andere, „ich bin nicht von hier.“

Für solchen Spott rächt sich seinerseits der „Chachol“. Wie bei den Römern Hannibal ungezogenen Kindern von ihren Müttern als Schreckbild vorgehalten wurde, so drohen kleinrussische Mütter ihren Kindern mit dem Rufe: „Der Moskal kommt“

Eine Empfehlung war also der kleinrussische Geburtsschein für Gogol nicht. Und es erging ihm anfangs auch recht traurig in Petersburg. Er bewarb sich um eine Schreiberstelle in einem Ministerium – man bedeutete ihm, daß er nicht russisch schreiben könne. Er versuchte sich als Schauspieler – man lachte ihn aus. Er zog in die Fremde – die Wegzehrung war bereits in Hamburg zu Ende, und unter Noth und Kümmerniß mußte er sich in die Heimath zurückschlagen. Da griff er zur Feder und schrieb. Und Gogol erschrieb sich Ruhm, Stellung und Ansehen mit seinen „Abenden auf dem Meierhof von Dikanka“, welche ihm wie Gedichte aus der Seele geströmt waren; er ergötzte sich selbst beim Schreiben an dem Klange und las die Sätze laut vor sich hin. Die Ehrenrettung des „Chachol“ war also auf das Glänzendste vollbracht; denn wer diese Novellen, wer die wunderbare Geschichte von „Taras Bulba, dem Kosakenhetman“ kennen lernte, dem mußte es wohl gewagt erscheinen, den „Chachol“ noch ferner für einen Narren zu halten.

Jedoch mit etlichen Novellen, wären dieselben auch noch so trefflich, kann das Schaffensbedürfniß eines Nicolaus Gogol sich nicht bescheiden. Dem Trieb und der Lust des Erzählens vermögen auch andere Poeten genug zu thun, denen künstlerische Vollendung als das höchste Ziel vorschwebt, aber dieser Kleinrusse sollte mehr vollbringen: er sollte eine weltgeschichtliche Sendung erfüllen unter seinem Volke. Hatte Puschkin nur gesagt, was Rußland zu leiden habe, so sollte Gogol sagen, woran es leide.

Und das ist der ungeheure Fortschritt der Entwickelung, daß die Selbsterkennsniß , welche in Puschkin’s „Eugen Onägin“ noch das Gut einzelner Individuen war, durch Gogol zu einem russischen Gemeingute wurde.

Gogol ist, wie alle Humoristen, sich selbst der Quellen nicht bewußt, aus derer seine hinreißende Beredsamkeit, seine fast unglaubliche Anschauungskraft stammt; denn diese Quellen verlieren sich in jenen dunklen, geheimnißvollen Schacht, den man die Volksseele nennt; doch gleichviel – nicht darauf kommt es an, daß das Instrument wisse, wozu es von der Hand, der es gehört, verwendet wird. Gogol ist in Wahrheit der Schicksalspoet Rußlands; er hält fürchterliches Gericht über Alles, was faul, ungesund, verderblich in seinem unglücklichen Vaterlande ist. Seine Kunst ist nicht graziös, seine Sprache nicht fein oder sorgsam berechnet – wozu auch? Die Hauptsache war ihm, daß dem russischen Volke seine Peiniger mit Fingern gezeigt werden, unerbittlich in all ihrer schamlosen Blöße, mit der herzlosen Gier in den Augen, der fürchtlichen Leere im Herzen und Kopf und in der ganzen Niederträchtigkeit ihres sclavischen Gehorsams. Nicolaus Gogol entwarf ein Bild dieser Verkommenheit in dem Lustspiel „Der Revisor“, in dem Roman „Todte Seelen“.

Ach, es ist ein verhängnisvolles Amt, Ankläger zu sein, dessen sich die Weltgeschichte bedient; wer dieses Amtes waltet, ohne es zu wissen, wandelt an dem Rande eines ihm verborgenen Abgrundes, wer sich aber des Ungeheuren bewußt wird, das ihm aufgetragen, mag leicht davon wahnwitzig werden oder sterben wie der Reiter vom Bodensee. Der arme unwissende Gogol, kein Philosoph, kein Historiker, sondern Poet, nichts als Poet, ist auch darüber wahnwitzig geworden und daran gestorben. Er sagte seinen Landsleuten die blutige Wahrheit, sie aber glotzten ihn blöde an und verstanden ihn nicht; er schnitt und riß und zerrte an den Leibe seines Volkes, der ja schließlich sein eigener Leib war, und je tiefer sein Messer schnitt, desto mehr schnitt es in Gift und Fäulniß. Nach [560] der ersten Aufführung des „Revisor“ ließ der Czar Nicolaus den Dichter zu sich in die Loge bescheiden.

„So,“ rief er dem Eintretenden entgegen, „habe ich noch nie gelacht, wie heute Abend.“

Und der Dichter, blaß, stotternd, erwiderte:

„Majestät, ich habe eine andere Wirkung beabsichtigt.“

Armer, armer Gogol, Du mußtest in Wahnsinn enden. Wo ist ein Gleichniß dieses Schicksals? Nicolaus Lenau ist ebenfalls wahnwitzig geworden, und zwar genau in demselben Lebensjahre wie Nicolaus Gogol. Aber auf Lenau’s Hirn lastete nicht das Unglück eines ganzen großen Volkes; an Lenau’s Seele nagte nicht der Schrecken vor der eigenen That, nicht die Reue über das Große, das er vollbracht. Gogol war ein Slave; ihm war noch nicht alles barbarische Blut aus den Adern entronnen; dem Kleinrussen betäubte die mystische Poesie der Steppe das Gewissen, diese unfaßbare, geheimnißvolle Poesie, von der ein Dichter gesungen:

„Ewig hört man Weisen klingen
Wie der Cither Melodien;
Niemand weiß, woher sie dringen -
Scheinen Gräbern zu entflieh’n.“

Lenau und Gogol - es ist so müßig, nach Vergleichen zu suchen. Wenn der Poet nicht eine Individualität für sich, eine unvergleichbare und schlechthin eigenthümliche ist, so verdient er überhaupt nicht, daß man ihn nenne. Und wenn Rußland unter den Staaten nicht eine Individualität für sich wäre, mit seinem eigenen trostlosen Entwickelungsgange, seinem eigenen unvergleichlichen Schicksale, so hätte es eben auch keinen Puschkin und keinen Gogol hervorgebracht. Wo anders als in Rußland konnte denn das Verhängniß Puschkin’s, dasjenige Gogol’s reifen? Puschkin wollte ein Mensch und mußte ein Sclave sein; Gogol gar wagte es zu richten und er hatte nicht den Muth, die Knechtschaft abzustreifen. Er, der den russischen Despotismus aus den Angeln hob, indem er die Werkzeuge desselben brandmarkte, er, der das russische Volk lehrte, sich aufzubäumen gegen seine Peiniger, indem er zuerst es wagte, hell und breit zu lachen über diese Blutsauger, die von Unterschleif und Bestechung sich mästeten – dieser nämliche Gogol erschrickt feige, als er merkt, was er angerichtet; er schlägt sich wie ein Sünder an die Brust und jammert zerknirscht sein „Mea culpa – meine Schuld!“, obgleich diese Schuld, mit der er sich belastet wähnt, seinen Namen unsterblich gemacht hat.

Todte Seelen!

Durch jene „Abende auf dem Meierhof von Dikanka“ war Gogol rasch zu einem vielgelesenen Autor geworden, obgleich dieselben nichts darboten als getreue Zeichnungen des kleinrussischen Lebens. Literarische Kreise glaubten sich ihm verpflichtet und vermittelten ihm die Stelle eines Lehrers der Geschichte an dem patriotischen Institute. Dann erschien die Novellensammlung „Mirgorod“, in welcher die Kosakengeschichte von „Taraß Bulba“ enthalten war, und ihre Wirkung war so bedeutend, daß die Kritiker von „wahrhaft homerischer Kraft“ sprachen und der Staat sich bemüßigt fühlte, dem ruhmreichen Dichter eine Geschichtsprofessur an der Petersburger Universität zu übertragen. Aber das gab einen wunderbaren Professor. Seine Schüler fanden, daß die Muse der Geschichte ihn spröde von sich fern halte, und er selbst fand es auch. Es war ihm nicht wohl auf dem Katheder, und er mied diesen erhabenen Sitz der Gelehrsamkeit so oft er konnte. Iwan Turgenjew hat ihn in seiner Lehrthätigkeit geschildert, wie er auch Puschkin, den er kurz vor dessen Tode bei einem Concerte sah, mit einigen Strichen gezeichnet hat.

„Neben der Thür,“ erzählt Turgenjew von Puschkin, „stand er an einem Pfeiler, die Arme über die breite Brust gekreuzt, mit unzufriedenem Blicke im Kreise umherschauend. Er warf auch mir einen flüchtigen Blick zu; die Ungenirtheit, mit der ich ihn anstarrte, mochte ihm mißfallen, da er ohnehin bei schlechtem Humor zu sein schien; er zuckte verdrießlich die Achseln und trat bei Seite. Einige Tage später sah ich ihn auf der Bahre liegen.“

Und Gogol’s akademische Thätigkeit war nach Turgenjew’s launiger Mittheilung etwa folgende:

„Betrat er das Katheder, so brummte er etliche unverständliche Sätze vor sich hin, um dann mit Stahlstichen von Palästina und sonstigen schönen Ländern sein Auditorium zu unterhalten, wobei er zwischendurch die verblüffendsten geographischen Böcke schoß. Die Prüfung seiner Studenten überließ er Herrn Schulzin, einem Collegen von der Facultät, während er selbst lautlos in einem Sessel lehnte, das Gesicht mit einem großen schwarzen Tuche verbunden, ein Bild komischester Verlegenheit.“

War nun schon Puschkin nicht übermäßig mit Wissensstoff überladen – er sprach einst den Satz aus: „Nur zufällig lernen wir irgendwo und irgendwas“ – so hatte Gogol fast gar nichts in seinem Schulsacke. Er blieb auch nicht lange Professor, sondern wendete sich, vom Czar mit einer Jahrespension ausgestattet, von Neuem dichterischer Thätigkeit zu, welche nun erst seine beiden epochemachenden Werke zu Tage förderte. Aber dann kam ein Tag – wie gesagt, er bereute, ein Dichter gewesen zu sein, und zur Buße warf er sich der religiösen Heuchelei in die Arme. Mit Schukowski, dem gealterten Hofpoeten, machte er gemeinsam mystische Exercitien; nur noch für den Beifall des Czars und der Hofkreise schien er zu leben; in Rom, in Jerusalem, wohin er sich einen sogenannten Auslandspaß verschafft hatte, suchte er Sühne, und schließlich wand er sich Tage lang vor Heiligenbildern auf den Knieen, ohne Speise und Trank zu sich zu nehmen, ließ seine alten Freunde im Stiche, jammerte über den Abfall und die Verderbniß der Jugend, bis man ihn eines Tages verhungert, buchstäblich verhungert zu Füßen eines Muttergottesbildes fand.

Nach solchem Schaffen ein solcher Tod!

Und es ist nichts damit gethan, dieses tragische Menschenschicksal aus dem beliebten Gegensatze von Realismus und Idealismus zu erklären; denn Nicolaus Gogol war weder ein Realist noch ein Idealist. Ihm blutete das Herz, wenn er das diebische Beamtengesindel zeichnete, und wenn er den kleinen unwissenden Provinzadel verspottete, so lachte ihm die Seele. Er war gerecht und tapfer, streng und lustig, weil er ein Humorist war. Kein Zucken in dem automatischen Antlitz des untergeordnetsten Beamten war seiner Beobachtung entgangen und mit kräftigem Behagen zeigte er auf die kupferrothe Nase in dem verschwommenen Gesichte eines herabgekommenen Edelmannes.

Er war der Schicksalsdichter Rußlands; die Zeit war gekommen, da Rußlands Verhängniß es forderte, daß über die Peiniger des Volkes Gericht gehalten, daß die Autorität dieses feilen Beamtenthums, die ahnungslose Apathie dieses Volkes erschüttert werde, und Gogol war dazu ausersehen, das furchtbare Werk zu beginnen. Der Dichter warnt zur rechten Stunde; verhallt sein Ruf, kommt nach ihm der Rächer. Der Dichter Gogol ist kläglich zu Grunde gegangen, als er seine Schicksalsmission überlebt hatte; ihn verschlang der Abgrund, den er geöffnet hatte, als er kaum sein vierundvierzigstes Lebensjahr erreicht hatte; aber seine Werke sind geblieben, diese beiden fürchterlichen Anklagen in Komödien- und Romanform – das Lustspiel „Der Revisor“ und die Erzählung „Todte Seelen“ – in denen zum ersten Mal der streitbare Nihilismus das Wort führt. Der Czar, der einst selbst über Puschkin die Censur geübt hatte, gewährte Gogol einen Jahresgehalt; er ahnte nicht, daß er den gefährlichsten Revolutionär belohnte, den jemals eine russische Mutter genährt hat.

Wäre hier ein banales Wortspiel am Platze, so könnte man wohl sagen, es sei nicht zufällig, daß das fünfactige Lustspiel Gogol’s den Titel „Der Revisor“ führte; denn hier wird in der That eine Revision der russische Zustände vollzogen, die sich jeder Nachsicht und jeder Duldung entschlägt. Es geht der Polizei und Bureaukratie aller Grade an’s Leben, dieser rostigen zerfressenen Maschine, welche sich beständig selber ölt, indem sie erbarmungslos das Volk auspreßt. Fünftausend Paragraphen enthält der Swod, dieses Monstrum einer Gesetzsammlung, für jeden spitzbübischen Beamten genug, um seine Beute mit dem Schein der Gesetzlichkeit zu decken.

Der Gouverneur – nennen wir ihn mit Gogol Anton Antonowitsch Skwosnik-Dmuchanowski – hilft dem Schulrector Luka Lukitsch Chlopow mit dem entsprechenden Paragraphen aus, wenn es gilt, mit demselben ein gestohlenes Gut zu theilen, und der Kreisrichter Ammas Fedorowitsch Lapkin-Tapkin der Hospitalverwalter Artemi Philippowitsch Semljanka, der Postmeister Iwan Kusmitsch Schpekin sind ebenfalls mit Freude von der Partie.

Gogol selbst fügt für die Schauspieler die Personenbeschreibungen dem Verzeichnisse bei, und da heißt es von dem Gouverneur:

„Obgleich bestechlich hat er doch viel Haltung. Der Uebergang vom Schrecken zur Freude, von hündischer Unterwürfigkeit zum Hochmuth vollzieht sich bei ihm ziemlich schnell wie bei einem Menschen, der unedle, rohe Neigungen hat.“

[561]

Auch eine „Wahlwühlerei“.
Nach seinem Gemälde auf Holz gezeichnet von Karl Kronberger


Der Kreisrichter ist „ein Mann, der fünf oder sechs Bücher gelesen hat und daher ein wenig den Freigeist spielt, im Baßton spricht, wobei er die Worte in die Länge zieht und gleichsam gurgelt und röchelt wie eine alte Wanduhr, welche pfeift und zischst bevor sie schlägt“.

Der Hospitalinspector ist „sehr dick, schwerfällig und linkisch, dabei aber ein durchtriebener, abgefeimter Gauner“.

Diese Bande nun stiehlt und raubt gemeinsam im Namen des Gesetzes, und wenn es noth thut, so denuncirt auch einer den andern. Und da kommt eines Tages ein nichtsnutziges Subject, Namens Chlestakow, ein ausgemachter Vagabund mit äußerlich feinen Manieren und anspruchsvollem Wesen, in die entlegene Stadt. Man vermuthet in ihm einen „Revisor“; alle Beamten bekennen ihm in ihrer Angst der Reihe nach ihre Schurkenstreiche, indem sie ihn zugleich durch Bestechung zum Schweigen zu veranlassen suchen Der Schulrector leiht ihm dreihundert, der Hospitalverwalter vierhundert Rubel, und der Gouverneur winselt:

„Geruhen Sie doch selbst zu urtheilen! Der Gehalt reicht nicht einmal hin für Thee und Zucker. Und habe ich auch einige Geschenke nicht zurückgewiesen, so handelt es sich doch nur um ganz unbedeutende Kleinigkeiten, etwas für den Tisch oder vielleicht so ein paar Anzüge.“

Am andern Morgen ist Chlestakow aus der Stadt verschwunden, der wirkliche „Revisor“ aber ist soeben eingetroffen, und ein Gensd’arm erscheint bei dem Gouverneur, um ihm zu melden:

„Sie werden ersucht, sich sofort zu dem Herrn Revisor zu verfügen, der vor einer Stunde in außerordentlicher Mission aus Petersburg angekommen und im Hotel abgestiegen ist.“

Dieses merkwürdige Stück ward von der Censur sonderbarer Weise durchgelassen, und das Volk jubelte dazu seinen ungestümsten Beifall; denn es sah zum ersten Male, wie auch seine Peiniger die züchtigende Ruthe erreicht hatte.

Gleichen Erfolg hatte das in Rom begonnene satirische Sittenbild die „Todten Seelen“, welches der Dichter selbst als sein gelungenstes Werk bezeichnete.

Von zehn zu zehn Jahren mußten in den Tagen der Leibeigenschaft alle steuerpflichtigen Individuen in Rußland gezählt werden. Wenn innerhalb einer solchen Zählungsperiode Leibeigene gestorben, so zahlte der Gutsbesitzer bis zum Ablaufe derselben die Steuer für sie fort, während die inzwischen geborenen Kinder nicht gezählt wurden und steuerfrei blieben. Nebstbei hatte der Gutsbesitzer das Recht, seine Leibeigenen bei der Bank zu verpfänden; er erhielt für jede männliche „Seele“ dreihundert Rubel. Collegienrath Tschitschagow, der Held des Romans, geht nun darauf aus, diese beiden gesetzlichen Einrichtungen für sich auszubeuten; [562] er reist bei dem Landadel umher, um von demselben „todte Seelen“ zu kaufen. Die Ernte ist ergiebig; denn viele, für die, obgleich sie todt sind, noch Steuern gezahlt werden, notirt er als käuflich erworben in sein Taschenbuch, läßt sie auf das werthloseste seiner Grundstücke überschreiben und verpfändet letzteres bei der Bank.

Dies ist das Thema der wunderbaren Dichtung, über deren Blätter das Blut eines Patrioten rinnt, indessen zwischen den Zeilen mit anscheinend lachendem Zurufe die blanke Revolution gepredigt wird. Gestorben für sich, für den Staat aber auch nach dem Tode noch ein Steuerobject und zwar ein von einem Schwindler gemißbrauchtes Steuerobject – das ist nach Gogol eine „todte Seele“. Das ganze russische Volk ist erstarrt, todt, unbeweglich; das ganze russische Volk ist ein gemißbrauchtes Steuerobject, das ganze russische Volk eine einzige „todte Seele“. Der Poet erfaßt nur den allgemein gültigen Typus und leiht ihm Dauer in der dichterischen Nachbildung. Das ist die furchtbare Macht des dichterischen Genies, welches gewaltiger ist als der Czar sammt allen seinen Garden und allen seinen Kosaken. Das Mißvergnügen, das Jahrzehnte sich scheu verbarg, braucht oft nur ein Wort, einen Namen um jählings aufzuflackern und dann, trotz aller Löschversuche, fortzuglimmen. Gogol fand dieses Wort; es war das Wort von der „todten Seele“.

Man würde aber ein Unrecht begehen, wenn man es an diesen allgemeinen Andeutungen über den denkwürdigen Roman Gogol’s genügen ließe. Er gehört nicht nur als der erste Plan und Grundriß der nihilistischen Bewegung der Geschichte an, sondern ist auch ein kostbares Besitztum der erzählenden Kunst, die hier vielleicht, von Walter Scott’s Romanen abgesehen, in der culturhistorischen Kleinmalerei ihre größten Triumphe gefeiert hat. Derb sind die Farben; robust ist die Pinselführung, wie es von dem Kleinrussen nicht anders erwartet werden kann. Aber die Wahrheit liegt über diesen Bildern mit verklärendem Zauber. Und diese Wahrheit thut sich insbesondere auch darin kund, daß nicht blos das Beamtenthum, der Gouverneur, der Procurator, der Polizeimeister, der Branntweinpächter und der Inspector der Kornfabriken, nein, daß auch alle Schichten des verkommenen Provinzialadels von dem Dichter unter die Geißel genommen werden. Es ist ein Werk von großartiger poetischer Gerechtigkeit. Nicht in jenem Sinne zwar, daß jedweder Schuld eine Sühne folgen muß, jedoch in dem anderen, daß das gleiche Maß an Alle gelegt wird, auch an diejenigen, welche der Dichter liebt. Hätte Gogol lediglich das Beamtenthum dem Spotte preisgegeben, so hätte man ihn zweifellos einen Pamphletisten heißen dürfen. Aber das Elend fällt nicht allein, wenn auch vorwiegend, dem Beamtenthum zur Last, welches in seiner trostlosen Verworfenheit eben nur vorhanden sein kann, wo solche Volkselemente ihm gegenüberstehen. Und der Humorist thut dann das Seinige; er geißelt auch diese Volkselemente, wenngleich ihm dabei das Herz vor Weh zu springen droht.

Wie mannigfaltig sind in den „Todten Seelen“ die Figuren, an denen der Fluch ihrer eigenen Gringfügigkeit nagt! Der Gutsbesitzer Manilow, der jener Gattung von Leuten angehört, „die zu gar keiner Gattung gehören“ – die Bäuerin Anastasia Petrowna, welche nichts kann und nichts will, als Silberrubel zusammenthun – der Bonvivant Rosdrew, der auf die Märkte fährt, mit aller Welt Duzbrüderschaft schließt, sein Geld verspielt und schließlich die auf sein Gut eingeladenen Freunde zu seiner eigenen Erquickung durchprügeln läßt – endlich Puschkin, der Geizhals aller Geizhälse. Man muß davon nothwendiger Weise Act nehmen, daß der Dichter in diesen Figuren dem russischen Volke dessen eigenes Zerrbild vorhält; denn nur so versteht man, was Gogol gewollt. Einseitige Reform verschärfte sein Verlangen nicht. Dieses großrussische Volk – man hat doch bisweilen bei der Lectüre der „Todten Seelen“ die Empfindung, als ob der „Chachol“ aus Kleinrußland über die Fehler der Großrussen in seinem Inneren kichere – verdient nicht, daß es ihm besser ergehe, wenn es sich nicht emporrafft, nicht arbeitet, lernt und zu dem Bewußtsein seiner Menschenwürde gelangt. Das ist die Moral, so weit sie das Volt angeht. Es ist ein ehrliches, ein gutmüthiges, ein leichtgläubiges Volk, das aber trinkt, spielt, entsetzlich schlecht wirthschaftet und trotz seiner angeborenen Ehrlichkeit lügt.

Und so lange das russische Volk sich nicht aufrafft, so lange verdient es, daß das Ungeziefer des Tschin an seinem Blute sauge. Wenn das Volk sich selbst belügt so hat es keine andere Beamtenschaft zu begehren, als diese Rotte von Dieben und Beutelschneidern, welche der Rock den Czars tragen. Der Dichter kann seinem Volke nur mit gutem Beispiele vorangehen, indem er diese Bande unsanft beim Knopfe nimmt, gleichviel, ob es des Kaisers Knopf ist. Und dies thut er, wie kaum jemals ein russischer Schriftsteller es zu thun gewagt hat.

Einen Bureauchef schildert er folgendermaßen: „Er konnte als Muster einer steinernen Gefühllosigkeit und Unerschütterlichkeit gelten, immer derselbe, unzugänglich, niemals ein Lächeln auf dem Gesicht, Niemanden grüßend, kein einziges Mal nach dem Befinden fragend. Niemand hatte ihn jemals anders gesehen, weder auf der Straße noch in seinem Hause; er hatte nie an etwas Theilnahme gezeigt, sich nie betrunken, um auch nicht im Rausche zu lächeln oder ein wildes Lachen auszuschlagen, wie es doch selbst der Räuber thut, wenn er betrunken ist – nicht ein Schatten von alledem war bei ihm zu finden. Er war weder ein Bösewicht noch ein guter Mensch; er hatte weder eine starke noch eine schwache Seite, und nur der Mangel von alledem machte ihn schrecklich. Sein hartes Marmorgesicht zeigte gar keine Aehnlichkeit, zeichnete sich nicht einmal durch auffallende Unregelmäßigkeit aus; die Züge waren alle in einem ärgerlichen Verhältnisse mit einander.“

Damit jedoch kein Zweifel darüber obwalte, daß jede andere menschliche Schwäche bei dem russischen Beamtenstande nur beiläufige Kritik verdiene neben der ungeheuren Neigung zum Diebstahle, vergißt Gogol nie, die berüchtigten Douanenchefs, welche Leiter und Hehler von Schmugglerbanden sind, die schlauen Commissionen, welche Jahrzehnte den Bau von Kronshäusern berathen und dabei, ohne zum Ende zu kommen, die Baugelder aufzehren, mit humoristischem Nachdrucke der Erzählung einzufügen. Und ist es nicht ein Tschinownik, so ist es doch ein Glöckner, der, wie in der Novelle „Der König der Erdgeister“, erst dann vom Schenktische aufsteht, wenn sich ihm die Zunge nicht mehr im Munde bewegt, der aber dann doch „seiner steten Gewohnheit treu, nicht vergißt, eine alte Stiefelsohle zu stehlen, die auf der Bank des Wirthshauses liegt.“

Will man Nicolaus Gogol, wie es geschehen, als den Begründer einer realistischen Dichterschule in Rußland bezeichnen, so mag es dabei sein Bewenden haben. Wenn es Realismus ist, die Wahrheit zu sagen, so mögen die Kritiker, welche in Gogol nur der Dichter würdigen, Recht behalten. Aber was bedeuten hier die Formalitäten, Kunstausdrücke, ästhetische Kategorien? So wenig in aller völkerpsychologischen oder staatsgeschichtlichen Terminologie bis jetzt der Nihilismus eine passende Stelle gefunden hat, so wenig ist Gogol, der Prophet des Nihilismus, literargeschichtlich zu classificiren. Er hat der revolutionären Bewegung in Rußland ihre Ziele gegeben – das ist seine ungeheure That; daß er es als Poet gethan, beweist nur, wie Recht das deutsche Dichterwort hatte, das da meinte, es sei dem Dichter vorbehalten, zu sagen, was er – und mit ihm sein Volk – leide. Weit hinaus ist inzwischen der Nihilismus über das Maß dessen gegangen, was Gogol für erstrebenswerth hielt. Gogol war national; der Nihilismus von heute ist es nicht; Gogol konnte weinen, indem er zerstörte, der Nihilismus weint nicht; Gogol hat Unsterbliches geschaffen, weil er sein Volk trotz aller Schwächen und Fehler liebte; der Nihilismus schafft nichts, weil er nichts liebt, nicht einmal sich selbst.

Drei Jahre nach Gogol starb der Czar Nicolaus; im Wahnsinn war der Dichter hingegangen, und mit gebrochenem Herzen sank die Riesengestalt des unerbittlichen Autokraten zusammen. Was der Dichter als seine Irrung betrachtete, das war in Wahrheit ein gewaltiges Werk; was der Czar als seinen Ruhm angesehen, das zerrann ihm wesenlos vor seinen brechenden Augen. Es scheint noch immer, daß die mächtigen Individualitäten in Rußland nicht friedlich sterben können. Das aber ist der Fluch, aus dessen fürchterlicher Saat der Nihilismus emporwucherte, daß das Recht der Persönlichkeit in Rußland noch immer nicht zur Geltung kommen darf. Es gehen darüber Poeten und Herrscher zu Grunde, aber dem Poeten bewahrt die Nachwelt pietätvolle Erinnerung; die Völker zahlen redlich und dankbar Denen, welche sich um sie verdient gemacht haben.



[563]

König Roger.

Als König Roger, der Normann, noch jüngst vertrieben von Lothar,
Sein altes Reich zurückgewann, gestützt auf eine tapfre Schaar,
Da zog er stolz mit seinem Heer und triumphirend über’s Land,
Bis er zuletzt in voller Wehr dem Städtchen Troja nahe stand.
Es ward von eis’gem Schreck gerührt die schuldbewußte Bürgerschaft,
Weil gegen ihn in’s Feld geführt die Stadt gehässig Muth und Kraft,
Und weil sie einst mit Rainulf sich, mit Roger’s Feind, verbündete,
Dem hier, wo jählings er verblich, ein Grabgewölb sich ründete.
Deßwegen wider Roger’s Zorn ward eine Schaar hinausgesandt,
Zu flehen um der Gnade Born und abzuwehren Mord und Brand.

Der König ließ die Botschaft vor; da fluchte sie dem alten Bund
Und zeigt’ ihm das bekränzte Thor, verzagt und winselnd wie ein Hund.
Doch Roger sprach hinweggekehrt: „Nicht lieben kann ich diese Stadt,
Die meinen ärgsten Feind geehrt und Lorbeern ihm gewunden hat.“
Und würdevoll entlassen, schleicht die Schaar zurück in Scham und Schmerz
Und kündet laut, daß unerweicht geblieben König Roger’s Herz.

Kaum hat das Volk sein Loos gehört, so tobt es wild Straß’ auf, Straß’ ab,
Das Schlimmste fürchtend, sinnverstört und wälzt sich hin vor Rainulf’s Grab.

Die Gruft, die kaum die Leiche barg, wird aufgestoßen mit Gewalt
Und fluchend zerrt man aus dem Sarg des Helden friedliche Gestalt.
„Es gilt des neuen Königs Huld, die unsre Stadt im Krieg verlor;
Dem danken wir’s; der trägt die Schuld. Auf, stürzt den Schurken über’s Thor!“
Die blinde Wuth vollführt den Plan, und eine zweite Botschaft eilt
Zu König Roger’s Heer, im Wahn, jetzt sei der böse Riß geheilt.
Man fragt ihn keck und hoffnungsvoll, ob er die That der Treue sah
Und einziehn werde sonder Groll – da nickt der Fürst ein schweigend: „Ja!“

Dies Wort erfährt die Stadt im Flug; bald herrscht Frohlocken überall;
In Prachtgewanden strömt ein Zug zur Mauer mit Drommetenschall –
Da spaltet sich das Eisenthor, und langsam, langsam zieht herein
Ein schwermuthvoller Priesterchor mit Kerzenglanz und Litanein.
Zu beiden Seiten staunend schaart verstummend sich das Volksgewühl:
Denn heldenmäßig aufgebahrt, auf schwarzem Tuch und sammtnem Pfühl,
In seidnem Fürstenpomp erscheint der ausgegrab’ne Rainulf jetzt
Und wird von seinem ärgsten Feind, von König Roger, beigesetzt.
Zur Kirche geht der fromme Held; die Menge folgt mit stumpfem Sinn;
Die Bahre wird in’s Grab gestellt, und betend kniet der König hin.
Er denkt des menschlichen Geschicks und lauscht der Priester ernstem Chor
Und würdigt jene keines Blicks und zieht hinaus zum andern Thor.

Wilhelm Henzen.




Vom siebenten deutschen Bundesschießen.

Kaum irgendwo ist das Schützenwesen volksthümlicher, als im südlichen Baiern, wo sich Jeder als einen geborenen Schützen betrachtet. Bis in die neueste Zeit, welche der Wehrkraft des Volkes ganz andere Formen gegeben hat, überwachten der Staat und die Gemeinden selbst das Schützenwesen als ein für die Landesvertheidigung unentbehrliches Institut, indem es gesetzlich geregelt und durch verschiedene Vortheile begünstigt ward. Kein Wunder also, daß der stolze Satz: „Ein Schütz’ bin ich“ – den Ehrgeiz des Landmannes wie des Städters in gleicher Weise weckte und der Gang zur Schießstätte von jeher als ein ehrenvolles Privilegium des freien Mannes galt.

Unter solchen Verhältnissen erregte schon die Kunde, das siebente deutsche Bundesschießen werde in der baierischen Landeshauptstadt abgehalten werden, überall freudige Sensation.

In München selbst wurden die Vorbereitungen zu dem Feste mit wahrer Begeisterung betrieben; die Garantiefonds waren bald aufgebracht, und es schien auch die Beschaffung eines passenden Platzes nicht schwer; man dachte von vornherein an die „Wiese“. Was die so kurzweg „Wiese“ benannte Fläche dem Münchener ist, muß erst erklärt werden. Auf dem westlich der Stadt gelegenen großen Plane, welcher durch die Ruhmeshalle mit dem Kolossalbilde der Bavaria abgeschlossen wird, feiert die baierische Landwirthschaft ihr jährliches Hauptfest, welches zugleich ein großartiges Volksfest darstellt, an dem die Bewohner des ganzen Landes und fast ausnahmslos die Einwohner Münchens theilnehmen. Dieser Platz, den die Tradition bereits geheiligt hat, ist jedem Münchener werth und theuer; denn Erinnerungen, die bis in die fernsten Tage der Kindheit zurückgehen, verleihen ihm eine Art historischen Ranges, und deshalb glaubte man den Gästen nichts Schöneres bieten zu können, als die „Wiese“, vollständiger ausgedrückt: die Theresien-Wiese. Nach einigen mühsamen Unterhandlungen mit den dortigen Grundbesitzern ward das nöthige Areal dem großen Zwecke gewonnen, und nun begann eine eigenartige Arbeit. Man begnügte sich nicht damit, nach Muster der obligaten Volksfeste für die Unterkunft der Theilnehmer zu sorgen, sondern trachtete, dem Charakter Münchens als Kunststadt entsprechend, das Aeußere des großartigen Werkes durch die Weihe der Kunst zu veredeln.

Die Künstlerschaft nahm sich mit Eifer und Liebe der Sache an, und bald lagen die Entwürfe für die Bauten nach Angaben des Malers Rudolph Seitz und des Architekten Gabriel Seidl vor, deren Namen in den weitesten Kunstkreisen wohl bekannt sind. Im Frühjahre wurde mit den Arbeiten begonnen, und am 22. Juli, einen Tag vor der Eröffnung des Festes, stand die kleine Schützenstadt fertig da.

Der frühe Morgen des nächsten Tages sah die Münchener geschäftig, ihre Häuser zum würdigen Empfange der Gäste zu schmücken. In bunten Wellen wogten die mächtigen Flaggen des Reiches, des Landes und der Stadt durch die Lüfte, und was an Blumen, Kränzen und Guirlanden aufzutreiben war, wurde dem frohen Beginnen geopfert. Auf dem festlich geschmückten Bahnhof wurde jede neu ankommende Schützenabtheilung von einem Comitémitgliede begrüßt; hierauf erschienen zwölf wahrhaftige Münchener Kindeln – in die Tracht des bekannten Mönchleins gekleidete Kellnerinnen – und kredenzten den schäumenden Pokal. Das mundete den von der Fahrt und durch die Hitze mitgenommenen Schützen, und neugestärkt folgten sie dann der Schützenmusik, welche sie nach dem alten Rathhause geleitete, woselbst die Fahnen aufbewahrt wurden.

Auf den Straßen entwickelte sich reges Leben und Treiben. Tausende von Münchnern bildeten förmlich Spalier, um die Ankommenden zu sehen und zu begrüßen, und es war, als ob mit den Gästen die eigentliche Festesbegeisterung ihren Einzug in der Isarstadt gehalten hätte. Die in mehreren Schulhäusern errichteten Massenquartiere waren zwar einfach, aber reinlich und freundlich ausgestattet; eine in launigen Versen abgefaßte Hausordnung machte den Gast mit der Hauspolizei bekannt, und ein Wunsch- und Beschwerdebuch gab ihm Gelegenheit, sein Herz, wenn es sich durch etwas beengt fühlen sollte, zu erleichtern.

Der folgende Tag, wohl der glanzvollste und schönste der ganzen Festperiode, sah mit hellen Augen gar freundlich in die Stadt herein, und schon in früher Morgenstunde rüstete sich alle Welt zum Festzuge. Wer selbst nicht activ betheiligt war, eilte einen passenden Zuschauerplatz zu finden, zu erhaschen, zu erkämpfen. Gegen Mittag war der riesige Körper des Festzuges zusammengefügt, und langsam setzte er sich in Bewegung.

Nach der Absicht der Arrangeure sollte die Eintönigkeit eines aus gleichen Elementen zusammengesetzten Zuges durch stellenweise Einschiebung einer historischen Abtheilung unterbrochen werden, und ein Erfolg sonder Gleichen lohnte diese glückliche Idee, deren Ausführung allerdings erst durch die Aufopferung der Arrangeure und Theilnehmer möglich wurde. Wochenlang war unter der Direction der Maler Flüggen, Schraudolph und Hierl geschneidert, gemalt, cachirt, gezeichnet und gestickt worden, und einzelne Theilnehmer scheuten die Kosten zur vollkommen getreuen Nachahmung der Originalcostüme nicht. Es waren vier solcher historischer Gruppen, und eine errang immer mehr Beifall als die andere.

Den Zug eröffneten Bannerträger und Turnerabtheilungen; sodann folgte die Gruppe des Scheibenschießens; da zogen Pfeifer, lustige Märsche blasend, und scheibentragende Zieler, in schwarz-gelb – die Münchener Stadtfarbe – gekleidet, vorüber; in ihrer Mitte wurde eine kolossale reichverzierte Ehrenscheibe mit dem Bildnisse der Fortuna getragen; dann rollte der Festwagen, von pomphaft geschirrten Rossen gezogen, heran; auf diesem boten sich zwei mächtige vergoldete Löwen, welche Scheiben hielten, den Blicken dar, der weithin schauende Aar aber schwebte mit ausgespannten Flügeln darüber.

[564]

Das siebente deutsche Bundesschießen in München. Orginalzeichnung von Karl Voß.
Wirthschaft „Zum blinden Mann“.   Beleuchtung der „Bavaria“. - Am Scheibenstande.   Wirthschaft „Zur Schützenliesl“.
Festzug: Gruppe des Scheibenwagens.

[565] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [566] Nun erschien die erste Schützengruppe, und an ihrer Spitze schritten die von weither herzugeeilten Gäste aus der Türkei, aus Manila und Nordamerika, unmittelbar darauf in langem Zuge die Schweizer, dann die außerbaierischen Landeskinder in alphabetischer Ordnung. Wunderschön präsentirte sich die zweite historische Gruppe, die Jagd. Gestalten aus längst vergangenen romantischen Zeiten zogen nun an den staunenden Blicken vorüber: Fanfarenbläser mit mächtigen gebogenen Jagdhörnern, Jagdgesinde mit Armbrust und Speer, die Hatzrüden an der Leine führend, eine glänzende Cavalcade von Rittern, Imkern und Damen, darunter Falkoniere mit lebenden Falken, Wildträger mit Beute beladen und eine roth bezogene Kutsche mit Edelfrauen; herrlich war der Festwagen zu schauen; darauf stand unter einer großen Eiche der ritterliche St. Hubertus und der verhoffte Hirsch; in dem Gezweige des Baumes saßen Vögel und allerlei Gethier trieb sich darin umher. Jubelnd empfing man allerorts dieses Prachtstück der künstlerischen Gestaltungsgabe.

Die dritte Gruppe brachte die Wehrkraft; markige Gestalten zu Fuß und zu Roß, theils dem Volk aus der Zeit des Bauernkriegs, theils den Kriegsläufern aus der Landsknechtperiode angehörend, zogen heran; manch eisengeharnischter Ritter, manch junger Fant mit dem Flamberg in der Hand erntete reichen Dank aus schönen Augen; auch die in diese Gruppe eingereihten baierischen Oberländer Schützen in ihrer nationalen Tracht wurden lebhaft begrüßt. Nun nahte das herrlichste Bild, dessen sich ein deutsches Herz freuen konnte: der von acht prächtig geschürten Rossen gezogene goldstrahlende Triumphwagen der Germania, mit Krone, Schild, Mantel und Schwert; sie war eine edle, schöne Frauengestalt, diese Germanin und mit stolzem, brausendem Jubelgeschrei wurde sie empfangen, sodaß sich das Gesicht der holden Frau immer und immer wieder mit flammendem Roth bedeckte. Eine nicht minder anmuthige Gefährtin stand als Lenkerin des Gespanns in antiker Gewandung auf dem vordern Theile des Wagens.

Die vierte Gruppe endlich, welcher Fanfarenbläser und Edelfräuleins zu Pferd mit den Standarten der früheren Feststädte voranritten, enthielt die auf einem Wagen thronende und von Pagen umgebene Munichia.

Wo der Zug erschien, wurde es im Volke und in den Häusern lebendig; jubelnde Zurufe, Tücherschwenken und Blumenregen aus allen Fenstern begrüßten denselben. Besonders stürmisch wurden die Oesterreicher willkommen geheißen - und mit Recht; denn sind sie nicht die außer Hause weilenden Söhne unserer nationalen Familie, und haben sie nicht als solche Anspruch auf besondere Freudenbezeigung? Denkt man bei solchen Auszeichnungen nicht auch an den Kampf, den Deutsch-Oesterreich gegen seine Widersacher im Innern auszutragen hat? Ich habe mir Mühe gegeben, in dieser Sache Erkundigungen einzuziehen, und habe nur freudige Anerkennung, nirgends die Spur einer Verstimmung unter den Festgästen gefunden.

Vor der Feldherrnhalle erfolgte der feierliche Act der Uebergabe der Bundesfahne durch die Herren Rechtsanwalt Reinartz und Dr. Bausch Namens der Stadt Düsseldorf an den ersten Bürgermeister der Stadt München, Dr. von Erhard. Diesem Acte wohnten die Mitglieder des königlichen Hauses, die Minister und andere hohe Staatsbeamte, die Stadtvertretung und das Festcomité. an; die Sängervereinigung trug das von Professor Schönchen componirte und von Hermann Lingg verfaßte Lied „Gruß den Schützen“ vor, worauf sich der Zug wieder in Bewegung setzte und nach zwei Uhr am Festplatze anlangte.

Werfen wir nunmehr einen flüchtigen Blick auf den feenhaft ausgeschmückten Platz, ehe das wimmelnde Treiben davon Besitz genommen hat! Unmittelbar hinter dem Haupteingange befand sich ein weitgedehnter Vorplatz, der, für das fahrende Volk von Händlern, Raritätenbesitzern u. dergl. bestimmt, den sogenannten „Wurstelprater“ darstellte. Hier waren die obligaten Schaubuden untergebracht; die Mitte des Platzes durchschnitt eine breite Straße, welche, mit einer Flaggenallee geziert, direct zum Hauptportale führte. Beim Anblicke dieses Thores regte es sich traumähnlich im Beschauer. „Wo habe ich dies gesehen?“ fragte er sich, „in irgend einer Stadt, als Bild oder gar nur in der Phantasie auf Grund einer Lectüre?“ Es ist ein Stadtthor, wie es die ehrwürdigen, prächtigen Städte des Mittelalters geziert hat. Von zwei Thürmen flankirt, dehnt sich das niedere Portal so in die Weite, daß die Kaufleute mit ihrem Gute einziehen und auch ein Fähnlein Stadtknechte gut einreiten mag. Die Bemalung dieses reizenden Bauwerkes mit Rauten und Wappentieren und die Verzierung mit alten, echten Fahnen trug wesentlich dazu bei, die Illusion zu erhöhen; schräg aufsteigende Löwen schmückten die Wandflächen der Thürme; über dem Thore war das Stadtwappen Münchens angebracht, und eine massige Holzgallerie verband die Thürme unter sich.

Statt des gestrengen und griesgrämigen Thorschreibers saß in dem Stübchen des linkseitigen Thurmes ein Kind der Neuzeit, das die Welt mit Neuigkeiten in Form von Tagesblättern versorgte, während die Thorwache gegenüber von der freiwilligen Feuerwehr gebildet wurde. Nach dem Eintritt durch dieses Thor fesselte den Beschauer sofort der Anblick der Festhalle, welche die östliche Seite des Festraumes einnahm. Dieselbe zeigte einen mächtigen Mittelbau mit hohem Dachstuhl und zwei sich in stumpfem Winkel gegen den Platz hereinbringende Langhallen, die wieder durch Erkerthürmchen abgeschlossen waren.

Eine Reihe von Portalen erleichterte den Zugang der Massen und für den controllirbaren Verkehr waren besondere Schrankenvorrichtungen hergestellt. Die äußere Ausstattung der Festhalle zeigte ebenso viel Reichthum, wie künstlerischen Geschmack, und das Dach war mit grünem Tannenreisig überdeckt, was einen ungemein freundlichen Anblick bot. Hoch am Giebel des Mittelbaues sah man St. Hubertus und den Hirsch angebracht; die kleinen Ercker desselben aber waren mit Elchschädeln, die vergoldete Geweihe trugen, geziert, und über dem Hauptthor breitete ein riesiger deutscher Adler seine mächtigen Schwingen aus. Zwei prächtige Kolossalfiguren, cachirt und bemalt, hergestellt von Meister Gedon, ein stattlicher Jäger und eine Jägerin, bewachten den Zugang in das Innere, das gleichfalls entsprechend decorirt war. Das Balkenwerk des Oberbaues verhüllten mächtige Eichenlaubbögen, während die im Mittelschiff befindliche Musiktribüne mit Gobelins und musikalischer Trophäen verkleidet war; über derselben prangten Bilderwerke, welche die von Hermann Lingg in seinem Gedichte so prächtig gezeichneten vier Stämme: Sachsen, Franken, Schwaben und Baiern in hübscher, entsprechender Gestaltung versinnbildlichen.

Grün und goldig schimmerte der Festhalle gegenüber der Gabentempel, ein auf breitem Unterbau ruhender Kiosk mit Kuppeldach, das durch eine mit Hirschköpfen verzierte Pyramide gekrönt war. Vier hochstämmige Föhren überschatteten den ganzen Bau, und aus dem Geäste der prächtigen Bäume blinkten verlockend die großen goldenen Aepfel der Hesperiden. Die den westlichen Abschluß bildende Schießhalle bestand gleichfalls aus einem Mittelbau und zwei Hallenflügeln in der Gesammtlänge von beinahe zweihundert Meter. In derselben befanden sich die Schießstände, die Plätze der Warner und Schreiber, die Ladetische und Ruheplätze für die Schützen.

An diese Hauptbauten schloß sich nun eine Reihe von Nebengebäuden, namenlich Stätten der Erholung und Erfrischung. Außer der Wirthschaft in der Festhalle waren nur noch vier Wirtschaften in Betrieb gesetzt worden; jede derselben zeigte einen anderer Charakter. Da war einmal „Der wilde Jäger“, ein phantastischer Bau mit doppeltem Thurmaufsatz, das Dach mit alten Hohlziegeln gedeckt; eine Eule mit großen Augen bildete die Windfahne; vom Thurme herab hing als Firma am eisernen Arm der einladende Krug, und an der Facade prangte Hackelberg's, des wilden Jägers Bild zu Roß, in Sturm und Nacht dahinfliegend.

Nicht weit vom wilden Jäger erblickte man das Wirtshaus „Zum goldenen Hirsch“, dem äußeren Ansehen nach ein Gebirgsgasthaus älterer Ordnung, mit tiefliegenden kleinen Fenstern und einem Altan unter dem vorspringenden Dach; auch der Maibaum vor dem Hause war nicht vergessen; das hübsche Häuschen erinnert an irgend ein am Waldsaum liegendes als Wirtshaus installirtes Forsthaus.

Auf der südlichen Seite zunächst der Schießhalle stand die Wirthschaft „Zum blinden Mann“, doch war mit dieser Firma keinerlei Anzüglichkeit auf unglückliche Schützen beabsichtigt; o nein – dieser blinde Schütze ist überall bekannt; es ist der kleine Herzensjäger Amor. Welche Geschäfte derselbe während des Schützenfestes gemacht hat, konnte statistisch leider nicht nachgewiesen werden; bei dem großen Verkehr der schönen Welt auf dem Festplatze ist jedoch anzunehmen, daß er erkleckliches Unheil angerichtet habe.

Dicht neben den kleinen nackten Schlingel befand sich die „Schützenliesl“, welcher unter den vier Gasthäusern unbedingt der [567] Preis zugesprochen werden muß. Zwischen einem Walde von jungen Fichten und Föhren erhob sich hoch in die Luft ein einfacher Sattelthurm, wie man ihn vielleicht in den von allen großen Verkehrsstraßen abseits liegenden Orten des Flachlandes noch sieht. Das Dach war mit Binsenstroh gedeckt, und ein gravitätisch vor dem Neste stehender Storch hielt dort seine Wacht, während aus dem obersten Fensterlein eine auf einer Stange hängende, mit Blumen und Bändern verzierte Schleifkanne als Handwerkszeichen herauslugte; die Façade endlich zeigte das Bild der Schützenliesl, eines drallen, auf einem in den Wolken rollenden Bierfasse dahintanzenden und dabei Bier und Rettige servirenden Landmädchens; als Kopfbedeckung dient der gluthäugigen Schönen eine Scheibe und ihre ganze Haltung ist so keck, so verführerisch, daß alte und junge Sünder unmöglich anders konnten, als für die Liesl schwärmen. Das genial ausgeführte Bild entstammt dem Atelier unseres berühmten Landsmannes Fritz August Kaulbach, welchem auch am letzte Tage vor Abbruch der „Schützenliesl“ eine Ovation dargebracht wurde.

Der ganze Festplatz stellte sich den Blicken der Besucher überhaupt in einer so günstigen Weise dar, daß wohl Keiner denselben betrat, ohne seiner freudigen Uebeeraschung Ausdruck zu geben. Unter solchen Auspicien konnte man dem Beginne des Festes getrost entgegen sehen; zumal die Leitung des Ganzen in bewährten Händen von Bürgern und Künstlern lag. Als erster Präsident fungirte der Erzgießer und Bildhauer Ferd. von Miller, als Stellvertreter der Großbräuer Gabriel Ledelmayer; das Ehrenpräsidium hatte Prinz Ludwig von Baiern übernommen, und hat derselbe sein Amt in liebenswürdigster Weise und mit großer Ausdauer versehen; er war bei allen Festlichkeiten zugegen und bewährte sich auch als eifriger und vortrefflicher Schütze.

Sofort nach dem Eintreffen des Zuges in dieser improvisirten kleinen Schützenstadt nahm in der Halle das Festbankett seinen Anfang, an welchem sich über zweitausend Personen betheiligten. Begeisterte Reden würzten das frohe Mahl; Prinz Ludwig selbst begrüßte die Gäste mit warmen Worten, und mancher seiner Sätze erntete stürmisches Bravo. Mittlerweile hatte das Schießen begonnen, und mitrailleusenartig krachten die Büchsen von den Ständen her; gegen Abend wurden die ersten Becher vertheilt; der erste Sieger war auch in München der bekannte Schütze Heinr. Knecht aus St. Gallen.

Auf dem Festplatze aber wogten Tausende durch einander, welche gekommen waren, die Herrlichkeiten zu besehen und mit den Gästen fröhlich zu sein. In den Wirthsbuden war bald kein Platz, kein Krug mehr aufzutreiben; überall tönte Musik, Gesang und fröhliches Jauchzen; man lagerte sich in Gruppen auf dem Grasboden, und das herrliche Wetter gestattete, das Gelage bis nach Mitternacht auszudehnen; elektrisches Licht goß über die Scene den Zauber einer Vollmondsnacht, und ohne nach der raschen Flucht der Stunden zu fragen, sang, trank und tanzte das glückliche Völklein weiter.

Der nächste Abend vereinigte die Gäste zum Festball in der Halle, und ein reicher Flor von Damen verherrlichte die der leichtfüßigen Terpsichore geweihten Stunden; wohl drückte eine Glühhitze auf die wogende Menge, allein wann hätte dies den Eifer tanzlustiger Paare zu dämpfen vermocht? – Die am Dienstag veranstaltete Herrenkneipe wurde durch ein launiges Festspiel „Die Enthüllung des Monumentes Münchhausen’s“ eingeleitet, und am Nachmittag dieses Tages war zur Belustigung des Volkes, alter Sitte zufolge, „ein Ochsenbraten“ in Scene gesetzt worden; unter Anwendung einer eigens hierzu construirten Vorrichtung gelang es denn auch, einen ganzen Ochsen kunstgerecht am Spieße zu braten, und in kurzer Zeit war derselbe von den appetitreichen Zuschauern bis auf die Knochen verspeist.

Am stärksten war der Festplatz am Freitag Abend besucht, an welchem Tage die Monstre-Musikaufführung – sechs Militärcapellen mit 250 Mann – unter Direction des königlichen Obermusikmeisters Hüne stattfand; man hat die Menge der Anwesenden auf 90,000 bis 100,000 Personen geschätzt. In Bezug auf die Tonwirkung hat dieses Concert den Erwartungen nicht ganz entsprochen, aber hinsichtlich der musikalischen Leistung erfuhr es einstimmiges Lob; denn trotz der Masse Mitwirkender gelang es doch, ein Ensemble zu erzielen, das auch die feinsten Nüancirungen zur Geltung brachte. Ein dem Münchener ungewohntes Schauspiel bot die an diesem Tage von dem in Norddeutschland wohlbekannten Aëronauten Securius unternommene Luftschifffahrt.

Der Sonnabend zeigte sich endlich dem schon früher geplanten Unternehmen eines Ausfluges an den Starnbergersee günstig. Ein Extrazug brachte die etwa 800 Köpfe zählenden Theilnehmer nach Starnberg, wo der festlich geschmückte Salondampfer schon ihrer Aufnahme harrte. Die Villenbesitzer längs des westlichen Ufers hatten zum feierlichen Empfang beflaggt, und von allen Häuschen her wehten den Gästen Grüße entgegen. In Possenhofen wurde ausgestiegen; durch den herrlichen Park wanderte man nach Feldaffing, um dort ein Frühstück einzunehmen, und dann ging es fort nach dem eigentlichen Ziele, dem reizend gelegenen Tutzingkeller. Die wackern Tutzinger hatten Alles aufgeboten, ihre Gäste zu ehren; es waren Triumphpforten errichtet, eine geschmückte Rednerbühne aufgestellt, ein Feuerwerk und eine Beleuchtung vorgesehen, kurz Alles bedacht, was sich bei einem Kellerfeste arrangiren läßt.

Endlich brach der letzte Tag an, der den kunstfertigen Schützen die Gaben Fortuna’s bringen sollte. Es waren in der That herliche Preise, welche im Gabentempel aufgeschichtet lagen; denn die Städte, die Fürsten und Private hatten gewetteifert, denselben reichlich auszustatten – da funkelte es von goldenen und silbernen Pokalen, von Bechern und Uhren und anderen Kleinodien. Der kostbarste auf 4000 Mark Werth geschätzte Preis, ein silberner Hirsch mit einem Thurm auf dem Rücken, ward einem Landshuter Bürger zu Theil; berechtigt hierzu waren drei Schützen – das Loos entschied für den Glücklichen. Abends erstrahlte zum Abschiede die nächst dem Schießplatze gelegene Bavaria in der herrlichsten Beleuchtung; ein grandioses Feuerwerk entzückte die Menge – und dann hatte das siebente deutsche Bundesschießen – eines der gelungensten seiner Art – sein Ende erreicht. Ueber den Verlauf desselben herrscht nur eine Stimme: die Münchener haben gethan, was menschenmöglich war, und der Himmel hat mit Sonnenschein und freundlichem Wetter seinen Segen dazu gegeben.




Blätter und Blüthen.


Eine schreckliche Eisenbahnfahrt. Nach des Tages Last und Mühen versammelten wir uns des Abends um das lodernde Prairiefeuer, um welches wir unsere Wigwams errichtet hatten. Der Platz war zwischen zwei ehemaligen Ansiedlungen, Boonesville und Julesburg gelegen, welche alsdann beide verlassen sind und erst durch die Vollendung der Union- Pacific-Bahn wieder aufblüheten. Unser Camp war in der Nähe einer ganz kleinen unbedeutenden Station der Union-Pacific-Bahn, deren Name mir sogar wieder entfallen ist, die aber nur deshalb errichtet worden war, weil sich auf diesem Punkte täglich die von Osten nach Westen und umgekehrt gehenden Züge kreuzten. Dieser Umstand war Veranlassung, daß wir häufig Besuch von den Maschinenführern erhielten, denen wir eine Menge anregender Erzählungen aus dem Eisenbahnleben im fernen Westen verdankten. Eine dieser Erzählungen gebe ich in den folgenden Zeilen wieder, weil sie eine Art von Gefahren betrifft, die man in Europa kaum kennt.

James Mc. Barron, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, Maschinist der Union-Pacific-Eisenbahn erzählte uns eines Abends wie folgt:

Als junger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren war ich Locomotivführer auf der Buffalo-, Corry- und Pittsburg-Eisenbahn, welche bei Brocton Junction im Staate Pennsylvanien die Lake-Shore-Bahn kreuzt und dann direct in die Oelregionen Pennsylvaniens führt. Von Mayville Summit bis Brocton Junction beträgt die Entfernung in der Luftlinie kaum zehn Meilen, aber, da die Bahn zahlreiche Curven beschreibt, so ist die richtige Entfernung vierzehn Meilen; die Steigung ist nahe an 15 Meter pro Kilometer.

Im Jahre 1869 wurden mit der Corry-Bahn ungeheure Massen von Petroleum verfrachtet, und in der Nacht vom 17. August 1869 war ich mit einem Lastzuge von einem Pferdewagen und sechs mit Petroleum gefüllten Oelwagen unterwegs bei Summit. Diese Oelwagen sind große eiserne Kasten, sogenannte Tanks, in welche das Oel hineingepumpt wird, wie es noch heute vielfach in den Pennsylvanischen Oelregionen geschieht. Der Pferdewagen war direct hinter dem Tender der Locomotive, und ich hatte den Zug in Bewegung gesetzt, der auch schon rasch ging, als ich zu meinem Schrecken bemerkte, daß aus einem der Oelwagen Flammen aufschlugen.

Sofort gab ich das Signal zum Bremsen, und es gelang, die Oelwagen von dem Pferdewagen zu entkuppeln.

Dann fuhr ich mit Locomotive, Tender und Pferdewagen unter einem Dampfdrucke die Steigung hinab, welchen die Maschine bisher noch nicht gekannt hatte, um nur außer dem Bereich der brennenden Wagen zu kommen und den Pferdewagen zu retten, in welchem sich zwei werthvolle Rennpferde mit ihren Aufsehern befanden. Natürlich dachte ich, daß die Bremser die Bremsapparate an den Oelwagen angezogen hätten, aber in [568] ihrer Angst waren die Leute von den brennenden Wagen herabgesprungen, sobald die Entkoppelung gelungen war, und hatten die Apparate weiter nicht angerührt, sodaß die Oelwagen mit immer zunehmender Geschwindigkeit hinter uns dreindonnerten. Bevor ich mich dessen versah, saßen mir die Oelwagen, von denen jeder einzelne nunmehr einen Flammensee bildete, auf dem Nacken, und als ich gerade wieder um eine Curve flog, zerschmetterten sie die Rückwand des Pferdewagens. Merkwürdiger Weise blieben sowohl die brennenden Wagen wie der Rest des Zuges trotz der Collision im Geleise.

Mein Heizer und ich, wir hätten ganz gut den Zug verlassen und uns durch einen Sprung retten können, aber die Eisenbahncompagnie hatte uns für 20,000 Dollars Werth anvertraut, welchen wir derselben erhalten wollten, wenn es nur halbwegs thunlich war.

Ich sah, daß es sich um eine Fahrt auf Leben und Tod handelte, und riß daher den Regulator so weit auf, wie es nur möglich war. Wir flogen mit solcher Geschwindigkeit die Steigung hinab, daß die Maschine gar nicht pumpen konnte. In dem Momente, als die Oelwagen die Rückenwand des Pferdewagens eindrückten, schrieen die Pferde buchstäblich vor Angst; die Hitze wurde unerträglich, und die Aufseher, die im Pferdewagen waren und deren Gesichter die Farbe des Todes trugen, baten mich um Gotteswillen, „mehr Dampf zu geben“.

Bei der Blitzesgeschwindigkeit, mit welcher wir um die scharfen Curven flogen, erwartete ich jeden Augenblick, daß die Maschine aus dem Geleise springen und über den Bergabhang geschleudert werden würde.

Die Nacht war sehr finster. Die Maschine donnerte vorwärts mit einer Geschwindigkeit, wie in diesem Lande wohl noch nie eine Maschine gegangen ist, durch Waldungen, tiefe Felseneinschnitte und am Rande von unermeßlichen Abgründen vorbei. Die armen Pferde stampften und wieherten vor Schrecken, und nur wenige Fuß hinter denselben kam die flammende Masse den Hügel hinabgeflogen, wie ein schreckliches Meteor. Die Flammen von den Tausenden Gallonen von brennendem Oel waren wohl sechszig Fuß hoch und beleuchteten die Gegend auf eine Meile in der Runde. Der ganze Horizont war erleuchtet, und der Anblick der großen Feuersbrunst, die durch die Luft zu fliegen schien, war, wie man mir später sagte, von Brocton aus überwältigend.

Meine Idee war, den Leuten in Brocton das Signal zu geben, die Weiche der Lake Shore-Strecke zu öffnen, wo die Bahn sanft aufstieg und wo dann die brennenden Wagen die vorwärtsbewegende Kraft verlieren und zurückbleiben würden. Aber der Expresszug von Cincinnati müßte um diese Zeit auf der Lake Shore-Strecke in Brocton Junction eintreffen und, um die Schrecken meiner Lage noch zu vergrößern, war gerade jetzt ein nach dem Westen gehender Lastzug auf der Lake Shore-Strecke daran, dem jede Minute erwarteten Erpreßzuge aus dem Wege zu fahren. Mir blieb nur das Eine zu thun, das Signal für „offene Weiche“ zu geben, zu riskiren, ob der Lastzug rechtzeitig ausweichen könnte, und zu hoffen, daß der Expreßzug sich um die eine Minute verspäten würde.

Ich wußte, daß man mich von Brocton Junction aus gesehen und die Ursache der merkwürdigen Erscheinung erkannt hatte und daß man nicht zögern würde, auf mein Signal hin zu handeln. Ich pfiff daher das Signal für „offene Weiche“. Dem Lastzug gelang es, ein Seitengeleise zu erreichen, und in diesem Momente flogen wir auf das Lake Shore-Geleise, an der Station vorbei, durch das Städtchen hindurch und die sanft ansteigende Strecke hinan. Die brennenden Oelwagen kamen allmählich zum Stehen und konnten unschädlich gemacht werden. Die Maschine mit ihrem Gefolge von Tender und Pferdewagen stand hundert Yards vor dem Expreßzug, der sowohl verspätet wie auch signalisirt war.

Als mein Heizer und ich sahen, daß wir gerettet waren, sanken wir ohnmächtig auf die Maschine. Die Pferde waren ruinirt, und ihre Aufseher wurden besinnungslos aus dem Wagen gehoben. Die Oelwagen brannten noch drei Stunden; nachdem sie zum Stehen gebracht.

Als man uns von der Maschine nahm, waren erst 12 Minuten seit unsrer Abfahrt von Mayville Summit verflossen, sodaß wir mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 145 Kilometer per Stunde gefahren waren. H. H.     




Zum Capitel der „Wahlwühlerei“. (Mit Abbildung S. 561.) Das Schicksal der Völker wird nicht allein auf blutigen Schlachtfeldern entschieden. Schwerer für das Wohl und Wehe einer Nation wiegen die Beschlüsse, welche in den parlamentarischen Versammlungen gefaßt werden; denn durch dieselben wird sowohl die Wehrkraft des Staates geregelt, wie der materielle Wohlstand und die geistige Entwickelung seiner Bürger beeinflußt. Daher wurde auch bei allen Culturvölkern die Zeit, welche den Wahlen vorausging, durch eine fieberhafte Thätigkeit der politischen Parteien gekennzeichnet. Und wie einst um die Gunst des römischen Volkes die Tribunen und die Patrizier auf den Straßen und auf dem Forum warben, so geschieht es auch heute bei uns nach Tausenden von Jahren. Der politischen Agitation der Neuzeit stehen zwar gewaltige, früher unbekannte Mittel zur Verfügung, wie die Macht des gedruckten Wortes in der Gestalt der Flugschriften und der Zeitungspresse, aber trotzalledem kann auch sie des ältesten Hebels der mündlichen Agitation nicht entbehren, so sehen wir, daß auch jetzt während der Wahlcampagne nicht allein die Führer der Parteien durch öffentliche Reden das Volk unter ihre Fahnen zu bringen suchen, sondern daß in dieser Zeit das Land mit politischen Agenten überfluthet wird, welche in Privatgesprächen den einfachen Mann für ihre Zwecke bearbeiten. Die Wichtigkeit des letzteren Agitationsmittels darf nicht unterschätzt werden: denn die Geschichte hat gelehrt, daß Parteien, deren Presse von der Regierung mundtodt gemacht wurde, einzig und allein mit Hülfe dieser stillen Agitation bei den Neuwahlen in alter Stärke und sogar manchmal in größerer Zahl aus der Urne hervorgingen.

Eine Scene aus dieser halbgeheimen politischen Agitation stellt unser heutiges Bild dar – eine Scene, wie sie sich wohl gegenwärtig im deutschen Vaterlande tausendfach abspielt. Die Bürgerstunde hat längst geschlagen; die fröhlichen Gäste des Wirthshauses sind verschwunden; sogar das Schenkmädchen ist in Anbetracht der außergewöhnlich langen Sitzung eingeschlafen; nur zwei hervorragende Persönlichkeiten der kleinen Gemeinde, der reichste Bauer und der bei seinen Mitbürgern beliebte Bäcker, haben Stand gehalten. Mit ihnen bespricht nun der am Tische sitzende Agent einer politischen Partei die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen. Er hält das Manifest der Gegenpartei in der Hand und unterwirft es einer scharfen, vernichtenden Kritik. Ja, es spricht sich gut in diesem kleinen Kreise. Hier darf gesagt werden, was sonst in der öffentlichen, von der Polizei bewachten Versammlung verschwiegen werden mußte, was aus Rücksicht auf den Staatsanwalt in der Presse nicht gedruckt wurde. Hier kommt das Alles zu Tage – Wahres und leider auch Falsches, Lob und Verleumdung. „Wahlwühlerei“ ist der technische Ausdruck, mit welchem die officiöse Presse diese Thätigkeit mit sittlicher Entrüstung bezeichnet. Aber wozu die Scheinheiligkeit? Welche Partei in der Welt wird auf dieses Agitationsmittel verzichten? Oder wäre da nicht ein langes Lied zu singen von der „Wahlwühlerei“ der Herren Landräthe und Gensd’armen, der hohen und gar niedrigen Staatsbeamten?

Was nun der „Wühler“ auf unserem Bilde den beiden Philistern vorträgt, das dürfte schwer zu errathen sein. Vom sozialdemokratischen Zukunftsstaate mit allen seinen verlockenden Paradiesbildern wird er ihnen schwerlich etwas erzählen. Dazu paßt die Gesellschaft nicht. Vielleicht aber erklärt er dem Bauer, wie viel mehr harte Thaler er jahraus jahrein in Folge der segensreichen Kornzölle in seine Tasche stecken wird, und rechnet dem Bäcker vor, wie viel weniger directe Steuern von Haus und Grundstück und von daliegendem zinsentragendem Vermögen von da ab bezahlt werden, da man indirecte Steuern, bei denen „die Masse es bringen muß“, eingeführt hat. Vielleicht predigt er das Gegentheil und überzeugt Beide davon, daß der Handel und Wandel frei bleiben, die Lasten auf alle Stände, je nach ihrer Zahlungsfähigkeit, gleich und gerecht vertheilt werden müssen, wenn das Reich bestehen, wenn der Einzelne gedeihen, wenn das Volk groß und stark werden soll.

Aus den Augen des Agitators auf unserem Bilde leuchtet, wiewohl versteckt, siegesfrohe Zuversicht hervor. Er hat die Beiden überzeugt, und nun weiß er, daß sie an dem nahe bevorstehenden Tage der allgemeinen Wahlen, an welchem die Stimme des schlichtesten Tagelöhners ebenso viel gilt wie die des eisernen Kanzlers, für seine Partei einstehen und in geschlossener Colonne ihren nicht unbedeutenden Anhang zur Wahlurne führen werden.




Das Mikrophon als Wasserauffinder und Quellensucher. Im unteren Innthale, zwischen Innsbruck und Kufstein, hatte sich in den letztverflossenen Jahrzehnten, wahrscheinlich in Folge von Waldausrottung, ein fühlbarer Wassermangel eingestellt, der in den Umgebungen der bekannten Bergstadt Hall besonders unangenehm hervortrat. Die Formationen der dem Innstrome parallel laufenden Hügelketten ließen aber mit Wahrscheinlichkeit der Vermuthung Raum, daß unterirdische Wasserläufe in genügender Mächtigkeit vorhanden seien, um, wenn sie zu Tage gebracht würden, die darüber befindliche Oberfläche zu bewässern. Dieser locale Uebelstand brachte den Besitzer des Schlosses Tratzburg, nächst der Saline Hall, auf die Idee, auf diesen Alpenabhängen in Blechkapseln eingeschlossene Mikrophone in den Boden zu senken und dieselben jedesmal mit einem Telephon und einer kleinen Batterie zu verbinden.

In dem gegenwärtigen Falle galt es also, das Rieseln der unterirdischen Wasseradern vernehmbarer zu machen. Der in der Natur herrschenden größeren Ruhe halber wurden die Beobachtungen mit dem Apparate bei Nachtzeit angestellt, wo die Vibrationen des Bodens geringer als bei Tage sind und derartige Wahrnehmungen sorgfältiger ausgeführt werden können. In der That gelang es vollständig, die Bewegung in den zum Theil tief unter der Erdoberfläche fließenden Wasseradern zu hören und so deren Vorhandensein und Lauf festzustellen, sodaß die Zutageförderung der Quellen bewerkstelligt werden konnte.

Ohne Zweifel wird dieser erste gelungene Versuch Nachahmung finden und eine erweiterte praktische Anwendung des Telephons, insbesondere in wasserarmen Gegenden, zur Folge haben.




Erklärung. In Nummer 27 der „Gartenlaube“ - erzählt der Verfasser eines anonymen Artikels „Karoline Bauer als Gräfin Plater“, daß er auf ihrem Wohnsitze Broëlberg (welcher, beiläufig gesagt, nicht bei Horgen am Zürichsee, sondern zwei Stunden weiter abwärts in Kilchberg liegt) neben anderen Personen auch öfter den Unterzeichneten in Gesellschaft der Verstorbenen getroffen habe. Es ist dies ein Gedächtnißfehler des mir unbekannten Verfassers; ich bin in dem erwähnten Hause niemals gewesen und habe mich auch sonst keinerlei Verkehres mit der Dame erfreut.

Zürich, im August 1881. Gottfried Keller.     




Kleiner Briefkasten.

W. D. in Schwetz. Die beste und zuverlässigste Auskunft in Ihrer Angelegenheit finden Sie in dem Reichs-Coursbuch, welches im Coursbureau des Reichspostamtes bearbeitet wird und eine lichtvolle Uebersicht der sämmtlichen Eisenbahn-, Post- und Dampfschiffverbindungen in Deutschland, Oesterreich-Ungarn und der Schweiz enthält, wie es auch über die bedeutenderen Routen der übrigen Theile Europas und der Dampfschiffverbindungen mit außereuropäischen Ländern orientirt. Die nächste (vierte Sommer-) Ausgabe erscheint am 1. September d. J.: Preis 2 Mark. (Berlin, Springer.)

Leserin in Posen. Wir haben weder Beruf noch Raum zur Erfüllung Ihres Wunsches.

Naturfreund in Leipzig. Besuchen Sie uns gütigst einmal!



Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.