Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1881)/Heft 33

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[537]

No. 33.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Es giebt kein wohlthuenderes Gefühl, als sich voll einer Seele, zu der die eigene neigt, so recht aus Herzensgrunde erfaßt zu wissen. Einfach, wie Jana war, hatte Fügen an ihrem Geiste und dessen Aeußerungen vollständiges Genüge; sie war klug und sah mit hellem Auge auf Menschen und Dinge; vor Allem war sie herzensgut und immer die Gleiche. Mit ihr das Leben hinzubringen ward gewiß niemals zur bedenklichen Sache. Ihr weißes Gesicht, die sanften etwas verschleierten Augen, das Musikalische, was in jeder ihrer Bewegungen lag – all dies schien Fügen geschaffen zur dauernden Augenweide. In ihr lebte etwas, das den Künstler bestechen konnte; wie treu würde sie den Mann hegen und pflegen! Er wußte, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte nach diesem Gute, um es zu besitzen, und daß es ein wertvolles Gut sei. Dennoch zögerte er von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, das, was bereits sein Vorsatz war, durch ein ausgesprochen Wort zur That zu gestalten. Warb er um Jana, verlobte er sich mit ihr, dann konnte er für’s Erste nicht mehr hier bleiben, und so oft er daran dachte, von der Moosburg fort zu müssen, empfand er unüberwindliche Unlust.

Es war ja noch Zeit. Zuvor sollte seine Symphonie beendet sein; bis er mit dem Werke zur Instrumentirung vorgeschritten, ging noch mancher Tag in’s Land.

Heute hatte der Meister sein Andante beendet und die Frauen auf den Abend in das Musikzimmer geladen, wo er es ihnen vorspielte. Das Hauptmotiv desselben war von so treuherziger Innigkeit, daß es tief in’s Gemüth drang – schlicht im Beginn, voll Wehmut, bis es unerwartet zu einer Hymne ausklang.

„Wie schön und so ganz Ihr eigen!“ sagte Genoveva wärmer, als sie pflegte, nachdem Fügen den Flügel geschlossen, als wolle er sagen: Für heute Basta!

„Ja,“ entgegnete er etwas verschämt; „mit Ausnahme von Geld habe ich mein Lebtage nichts von Andern borgen können.“

Genoveva sah ihn liebenswürdig an:

„Und doch ist dieses Motiv entlehnt.“

„Was?!“

Seine Brauen rückte zornig an einander.

„Diese gehaltenen, schwellenden Töne haben Alles verrathen; Ihr Andante ist einer Nachtigall abgelauscht – leugnen Sie nur nicht!“

Er wurde roth vor Freude und sah mit strahlenden Augen in das schöne Gesicht, welches so selten durch ein Lächeln erhellt ward, dessen Lächeln aber entzückte wie alles Seltene.

„Im Ernst? Nun, das Wort ist eine Krone werth. Alles, was wir fassen, zieht ja so unglaublich rasch vorüber – glückt es ein Echo vernehmen zu lassen, so ist das ein halbes Wunder.“

„Musik ist immer ein ganzes Wunder. Mir, die nur andächtig horcht, ohne selbst einen Ton zu haben, ist sie es vielleicht in weit höherem Maße als ihrem Priester. Wie sehr sind Sie zu beneiden! Alle Künste haben es mit schon Vorhandenem zu thun; Musik quillt aus der eigenen Seele ihres Schöpfers.“

Er sah sie nachdenklich an.

„Und was könnte unsere Seele geben, das sie nicht zuvor empfangen hätte? Was wir mit der einen Hand vollführen, muß die andere zuerst erfaßt haben; je nachdem der Mensch beschaffen ist, wird der Künstler in sich betrachten und wiedergeben, nicht wahr? Wir wissen, daß Beethoven es liebte im Wandern zu componiren – hört man nicht in seiner Musik oft die Wälder rauschen, gab er uns nicht die Pastorale? Bei Schubert und Haydn ist’s nicht anders; manches Schubert’sche Quartett erzählt die Lebensgeschichte eines Charakters. Und doch behalten Sie Recht, es bleibt das Idealste jede tiefste Empfindung in Tönen ausströmen zu lassen – was Erhabenheit betrifft, steht Musik noch über der Poesie; denn sie dringt in Tiefen, wohin das Wort nicht reicht, weiß zum Ausdruck zu bringen, was nicht von dieser Welt ist.“

„Aber in diese Welt hinausgeht und Kunde bringt,“ sagte Genoveva belebt.

Der Funke im Auge des Meisters verwandelte sich; um seinen Mund traten die kleinen Falten, welche so leicht seine eigenen Humor verriethen oder auch wohl den der Andern weckten. Und doch war es ihm bitterer Ernst, als er kläglich sagte: „In die Welt hinaus? O gnädige Frau! in dem Punkt sind wir tausendmal übler daran als die Andern. Sehen Sie, der Bildhauer, der Maler bringt, was er in sich schaute, ganz und völlig zum Ausdruck, so weit eben seine Kraft reicht. Was er geschaffen, steht fertig da; Keiner kann’s ihm hinterdrein verpfuschen Je unabhängiger aber die Kunst vom Stoff ist, was Sie vorhin der Musik nachrühmten, desto schlimmer ergeht es dem Himmelskind, wenn es über die Erde wandern will. Jeder verständnißlose oder eigensinnige Capellmeister bringt es zu Stande, einen Beethoven zu entstellen. Giebt man Neues hinaus, so möchte man verzweifeln; beim eigenen Dirigiren ist nicht einmal viel gewonnen. Nehmen Sie zum Beispiel mein Andante – da soll das Cello, das Fagott wie ein Hauch hintönen und die Seele mit schwermüthigem [538] Erinnern füllen, wie Dämmerzeit oder Mondlicht, und dann, wenn – die Violinen einfallen, soll es wie Morgenröthe aufblitzen, wie Lichtstrahlen voll Klarheit, die Alles frei macht. Bis das begriffen ist, möchte man vor Schmerz und Aengsten aus der Haut fahren. Und nun gar erst draußen, irgendwo – was wird da aus unserem Stil, wenn’s ein individueller ist!“

„Wie mag Ihnen zu Muthe gewesen sein, Herr Fügen, als Sie zum ersten Male selbst eine Melodie erfanden!“ sagte Jana schüchtern. „Wissen Sie noch, wann das gewesen ist?“

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

„Weiß nicht! Vielleicht, als ich drei Käse hoch war, wie unser Sigi. Der componirt ja auch schon. Neulich knirschte die Thür, ja wirklich sie miaute, daß ich mir die Ohren zuhielt, er aber hatte eine Melodie herausgewittert und sang ihr nach, bis mir auf einmal selbst ein Licht darüber aufging, daß in dem Geknirsch ein Ton steckt. So fangen wir an, vielleicht mit der halbvergessenen Melodie eines Ammenliedchens, die man sucht und nun anders herausbringt.“

Er sann heiter in sich hinein

„Ich hätte wohl Lust, einmal wieder ein paar Lieder zu componiren, gerade jetzt,“ sagte er, nach Genoveva blickend. „Das Allegretto steht mir noch nicht fertig da; bis das reif wird, ließen sich etliche Weisen einfangen, die mir lange schon durch den Kopf summen. Aber wo den Text hernehmen? Unter all dem poetischen Kram findet sich gar selten Sangbares. Stecken hier in der Burg vielleicht ein paar alte Gedichtbände oder dergleichen, worin man blättern könnte?“

„Ich fürchte, nein,“ sagte Genoveva; „doch wollen wir morgen nachsehen“

„O gnädige Frau, möchten Sie nicht –“ rief Jana hastig, brach aber wie mit Blut übergossen mitten im Satze ab.

„Nun?“ fragte Fügen gespannt, und blickte von Einer zur Andern

„Ich weiß nicht,“ stammelte das Mädchen mit befangenem Blick aus ihre Herrin.

„Weshalb sprichst Du nicht frei heraus?“ fragte Genoveva gelassen „Es braucht kein Geheimniß für unseren Freund zu sein, daß ich zuweilen eine Strophe aufschreibe – aufgeschrieben habe. Jetzt kommen mir keine Lieder mehr. Wollen Sie das Heft durchblättern, welches Jana meint, so stelle ich es Ihnen frei. Nur dürfen Sie keinen Anspruch auf kunstreiche Formen oder geistvollen Inhalt mitbringen. Es sind Tagebuchblätter, ganz persönlicher Art, deshalb kaum von Werth.“

„Also lyrisch!“ sagte er mit leuchtendem Blicke. „Nun, lyrisch und ganz persönlich sind auch Lerche und Nachtigall. Wollen Sie mir so hohes Vertrauen gönnen, wie dankbar werde ich sein!“

Genoveva sah ihn mit den dunklen Augen seltsam an.

„Vertrauen?“ wiederholte sie mit leichter Bewegung der Schultern „Vor Zeiten hätte ich Ihnen so wenig wie sonst Einem preisgegeben, was nur mich angeht. Heute geht Vergangenes mich nichts mehr an. Was vorüber ist, gleicht abgefallenem Laub – wer sollte sich’s noch zu Herzen nehmen? Sentimental sein ist wahrlich nicht der Mühe werth. Ich glaube, die Lieder, von denen wir sprechen, sind ziemlich sentimental; doch sagen sie Ihnen nichts Neues; daß ich einst besessen und verloren habe, wissen Sie ja.“

Fügen forschte, während sie sprach, umsonst mit einem dringlichen Blick in ihren unbewegten Zügen; er hätte in diesem Augenblick ein Stück seines Lebens dahingegeben, um zu wissen, ob, was sie sagte, ihre wahre Meinung sei oder nur schmerzliche Ironie. Das Peinliche, was ihre ersten Aeußerungen für ihn gehabt, löschte an ihren letzten Worten wieder aus.

„Anderes sagt Keinem das Leben,“ rief er lebhaft. „Wer überhaupt besessen hat, ist glücklich zu preisen, was auch folgen mag; denn er hat auskosten dürfen, was lebenswerth gewesen, und kann mit Wünschen abschließen. Die leer ausgingen, können das nie.“

„Abschließen?“

Eine jähe Blutwelle stieg ihr bis in die Schläfen.

„Wie trüge sich das Leben ohne Wunsch?“

„Und was ist der Ihre?“ rief er hastig, die Frage bereuend, sobald sie ihm entschlüpft war.

„Reichthum,“ sagte Genoveva mit plötzlicher Kälte, indem sie aufstand, langsam über das Zimmer schritt und durch einen Druck auf einen Knopf im Getäfel das Gefach eines Wandschränkchens aufspringen ließ.

Fügen starrte ihr nach, ohne ein Wort hervorzubringen. Ihm war, als sei er aus farbiger Abendbeleuchtung unerwartet in’s Dunkle geraten wo man umhertappt und sich nicht zurecht finden kann. Wozu wünschte diese Frau Reichtümer, sie, für welche die selbsterwählte stolze Einsamkeit so gemäß schien – was sollten ihr Schätze? Sich ihr dunkles, vornehmes Bild in goldgleißendem Rahmen zu denken, mißfiel ihm. Doch behielt er jetzt nicht Zeit zum Grübeln. Genoveva hatte dem Gefach eine Mappe entnommen, und drückte nun die Feder wieder ein.

„Hier,“ sagte sie, und reichte ihm die dunkle Mappe. Ihr schönes Gesicht war marmorblaß. „Sehen Sie nach, ob sich unter den halbvergilbten Blättern Sangbares findet! Sie lagen lange vergessen.“

Sie blickte sinnend auf Jana.

„Wie kamst Du doch darauf?“

„Haben Sie vergessen, gnädige Frau, daß Sie mich damals, als wir für lange Zeit fortgingen, Alles, was im Schranke liegt, hier herauftragen ließen, und daß dann ein Blättchen aus der Mappe glitt, das Sie mir zu lesen erlaubten ehe Sie abschlossen? Ich hab’s nie vergessen können; es war ein Lied vom Scheiden. Und ich weiß es heut noch auswendig.“

Sie zögerte einen Moment – dann, als die Beiden fortfuhren zu schweigen sprach sie in ebenso leisem Tone wie zuvor:

„Leb’ wohl, leb’ wohl! Kurz ist das Wort,
Der Inhalt aber tief –
Lang’ tönt es noch im Herzen fort,
Nachdem der Mund es rief

Auf Wiedersehn! Melodisch Wort
Voll Trug und Süßigkeit,
Du ruhst als tief verhüllter Hort
Im Schooß der Ewigkeit.“

Genoveva, die aufrecht stehen geblieben war, sah unverwandt auf das junge Mädchen, während es die Verse sprach. Langsam wendete sie die sinnenden Augen von Jana auf Fügen hinüber; ein schwer zu deutendes Lächeln flog um ihre Lippen.

„Ewigkeit!“ wiederholte sie nach kurzer Pause in seltsamem Tone. „Um zu erfahren, wie sanft es ist, die Todten zu beweinen, muß man erst um Lebende geweint haben und um Geschicke. Irre ich nicht, Jana, so hast Du damals über dieses Gedicht viele Thronen vergossen. Heute weinst auch Du nicht mehr.“

Der Behauptung zum Trotz stürzten unaufhaltsam Thränen über des Mädchens zartes Gesicht.

Genoveva lächelte kühl.

„Sie werden das eben Citirte zwischen dem übrigen finden,“ sagte sie zu Fügen; „vielleicht componiren Sie es. Nun aber, gute Nacht!“




11.

Längst waren auf der Moosburg alle übrigen Lichter erloschen als Richard Fügen noch bei seiner Lampe saß. Die ihm unbegreifliche Aufregung, mit der er sein Schlafzimmer betreten, wollte nicht weichen, verscheuchte jeden Gedanken von Schlaf und Ruhe. Er kam sich wie im Fieber vor, wo man sieht, was nicht da ist, während alles Feste, Vorhandene in’s Schwanken gerät. Sein Zimmer schien ihm behext; aus jedem Winkel trat dieselbe Gestalt auf ihn zu, sahen ihn dieselben magnetischen Augen an. Er wollte sich zwingen, nicht an Genoveva zu denken – umsonst, ihre ernst leidenschaftlichen Züge standen vor ihm, wie in die Luft gezeichnet; in seinem Ohre klangen immer dieselben Worte, von melodischer, den tiefsten Nerv berührender Stimme gesprochen. Wo war denn Jana? Er rief sie, die sonst so leicht und rasch vor sein inneres Auge trat, aber nur wie durch Nebel, undeutlich sah er das liebe Gesicht, die unschuldigen Augen. Genoveva war da, sie allein – aber was ging ihn diese an? „Alles!“ rief jede Fiber in ihm, „Alles!“

Jeder erlebt den Augenblick, wo er plötzlich erfährt, wie es in seinem Herzen aussieht. Seltsam, daß gerade dieses Herz, welches sich so oft mit dem Kopfe berät, das der Kopf so genau zu kennen meint, unerwartet seine eigenen, fremden Wege geht, gefährliche Wege mitunter, wie Nachtwandler thun. Lange, lange kann es sich auf schwindelnder Höhe sicher vorwärts bewegen, so gut verhüllt, daß es ungesehen bleibt, so träumerisch, daß es nichts [539] von sich selber weiß. Da unterbricht irgend ein Laut den Schlaf und Traum, und nun kann ihm geschehen, daß es in grundlose Tiefen sinkt, so tief wie der Tod, aus dem man nicht mehr erwacht. Etwas von den Schauern des Todes lag für Richard Fügen im Erkennen der Macht, welche längst Besitz von ihm genommen, ohne daß er davon wußte. Er wehrte sich heftig gegen den Bann, wie er sich von je gegen jeden Druck, jede Unfreiheit gewehrt. Nie hatte er sich auch nur zu einer Berufsfessel entschließen mögen, und doch bleibt, wenn man solche Fessel trägt, bei äußerlicher Abhängigkeit die Seele frei, die Liebe aber macht sie zum Sclaven. Liebe zu dieser Frau drohte Schlimmeres noch; denn in demselben Moment, als er sich der übermächtigen Gewalt bewußt wurde, sagte er sich auch, wie gänzlich hoffnungslos diese Leidenschaft sei. Nichts spricht eine so furchtbare deutliche Sprache, wie Gleichgültigkeit. Und – hätte er das Gegentheil auch nur wünschen mögen? Nein, tausendmal nein! Was ihn hier bezwang, widersprach Allem, was ihn jemals angezogen. In Kunst und Leben erkannt er nur eine Göttin an: Harmonie. Was auch Genoveva besaß, harmonisch war sie nicht. Er liebte alles Helle, und was konnte dunkler sein, als diese Gestalt, dunkel freilich wie eine gestirnte Nacht –?

Oft hatte er sie gütig gesehen, freundlich nie; immer blieb zwischen ihr und Denen, welchen sie Güte erwies, eine unsichtbare Grenze bestehen. Was er lange an ihr bewundert, das stolze Maß ihrer Erscheinung, war nur eine Hülle – keine Maske; denn es gehörte untrennbar zu ihrer Vornehmheit, die sich nie verleugnete; er wußte nun aber, daß leidenschaftliches Wollen und Bedürfen dieser Hülle Kern sei. Was wollte, was bedurfte sie? Dem grübelte er selbst in diesem Tumulte seiner Gedanken nach, ohne etwas ergrübeln zu können, das auch nur den Schimmer von Wahrscheinlichkeit bot. Das Geheimniß dieses Lebens brannte ihm jetzt in’s Herz. Aus manchem Worte Jana’s wußte er, daß Genoveva’s kurze Ehe eine glückliche, daß sie eine Liebesehe gewesen sei. Lag hier der Knoten des Räthsels? Hatte sie, was der Tod so früh hinweggenommen, zuvor schon durch das Leben verloren? Das hätte wenigstens die Bitterkeit erklärt, welche zuweilen so herb zu Tage trat, hätte erklärt, weshalb sie nimmer rückwärts zu schauen begehrt, nur vorwärts. Träumende, Liebende fliehen nicht, was vergangen; sie hegen es als letzten Besitz.

Er zog die Hand von seinen brennenden Augen hinweg und schlug Genoveva’s Mappe auf. Als wollte er aus deren Inhalt die ihm unbekannte Seele herauslesen, so tief versenkte er die seinige hinein. Und wahrlich, es kam ihm vor, als hätte dieses Weib zwei Seelen. Während er Blatt nach Blatt wandte, ging die eine Seele, welche ihn so sehr befremdet und doch bezwungen, fort aus seiner Erinnerung; eine andere war an ihre Stelle getreten, die er nicht kannte, die ihn mit sympathischem Blicke ansah, zu Allem, was weich und warm in ihm war, wie mit Glockentönen sprach. Wenige, tieferschütternde Klagelaute zwischen Liebes- und Wiegenliedern – kunstlosen Liedern, oft zart wie ein Hauch, reinsten Klanges, nur hin und wieder leidenschaftlich durchglüht, alle wahr, wie das Lächeln und die Thränen der Einsamkeit wahr sind.

So viel Sonnenschein hatte also dieses Herz erfüllt? – und heute! – Die Stunden der Nacht folgten sich; der Träumer merkte es nicht. Plötzlich stand er auf, verließ sein Schlafgemach und öffnete im daranstoßenden Musikzimmer den Flügel. Die Lampe warf ihren matten Schein nur bis auf die Schwelle. Im Dunkeln reihten sich Accord an Accord, während die Lippen ein Thema murmelten. Der Meister componirte. Es war aber keines der zarten gemüthstiefen Lieder, die ihn so sehr entzückt hatten, welches sich ihm zu Tönen gestaltete – er componirte das Lied vom Gewitter, welches der alte Graf Riedegg in der Brusttasche seines todten Sohnes gefunden.




12.

„Sie bekommen Besuch,“ sagte Fügen, der am Fenster. stand und in den kühlen Märztag hinaus schaut. „Ein Wagen! der bald oben sein wird!“

„Heute schon?“ erwiderte Genoveva, ohne sich zu erheben.

„Sie erwarten also Jemand!“ rief der Musiker bestürzt. „Wohl gar Logirbesuch, und für längere Zeit?“

„Nicht so schlimm! Es handelt sich nur um einen Passanten. dessen Vorsprechen im Laufe dieser Tage mir allerdings brieflich gemeldet worden ist. Ich gab im vorigen Jahre einem Wiener Agenten Auftrag wegen Vermiethung der Moosburg und habe versäumt, das zurückzunehmen. Wie es scheint, sucht ein Fremder jetzt dergleichen und will sich, da ihn sein Weg nach Süden führt, die Gelegenheit ansehen. Namen nennen ihn nicht – der Geschäftsmann schreibt mir von einem vornehmen Ausländer, der auf das ganze Haus und für den ganzen nächsten Sommer reflectiren würde. Dies wäre im vorigen Jahre erwünscht gewesen, nun habe ich mich aber hier eingelebt und zunächst durchaus keine Lust, mich in einer Stadt niederzulassen. So handelt es sich für den Herrn also um eine überflüssige Fahrt, für welche ihn unsere Aussicht entschädigen muß. Du sorgst wohl für eine passende Erfrischung, liebe Jana?“

„Und ich entrinne,“ sagte Fügen eilig. „Ein fremdes Gesicht hier auf der Moosburg kommt mir schon von Weitem vor wie eine Dissonanz. Sie brauchen mich ja nicht – also ade!“

Ehe die Hausfrau noch zu einer Entgegnung Zeit gefunden, befand er sich bereits auf der Flucht nach seinen Zimmern. Genoveva trat an das Fenster, welches Ausblick nach dem Fahrwege bot, der sich, selten benützt, in leichter Krümmung hügelaufwärts zog. Die langsam näher kommende geschlossene Kalesche war offenbar kein mit Extrapostpferden bespannter Privatwagen, sondern stammte aus der Lahnegger Posthalterei. Das Lächeln, mit dem Genoveva beim Anblick dieser höchst bürgerlichen Auffahrt des gemeldeten „Vornehmen“ gedacht, erstarb in demselben Augenblicke, als der Wagen hielt und ein nicht mehr junger, aber sehr beweglicher Mann vom geöffneten Schlage niedersprang. Sie trat mit unwillkürlicher, jäher Bewegung erblassend vom Fenster zurück, preßte die Lippen auf einander, näherte sich dann mit einigen hastigen Schritten der Klingelschnur, berührte sie aber nicht, sondern blieb regungslos davor stehen.

Wenige Minuten nachher trat das Dienstmädchen ein und reichte der Herrin eine Karte. Genoveva warf kaum einen Blick darauf und gab schweigend ein Zeichen, den Fremden einzuführen.

Ein schlanker, eleganter Mann von etwa fünfzig Jahren trat ein. Das Zwinkern der Augen verrieth Kurzsichtigkeit, die degagirte Haltung den ci-devant jeune homme. Mit der Leichtigkeit des Weltmannes näherte er sich der Dame des Hauses, welche ihm keinen Schritt entgegenkam, kaum hatte er aber die Hälfte des Raumes durchmessen, der ihn von ihr trennt, als er, plötzlich stutzend, den Kopf zurückwarf und dann vorwärts eilte, indem er in namenlosem Staunen ausrief: „Genéviève!“

Genoveva neigte mit der gewohnten vornehmen Ruhe den Kopf und bot ihre Hand zur Begrüßung.

„Willkommen, mon cousin!“ sagte sie in französischer Sprache. „Dies ist wirklich eine Ueberraschung, und täuscht mich Ihre Miene nicht, so überrascht unser Begegnen nicht mich allein.“

Ma foi, gewiß nicht! Ich hatte keine Ahnung – sollten Sie hier engagirt sein, Genéviève?“

„Sie befinden sich in meinem Hause, Cousin. Wollen Sie Platz nehmen?“

Während ihre Handbewegung ihn einlud, hatte sie selbst sich bereits niedergelassen.

„In Ihrem Hause? – hm – man gab mir die Adresse einer verwittweten Madame Riedegg.“

„Mein Name!“ sagte Genoveva gelassen.

Der Gast, welcher neben ihr Platz genommen, sprang, wie elektrisirt, wieder auf.

„Sie haben sich verheiratet, sind Wittwe, und wir erfuhren nichts von alledem! Vrainment, Genéviève. Sie sind von einer Originalität –“

Nach kaum merklicher Pause sagte sie in leicht ironischem Ton: „Originell wäre meinerseits nur die Voraussetzung gewesen, daß man sich in Paris für dergleichen interessirte, nachdem –“

„Nachdem Sie französischen Abschied genommen,“ ergänzt der Andere. „Mein Gott, wenn Ihnen auch das von mancher Seite etwas übel genommen worden, so denken hierüber nicht Alle gleich. Ich zum Beispiel fand Sie durchaus in Ihrem Recht und erlaubte mir auch, mich in diesem Sinne zu äußern. Offen gesagt, stand ich freilich mit meiner Ansicht ziemlich allein; meine Frau schlug sich zur Gegenpartei, aber Sie wissen, Genéviève, daß ich stets zu Ihren Bewunderern zählt, und that es mir unendlich leid, nichts mehr über Ihr Ergehen erfahren zu können. Nun [540] uns ein günstiges Ungefähr zusammengeführt, hoffe ich, Sie erzählen mir, welche Wendung Ihr Geschick nahm, nachdem Sie uns verließen.“

„Was gäbe es noch zu erzählen?“ fragte die junge Frau in der kühlen Weise, die sie unnahbar machte, sobald sie das wollte; „ich habe mich mit einem Deutschen verheiratet und bin Wittwe geworden, wie Sie vorhin richtig bemerkten. Nun lebe ich hier in Zurückgezogenheit und erziehe meinen Knaben.“

Der Gast betrachtete sie interessirt. „Aber jetzt denken Sie daran, diese Zurückgezogenheit aufzugeben?“ fragte er; „Ihre Absicht, dieses Schlößchen zu vermieten oder zu verkaufen, war es ja, die mich hierher geführt.“

„Einen Verkauf der Moosburg beabsichtigte ich nie; der Gedanke, das Haus zu vermiethen, entsprang dem vorigen, unruhigen Jahre und ist bereits aufgegeben. Lassen Sie sich’s also gefallen nur Gast dieses Hauses zu sein! Uebrigens – wenn auch Sie mir eine Frage gestatten wollen – ich bin überrascht, Cousin Clairmont, Ihnen als Aspiranten für eine abgelegene Gebirgswohnung zu begegnen. Einsiedlerische Neigungen schienen Ihnen früher fern zu liegen.“

Ein Zug leichter Verlegenheit glitt über das feine Gesicht des Cousins.

„Ich suchte nicht für mich. Sie wohnen übrigens vortrefflich – stilvolle Einrichtung – ein ganz passender Rahmen für die Schloßfrau. Ein Erbgut etwa des verstorbenen Gemahls?“

Während er sich, das Lorgnon vor die Augen gedrückt, prüfend umschaute, fesselte Jana’s Eintritt seine Aufmerksamkeit und ließ ihn das Ausbleiben einer Antwort auf seine letzte Frage vergessen. Er ließ die leichte Gestalt, welche das Cabaret so anmuthig trug und die zierlich geordneten Erfrischungen schweigend auf den Tisch niedersetzte, nicht aus den Augen; kaum hatte sich Jana so geräuschlos entfernt, als sie gekommen war, als schon die Frage aus Herrn von Clairmont’s Lippen sprang:

„Wen haben Sie da? Das ist ja ein reizendes Gesichtchen! Warum stellten Sie mich nicht vor?“

„Das würde Jana, die mein Hauswesen führt, nur in Verlegenheit gesetzt haben; gesellschaftliche Formen zu üben, wird uns hier kaum je Gelegenheit. Wollen Sie sich die Gastfreundschaft der Moosburg – länger gefallen lassen, so findet sich schon der Anlaß, Sie mit der Gefährtin meiner Einsamkeit bekannt zu machen.“

„Leider unmöglich! Ich werde noch heute Abend in Innsbruck erwartet und darf hier nur im Fluge verweilen. Voraussichtlich kehre ich aber im nächsten Jahre nach Deutschland zurück und suche Sie dann, wenn Sie es gestatten, zu günstigerer Zeit hier auf – lieber noch anderswo; denn so reizend Ihr Wittwensitz auch ist, Genevieve, erscheint es mir doch unverantwortlich, Ihre Schönheit, Ihren Geist für die Dauer hier zu begraben. Der bloße Gedanke hat etwas Absurdes –“

Genoveva unterbrach ihn:

„Sie sagten mir noch nichts über Frau von Clairmont’s Ergehen?

„Meine Frau? Ah, toujours petite santé Sie wissen! Die Aerzte verordnen Bäder, bald das eine, bald das andere, und haben die Arme neuerdings ängstlich gemacht. Sicher ohne Grund! Sobald diese Herren kleine Uebel nicht zu heben verstehen, deuten sie geheimnisvoll aus große Schäden. Mon dieu! Nerven, nichts als Nerven! Kinderlose Frauen langweilen sich; ihr Dasein gestaltet sich zu sorgenfrei, dabei gedeihen Launen und Grillen.“

Ein eigentümlicher Blick Genoveva’s, der den Lächelnden streifte, schien ihn zu geniren; er setzte das Weinglas nieder und sagte leichthin:

„Sie erwähnten eines Söhnchens, Genevieve? Lassen Sie mich seine Bekanntschaft machen, ehe ich wieder aufbreche, woran ich jetzt denken muß!“ Er blickte auf seine Uhr und sprang auf. „Wirklich die höchste Zeit, ma, belle! Zum Glück befahl ich, nicht auszuspannen, sonst wäre die in Ihrer liebenswürdigen Nähe vergessene Zeit kaum noch einzuholen.“

Er küßte flüchtig ihre Hand und ergriff seinen Hut.

A revoir“ Und werden Sie mir gestatten, Ihnen zu schreiben? Darf ich hoffen von Ihnen zu hören, Genevieve? Sie schweigen? Aber wirklich, das ist nicht – Warum noch heute so ablehnend? Ich weiß, daß Sie stolz sind wie Lucifer, hier befinden wir uns aber auf Ihrem eigenen Terrain; ich sehe Sie allem Anschein nach in sorgenfreier Lage, Sie haben nicht zu befürchten, daß man Ihnen aufzunöthigen sucht, was Sie verschmähen – und wirklich, Genevieve, ich verehre Sie.“

Er hatte eifrig, sogar warm gesprochen; das feine, aristokratische Gesicht erhielt dabei einen angenehmen Ausdruck; auch Genoveva’s kühler Blick milderte sich.

„Es wird mich freuen, von Ihnen zu hören, Cousin,“ sagte sie, indem sie ihm das Geleite gab.

Als Beide aus dem Thore in den Vorhof traten, begrüßte sie das helle Jauchzen einer Kinderstimme. Siegmund saß, vom Postillon gehalten, auf einem der Kutschenpferde und schwenkte die kleine improvisierte Peitsche.

Voila!“ sagte der Gast lebhaft indem er herantrat und das Kind neugierig betrachtete. „Ein reizender kleiner Bursche – Ihnen gleicht er aber nicht, Genevieve! Uebrigens ganz geschaffen zur Tröst-Einsamkeit!“

Während der Postillon im Begriff war, Siegmund auf einen Wink Frau von Riedegg’s herabzuheben, warf dieser den lockigen Kopf zurück und rief, seinen Platz behauptend, in hellem Tone:

„Richard, Richard, ich reite.“

Herr von Clairmont folgte erstaunt dem aufwärts gerichteten Blicke des Kindes; der seinige streifte noch eben den Kopf Fügen’s, der bereits wieder vom Fenster verschwand. Der Gast unterdrückte ein Wort, das mit dem leicht ironischen Lächeln identisch sein mochte, welches nur einen Moment um seine Lippen spielte. Dann wurde der Knabe wirklich vom Pferde genommen und der Cousin sprang in den Wagen. „A revoir, ma belle! Und langweilen Sie sich nicht allzu sehr!“ rief er in liebenswürdigem Tone und lüftete den Hut

Genoveva’s Auge war seinem forschenden, etwas schalkhaften Blicke mit stolzer Ruhe begegnet. Ihren Sohn an der Hand, stand sie, ehe sie in das Haus zurückgekehrt, einen Moment und blickte dem abwärts rollenden Wagen nach. Ein Schatten ging über ihre Stirn – ein Schatten der Vergangenheit.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Sonnabend vor „Kirtag“ in Tirol.

Ich hatte die Krimmler Wasserfälle, die bedeutendsten und großartigsten der deutschen Alpen, gesehen und war über den ziemlich beschwerlich zu überschreitenden Krimmler Tauern bis Kasern gegangen; andern Morgens – es war Samstag, den 11. September vorigen Sommers – wanderte ich dann in dem schönbewaldeten Thale hinab bis Steinhaus und hörte hier, daß am folgenden Tage der Kirtag (das Kirchweihfest) gefeiert würde. Diese Kunde bestimmte mich zu bleiben. Ein Beamter des Kupferbergwerks, das schon viele hundert Jahre im Thale betrieben wird, erzählte mir im Laufe des Mittags, daß Sonnabend Nacht gleich nach Beginn der Dunkelheit zur Feier des Kirtages sich fast sämmtliche „Bueben“[1] des oberen Thales in Steinhaus einzufinden pflegten, um an einem bestimmten Platz des Dörfchens zu rankeln.

„Rankeln?“ fragte ich, „was ist rankeln?“

Die Antwort lautete: Das Rankeln ist ein Kampf zweier Bueben, in welchem der eine den anderen, ohne Gewalthätigkeit anzuwenden, nur durch seine größere Gewandtheit zum Liegen auf den Rücken zu bringen sucht. Wer das erreicht, ist Sieger, und wer den ganzen Abend und am Kirtag selbst von keinem besiegt wird, ist „Haglmoor“[2] für dieses Jahr.

Die Gelegenheit, eine so interessante Volkssitte, welche hauptsächlich im Pinzgau, im Ahrner- und Zillerthal gepflegt wird, kennen zu lernen durfte ich nicht versäumen – ich beschloß, das Rankeln mit anzusehen.

Um neun Uhr brach ich vom Wirtshause allein auf; der Abend war finster; kein Stern leuchtete am Himmel. Als ich an


[541]

Das „Rankeln“ in Tirol.
Originalzeichnung von G. Sundblad.

[542] die Stelle kam, die mir als Kampfplatz angegeben worden war, konnte ich nichts sehen; ich glaubte schon zu spät gekommen oder falsch gegangen zu sein und war bereits im Begriffe, umzukehren, als ich, etwa vierzig Schritt von meinem Standpunkte entfernt, ein Licht aufleuchten und um dasselbe eine große Menge schwarzer Gestalten gespenstig hin und her huschen sah. Ich ging näher und erblickte nun viele Burschen mit über den Kopf gezogenen Jacken (hier Janker genannt), sodaß ich nicht im Stande war, einem in das Gesicht zu sehen; einige waren sogar in Betttücher gehüllt. Ueber den vermummten Gestalten erhob sich in eigenartiger Weise das Bildniß des heiligen Florian, welcher als Schutzpatron des Löschwesens mit den Attributen eines Feuerwehrmannes über dem Brunnen aufgestellt war. Das Ganze machte einen unheimlichen Eindruck, da Alle, schweigend und nur von einem brennenden Spahne beleuchtet, nach etwas auf der Erde zu suchen schienen. Als sie mich, der allein unverhüllten Hauptes war, gewahrten, erlosch der Spahn. Die Burschen bildeten Gruppen und sprachen leise mit einander. Nachdem ich eine Weile beobachtend dagestanden hatte und Niemand Anstalt traf, zu ringen, trat ich zur größten Gruppe und fragte, ob sie meiner Anwesenheit wegen aufhörten zu rankeln. Wenn sie das thäten, würde ich mich lieber entfernen. Nein riefen Alle, und es dauerte nicht lange, da ertönte aus der Gruppe ein Geräusch, das durch rasches Herausziehen eines Fingers aus dem Munde bei aufgeblasenen Wangen hervorgebracht wurde, dann ein Schnalzen mit den Fingern, was beides als Herausforderung zum Rankeln gilt, wie der neben mir stehende Bueb bereitwillig erklärte. Als sich immer noch Niemand meldete, erscholl, von frischer Stimme gesungen, folgendes „Liedl“ :

„Bin goar ä kloans Büberl
Bin zag (zäh) wie ä Wid (Weide)!
Wenn Einer will rankeln,
Nur außa damit!“

„Wo ist ä frischer (strammer) Bueb?“ rief es nach Schluß desselben von einem andern Punkte.

Als Sänger und Frager sich gefunden hatten, bildeten alle Anwesenden einen weiten Kreis um die Beiden; diese traten einander gegenüber und warfen die Röcke, die bis jetzt ihre Häupter verhüllt hatten, in die Höhe; die Umstehenden fingen diese auf. Nun standen die Kämpfer da, vorwärts gebeugt und mit gebogenen Beinen, der Eine lauernd auf den Anderen, ob er nicht beim Zusammenspringen einen Vortheil erhaschen könne, und dabei immer das Schnalzen mit den Fingern hören lassend, um dadurch den Andern zum Angriffe zu reizen; endlich fuhren sie zusammen, und in demselben Augenblicke lagen sie auch schon auf der Erde, Beide auf dem Leibe und mit in einander verschränkten Armen und Händen, scheinbar regungslos; nur das Keuchen deutete an, wie sehr sich jeder anstrengte, den einen Arm wenigstens zu befreien und mit dem befreiten seinen Gegner auf den Rücken zu bringen. Dabei ertönten aus dem Kreise der Zuschauer ermunternde, mit verstellter Stimme gebrochene Worte wie: „Packt’s fest, Bueben! brav, Bueben!“ u. dergl. m. Plötzlich machte der eine Ringer den einen Arm frei und packte in demselben Augenblicke den Gegner bei einem Beine, schlenderte ihn in die Höhe und warf ihn auf den Rücken.

Nun stoben Beide aus einander; der Sieger ließ einen Jauchzer ertönen; Beide verlangten nach ihren Jankern, verhüllten wieder die Köpfe und verschwanden in der Menge. Während noch über die letzte Partie gesprochen wurde, sang schon wieder Einer:

’S Federl am Hüterl,
Z’ öberst a Gras;
I’ möcht’ gern wissen,
Wie der Haglmoor haaßt.“

Alle strömten hin, wo diese Stimme ertönte, und es dauerte auch nicht lange, so stellte sich dem Sänger, einem untersetzten Burschen von etwa zwanzig Jahren von den Umstehenden mir als Weberfriedl genannt, ein großer ungeschlachter Mensch von etwa dreißig Jahren gegenüber. Weberfriedl hatte, wie mir erzählt wurde, den Abend schon viermal gerankelt und war immer Sieger geblieben, hatte also auch Aussicht für dieses Jahr zum Haglmoor erklärt zu werden. Der Beginn des Kampfes war derselbe wie vorhin. Wieder lagen die Ringer plötzlich auf der Erde mit in einander geschlungenen Händen und Armen. Aber obwohl Beide sich außerordentlich anstrengten, konnte keiner des anderen Herr werden. Die Zuschauer riefen zuletzt: „Laßt’s, Bueben, gebt’s auf!“ u. dergl. m., aber keiner der Kämpfer wollte nachgeben. Endlich als Friedl einsah, daß er in dieser Partie wohl zu einem Resultate nicht gelangen würde, sagte er: „Geb’ mer a Busserl, Bueb! Geben mer’s auf!“ Und als sie sich geküßt hatten und von einander ließen, rief Friedl: „Aber aus machen mer’s döcht.“

Gesagt, gethan. Sie standen sich nun wieder gegenüber, trotz der kurz vorhergegangenen großen Anstrengung, aber diesmal gewann Friedl bald den Sieg. Auch andern Mittags, als er mit demselben rankelte, blieb er Sieger. Ich sah noch verschiedene Partien an; jede war von der anderen verschieben.

Die Kämpfer waren wegen der Dunkelheit von den Zuschauern nur schwer, ja zuweilen gar nicht zu erkennen, und es kam sogar einmal vor, daß die Rankler selbst die doch einander so nahe waren, sich nicht erkannten. Im Ganzen, ging es mit einem bewundernswerthen Anstand zu; denn es kam kein einziger Fall vor, bei dem sich ein Bursche unerlaubter Mittel bedient hätte, und auch die Zuschauer benahmen sich immer gut. Ich konnte nicht umhin im Stillen eine Parallele mit unseren Studentenmensuren, mit denen das Ganze so viel Aehnlichkeit hat, zu ziehen.

Gegen zwölf Uhr entfernten sich die Burschen nach und nach immer mehr und krochen in die auf den Wiesen zerstreut stehenden Heustadl, um hier zu schlafen und von der gehabten Anstrengung auszuruhen. Anderen Morgens, den Kirtag, kamen sie dann von allen Seiten herbei; keinem sah man an, daß er gestern vielleicht auf dem Rasen und in Pfützen sich herumgewälzt hatte. Vor der Kirche hielten Händler Bozaner Birnen und Aepfel feil, welche die Burschen kauften, um sie in der kommenden Nacht, wie es Sitte ist, ihrer Gitsche (Mädchen) an’s Fenster zu bringen. Die Händler machen sehr gute Geschäfte; denn ohne fünfzig bis achtzig Birnen oder Aepfel geht kein Bub zu seinem Mädchen. Wenn ich aber erwartete, am Kirchtag selbst etwas Besonderes zu sehen, etwa Tänze und Spiele, so täuschte ich mich sehr. Außer ein paar Rankelpartien, nunmehr bei Tag, und dem schwachen Versuch einiger Bueben bei den Tönen einer Mundharmonika mit einander zu tanzen, bot dieser Tag keinen Unterschied von anderen Sonntagen.

Arm- und Beinbrüche, Leibschäden etc. sind nicht selten die Folge des Rankelns, und wenn die Behörde diese Volksbelustigung trotzdem duldet, so geschieht es, weil eine frühere Unterdrückung derselben Schlägereien und Raufereien der schlimmsten Art hervorrief. Der Ueberschuß von Kraft, welcher im gesunden Volke lebt, will sich nun einmal betätigen – es kommt nur darauf an, daß es in geordneten und gesitteten Formen geschieht. Die Pflege altüberlieferter Volksspiele, wie das Rankeln eines ist, muß daher überall, wo man ihr begegnet, freudig begrüßt werden. Möchten unsere Leser, wenn sie im September dieses Jahres das herrliche Tirol bereisen, das Rankeln in frischer Blüthe finden!

G. Hs.





Die Beutepolitik in der nordamerikanischen Union.

Auf die Feier des 4. Juli, dieses großen nationalen Gedenktages der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, fiel in diesem Jahre ein tiefer Schatten: Eines ruchlosen Mörders Hand hatte sich zwei Tage zuvor gegen das freigewählte Oberhaupt der amerikanischen Nation erhoben; bange Sorge lag über dem „Weißen Hause“ in Washington-City; Trauer und Betrübniß herrschten in dem Herzen des Volkes der Vereinigten Staaten, und das Ausland fühlte den Schmerz mit, der jeden braven Amerikaner bewegte.

Präsident Garfield zählt zu den Edelsten und Besten seiner Nation, und die große Mehrzahl seines Volkes blickte auf ihn mit Vertrauen und freudiger Hoffnung. Nicht in einer Zeit gewaltiger Aufregung, wie am 14. April 1865, wo eine mörderische Kugel dem Leben des edlen Lincoln ein allzu frühes Ende setzte, nicht in einer Zeit, wo nach einem vierjährigen blutigen Bürgerkriege in der nordamerikanischen Union die Gemüther noch leidenschaftlich bewegt und erschüttert waren und die neue Ordnung der Dinge eine blutig-rothe Verschwörung zeitigte, sondern in einer

[543] Aera des tiefsten Friedens zwischen den Einzelstaaten und den großen Staatengruppen der Republik, in einer Aera des schönsten Gedeihens und der frischesten Entwickelung traf dieser schwere Schicksalsschlag ein Land und ein Volk, das unter der erst vor wenigen Monaten begonnenen neuen Administration den Segnungen einer weisen und gerechten Reformpolitik entgegensehen durfte. So bewahrheitet sich auch hier das Dichterwort: „Nicht Roß, nicht Reisige sichern die steile Höh’, wo Fürsten stehn“; denn Fürst in des Wortes eigentlicher Bedeutung ist auch der von einem ganzen Volke erwählte Präsident der Vereinigten Staaten.

Diesmal waren es weder Nihilisten noch Revolutionäre, weder politische noch religiöse Fanatiker, welche die Unthat planten und die Richtung der mörderischen Kugel bestimmten sondern die an Wahnsinn grenzende Sucht nach dem Glanze einer politischen Rolle, verbunden mit zügelloser Aemtergier, trieb einen physisch und moralisch verkommenen Verbrecher, Charles Jules Guiteau, dazu, den Präsidenten aus dem Wege zu räumen, um dem Vicepräsidenten Charles A. Arthur Platz zu machen, der jener Classe von amerikanischen Politikern angehört, die bei der Verleihung der öffentlichen Aemter dem verderblichen, die niedrigsten Leidenschaften erregende Beutesysteme huldigen.

Sie ist nicht klein, die Zahl der Anhänger dieser Partei, zu ihren einflußreichsten Vertretern aber – um hier gleich mitten in das Parteigetriebe hineinzuspringen – gehören der Ex-Präsident Grant und dessen intimster Freund, der frühere Bundessenator von New-York, Roscoe Conkling. Der eigentliche Gründer der Beutepolitik ist allerdings kein Anhänger der republikanischen Partei gewesen, die erst im Jahre 1858 in John C. Fremont, dem Durchforscher der Felsengebirge, ihren ersten Präsidentschafts-Candidaten aufstellte; es war vielmehr der von der demokratischen Partei zum Präsidenten der Union gewählte General Andrew Jackson, der schon im Jahre 1829 den bekannten Ausspruch that: „Dem Sieger gehört die Beute,“ und der damit den verhängnißvollen Grundsatz aufstellte, welcher, seitdem stets weiterwuchernd, tief in die staatlichen Körper der Union eingedrungen ist und trotz aller Bemühungen edeldenkender und hervorragender Staatsmänner bisher nicht daraus entfernt werden konnte.

Wir Deutsche können stolz darauf sein, daß der schärfste und schneidigste Gegner der demoralisirenden Aemterjägerpolitik ein Deutsch-Amerikaner ist, nämlich Karl Schurz. Schon in den siebenziger Jahren war er es, der im Bunde mit seinem edlen Freude, Charles Summer aus Massachusetts, im Bundessenate zu Washington-City die Grant-Administration wegen der selbstsüchtigen Benutzung der Beutepolitik angriff und eine neue auf einer mehr sittlichen Basis beruhende Parteibildung anstrebte. Schon damals trat Conkling als der Hauptrepräsentant der Grant-Politik auf und Schurz hatte heiße parlamentarische Kämpfe mit ihm zu bestehen. Im Anfang der siebenziger Jahre prophezeite unser scharfsichtiger Landsmann, es werde im Bundessenate das öffentliche Gewissen wiedererwachen, und eine sittliche Reaction werde eintreten gegen die leichtsinnige politische Moral und den Schachergeist, welcher emporgeschossen sei und sich entwickelt habe in den wilden Zeiten des Bürgerkrieges und großer politischer Aufregung. Bald, erklärte er, werde das amerikanische Volk sich mit Ernst und Entschlossenheit aufraffen, um sich eine ehrliche und lautere Regierung zu sichern.

Zwar ging diese Prophezeiung bei der Präsidentenwahl des Jahres 1872, wo Grant über seinen von Schurz unterstützten republikanischen Gegner Horace Greeley siegte, noch nicht in Erfüllung, aber vier Jahre später triumphirte der „Reform-Präsident“ Rutherford B. Hayes, welcher Schurz in Ansehung seiner Verdienste um die Union zum Minister des Innern ernannte. Wie umsichtig, erfolgreich und ehrlich unser Landsmann sein Ministerium verwaltete, wie er namentlich in seiner Politik den Indianern gegenüber die schönsten Erfolge erzielte, das ist selbst von seinen heftigsten Gegnern schließlich anerkannt worden.

Den Politikern aller Nationen dürfte der Ausspruch des Präsidenten Hayes zu empfehlen sein:

„Derjenige dient seiner Partei am besten, der seinem Vaterlande am besten dient.“

Wie aber Hayes über das Aemterwesen und die dabei befolgte Beutepolitik dachte, das geht aus seiner letzten Congreßbotschaft vom 8. December 1880 hervor; es heißt dort unter Anderem:

„In früheren Botschaften habe ich wiederholt auf die Nothwendigkeit der Civildienstreform aufmerksam gemacht. Ich bin darin durch meine Amtserfahrungen bestärkt und zu der Ueberzeugung gelangt, daß mit dem Wachsthum des Landes und seiner Bevölkerung bei der nothwendig vermehrten Anzahl der Beamten uns eine immer drohendere Gefahr erwächst. Eine feste Regel sollte für Anstellungen, Beförderungen und Absetzungen ausgestellt werden, um die beste Befähigung für jedes Amt möglichst zu sichern“

Der Präsident Hayes wies dann darauf hin, wie die bei der Vertheilung von gewissen Aemtern, z. B. bei Zoll- und Postämtern, vorgenommenen Prüfungen zufriedenstellende Resultate ergeben hätten, während früher solche und andere Aemter nur nach persönlicher Gunst oder Abneigung und für geleistete Parteidienste vergeben worden seien; auch bemerkte er, daß die öffentliche Meinung immer mehr und immer dringender eine Reform im Aemterwesen verlange.

„Es giebt kein größeres Hinderniß einer Verbesserung des Civildienstes,“ sagte er, „als das Beutesystem, unter dessen Heerschaft die Anstellungsgewalt in die Hände der Congreßmitglieder gefallen ist. Die verderbliche Lehre, daß dem Sieger die Beute gehöre, führt direct zur Congreßpatronage, während die Verfassung dem Präsidenten die Ernennung der Bundesbeamten und dem Bundessenate deren Bestätigung, dem Repräsentantenhause aber das Recht der Anklage im gegebenen Falle zusteht. Diese Bestimmungen sollten im Interesse des Gemeinwohls aufrecht erhalten werden.“

Als nun Präsident Garfield am 4. März 1881 sein hohes und schwieriges Amt antrat, erklärte auch er, in Uebereinstimmung mit seinem Amtsvorgänger Hayes, die Civildienstreform für eine der allerdringendsten staatsmännischen Pflichten, die nur in einem die Sache und nicht die Person in’s Auge fassenden harmonischen Zusammenwirken der Gesetzgebung und der Regierung erfüllt werden könne. Man müsse das Aemterwesen durch ein Gesetz regeln, nicht sowohl zum Schutze Derer, die mit dem Anstellungsrecht betraut seien, als vielmehr zum Schutze der ehrlichen und fähigen Inhaber von Staatsämtern gegen Intriguen und Unrecht.

Wie aber dem Präsidenten Hayes der Bundessenator Conkling und die übrigen Grant-Anhänger bei der Vertheilung der Bundesämter feindlich gegenüber traten, indem sie für ihre Parteifreunde, ohne Rücksicht auf deren Fähigkeit, Aemter verlangten, so geschah dies auch in der Executivsitzung des Senates, die unmittelbar auf die Inauguration Garfield’s folgte. Zumeist war der stolze und herrschsüchtige Conkling, der den Staat New-York mit seinem Collegen Platt im Bundessenate vertrat, gegen die Bestätigung des Herrn Robertson, eines politischen Gegners von Grant, dem Garfield das einträgliche und einflußreiche Amt eines Zollhauscollectors in der Stadt New-York übertragen hatte. Conkling gab sich zunächst alle erdenkliche Mühe, den Präsidenten zur Zurückziehung der betreffenden Ernennung zu drängen. Dies gelang ihm nicht. Darauf versuchte er vermittelst einer im republikanischen „Caucus“, das heißt in einer geheimen Parteiversammlung der republikanischen Senatoren, wo die Minderheit sich unbedingt der Mehrheit gegen besseres Wissen und Wollen fügen muß, durchgesetzte Geschäftsordnung die Erwägung von Robertson’s Amtsernennung zu hintertreiben. Aber auch dies war umsonst. Ebenso vergeblich waren Conkling’s Bemühungen, eine Mehrheit aller Senatoren, die Mitglieder der demokratischen Partei mit eingeschlossen, für die Verwerfung der in Rede stehenden Ernennung zu organisiren. Als nun der eitle Senator und Grant-Mann endlich erkannte, daß Garfield’s Einfluß zu mächtig, daß alle seine Kunstgriffe und Intriguen nichts helfen wollten und daß der Senat gewiß die Nomination Robertson’s in Erwägung ziehen und bestätigen würde, da reichte er seine Resignation als Bundessenator ein und begründete dieselbe in einem pomphaften, die wirkliche Sachlage auf den Kopf stellenden Briefe an den Gouverneur von New-York; sein ihm blind gehorsamer College Platt folgte seinem Beispiele. Die beiden Senatoren von New-York, Conkling und Platt, resignirten also nicht nach einem gerechten, aber unglücklichen Kampfe für ein das Wohl der amerikanischen Nation berührendes Gesetz, nicht wegen eines die internationalen Beziehungen der Union bestimmende Betruges, sondern wegen eines Zollhausamtes, wegen eines Beutestückes. Etwas Aehnliches hatte noch niemals zuvor ein amerikanischer Bundessenator gethan. Sicherlich war dies ein unwürdiges Schauspiel; es entflammte die bösen Leidenschaften der „Stalwarts“, das heißt der blinden, ämter- und herrschsüchtigen Grant-Anhänger, und zwar umsomehr; als Conkling sich [544] nach der schlecht motivirten Niederlegung seines Senatorenamtes nach der Stadt Albany begab, um bei der dort gerade tagenden Gesetzgebung des Staates New-York seine und seines Collegen Wiedererwählung, wenn auch wahrscheinlich umsonst, zu betreiben.

Als Conkling wegen der Zollcollectorsstelle den Kampf mit Garfield begann, da ließ er sich in seiner zornigen Wuth zu der Aeußerung hinreißen, er habe jetzt zwischen „Todtschlag“ und „Selbstmord“ zu wählen, und er wähle den „Todtschlag“. Das sollte vermutlich nichts Anderes bedeuten, als daß er entweder den Kampf um das New-Yorker Zollhaus aufnehmen und das Ansehen von Garfield’s Administration vernichten oder sich die Ernennung Robertson’s gefallen lassen und damit in seine eigene politische Vernichtung willigen müsse. Hätte Conkling die Ernennung Robertsons aus principiellen Gründen, aus Rücksichten auf den öffentlichen Dienst bekämpft, so hätte er sich ruhig im Bundessenate überstimmen lassen dürfen, ohne dadurch an Ansehen zu verlieren, aber der Beute wegen riskirte er den „Todtschlag“ von Garfield’s Administration oder seine eigene Vernichtung.

Die Reden und Handlungen Conkling’s wurden in allen Tagesblättern besprochen und verbreitet; man nahm gegen und für ihn Partei und selbst der Expräsident Grant trat wiederholt in Wort und Schrift für ihn ein. Unter solchen Umständen war es nicht zu verwundern, daß ein exaltirter und überspannter Kopf, daß Charles J. Guiteau, ein getäuschter Aemterjäger und enragirter Anhänger Grant’s, der sich in einem Briefe selbst als den „Stalwart der Stalwarts“ bezeichnete, den von Conkling figürlich gebrauchten Ausdruck „Todtschlag“ im wirklichen Sinne des Wortes verstand und Garfield, mit der Waffe in der Hand, aus dem Wege zu räumen suchte, um persönliche Rache zu kühlen und zugleich dem Beutesystem zum Siege zu verhelfen.

Seit dem Ausscheiden Conkling’s aus dem Bundessenate, wo er mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln die Garfield- Administration zu discreditiren und zu schwächen bemüht war, wurde in der amerikanischen Presse und in politischer Kreisen wiederholt die Ansicht laut, daß Conkling und Grant auf dem Punkte ständen, „sich an die Spitze einer neuen Partei zu stellen“; namentlich hatte Grant zu diesem Gerüchte durch verschiedene unüberlegte Aeußerungen Veranlassung gegeben. Daß der Ex-Präsident Grant, der ursprünglich der demokratischen Partei angehörte, nur so lange in der republikanischen einen ihm zusagenden Platz suchte und fand, als er hoffen durfte, von ihr wieder zum Präsidenten erwählt zu werden, und daß der Ex-Senator Conkling mit der republikanischen Partei sehr unzufrieden wurde, als dieselbe ihn nicht länger als „Boß“, das heißt als alleingebietenden, infallibeln Rathgeber und Leiter, anerkennen wollte, mag begreiflich sein; wenn aber diese beiden Männer es unternehmen wollten, in den Vereinigten Staaten eine neue, lebenskräftige Partei zu bilden, so würde dies doch schwerlich möglich sein. Zu der Bildung einer neuen Partei gehört, wie überall, so namentlich in Amerika, die Aufstellung, Begründung und Vertheidigung von Grundsätzen, die sich von denen der alten Parteien unterscheiden und um welche sich die Massen des Volkes zu einer neuer politischen Organisation schaaren können.

Welche Grundsätze würden nun von Grant und Conkling zu dem erwähnten Zwecke aufgestellt werden können? Die Finanzfrage ist in der Union in der Hauptsache in zufriedenstellender Weise gelöst worden, namentlich durch die unter Garfield’s Billigung vorgenommenen neuesten Finanzoperationen des Finanzministers Windom; auch dürften sich die genannten beiden Herren in Bezug auf die Finanzfrage am wenigsten von der republikanischen Partei trennen, ganz abgesehen davon, daß Conkling dieser Frage nie viel Interesse entgegengebracht hat. Auch in der so wichtigen und noch nicht gelösten Zoll- und Tariffrage nahmen Grant und Conkling keine Sonderstellung ein; noch während des letzten Präsidentenwahlkampfes waren beide entschiedene Schutzzöllner und wußten nichts Neues vorzubringen.

Eine Versöhnung mit dem Süden der Union auf freiheitlicher und nationaler Basis könnten sie ebenso wenig mit größerm Erfolge und besserm Willen in’s Werk setzen, als dies von Hayes geschah und von Garfield geschehen wird. Oder sollte es möglich sein, daß sie die Monopolfrage und die Verwaltungsreform bei der projectirten Bildung einer neuen Partei als Aushängeschild nehmen würden? Es würde doch sicherlich nur wie ein schlechter Scherz aussehen, wenn General Grant, der kühne Eisenbahn- und Canalbau-Unternehmer, und Herr Conkling, der in mehreren Fällen der Anwalt der größten Monopolisten der Vereinigten Staaten gewesen und im Bundessenate Gesetzen opponirt hat, welche gegen die gemeinschädlichen Anmaßungen des Monopolwesens gerichtet waren, sich nun plötzlich als die großen uneigennützigen Anti-Monopol-Führer aufspielen wollten.

Noch wunderbarer und als eine Selbstironie müßte es aber erscheinen, wenn General Grant, der als Präsident die corrupteste Administration geführt, und Herr Conkling, der ihm getreulich und nach Kräften hierin beigestanden hat, sich an die Spitze einer Reformbewegung zu stellen versuchten. Darauf hin aber, daß Grant und Conkling sich von dem Präsidenten Garfield beleidigt und zurückgesetzt fühlen, kann eine gefährliche Spaltung oder gar eine Revolution in der republikanischen Partei doch wohl kaum durchgeführt werden. Andererseits ist es vielleicht nicht zu leugnen, ja sogar wünschenswerth, daß in dem bisherigen Parteiwesen der Vereinigten Staaten ein Umschwung stattfindet. Das allmähliche Verschwinden der großen principiellen Streitfrage, welche die alten politischen Parteien in’s Leben rief, würde jetzt möglicher Weise eine Neubildung der Parteien leichter erscheinen lassen, aber die persönlichen Beschwerden eines Grant und eines Conkling sind gewiß nicht hinreichend, einen genügenden Anstoß dazu zu geben. Am allerwenigsten ist dies unter den gegenwärtigen Verhältnissen der Fall, wo das ruchlose Attentat auf Garfield diesem die vollste Sympathie des weitaus größten und besten Theiles des amerikanischen Volkes sichert.

Man ist sich in Amerika sehr wohl bewußt, wo die eigentliche Ursache des Verbrechers vom Juli dieses Jahres zu suchen ist; so sagte z. B. die weitverbreitete „New-York-Tribune“ kürzlich:

„Präsident Lincoln wurde nicht von der Rebellion gemordet, aber von dem Geiste, welcher der Rebellion Leben und Kraft gab. Präsident Garfield ist nicht durch eine politische Partei, aber durch den Geist, den eine politische Fraction erzeugt und groß gezogen hat, auf den Tod verwundet worden. Ohne diesen Fractionsgeist wäre kaum ein Mensch in der ganzen Union sicherer vor einem mörderischer Angriffe gewesen, als Garfield. Haben die betreffenden Parteiführer jemals all das Unglück beabsichtigt, welches aus dem wilden, rücksichtslosen Geiste hervorwächst, den sie schaffen und Woche für Woche aufstacheln? Ist es nicht ihr beständiges Vergehen gegen die Freiheit und die Selbstregierung, daß sie einen solchen Geist entzünden und dadurch schwache oder rücksichtslose Menschen über die Grenze von Recht und Vernunft hinaustreiben? Der Mörder Guiteau war sich wohl bewußt, daß er einen Präsidenten tödten und einen neuen schaffen wollte. Seine Sprache und seine Briefe beweisen nur zu sehr, daß er recht gut wußte, was er that.“

Und in ähnlichem Sinne äußerte sich die einflußreiche „New-York-Times“:

„Präsident Garfield brachte zu dem höchsten Amte der Union Gaben des Geistes und des Charakters mit, welche das Amt ehrten, und schon im Anfange seiner Administration wird sein Leben von einem Elenden angetastet, der genau so das Böse in unserem Regierungssystem repräsentiert, wie Garfield das Gute. Der Mörder war ein enttäuschter Aemterjäger, und er verband die Verbitterung persönlicher Enttäuschung mit der leidenschaftlichen Gehässigkeit des Parteicliquenwesens. Sein Geist war durch die Angriffe auf den Präsidenten, die in manchen Kreisen nur allzu sehr all der Tagesordnung waren, aufgereizt. Gewiß, wir wollen keine Partei für die Mordthat verantwortlich machen, aber wir halten es für unsere Pflicht, anzudeuten, daß die That ein übertriebener Ausdruck eines Gefühls voll engherzigem und bitterem Hasse war.“

Hoffentlich wird Präsident Garfield seinem Lande und seinem Volke erhalten bleiben. Die einzig gute Frucht aber, welche der Mordthat Guiteau’s entwachsen könnte, wäre die so oft und so heiß von allen guten Bürgern der Union ersehnte gründliche Reform im Civildienste, eine vollständige Abschaffung des entsittlichenden Beutesystems. Demoralisation ist die gefährlichste Klippe jedes Staatswesens, namentlich aber der Republik, und das Wort des Dichters gilt nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern auch für den Staat:

„Und allein durch seine Sitte
Kann er frei und mächtig sein.“

Rudolf Doehn.
[545]

Die Glasmalerei – eine deutsche Erfindung.

„Wie einer, der da blickt
Durchs Fenster, so gemalt,
Vom Glanze wird entzückt,
Der ihm entgegenstrahlt,
so ist mein Herz erfüllt
von Süßigkeit, o Frau,
Wenn blendend ich dein Bild
In voller Schönheit schau.“

     „Troubadour“ Peire Vidal.

Die altbaierische Benedictiner-Abtei Tegernsee, nach ihrer Säcularisirung 1803 in den Besitz der baierischen Dynastie übergegangen und in eine königliche Residenz umgewandelt, gehörte zu den berühmtesten mittelalterlichen Pflegstätten für Kunst, Wissenschaft und jede Art Cuturleben. In der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts in reizender Lage am See begründet und mit Sanct-Galler Mönchen besiedelt, gelangte die Abtei rasch zu fürstlichem Besitz, erfuhr zwar um 918 durch Herzog Arnulf völlige Aufhebung, nahm aber seit dem Jahre 979, durch Kaiser Otto den Zweiten von St. Emeran in Regensburg aus neu aufgerichtet, sofort einen außerordentlichen Aufschwung. Im zwölften Jahrhundert waren die Aebte Reichsfürsten mit großem Hofstaat und dem Recht, die bischöfliche Mitra zu tragen. Ein Freiheitenbrief Friedrich Barbarossa’s von 1183 zählt neunzehn von Tegernsee abhängige Kirchen auf; über 11,000 Höfe bestritten den Unterhalt der Conventualen. 1012 zählte man schon zweihundert gebildeter Mönche. Das Schulwesen entwickelte sich glänzend; stattlich wuchs die Bibliothek – im Jahre 1573 schaffte Abt Quirin eine eigene Druckerei an. Schönschreibekunst, Malerei, Baukunst, Erz- und Glockengießerei und andere Kunstzweige entfalteten sich zu stolzer Blüthe; Dichter- und Künstlernamen: Froumund, die beiden Werinher, von denen der ältere ein Allerweltskünstler, der zweite im zwölften Jahrhundert zugleich Gelehrter, Dichter, Kartenzeichner und Begründer eines botanischen Gartens war, ferner Metellus, der Dichter der „Quirnalia“, und Andere, gehen wie glänzende Sterne am Himmel von Tegernsee auf.

Uns interessirt hier besonders eine der Künste, welche in der Abtei ihr Heim hatte: die Glasmalerei.

Gedenkfenster in der Stiftskirche zu Tegernsee.
(Graf Arnold von Vohburg, Erfinder der Glas-Emailmalerei.)

Am 28. September 1879 beging das altberühmte Tegernsee ein glänzendes Fest: die neunhundertjährige Jubelfeier der ältesten Anstalt für Glasmalerei, die in Deutschland begründet wurde. König Albert von Sachsen, Herzog Theodor von Baiern mit seiner anmuthigen und kunstverständigen Gattin, der Prinzessin Josepha von Braganza, auch der Münchener Erzbischof waren zugegen. Vier Gedenkfenster, Graf Arnold von Vogaburg oder Vohburg, Abt Gozbert von Tegernsee, ferner Froumund und den älteren Werinher in Glasmalerei darstellend, wurden in den sich gegenüberstehenden Capellen der Stiftskirche eingesetzt, und Professor Sepp aus München, der Veranstalter und Mitstifter, hielt die Festrede. Die darauf folgende Festtafel, durch Gedichte und Reden belebt, bot als ganz besondern Schmaus einen wie für diese Gelegenheit eigens aus der Weissach aufgetauchten zweiundzwanzigpfündigen Silberlachs von vier Fuß Länge, und ein kühner Einfall Professor Sepp’s, im Namen der vier alten in Glas verherrlichten Herren die Pathenschaft über die nächstkünftigen vier Söhne Tegernsees zu übernehmen, traf mit der seltsamen Fügung zusammen, daß schon bis zum dritten Tage ein Gozbert, Werner und Froumund das Licht der Welt erblickten.

Diese historische Feier, von welcher nur Altbaiern, nicht das große Deutschland Notiz genommen, war gleichwohl eine recht nationale; denn die Thatsache, daß die Glasmalerei eine deutsche Erfindung, hatte vor Professor Sepp keinen eigentlich sieghaften Verteidiger gefunden.[3] Wenn auch die Entscheidung in der Sache urkundlich nicht über jede Anfechtbarkeit erhaben ist, so erscheint Sepp’s Ansicht doch in einer Weise gestützt, wie keine der entgegenstehenden, und darum werth, daß an dieser Stelle Notiz von ihr genommen wird. Sie kehrt ihre Spitze der Hauptsache nach gegen französische Ansprüche. Wie von dieser Seite her 1840 das vierte Säcularfest der Erfindung der Buchdruckerkunst für das „französische“ Straßburg reclamirt wurde, welches Ansinnens sich Mainz seiner Zeit mit Glück erwehrt hat, so kämpft hier ein Altbaier für die Ehre Deutschlands und seiner engeren Heimath namentlich gegen des berühmten und verdienstvollen Grafen Lasteyrie de Saillant „Geschichte der Glasmalerei nach französischen Denkmälern“ (Paris 1857), ein von der Akademie, welcher der Graf angehörte, preisgekröntes Prachtwerk, sowie gegen eine Reihe anderer Kunstforscher Frankreichs.

Die eigentliche Glasmalerei, wie der Begriff heute verstanden wird, hat zwei Vorstufen, welche in keiner Weise mit ihr verwechselt werden dürfen. Zuvörderst kommt die Glasmosaik in Betracht, die durch Zusammenstellung farbiger Gläser erzielt wurde. Buntglas ergiebt sich in der Schmelze von selbst; das reine weiße lernte man erst nach und nach erzielen – und es kam zu theuer. Schon der altchristliche Dichter Prudentius (gestorben 413) gedenkt der mit mehrfarbigen Scheiben gefüllten Bogenfenster in der Basilika des heiligen Paulus in Rom. Sanct Peter erhielt erst bei der Krönung Karl’s des Großen seinen Gläserschmuck; danach ließ Papst Leo der Dritte die Fenster der Apsis im Lateran mit Glas von verschiedenen Farben verschließen. Der Sophien-Dom empfing das Licht durch farbige Fenstergläser bereits 534, und in Paris stattete der Merowinger Childebert um dieselbe Zeit zuerst eine Kirche mit diesem Reichthume aus. Auch die kunstliebenden Chalifen verwandten Glasmosaik in ihren Moscheen; wenn der weltbekannte Geograph Karl Ritter schreibt: „Gemalte Glasscheiben bilden die Fenster im Grabdom Mohammed’s zu Medina“, so ist das ungenau gesagt, es sollte „farbige Gläser“ heißen.

Die zweite Phase stellt sich als wirkliche Bemalung der Fenster dar. Und hier liegt der Punkt, wo mangelhaftle Deutung alter Nachrichten die Franzosen zu unberechtigten Ansprüchen verleitet. Die Nachricht, daß bereits Heribald, der frühere Caplan

  1. Bueb wird jedes unverheiratete männliche Wesen ohne Unterschied des Alters genannt.
  2. Haglmoor gleich Haglmajor, der im kleinen Hag der Größte, Beste ist.
  3. Vergleiche dessen lehrreiche „Festschrift zur Stiftung der Gedächtnißfenster am Orte der Erfindung der Glasmalerei, zu Tegernsee.“ München und Leipzig 1878. (Verlag von G. Hirth.)

[546] Karl’s des Dicken, nachmals seine Kathedrale zu Auxerre „mit Glasfenstern und schönen Malereien restaurirt“ habe, redet freilich nicht einmal von Glasbemalungen, geschweige denn von Glasmalerei im modernen Sinne. Nicht besser gehört hierher, und wiederum nicht nach französischer Auslegung in das Capitel „Glasmalerei“, die Meldung des Mönches Ratpert von St. Gallen an seinen gelehrten Mitbruder Notker in dichterischer Schilderung der Einweihung des Frauenmünsters zu Zürich, welches Münster Ludwig der Deutsche 853 für seine Töchter Hildegarde und Bertha, als erste Äbtissinen, gestiftet hatte: „Bertha malte die Fensterfläche mit Pigmentfarben, dazu den Plafond“ etc. Wie man sieht, ist hier von Fensterbemalung die Rede; die Zusammenstellung der Farbenzier von Fenstern und Plafond läßt an kein Einbrennen der Farben denken.

Auch die Darstellungen aus dem Leben der heiligen Paschasia, welche zur Verwunderung des Chronisten von St. Bénigne zu Dijon sich bis 1052 erhalten hatten, können der angestaunten Erhaltung willen nicht dauerhaft eingebrannt, sondern müssen aufgemalt gewesen sein. Es handelt sich um Harzmalerei mit aufgetragenen Kopal-, Bernsteinlack- oder sonstigen Gummifarben, wie sie schon in Pompeji vorkommt, den Byzantinern jedoch unbekannt blieb. Die mangelhafte Dauer dieser Malerei lernte man durch Anwendung von Zinksilicaten zur Aufleimung der Farben erhöhen. Auch Oelfarben verwandte man, indem man sie durch ein zweites schützendes Glas deckte, bis sich zuletzt Borax vorübergehend den Malern als Flußmittel zum Löthen oder zur Bereitung von Metallfarben und feinen Glasflüssen empfahl. Man bediente sich noch lange nach Erfindung der eigentlichen Glasmalerei, welche als Geheimnis bewahrt wurde und deshalb bei quantitativ geringer Leistung verblieb, der älteren Technik des Farbenauftrags, auch mit Rücksicht auf ihre Billigkeit.

Die dritte, vollkommenste Art ist nun die Kunst, Buntmalerei in Glas zu schmelzen, oder eigentliche Glasmalerei, und hierfür ist Tegernsee die erste blühende Anstalt. Erfinder oder wenigstens Begründer der Kunst ist, in Verbindung mit Abt Gozbert von Tegernsee, des letztern Jugendfreund Graf Arnold von Vohburg.

Die Stiftungsurkunde der Kunst, wenn man so sagen will, bildet ein noch erhaltenes lateinisches Schreiben des Abtes Gozbert, der von 983 bis 1001 regierte, an den Grafen Arnold, das in deutscher Uebersetzung lautet: „Ihr habt unseren Ort mit Werken von solchen Ehren in die Höhe gebracht, dergleichen weder vorige Zeiten kannten, noch wir je besitzen zu sollen ahnten. Die Fenster unserer Kirche waren bisher mit alten Tüchern verschlossen. In Euren glücklichen Zeiten wirft die goldhaarige Sonne zum ersten Male durch buntfarbige Glasgemälde (auricomus Sol Primus infulsit per discoloria pictuarum vitra) ihren Schimmer auf die Platten unserer Basilika. Die Herzen aller Beschauer durchzucken tausendfältige Freuden, wenn sie die Mannigfaltigkeit der ungewohnten Kunstarbeit anstaunen. Oder wo in aller Welt umher ist eine Stätte mit solchem Schmuck geziert? Euer Name soll dafür im Gebete bei Tag und Nacht celebrirt werden, und damit auch die Namen aller Eurer nächsten Verwandten zum Gedächtniß verzeichnet werden, wollet sie, auf Pergament eingetragen, durch gegenwärtigen Boten uns zukommen lassen. Wir stellen noch Eurer Ueberlegung anheim, jene Jünger zu erproben, ob sie in dieser Arbeit genügend unterrichtet sind, wie es für Euch ehrenvoll, für uns nöthig ist, oder, wenn ich einen Mangel bei ihnen entdecke, so sei es erlaubt, sie zur besseren Ausbildung Euch zurückzuschicken.“

Es ergiebt sich aus dieser Urkunde, daß, mag die Erfindung von Graf Arnold selbst, wie Sepp will, oder von jemand in seiner Nähe gemacht worden sein, durch den dafür interessirten Grafen jedenfalls Tegernseer Klosterzöglinge mit der Technik vertraut gemacht wurden, zum Zweck der Entwickelung der neuen Kunstübung in Tegernsee selbst. Graf Arnold oder Arnolf der Zweite, der Gemahl einer Adelheid, Tochter des Markgrafen Perthold von Ammerthal, und Bruder jenes Poppo, welcher nach Wiederaufrichtung der zuvor bis zu völliger Auflösung heruntergekommenen Abtei deren erster Schirmvogt wurde, muß nach Sepp’s Ausführungen Jugendfreund und einstiger Gutsnachbar Gozbert’s gewesen sein, indem Letzterer als geborener Graf von Kelheim und Essing an der Altmühl vorkommt. Eine weitere Beziehung der Beiden zu einander ergiebt sich aus der Thatsache, daß Arnold in einer Urkunde de St. Emerano der Schirmvogt von Münchsmünster bei Weltenburg heißt, Gozbert aber von St. Emeran zu Regensburg aus als Abt nach Tegernsee berufen worden ist.

Nun erkundigt sich Gozbert noch um den Tod der edlen Adelheid, um deren Gedächtniß kirchlich zu begehen. Alle dachten bisher an die Kaiserin, Wittwe Otto’s des Ersten, welche im December 999 zu Selz im Elsaß starb. Im Laufe des Federkrieges erklärt sie aber Sepp für die obige Gemahlin Arnold’s, und gewinnt damit einen neuen Beweis für den gräflichen Stifter von Vohburg. Noch mehr! Ihr Tod und folglich die Fensterstiftung und Begründung der Glasmalerei kann füglich ein Jahrzehnt vor 999 fallen.

Viollet le Duc[1] reiste von Paris eigens nach Tegernsee, um die neunhundertjährigen Wiegenbilder der Kunst zu sehen. Doch die ersten Tegernseer Fenster gingen schon 1035 beim Kirchen- und Klosterbrande zu Grunde, und Werinher ward 1068 mit der Herstellung von fünf neuen beauftragt. Aber eine andere Erstlingsarbeit der jungen Kunst ist uns erhalten: Im Dome zu Augsburg, der 996 in Angriff genommen wurde, blicken noch heute über der östlichen Hochwand, statuarisch gehalten, aus fünf Fenstern Moses, David, Hosea, Daniel und Jonas ernst und streng hernieder, in einer Haltung und Ausstattung, welche für die Kunstforschung auf die Zeit Heinrichs des Zweiten, 1002 bis 1024, hinweisen; die übrigen dreizehn – mit Hinzunahme der Ostwand – fehlenden Figuren scheinen früh zu Grunde gegangen zu sein. Hier haben wir die Incunabeln der Glasmalerei, die ältesten erhaltenen Tegernseer Producte, wenn auch nicht zweifellos, so doch so gut wie sicher vor uns.

Daß die neue Kunst nicht fertig wie vom Himmel fiel, leuchtet Jedem ein, der die Schwierigkeit des ganzen Verfahrens kennt. Nur nach vielem Probiren konnte ein befriedigendes Resultat erreicht worden sein. Die ältesten Glasbilder waren allerdings in Holzschnittmanier ausgeführt und einfach mit scharfen Contouren umrissen. Aber schon die Bereitung des Glases erforderte Vorsicht: denn Natronglas verwittert leicht; nur Kaliglas bürgt für die Dauer. Und nun erst die chemischen Versuche mit der Farbenbereitung! Metalloxyde verbinden sich mit Kieselerde zu Silicaten, die durch Lösung in der Glasmasse ihr die Färbung mittheilen. Man verwandte anfangs in der Fritte gefärbtes oder massives Hüttenglas, zeichnete Umriß und Schattirung mit Schwarzloth und schliff Partien heraus, um Sternchen, Gewänder und allerlei Muster von mehr oder minder satter Farbe zu gewinnen. Die Hauptsache aber war, den Focus oder die Farbenstrahlung, die Tragweite jeder einzelnen Farbe, zu ermessen; damit die grellen die minder hellen Farben nicht ausstachen, mußte z. B. die Fleischfarbe eingeschränkt werden. Weitaus beherrscht, wie Sepp ausführt, die blaue Glasfarbe die Nachbarfarben, sodaß das Roth violett, Weiß bläulich erscheint, während Gelb und Weiß trennend und Roth auf beiden Seiten schwarz wirken. Die richtige Farbenzusammenstellung, sei es Isolirung mittelst Randstreifens, ist die Hauptsache. Dunkel auf Hell wirkt weniger als Hell auf Dunkel; so ist dieselbe Inschrift schwarz auf weiß zehn Meter weit leserlich, weiß auf schwarz dagegen fünfzehn. Ein schwarzer Flügel auf gelbem Grunde muß um ein Zehntel größer als ein gelber auf schwarzem Grunde sein, wenn er ebenso groß wie letzterer aussehen soll. Aus der Rücksicht auf die Wirkung erklären sich die durchweg zu klein gezeichneten Hände, die Auflösung des Weiß in Perlenketten, die Brechung des Roth durch schwarze Schraffirungen und so manche eigenthümliche Erscheinung der alten Glasbildnerkunst. Uebrigens bedienten sich die Alten des Bleiflusses zum Auftragen und Einschmelzen von Metallfarben; ihr Schwarzloth ist eben Kupferoxyd mit Bleifluß versetzt. Die metallischen Farben jener früheren Zeit sind tiefer, kräftiger und körperhafter, die Atome mehr krystallinisch gefügt, als bei den neueren; die Lichtstrahlen oscilliren im Inneren des Glases. Gerade die mangelhafte Ausscheidung der Eisentheile gab den alten Fenstern ihren gesättigten Ton. Außer der schwierigen optischen Frage hatten die ersten Künstler die Wirkung des Brennens auf die verschiedenen Farben zu erproben: Welche änderte sich sofort? Welches Blau wurde allmählich schwarz? Und Alles; Zeichnung, Zuschnitt, Malen, Brennen – die ganze Bereitung lag dem einzigen Künstler ob!

[547] Aber die ganze Erfindung muß als solche auch geschichtlich vorbereitet sein. Sepp giebt in dieser Beziehung zwei Fingerzeige. Er macht einen kühnen Griff, indem er auf eine Notiz in des alten Philostratus „Bildern“ verweist: „Die im Ocean lebenden Barbaren gießen die Farbe auf erhitzte Bronze (zum Pferdegeschirr), sofort haftet sie daran, verhärtet wie Stein und bewahrt die erhaltene Form.“ Es ist von der Insel Britannien die Rede. Septimius Severus hatte zur Berwunderung Roms aus Caledonien Proben einer gar nicht barbarischen Kunst, Schmelzornamente auf Bronze mitgebracht: da sah man Schilde mit edelsteinartigem, farbigem Email, glasemaillirte Schwertscheiden, Beschläge und Scheiben.

Gregor der Große schickte den Angelsachsen den Glaubensboten Augustinus; empfing er vielleicht auf diesem Wege die emaillirten Schmuckwerke und das Gefäßzeug, welche er der baierischen Fürstentochter und Longobardenkönigin Theodelinde überwies? Jedenfalls mußte das transparente Glasemail aus Metall schließlich auf die Glasmalerei führen. Nun aber waren die Glaubensboten der deutschen und nordschweizer Alpen und Baierns, die Gallus und Columban, Alto und St. Alban, Kilian und Sola und wie sie heißen fast alle von den britischen Inseln gekommen.

Und in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts traten die Schottenklöster hinzu, die sich rasch ausbreiteten. Sollte nicht durch diese Beziehungen etwas von der Kunstfertigkeit des Insellandes mit in das baierische Klosterwesen gekommen sein und etwa über St. Gallen, wie Professor Lübke will, oder St. Emeran, wie wir mit Professor Sepp vorzögen, die Entwickelung der Emaillirkunst zur Begründung der Tegernseer Glasmalerei geführt haben? – Ein anderer Weg wäre etwa von der gleichzeitigen griechischen Cultur her denkbar, welche jene sehr entwickelte Buntglastechnik bewahrt hatte, von der die pompejanische Sammlung und die Katakombenfunde schon sehr fortgeschrittene Proben zeigen: Bilder auf Dickglas gemalt und mit Gold und subtilerem Glase überzogen. Goldene und über der Vergoldung wieder verglaste Perlen und Edelsteintropfen fertigten nach Fronmund auch die Tegernseer Herren. Mit solchen Versuchen konnte man wohl auf das Einbrennen von Gemälden aus Glas in Farbenfluß kommen. Aus Griechenland hatte schon Otto der Erste buntgearbeitete Glasgefäße empfangen, und Otto der Zweite, der Wiederaufrichter von Tegernsee, war Gemahl der byzantinischen Prinzessin Theophania.

Doch kehren wir zu der jungen Tegernseer Anstalt zurück, die, kaum gegründet, schnelle Fortschritte machte! Der erstgenannte Glasmaler ist hier der ältere Werinher. Was die beiden in Tegernsee errichteten Glashütten betrifft, so lud der feinkörnige Quarzsand, den die Weissach absetzt, zur Anlage der bekannten Glashütte bei Kreut ein, wo man noch farbige Glasstücke auf der Halde findet. Aelter aber scheint die Glashütte in Winssee, dem Kloster gegenüber, nun beim Bauer „in der Au“ geheißen. Hierzu kommt noch ein Glashüttenberg auf der anderen Bergseite am Sulforstein oder Längrieß. Das Bemalen der Scheiben und das Einbrennen der Farben im Brennofen wurde jedenfalls im Klosterbezirk selbst vorgenommen. Bald trafen die Bestellungen so zahlreich ein, daß der Bedarf nicht gedeckt werden konnte und Entschuldigungen aushelfen mußten.

Das Geheimniß, wenn auch in den Künstlerkreisen bewahrt, blieb nicht lange ausschließlich an Tegernsee haften. Nach 1029 finden wir einen ehemaligen Tegernseer, den Taufpathen des St. Gotthard-Passes, als Bischof Gotthard auf dem Stuhle von Hildesheim, und dieser überaus geistvolle und kunstsinnige Mann hatte Glaskünstler aus Tegernsee um sich. So wanderte die neue Kunst durch die Mönche der altbaierischen Abtei nach Norddeutschland, Schwaben und Niederösterreich, und an der Wende des elften zum zwölften Jahrhundert legte der „Priester Theophilus“ – ein Pseudonym für den Mönch Roger Rutkerus oder Rüdiger – das Geheimniß der Technik in der Reichsabtei Helmarshausen an der fränkischen Nordgrenze urkundlich nieder.

Es würde zu weit führen, die Entwickelung dieser Kunst hier im Einzelnen zu verfolgen: den gewaltigen technischen Fortschritt durch die Wiederentdeckung Ueberfangglases im dreizehnten Jahrhundert, wodurch man zwei Farben über einander anbringen lernte, deren eine man ausschleifen konnte , die mächtige Förderung derselben durch die Gothik, ihre Fortschritte in künstlerischer Beziehung, Hand in Hand mit der Malerei, ihre Ueberleitung von der monumentalen zur Cabinetsmalerei, bis zum endlichen Verfall, ja bis zum völligen Verschwinden jeder Kenntniß von der alten Technik des Glasmalens. Nur als Curiosum möge erwähnt sein, daß ein Ulmer Griesinger, welcher als Kriegsknecht nach Italien kam, dort Laienbruder bei den Dominikanern von Bologna wurde und die Glasmalerei nach Italien verpflanzte, dafür als Jacobus Alemannus oder da Ulmo nach seinem Tode 1491 selig gesprochen und Patron der Glasmaler wurde.

Der letzte Name in der Reihe der Glasmaler aus der alten Schule ist derjenige des Baselers Wannenwetsch, dessen Familie zweihundert Jahre vor ihm aus Eßlingen eingewandert war. Eine Nachricht über ihn aus dem Jahre 1765 besagt: „Es hat diese Kunst (die Glasmalerei) nach und nach abgenommen, sodaß man keine gewisse Zeit bestimmen kann, als ungefähr zu Ende des siebenzehnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Vor etwa dreißig Jahren ist der Letzte allhier, ein Bürger der Stadt, Wannenwetsch, verstorben, welcher noch einige kleine Sachen artig auf Glas gemalt und eingebrannt hat (die Thurneiserischen Fenster). Aber seine Farben waren gegen die alten wie todt und verdorben, und wurde die Kunst schon zu seiner Zeit für verloren gehalten, nämlich in Ansehung ihrer Vollkommenheit.“

Bis zu dieser Zeit hatten sich auch die aufgestapelten Schätze der Glasmalerkunst sehr erheblich gelichtet. Der Puritanismus und die Bilderstürmerei der Reformationszeit Kriege und Revolutionen, die Zerstörungswuth der Elemente, endlich die Nüchternheit der Aufklärungsperiode, welcher die Glasgemälde nur als widerwärtige Hemmnisse für das Eindringen des Tageslichts galten, hatten das Ihrige dazu beigetragen.

Die moderne Glasmalerei beruht aus einer praktischen Wiederentdeckung der verlorenen Kunst, welche mit dem Anfang dieses Jahrhunderts zusammenfällt. Ein Dosenlackirer in Nürnberg, Siegmund Frank, traf im Laden eines Glasers mit einem Engländer zusammen, der um Scherben alter Glasgemälde feilschte und die Aeußerung that: der könne sich ein großes Verdienst erwerben, der die einst so hoch entwickelte Kunst der Glasmalerei wieder in’s Leben riefe. Frank griff den Gedanken mit Energie auf und kam über die Porzellanmalerei zum Ziele. Ein Wappenbild, das er 1800 fertig hatte, war die erste Probe, und der nachmalige Premier Wallerstein gründete auf seinem Stammgute gleichen Namens die erste Anstalt für Frank, bis der baierische Hof diesen an sich zog und die Utzschneider’sche Glashütte im aufgehobenen Kloster Benedictbeuren, sieben Stunden von Tegernsee, als Arbeitsstätte Frank’s und seines jungen Gehülfen Ainmüller, die eigentliche Wiege der wiederentdeckten Kunst ward. Als 1845 die Gebäude für eine Anstalt in München fertig waren, übernahm Ainmüller dort das Institut, welches 1876 zum Fortbildungsinstitut für das Kunstgewerbe erweitert wurde. Eine Reaction gegen die malerische Richtung Münchens ging von England aus, wo man mit Erfolg zu der Technik der Alten umlenkte, und das farbensatte, dicke und wellige Kathedralglas der Engländer ohne zu viel Tafelmalerei hat sich heute auch bis München hin Bahn gebrochen.

Jetzt dürfte die schöne Kunst dauernd unverloren bleiben, und Baiern mag stolz darauf sein, dieselbe zwei Mal der Welt geschenkt zu haben.




Nihilismus und russische Dichtung.
Studien von Wilhelm Goldbaum.
2. Alexander Puschkin.

In die Weltpolitik ist Rußland durch Peter den Großen, in die Weltliteratur durch Alexander Puschkin eingeführt worden. Beiden ward dieses Verdienst lange genug nicht blos in Rußland selbst, sondern auch außerhalb der russischen Grenzen nach Gebühr angerechnet, aber Beiden wird es in der Gegenwart von undankbaren Nachkommen verkleinert, welche in ihrer Verwilderung und Einseitigkeit weder für das Genie auf dem Thron noch für dasjenige in der Dichtung ein Verständniß haben. Daß Peter der

[548] Große die Cultur des Westens nach Rußland verpflanzte, beklagen die bornirten Stockrussen, welche die Wiederherstellung des asiatischen Czarenthums und die Erneuerung der Residenz in Moskau ersehnen; daß Alexander Puschkin sich an fremde Vorbilder, an Lord Byron und Walter Scott, anlehnte, verdammen die Nihilisten, deren dreistester literarischer Wortführer, der halbverkommene Pisarew, den traurigen Muth besaß, den „kleinen lieben Puschkin“ einen „leichtsinnigen Versemacher“, einen „kolossal unentwickelten Menschen“ zu nennen.

In einem seiner Gedichte hat Puschkin, dichterischen Selbstbewußtseins voll, der Zukunft seinen Ruhm übermacht; er sang:

„Und lange wird mein Volk sich liebend mein erinnern,
Weil ich es oft erfreut durch meines Sanges Macht,
Für alles Gute Sinn erweckt in seinem Innern
Und den Gefall’nen Trost gebracht.“

Und im verflossenen Jahre haben sie ihm in Moskau in der That ein Denkmal gesetzt, aber es ist blos von Stein. In dem Herzen der heutigen russischen Jugend hat Puschkin keine Stelle; da wühlt der Nihilismus mit seinen Krallen und vernichtet alle Poesie, alle Empfindsamkeit, alle Pietät. Nur die Alten hegen noch Puschkin’s Andenken, und sie wissen auch noch, was er um die Freiheit gelitten. Er war kein Revolutionär, aber als echter Poet stand er auf der Seite des Volkes und verteidigte dessen gerechte Sache dem Czarenthum gegenüber. Dafür ward er verbannt, dafür von der aristokratischen Gesellschaft Petersburgs gepeinigt, bis er blutdürstend sich einem Gegner zum Zweikampfe stellte und jung an Jahren sein Leben verlor. Ihn mit dem Nihilismus in eine Beziehung zu bringen, könnte gewagt erscheinen; dennoch muß er als ein Vorläufer desselben gelten; denn in seiner Seele keimten bereits die Gedanken, welche allmählich zu dem ungeheuren Mißvergnügen anwuchsen, das heute Rußland untergräbt; in seinen Gedichten lebten bereits die Urbilder jener blasirten, todesverachtenden Generation, die, unselig fortschreitend, zur Armee des Nihilismus sich entwickelte. Der Dichter ist ein Seher.

Die seltsamsten Widersprüche waren in Puschkin’s Charakter vereinigt. Er jagte nicht nach der Gunst der Großen, aber auf seinen Adel war er fast in possenhafter Weise stolz; daß er mütterlicherseits von den spanischen Grafen Lerma abstamme, hätte ihm nur bestreiten dürfen, wer ihn beleidigen wollte. Daß ein Puschkin das Manifest, welches die Erhebung der Romanows auf den Czarenthron verkündete, mit einem Kreuze unterzeichnet hatte, erzählte er leuchtenden Auges, so oft sich nur in den Petersburger Salons Gelegenheit dazu bot. Sein Urahn Hannibal aber, ein Mohr, welchen Peter der Große ausbilden ließ und in der Folge zum General ernannte, war ihm allezeit ein Gegenstand kindischer Erinnerungsfreude; die Sehnsucht zog ihn immerdar nach Afrika, dem Mohrenlande, dessen Sonne das Blut seiner Vorfahren gekocht hatte.

Seine Natur beherbergte noch andere Räthsel. Er hatte auf dem Lyceum in Zarskoje-Selo wenig gelernt, so wenig, daß der berühmte polnische Dichter Adam Mickiewicz, der ihm in einer Petersburger Gesellschaft begegnete, über seine Unwissenheit nicht genug staunen konnte. Nachdem er aber zum Hofhistoriographen ernannt worden war, entwickelte er als Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber eine Thätigkeit, um die ihn ergraute Historiker offen beneideten. Er besaß nicht blos die Gewohnheiten, sondern auch die Bedürfnisse eines Cavaliers; er spielte hoch, ritt, focht und machte mit seinem Aeußeren Staat, obgleich er nicht gerade von imposanter Figur war. Als er bereits in ganz Rußland wie ein Heiliger verehrt wurde, vermochte er den Dämon des Spiels noch immer nicht von sich fernzuhalten. Fünf Rubel zahlte ihm sein Verleger für jede Zeile; wenn er am Spieltische alles Geld verloren hatte, warf er mit Bleistift Verse auf das Papier und machte mit ihnen seinen Einsatz. Aber dieser Cavalier hatte zugleich ein tiefes Verständniß für die Volksseele, und kein russischer Poet vor oder nach ihm hat mit gleich seinem Gehör dem Volksliede seinen Zauber abgelauscht. Er hat sich selbst ein Unrecht zugefügt, indem er, in der Gestalt des vornehmen Schriftstellers Tscharsky seine eigene Person dichterisch verkörpernd, von sich sagte, er wolle lieber als trivialer Weltmann denn als Literat erscheinen; er verliere sich in Kleinlichkeiten, an die bei einem begabten Manne kaum zu glauben sei; er stelle aus Eitelkeit den Spieler, Gastronomen und Sportsman vor, obgleich er sich nie der Trümpfe erinnere, insgeheim gebratene Kartoffeln allen Erfindungen der französischen Küche vorziehe und Gebirgsklepper gar nicht von arabischen Vollblutpferden zu unterscheiden vermöge. Das Gegentheil von alledem ist wahr, wie seine besten Zeitgenossen es bezeugen. Er hat sich wie ein Kind gefreut, als er während der Flitterwochen seiner verhängnißvollen Ehe so nahe bei Petersburg sich einnisten konnte, daß ihm der Gebrauch einer Equipage entbehrlich wurde, und was seine Vorliebe für die Franzosen betrifft, so ist es zwar gewiß und wiederholt von ihm bekannt worden, daß es ihm leichter war, Französisch als Russisch zu schreiben, aber es ist auch sicher, daß er starker nationaler Gefühle fähig war, wie jenes merkwürdige Gedicht „An Rußlands Verleumder“ beweist, in welchem er den Parteigängern Polens in Europa zurief:

„O schweigt! Für euch sind nicht geschrieben
Die blut’gen Tafeln der Geschichte;
Ihr seid dem Streite ferngeblieben
Und unbefähigt zum Gerichte.
Für euch sind Kremlin, Praga stumm;
Nach neuem Kampf seht ihr euch um -
Tollkühnes Wagen ist euch Lust;
Haß gegen uns füllt eure Brust.“

Hätten in seiner Seele nicht Widersprüche gewohnt, so wäre er auch kein Dichter gewesen. So paradox es klingen mag, es ist dennoch wahr, daß der Widerspruch in der Seele, die Dissonanz, welche zur harmonischen Auflösung drängt, das Geheimniß aller Poesie ist. Daß dieses Geheimniß in dem damaligen Rußland ein fürchterliches war, daß fast Alle, welche es besaßen, daran zu Grunde gingen, darin liegt eine Tragik von erschütternder Gewalt. Puschkin, der den Herbst liebte und vor dem jungen Frühlingsleben in der Natur sich scheu verhüllte, hat am 19. Februar 1837, im Alter von kaum achtunddreißig Jahre, mit seinem Blute bezahlt, was Rußland an seinen Dichtern sündigte; seine Freunde und Dichtergenossen, Lermontow, Kolzow, Gribojedow, starben wie er, fast bevor sie auf der Höhe des Mannesalters angelangt waren, in Noth, Verbannung, Zweikampf. Ihm schien ein besseres Loos beschieden zu sein; der Czar hielt seine wohlwollende Hand über ihm, und der Ruhm drängte sich zu ihm, wie ein Weib zu seinem Geliebten. Die ersten Gesänge seines Versromanes „Eugen Onägin“ wurden wie eine Offenbarung begrüßt; Hunderte von armen Teufeln fristeten ihr Leben damit, daß sie das Gedicht abschrieben, weil der Druck der ungeheuren Nachfrage nicht zu genügen vermochte. Aber das Elend faßte ihn an einer anderen, der verwundbarsten Stelle. Anonyme Briefe kamen ihm in’s Haus, deren niederträchtige Absender ihm zuraunten, daß sein Weib ihn betrüge. Die Eifersucht ging mit ihm straßauf und straßab; er vermochte vor peinigendem Argwohn nicht mehr zu essen, zu trinken, zu schlafen, und als er dem Zerstörer seines Glückes, dem französischen Gecken Dantes, auf die Spur gekommen zu sein glaubte, als er denselben vor die Mündung seiner Pistole citirte, war er es selbst, den der Tod von dannen rief. Rußland weinte bei dieser Kunde, und der Czar, ein eiserner Mann, war tief erschüttert. Der Familie des Dichters ward auf des Czars Befehl eine Jahrespension von elftausend Rubeln zugewiesen und zur Herstellung einer Gesammtausgabe der Werke Puschkin’s ein Betrag von dreißigtausend Rubeln bewilligt. Aber ausgelöscht ward dadurch die Schmach nicht, daß Rußland seinen besten Dichter nicht vor Elend und jähem Untergange hatte bewahren können, wie es fast alle seine Poeten vor- und seitdem selbst vernichtete, weil es sie allein und vereinsamt auf ihren Posten ließ, nicht zu ihrer Höhe empozuklimmen und in ihrem Glanze sich zu sonnen trachtete, sondern sie vielmehr herabzuzerren bemüht war in das dumpfe Elend, das der Staat über die Gesellschaft brachte und die Gesellschaft dem Staate mit stumpfer Apathie oder verzweifelter Auflehnung heimzahlte.

Und hier ist der Punkt, wo Puschkin’s Genie mit dem Nihilismus zusammenhängt, wen auch nur mit jenem resignirten Nihilismus, der zunächst nichts war als ein nagendes Bewußtsein der Ohnmacht, der Unfreiheit in Haus, Staat und Gesellschaft.

Als Puschkin noch auf dem Lyceum war, schrieb er mit Vorliebe französische Gedichte. In einem derselben entwarf er sein eigenes Portrait, und dabei entschlüpfte ihm folgendes Bekenntniß:

„Die bunten Feste liebe ich,
Schauspiele gleichfalls sehr;
Was noch ich lieb’, das schriebe ich,
Wenn ich nicht im Lyceum wär’.“

Wenn ich nicht im Lyceum wär’! … Vielleicht hätte es richtiger heißen sollen : wenn ich nicht in Rußland wäre! Denn [549]

Gefangene Spione.
Nach dem Gemälde von Professor Schuch.


darauf kam die Sache hinaus, daß Niemand in Rußland sagen oder schreiben durfte, was er liebe. An Bildung und Erkenntniß mangelte es nicht; die Franzosen waren im Lande gewesen, und bald darauf die Russen in Frankreich; auf dem Wiener Congresse hatten die Repräsentanten der vornehmen russischen Welt Alles gekostet, was die Civilisation des Westens zu bieten vermochte. Der Czar selbst – Alexander der Erste – coquettirte mit dem Liberalismus, schwärmte für englische Verfassungszustände und spielte den Freisinnigen, bis die deutsche Russin Juliane von Krüdener ihn in ihren Netzen fing und mit den Nebeln einer mystischen Anschauung umgab. Damals hatte es einen Augenblick geschienen, als ob über Rußland die Sonne besserer Tage ihr Licht verbreiten wolle. Aber es war nur ein kurzer Traum; die ihn geträumt hatten, mußten es bitterlich büßen. Der Bund der Decabristen, welcher sich empörte, als Czar Nicolaus die Erbschaft Alexander’s übernahm, ward blutig zertreten. Hat Puschkin diesem Decabristenbunde angehört? Es ist darüber viel gestritten worden, und der Verdacht, daß er im entscheidenden Momente von dem Bunde abgefallen, ward allerdings dadurch bestärkt, daß man ihn geraume Zeit in den revolutionären russischen Kreisen als Renegaten ächtete. Allein es liegt keine Thatsache vor, aus welcher die Ueberzeugung geschöpft werden könnte, daß er in die Pläne und Absichten der Pastel, Bestuschew und Murawiew eingeweiht gewesen. Man rechnete eben nur auf ihn, wie man aller Orten auf [550] den Beistand der Dichter rechnet, wo um die Freiheit gegen den Despotismus gekämpft wird. Und dazu konnte man sich berechtigt erachten, da Puschkin kein Hehl daraus gemacht hatte, daß seine Seele von Freiheitssehnsncht erfüllt war.

Als achtzehnjähriger Jüngling war er aus dem Lyceum nach Petersburg gekommen, um dem Ministerium des Aeußeren zugetheilt zu werden. Er tanzte, schwärmte, flatterte wie ein Schmetterling um die Frauen her; man bewunderte seine gesellschaftlichen Talente, aber durch Arbeitssinn fiel er Niemandem auf. Um so mehr war man überrascht, als er sein Epos „Rußlan und Ludmilla“ veröffentlichte, welches sofort die hohe dichterische Begabung Puschkin’s außer Zweifel stellte. Noch größer aber wurde der Respect, als Epigramme voll Witz und Schärfe, Gedichte voll tiefer Empfindung, Freiheitslieder voll Gluth und Energie unter seinem Namen im Manuscripte von Hand zu Hand wanderten.

„Dieser Puschkin ist Einer von den Unseren,“ flüsterten die Revolutionäre einander zu; „er ist ein gefährliches Subject,“ decretirte der Czar, als ihm Puschkin’s „Ode an die Freiheit“ von höfischen Angebern zugetragen worden war. Und da derartige gefährliche Subjecte unter allen Umständen aus Petersburg entfernt wurden, so konnte auch Puschkin dem Schicksale der Verbannung nicht entgehen; man internirte ihn auf seinem Gute Michailowsk. Während er aber fern von der Hauptstadt im Exil lebte, erhoben sich die Decabristen und wurden niedergeschlagen, und als Nicolaus im Jahre 1826 zur Krönung nach Moskau kam, ließ er den Dichter durch einen Feldjäger zu sich entbieten, um ihm die Freiheit wiederzugeben. Das war Puschkin’s Antheil an der damaligen revolutionären Bewegung; er hatte durch seine Gedichte geholfen, sie vorzubereiten, aber der Verschwörung war er fern geblieben. Nun leuchtete die Gunst des Czars über seinem Haupte, aber ihn vollends zum Sclaven zu machen, war sie nicht im Stande. Er schwieg, da er nicht sagen durfte, was ihm das Herz bewegte. Der Czar berief ihn zu sich in den Winterpalast, um ihn zu fragen, was das beharrliche Stillschweigen seiner Muse bedeute.

„Sire,“ ankwortete der Dichter nach einigem Zögern, „ich will mit der Censur nichts zu schaffen haben.“

„Ist’s das, Alexander Sergejewiksch,“ sprach der Czar, „so werde fortan ich selbst Dein Censor sein.“

Und in der That gingen von dieser Zeit alle Manuscripte Puschkin’s durch die Hände des Czars.

Freilich war damals Alexander Puschkin kein Poet mehr, der dem Czarenthume gefährlich zu werden irgend eine Neigung in sich verspürte. Er hatte es aufgegeben, einen Kampf zu führen, in welchem rohe Gewalt ideale Forderungen niederhalten sollte. Aber die Thatsache, daß der Czar selbst seine Muse beaufsichtigte, hatte eine doppelte Wirkung: sie brachte ihn bei den Einen in den Ruf eines Abtrünnigen und erhöhte in den Augen der Anderen seinen Werth. Der Dichter ging mit dem König, aber als Geisel, nicht als freier Mann. Wer Augen hatte, um zu sehen, dem blieb die wahre Bedeutung dieses Schauspieles nicht verborgen: Nicolaus war zum Censor geworden, um die Poesie zu unterjochen; er wollte sie nicht zu fürchten haben; deshalb fesselte er sie unter dem Vorwande, sie versöhnen zu wollen.

Fürchtete er sie aber wirklich, dieser eherne Autokrat, dem niemals eine Anwandlung von Milde die Seele rührte? Nun, was Nicolaus empfand, das war nicht jene Furcht, welche eine Schwester der Feigheit ist, sondern die andere, mit der die Schlauheit ihre Wiege theilt. Auch hieß dasjenige, wovon Puschkin’s Muse eine Weile gesungen hatte, nicht Freiheitsdurst, sondern Weltschmerz. Von England war das Gespenst herübergekommen; es hatte trotz aller Wachsamkeit der Kosaken die Grenzen Rußlands überschritten. Wenn man es sich verkörperte, so glich es einem wunderschönen, leidenschaftlichen, in allen Tiefen und auf allen Höhen der Menschheit bewanderten Manne, der den Despoten und den Philistern trotzte, einem Manne, der, halb Faust und halb Don Juan, nicht einmal seinen hinkenden Fuß zu verbergen brauchte, um die Frauen an sich zu fesseln, der eiligst da war, wo Völker um ihre Freiheit stritten – dieses Gespenst war mit Einem Worte Lord Byron. Und Nicolaus sah ein, daß auch ein Czar ohnmächtig war, zu verhüten, daß die Jugend sich von dem britischen Lord verzaubern ließ, daß sie ihm trunken folgte auf den Pfaden seiner unerhörten Phantasie und in Verzückung nachlallte, was er ihr vorsang.

Auch war damals noch die russische Jugend empfindsam, den Eindrücken der Schönheit zugänglich; sie hatte, freilich nur innerhalb des Kreises, den als ungeheuerer äußerer Ring die stumpfe Masse der Leibeigenen umgab, an deutschen und französischen Dichtungen ihre geistigen Neigungen genährt. Heute ist diese Jugend roh, verkommen, mit unverdautem Wissensstoffe angefüllt. Damals schwur sie auf Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Schiller; heute kniet sie vor Bakunin, Lassalle. Damals erfuhr sie in den Lyceen die Wirkung classischer Studien, und wenn sie auch für Tacitus sich nicht begeistern durfte, so konnte sie an Ovid und Horaz sich unbehindert ergötzen. Heute wird sie durch eine Realschule gejagt, der es entweder an den unteren oder an den oberen Classen gebricht und die kein Recht besitzt, ihre Zöglinge der Hochschule zu übergeben; wenn sie diese Realschule absolvirt hat, so steht sie rathlos da, ohne Aussicht auf Amt und Beschäftigung, und als ein Glück muß es dieser ausgediente Realschüler ansehen, wenn er irgendwo in Dorf oder Stadt bei einem Friedensrichter als Schreiber ein Unterkommen findet. Damals war der Geblldete in Rußland zumeist auch der Reiche; henle ist der halbgeblldete Arme in der ungeheueren Mehrzahl. Und der Staat, der diese Halbbildung befördert, sorgt nicht einmal dafür, daß der Student bewahrt bleibe vor verfrühter Noth und Sorge; er erlaubt ihm, zu heirathen, noch bevor er die Universität verlassen – so reißt er mit sich auch ein Weib in Elend und Entbehrung.

Damals also flüchtete das Mißvergnügen sich in die Hülle des Weltschmerzes; es rang nach einem poetischen Ausdrucke. Heute nennt es sich Nihilismus, und durch dreiste politische oder socialistische Formeln hindurch grinst sein verzweifelter Blick den Staat, die Gesellschaft, die Familie an. Dieses Mißvergnügen war schüchtern, resignirt, als es dem Staate gegenüber keine andere Waffe zu schwingen vermochte, außer derjenigen des Verses oder der Philosophie; es ist herausfordernd und kühn geworden, seitdem es auf der Eisenbahn dahinbraust, mittelst des elektrischen Drahtes die Welt durchblitzen, auf dem Rücken des gedruckten Wortes in drei Tagen die Grenzen des gewaltigen Czarenreiches durchmessen darf.

Will man. nun das Verhältniß Alexander Puschkin’s zum Nihilismus bestimmen, so darf man wohl sagen, er repräsentire in der Entwickelungsgeschichte desselben das ästhetische Stadium, jenes nämlich, wo die Bewegung schlummert und ohne alle Tendenz, zwecklos, gleichsam um ihrer selbst willen sich bemerkbar macht, ja wo sie noch demjenigen, den sie erfaßt, nicht einmal zu vollem Bewußtsein kommt. Es muß als feststehend angesehen bleiben, daß der Kampf in Rußland sich, ganz wie anderswo, zunächst um das Recht der Persönlichkeit entspann und daß er in der Folge nur in dem Maße einen specifischen Charakter erhielt, in welchem die Art des Kampfes eine andere, dem slavischen Naturell der Kämpfer entsprechende wurde. Das Ringen um die persönlichen Berechtigungen hat aber von vornherein in seiner allgemein menschlichen Bedeutung etwas, das dem Poeten näher geht, als dem Politiker und Staatsökonomen. Je mehr Gewalt der Czar für sich in Anspruch nimmt und je brutaler seine Werkzeuge das Berechtigungsgebiet des Einzelnen – angeblich im Namen des Staates – verengern, desto eifersüchtiger trachten diejenigen, welche auf ihre Individualität nicht verzichten wollen, ihr „Menschenrecht“ zu wahren. Czar Nicolaus ist unter allen Czaren der größte Verächter des persönlichen Rechtes gewesen: er hat Iwan Turgenjew verbannt, weil dieser in einem Nachrufe von dem „großen“ Gogol gesprochen hatte. Als „groß“ sollte in Rußland nur der Czar zu gelten haben. Unter der nikolaitischen Regierung ist daher auch der Keim des Nihilismus gelegt worden.

Aber wo waren damals die Individualitäten in Rußland, welche sich zu wehren den Muth haben konnten? Unter dem Adel, der seitdem niemals aufgehört hat, an den Nihilismus sein Contingent abzugeben. Es war doch für einen Edelmann, der sich einen höheren Stammbaum als die Romanows vindicirte, auf die Dauer kaum erträglich, des Morgens über dem Voltaire, dem Byron, dem Schiller zu sitzen und des Nachmittags sich von einem Tschinownik „in des Czars Namen“ irgend ein persönliches Recht cassiren zu lassen. Es gab Niemanden unterhalb des Czars, der in irgend einem Augenblicke vor der Knute, vor der Deportation sicher war, und eine Sage erzählt, daß sogar Puschkin geknutet worden sei, als es sich darum handelte, ihm revolutionäre Neigungen auszutreiben. Zunächst also war die Bewegung eine wesentlich aristokratische, ihr Ziel, dem Czar und seinen Creaturen [551] gegenüber das Recht der Persönlichkeit zu wahren. Und zugleich war es eine Bewegung, die von der Jugend ausging; denn die Alten, in dem Rußland Katharina’s geboren und erzogen, hatten frühzeitig verzichten gelernt, wenn sie überhaupt jemals Etwas zu wünschen sich erdreistet hatten.

Karamsin, der Historiker, Derschawin und Schukowski, die Poeten der Vor-Puschkin’schen Generation, sprachen niemals von Freiheit, und Schukowski, der Hofpoet, wurde tatsächlich geistesirr, als er, von Deutschland heimkehrend, die daselbst empfangenen Eindrücke in sich zu verarbeiten suchte. Puschkin dagegen beruft sich nicht ohne Stolz auf den Dichter Lomonossow, welcher dem Grafen Schuwalow, als dieser sich mit ihm einen Scherz erlaubte, rund heraus erklärt hatte:

„Excellenz, ich will nicht blos keines irdischen Machthabers, sondern selbst nicht meines Heergottes Narr sein.“

Da ist der Ursprung des Kampfes. Und Puschkin selbst sagt dem Czar in’s Gesicht, er wolle lieber das Schreiben unterlassen, als die Censur dulden. Da ist die Resignation.

Und aussichtslos war bis auf Weiteres allerdings jede Auflehnung. Was konnte der Einzelne gegen die Macht des Czars aufbieten, hinter dem ein Wald von „todten Seelen“ in stummem Gehorsam stand? Mußte aber darum ein Puschkin nothwendig zum Sclaven werden? Nein, der Dichter ist allemal frei, zum mindesten in dem Reiche, das er sich selbst mit seiner Phantasie aufrichtet: die Gestalten, die er schafft sind ihm mehr unterthan, als die Leibeigenen dem Czar, und er darf zum mächtigsten Heerscher sagen:

„Mußt mir meine Hütte doch lassen stehn, die du nicht gebaut.“

So blieb Puschkin trotzalledem der Stärkere von den Beiden; die Lücken, welche Nicolaus mit dem Rothstift in seine Dichtungen riß, haben nur gezeigt, wo der Kaiser schwächer war als der Dichter. Und der Dichter hinwiederum bewies an seinen Gestalten, um wieviel besser er Rußland kannte als der Czar. Denn diese Gestalten sind lebendig, weil ihre Urbilder es ebenfalls waren. Puschkin ging dem nationalen Bedürfnisse nach, indem er die Sage und Geschichte seines Volkes mit seiner Phantasie durchdrang, von Boris Godunow, Pugatschew, dem Czar Saltan und von Pultawa erzählte; er achtete den Geschmack seiner russischen Zeitgenossen, indem er ihnen in der Novelle die „Capitainsbraut“ und in den Gedichten „das Räuberbrüderpaar“, „Graf Rulin“, „der Gefangene im Kaukasus“ Früchte seines Genius darbot, welche ihnen wie Leckerbissen munden mußten. Doch auch das Elend der Zeit fand seine Verkörperung in dem bereits erwähnten „Eugen Onägin“, diesem Muster aller problematischen Existenzen, diesem echten Repräsentanten des resignirten Nihilismus, der das Leben erschöpft, ohne seinen Werth zu erkennen, der den Tod sich wünscht, weil er neugierig ist, ob es auch in einer anderen Welt „so schal, ekel und unersprießlich“ ist.

Wie müßig ist es doch, darüber zu grübeln, welchen Antheil Lord Byrons Einfluß an diesem „Eugen Onägin“ hat, ob er ein echter Russe oder eine Composistion von westlichen und heimischen Substanzen sei! Leser von Literaturkenntniß denken, wenn sie diesen Onägin kennen lernen, gleichsam mechanisch an Don Juan, an Faust, an Hamlet und an Manfred. Aber er ist von alledem etwas, außerdem jedoch ein vornehmer Russe aus der nikolaistschen Zeit. Das aber bedeutet, daß er ein unnützer, ein überflüssiger Mensch ist, der lebt, weil er geboren wurde, lernt, weil er neugierig ist, den Frauen nachstellt, weil dies der Czar erlaubt, spielt, weil er sich die Langeweile vertreiben will, und im Duell einen Freund tödtet, obgleich ihm die Empfindlichkeit des in seiner Ehre verletzten Freundes eine sehr problematische Sache zu sein scheint. „Er lebt zu rasch und fühlt zu früh“, dieses Motto hat Puschkin seinem „Eugen Onägin“ mitgegeben. Ja wohl, Onägin ist längst ausgelebt, da noch in seinem Leibe die Lebenskraft eines Riesen steckt; die Frage ist nur, warum er sich so früh ausgelebt hat. Warum? Hätte ihm der Staat erlaubt, seinem Leben einen ernsten Inhalt zu geben, es nach seiner eigenen Weise zu gestalten und mit einem dankenswerthen öffentlichen Wirken auszufüllen, so wäre ihm sein Lebenstag langsamer dahingeflossen und fruchtbarer. Aber der Staat hatte eine offene Pforte nur für diejenigen, die an sclavischem Gehorsam Gefallen fanden, und dazu war „Eugen Onägin“ nicht gemacht. Er zählte zu der Masse von Leuten, welche sich für zu gut hielten, dem Staate bedingungslos ihre Persönlichkeit dahinzugeben, und dann zu schlecht wurden, um ihrer Persönlichkeit ein freies Stück Dasein zu erobern. Was er um sich her mit seinen Augen schaute, war Elend, Knechtschaft, Corruption; er mochte zuerst glauben, es werde besser werden, vielleicht morgen, übermorgen, in einem Jahre. Und er wartete, die Zeit bei dem Knalle von Champagnerpfropsen, in den Armen lüsterner Weiber sich verkürzend, philosophirend, dichtend, am Kartentische sich in Leidenschaft verzehrend. Aber es ward nicht besser.

„Sagt mir, ihr friedlichen Gewalten,
Wo meine gold’ne Jugend blieb!
Was wird der nächste Tag mir bringen?
Mein Auge, ach! kann nicht durchdringen,
Was sich verhüllt im Graun der Nacht.“

Er konnte sogar tugendhaft sein, dieser Eugen Onägin; er konnte die schöne Tatjana, die sich ihm an den Hals warf, moralisirend zurückweisen und sich des poetischen Freundes Wladimir Lansky erfreuen, der ein echter Schwärmer war.

„Wladimir Lansky, von Gemüthe
Göttinger Bursch’, der in der Blüthe
Der Hoffnung und des Lebens stehst,
Verehrer Kant’s ist und Poet.
Aus Deutschlands Nebeln kam er wieder
Mit Früchten der Gelehrsamkeit,
Freiheitsideen unsrer Zeit.“

Aber es änderte sich nichts um ihn her, und es dünkte ihm zuletzt, daß es sehr gleichgültig sei, ob man gut oder schlecht ist, ein honettes Leben führt oder sein Vermögen verlottert.

Und so wird Onägin, nach Puschkin’s eigenen Worten, zum „Product der Gesellschaft und der Sitten seiner Zeit, zerfressen von der Moralkrankheit, an der sein Geschlecht dahinsiecht“. Der Dichter selbst aber entläßt ihn mit einem traurigen Bekenntniß, das er zum Schlusse dem Leser macht:

„Das Leben nahm mir viel, ja viel!
Heil dem, der früh sich abgewendet
Vom Lebensfest und, klug belehrt,
Das Glas nicht bis zum Grunde leert,
Seinen Roman nicht ganz beendet,
Den rechten Augenblick ersehn
Zum Schluß, wie ich mit Freund Eugen.“

Der schauerliche Roman des Nihilismus war noch nicht über die erster Capitel hinaus gediehen, als Puschkiu seinem Volke diesen „Eugen Onägin“ vorführte. Die Blasirtheit ist nicht gefährlich, die Resignation nicht bedrohlich. Aber es werden sich weitere Capitel anfügen und „Eugen Onägin“ wird aufhören, sich mit Wein, Würfeln und Weibern zu bescheiden; er wird den Staat fragen: Was hast du aus mir gemacht? Und die Antwort wird ein Faustschlag sein, der sein Gesicht entstellt. Dann wird Eugen Onägin’s Seele sich mit Wut und Tücke erfüllen; er wird zuerst insgeheim knirschen und auf Rache sinnen, wenn aber die Zeit gekommen ist, wie ein Rasender an dem Staate rütteln. So wird der resignirte Nihilist sich in einen nihilistischen Mörder verwandeln, verhärtet in seinem Gemüthe durch das Gefühl einer fünfzig Jahre lang empfundenen Schmach. Und dann wird der Czar umsonst Censor sein wollen; denn „Eugen Onägin“ wird Solowiew, Scheliabow, Kibaltschitsch heißen, und neben ihm wird nicht mehr die sanfte, schöne Tatjana schreiten, sondern ein Weib von ganz anderer Art, eine Wjera Sassulitsch, eine Sophie Perowski.

Nicht künstlich hergestellt, sondern geschichtlich geworden ist dieser Zusammenhang; nicht ohne Bedacht ist Alexander Sergejewitsch Puschkin als der Vorläufer des Nihilismus bezeichnet worden. Käme es darauf an, die Geschichte des Nihilismus in fortlaufender Darstellung von Ursache und Folge zu erzählen, so müßte es ein Kleines sein, bei jedem hervorragenden Dichter nach Puschkin einen „Eugen Onägin“ nachzuweisen; freilich würde man ihn fortgeschritten finden in dem Willen und der Fähigkeit, dem Staate seine Sünden heimzuzahlen; denn das ist das Vorrecht der Dichtung, daß sie die Wirklichkeit begleitet, bisweilen wie ein Commentar, öfter aber noch wie ein Spiegel.

Hätte Czar Nicolaus, anstatt sich als Censor über den Dichter zu setzen, in den Spiegel geschaut, den ihm Puschkin vorhielt, so wäre seinem Sohne das furchtbare Schicksal, das ihn am Katharina-Canal ereilte, vielleicht erspart geblieben. Mit dem „Eugen Onägin“ von damals hätte sich eine Versöhnung finden lassen; ob sie mit [552] den Nihilisten von heute noch zu erreichen ist, wird Manchem zweifelhaft erscheinen.

Das aber ist gewiß, daß jener despotische Czar, welcher der Dichtung Fesseln anlegen wollte, indem er den Dichter mit seiner Huld überschüttete, sich über die Dauer seines Werkes ebenso gröblich getäuscht hat, wie über die tiefere Bedeutung der Gedichte Puschkin’s; denn als wäre er auf ihn gewendet, so klingt noch heute der Vers Puschkin’s:

„Ein Denkmal hab’ ich mir in meinem Volk gegründet;
Nicht Menschenhand erschuf’s; kein Gras bewächst den Pfad;
Doch stolzer ragt es auf als jenes, das verkündet
     Napoleon’sche Ruhmesthat.“




Blätter und Blüthen


Die Körperhaltung unserer Schüler beim Lesen und Schreiben. In den öffentlichen Vereinen, in der Presse und im täglichen Leben vernehmen wir heute immer häufiger die Klagen, daß unsere Schuljugend mit geistigen Arbeiten überbürdet sei und daß das heranwachsende Geschlecht in Folge der verderblichen frühzeitigen Ueberanstrengung an seiner körperlichen Gesundheit geschädigt werde. Dringend verlangt man hier und dort eine Reform unseres Schulunterrichts in sanitärer Beziehung, wiewohl es nicht zu verkennen ist, daß wir in den letzten Jahrzehnten auf dem hygienischen Gebiete, was z. B. Luft, Licht und Wärme in der Schulstube anbelangt, nicht zu unterschätzende, ja wahrhaft große Fortschritte zu verzeichnen haben. Es ist nicht unsere Aufgabe, hier die Schulreformforderungen auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen, wir möchten nur auf eines aufmerksam machen: daß bei der Behandlung dieser hochwichtigen Fragen scheinbar unwichtige, weil tagtäglich wiederkehrende und daher gewohnheitsgemäß übersehene Uebel fast ganz aus dem Auge gelassen werden.

Indem man mit Recht über das Uebermaß der Schularbeiten sich beschwert und Verringerung der Schulstunden und Unterrichtsgegenstände verlangt, scheint man zu vergessen, daß auch die Art, in welcher der Körper bei der geistigen Arbeit thätig ist, für die Gesundheit von der allergrößten Bedeutung ist; denn bekanntlich empfängt unsere Schuljugend nicht etwa, wie die philosophischen Jünger der altgriechischen peripatetischen Schule, den Unterricht im Spazierengehen, unter freier körperlicher Bewegung, sondern sie ist durch die nothwendige Schuldisciplin an die Bank gefesselt und so zum stundenlangen Sitzen an einer und derselben Stelle verurtheilt. Ist nun während des Sitzens die Körperhaltung des Schülers fehlerhaft, so wirken die sich daraus ergebenden schädlichen Einflüsse von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr, bis sie schließlich mit der unwiderstehlichen Macht aller consequent und lang andauernder Ursachen der kindlichen Gesundheit schweren Schaden zufügen. So kann z. B. die Kurzsichtigkeit eine Folge der schlechten Körperhaltung sein.

Aehnlich verhält es sich auch mit der Verkrümmung der Wirbelsäule, der Hemmung des Blutumlaufs und der Schwächung der Lungenthätigkeit bei unserer Schuljugend. Schule und Haus begehen in dieser Beziehung dieselben Fehler, und aus diesem gemeinsamen Schuldbewußtsein heraus erklärt es sich vielleicht, daß im Vergleich mit der Ueberbürdungsfrage von der schlechter Körperhaltung so wenig gesprochen wird. Umsomehr ist es anzuerkennen, wenn tüchtige Fachleute die Eltern über die Frage aufklären und die Aufmerksamkeit der Lehrer auf das alte Uebel von Neuem lenken. – Auf unserem Büchertische finden wir ein Werk, betitelt: „Körperhaltung und Schule, oder Schreiben und Zeichnen als körperliche Thätigkeit. Der vaterländischen Schule gewidmet von J. Daiber, Professor am königlichen Katharinen-Stift zu Stuttgart“ (Stuttgart, Melzler’sche Buchhandlung, 1881), welches ausschließlich diesen Zweck verfolgt und das wir der besonderen Aufmerksamkeit unserer Leser, namentlich der Eltern unter ihnen, empfehlen.

In lichtvoller und sehr anschaulicher Weise behandelt der Verfasser zunächst die schlechte Körperhaltung unserer Schüler, belehrt uns über ihre Ursachen und Folgen und entwirft alsdann bestimmte Regeln für die Sitzstellung, Haltung der Beine und Arme, Lage der Hand, Führung des Stifts etc. und wendet sich schließlich der Besprechung der Aufgaben zu, welche in dieser Beziehung dem Hause und den Behörden zufallen. Leider gestattet uns der engbemessene Raum nicht, ausführlicher auf das genannte Werkchen einzugehen; wir hielten es aber für unsere Pflicht, in Anbetracht der gegenwärtig so lebhaft erörterten Unterrichtstage die Aufmerksamkeit unserer Leser auf die Körperhaltung der Schuljugend während der geistigen Arbeit hinzulenken, und hoffen, daß diese Anregung genügen wird, um in vielen Fällen gewissenhafte Lehrer und Eltern zur Abhülfe mancher Uebelstände zu veranlassen. Das Daiber’sche Buch würde ihnen bei der Erfüllung dieser Aufgaben ein nicht zu unterschätzender Rathgeber sein.




Johann Christian Lobe. Wiederum liegt uns die traurige Pflicht ob, unsere Leser an ein frisches Grab zu führen, in welchem ein treuer und allbeliebter Mitarbeiter der „Gartenlaube“ Ruhe gefunden. Johann Christian Lobe ist todt. Er starb am 27. Juli d. J. in hohem Greisenalter, zwei Monate nach seinem vierundachtzigsten Geburtstage. Im Jahrgange 1873 (Seite 337 ff.) haben wir den wackern Künstler und Gelehrten unseren Lesern im wohlgetroffenen Bildniß vorgestellt und seinen Lebensgang geschildert, als „Einer von den Alten Weimars“ war er ihnen freilich kein Fremder mehr: denn er hatte durch seine zahl- und inhaltreichen Beiträge zu unserem Blatte sich in den Herzen Aller längst einen Platz erobert. Da sich der Jahrgang 1873 der „Gartenlaube“ in Hunderttausenden von Händen befindet, so brauchen wir heute nur aus den dort enthüllten stillen Gang der Bildung dieses dreifachen Meisters hinzuweisen: Lobe war als Musiker Meister auf der Flöte; er war Meister in der musikalischen Composition und vor Allem Meister mit der Feder. Nur wer, wie er, vom armen Jungen, welcher der damaligen Volksschule seine ganzen Kenntnisse verdankte, durch eisernen Willen und Fleiß sich heraufgearbeitet, nur wer aus diesem Wege sich seine gelehrte Bildung in modernen Sprachen, in Philosophie und Geschichte anzueignen vermochte, nur der konnte auf Grund eigener Erfahrung ein so scharfdenkender und so klar darstellender Lehrer Anderer werden, und mit diesen Vorzügen verband Lobe noch die des Künstlergeistes und Herzens, welche ihn dazu befähigten, jederzeit Schönheit und Anmuth der Form zu beachten und nie den warmen Hauch der Empfindung vermissen zulassen, wo er zur Wirkung des Ganzen erforderlich war. Unser Artikel nennt auch Lobe’s sämmtliche Werke, über die außerdem ja jedes Conversationslexicon berichtet. Wir können aber nicht unterlassen, hier noch einmal auf ein kleines Buch hinzuweisen, in welchem Lobe sich selbst malt. „Aus dem Leben eines Musikers“ heißt es und ist 1859 bei J. J. Weber in Leipzig erschienen. Wir stehen nicht an, dasselbe als eines der liebenswürdigsten Bücher unserer Literatur zu bezeichnen, das der strebenden Jugend als ein Volksbuch in die Hand gelegt werden sollte. Durch dieses Buch allein wird das kommende Geschlecht Lobe, den seelenvollen Menschen und Künstler, kennen lernen und sein Gedächtniß um so treuer bewahren.




Spione auf ihrem letzten Gang. (Mit Abbildung S. 549.) Der Krieg, wie hoch auch immer seine Meister ihn preisen mögen, gehört zu den menschlichen Leistungen, vor deren Ausübung die Herzen aller wirklich gebildeten Völker zittern, bis die hohen Ideen von Vaterland und Freiheit die Waffen weihen und den Kampfmuth zur Mannespflicht erheben. Wie mit dem Krieg das Grausigste im Großen verbunden ist, so stellt er auch im Kleinen an seine Dienstverpflichteten Forderungen eigener, oft grausamer Art. Der Mann, der mit der Waffe dem Feind entgegengeht, wird selbst als Besiegter oder Gefangener noch ehrenhaft behandelt, derjenige aber, welchen die Kriegswissenschaft als unentbehrlich für die Vorbereitung des Krieges erklärt, der Kundschafter, der mit dem Muthe des Soldaten ungewöhnliche List und Klugheit verbinden muß, wird, wenn sein Unternehmen gelingt, oft sogar vom Freunde trotz alledem mit Geringschätzung, wenn es mißlingt, vom Feinde mit dem Tode belohnt. Selbst wenn der Kundschafter nicht zu den „gekauften Subjecten“ gehört, wenn er, ein Mann der Waffen, aus den edelsten Beweggründen das Amt des Kundschafters übernimmt, so schützt ihn dies nicht vor dem Schicksal des „Spions“, sobald er in Feindeshand fällt. Warum verfolgt das Kriegsurtheil nur diesen Kriegsdienst mit so unerbittlicher Strenge? Das Geheime, Hinterlistige desselben allein kann der Grund dafür nicht sein; denn darin steht der Minenkriegsdienst ihm gleich. Ist’s der Charakter des Nichtmilitärs, der ihn dem Franctireur gleichstellt? Auch diesen kann die edelste Vaterlandsliebe in den Kampf treiben, und er wird wie der Spion behandelt. Dieser seltsame Gegenstand verdiente wohl eine Besprechung von Seiten eines gerechten und sachkundigen Richters. Jedenfalls haben wir unserem Bilde gegenüber keine Ursache, die beiden Gefangenen als Strafwürdige, als Verbrecher zu betrachten. Sie sind ihrem Schicksal verfallen und dem unheimlichen Gesetze der Kriegsgewalt.




Kleiner Briefkasten.

E. v. R. in Reval. Für den Unterricht im Pianofortespiel haben in den letzten Jahrzehnten auch hervorragende Componisten in der That werthvolle und praktische Werke geliefert. - Anton Krause in Barmen, der bekanntlich den dortigen Gesangverein zu einem der höchst stehenden gemischen Chöre Westdeutschlands emporgehoben hat, gilt mit Recht als einer der vorzüglichsten Musikkpädagogischen Autoren. Seine mannigfaltigen Etüden, seine ganz vortrefflichen, instructiven Sonaten (mit opus 1 beginnend) sind darum so rühmenswerth, weil sie in Erfindung und Haltung nicht nur stets das zu treffen wissen, was die Jugend anmuthet, sondern weil sie damit auch die Fortschritte der Schüler wesentlich fördern. Zugleich ist die compositorische Ausführung eine so gewandte und geschmackvolle, daß auch die Lehrer an diesen Unterrichtswerken eine persönliche Freude haben. Man kann sagen, daß Krause für dergleichen pädagogische Compositionen, wie sie sein sollen, den Typus hingestellt habe. Wenn nun von ihm ein neues Werk in Aussicht steht, die bei Breitkopf und Härtel erscheinende „Jugendbibliothek für Pianoforte zu vier Händen“, so können Sie im Voraus annehmen, geehrtes Fräulein, daß Krause damit den lernbegierigen Klavierspielern wiederum einen außergewöhnlichen Genuß bereiten wird. Wir können Ihnen nur rathen, das neue Opus Ihrer Familien-Musikbibliothek einzureihen! Es umfaßt einen zum Gebrauch beim Unterricht bearbeiteten „Melodienschatz“ aus Werken alter und neuer Meister und soll in acht Heften die Jugend mit einer sorgfältigen Blumenlese aus den Gärten eines Beethoven, C. Maria von Weber, Haydn, Schumann, Schubert, Bach, Händel, Mozart, Mendelssohn erfreuen. Die Unterrichtsliteratur für Pianofortespiel schuldet sicherlich Anton Krause ganz besonderen Dank.

W. in Riga. Absoluter Schwindel!

Hedwig K. in Teplitz. Die gewünschten Adressen lauten: Frau Professor Fanny Lewald-Stahr in Berlin und Herrn Professor Georg Ebers in Leipzig.


  1. Lettres adressées d’Allemagne à M. Adolphe Lance architecte par Viollet le Duc p. 77