Die Gartenlaube (1881)/Heft 40
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No. 40 | 1881. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.
Der schwere Verdeckwagen bog in die Chaussee ein und rollte nun leiser, bald auch langsamer die kleine Anhöhe vor Barten hinan. Die Insassen des Wagens, welche bisher, in ihre Ecken zurückgelehnt, geschwiegen, da die Erlebnisse des Abends sie noch beschäftigten, auch das Knirschen und Mahlen der Räder in dem frisch aufgeschütteten Kiese des Landweges jede Unterhaltung erschwert hätte, richteten sich jetzt auf, und eine der Damen, welche im Fond saßen, rief mit einem Seufzer der Erleichterung:
„Endlich die Chaussee!“
„Ja!“ bestätigte gleichsam der ihr gegenüber sitzende Herr, „selbst ein aufgebesserter ostpreußischer Landweg hat seine Mucken.“
„Dieser Burgsdorfer war doch stets einer unserer besten!“ vertheidigte die andere Dame im Fond den eben zurückgelegten Landweg.
„Erst kommen aber unsere Bartener, der nach Werkersheim allenfalls ausgenommen,“ erklärte die Dame, welche vorher den Seufzer ausgestoßen hatte. Der Herr verbeugte sich leicht. „Dann,“ fuhr dieselbe fort, „darf eine ganze Weile nichts kommen – und zum Schlusse meinetwegen diese Burgsdorfer Mole!“ Sie sah zum Fenster hinaus. „Das Licht muß in Försters Saale sein, nicht wahr?“
„Die schwarzen Massen links sind der Park? Gewiß!“ erwiderte der Herr sich verbeugend. „Uebrigens ein vortreffliches Orientirungsvermögen!“
„Das lernt sich beim Zeichnen,“ antwortete die Dame. „Aber seht nur die Weidenstümpfe längs des Weges! Hocken sie nicht wie Gespenster da?“
„Die Weide ist ein alter Unheilsbaum,“ sagte der Heer sinnend. „Denken Sie an Ophelia – Desdemona:
„Heiß rollt ihr die Thrän’ und erweicht das Gestein, Singt Weide, Weide, Weide!“
„Nun so bald fahre ich ja den Weg nicht mehr.“ „Aber warum nicht?“ fiel der Herr ein, „der armen Weiden wegen?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Hat Dir etwa Frau Förster in ihrer Häuslichkeit weniger gefallen?“ fragte die andere Dame, sich ihr zuwendend.
„O nein!“ rief die Angeredete, indem sie sich so tief zurücklehnte, daß man ihr Gesicht kaum aus der Umrahmung des weiten Schwanpelzwerks hervorschimmern sah. „Ich ertrage das Krüppelchen nicht.“
„Wieder die ganze Else,“ sagte die Dame im Tone des Tadels zu ihrem Gegenüber.
„Nun, Hemmingen wenigstens wird mir nachfühlen …“
„Nein, beste Schwägerin!“ unterbrach dieser: „Neulich sprachen wir im halben Scherze darüber; wenn Sie jedoch im Ernste –“
„Im vollen Ernste!“ trotzte Else. „Für mich ist dieser vielgeliebte Rudi ein krüppliges Kind, wie unser Großpaschchen zu sagen pflegte.“
„Vergeben Sie mir,“ entgegnete Herr von Hemmingen, „ich stehe hier aber vor etwas Unbegreiflichem. Sie machen Ihr Gouvernantenexamen, damit Sie sich, wenn es Ihnen einmal belieben sollte, sogar ganz der Erziehung widmen können, und nun erscheint Ihnen gerade ein Kind, welches Aller Mitleid in so hohem Grade –“
„Das ist es ja eben! Ich würde todtkrank, wenn ich dieses Stapfen seiner Krücke oft hören müßte: und das rückt immer an, tapp, tapp – wie ein kleiner Comthur. Außerdem hat man bei der grenzenlosen Verzogenheit des Kindes auch noch sonstige unangenehme Gefühle, kurz, mich bekommt Ihr nicht zu Försters.“
Hemmingen sah seine Gattin an und erwiderte mißbilligend :
„Dann ist Mitleid doch wohl kaum einer Ihrer besonderen Vorzüge? Daß dieses unglückliche, seit Jahren leidende Geschöpfchen in gewissem Sinne verzogen ist, sollte bei einer Beurtheilung desselben wirklich nicht in’s Gewicht fallen.“
„O, was einmal da ist, ist eben da,“ wehrte Else ab. „Ich mindestens kann an dem, was mir widrig, nie vorbei, ohne es zu bemerken – sehr zu bemerken. So plaudere ich mit Förster allerliebst über Königsberg ; wir tauschen unsere Erinnerungen aus – und er will gerade etwas Interessantes erzählen, das in der Königshalle passirt ist, da stapft dieser kleine Unhold auf uns zu – ich hörte ihn schon durch drei Zimmer – und briselt und maut, bis der Vater schwach genug ist, mit ihm zu gehen. Dabei guckt mich das Kind ordentlich höhnisch an.“
„Könnte mich durchaus nicht wundern,“ versetzte Hemmingen. „Kinder wissen ja immer gleich, wer ein Herz für sie hat oder sie nur duldet, und nun gar Sie mit Ihrer ausgesprochenen Abneigung!“
„Heute war Förster übrigens besonders schwach,“ warf Hemmingen’s Gattin hin, „und Rudi merkwürdig erregt. Daß er uns auch um des Vaters Singen brachte –“
„Nicht wahr, Doris?“ fiel Else ein. „Ganz unerträglich! Ich hatte um dieses einzige Lied gebeten, freute mich so darauf – [654] das Kind war und war nicht abzuschütteln. Und die Großmutter! Ihr ewiges Sorgen für Rudichen; sie werden den Jungen noch zu einem völlig unleidlichen Geschöpfe machen.“
„Das Kind ist vierjährig und momentan so kränklich,“ entschuldigte Hemmingen, „darum wollte es Förster wohl nicht aufregen. Sonst – Du weißt es auch, Doris – gestattet er ihm keineswegs allen Willen. Zudem dürften hier mit der wachsenden Vernunft ganz andere Empfindungen in den Vordergrund treten, als unliebenswürdig-egoistische. Doctor Harder vermag eben keinerlei Hoffnung zu geben, daß die Krücke je wieder entbehrlich würde.“
„Das ist durchaus ein schweres Geschick,“ erwiderte Else, „ich kann es aber trotzdem nicht billigen, seine Bekannten nun fortwährend in Mitleidenschaft zu ziehen. Von diesem reizenden Hans spricht Niemand; Rudi ist geradezu Alles geworden. Ich habe von der Großmutter schon an dem einen Nachmittag beinahe jede Phase seiner Leidensgeschichte vom Sturze an gehört; ja, zum Schluß, als wir uns anzogen und diese Frau Hannisch die Mäntel umgab, fing die sogar davon an. Ich beeilte mich natürlich, was ich konnte, und nun will meine Kapuze nicht sitzen.“
Frau von Hemmingen half, und so bekam die nur im Eifer verschobene Kapuze wieder den richtigen Sitz.
Es wurde einige Augenblicke lang still im Wagen. Else wie Hemmingen sahen in die winterliche Landschaft hinaus, welche sich bei dem leichten Nebel wie umschleiert hinbreitete. Unabsehbar Acker an Acker, nur selten von der Silhouette eines Baumes oder Gehöftes unterbrochen. Die Oede der Gegend schien Else plötzlich anzufrösteln; sie lehnte sich wieder in ihre Ecke zurück und schloß die Augen.
Irgendwo in der Ferne schlugen Hunde an; Hemmingen sah zerstreut nach der Richtung, dann sagte er wie aus Gedanken heraus: „Ob man wirklich das Recht hätte, von seinen nächsten Bekannten zu fordern, daß sie uns mit ihren Leiden, großen wie kleinen, verschonten? Hieße das dem Egoismus nicht völlig Thür und Thor öffnen? Und was bliebe von aller Unterhaltung? Immerfort kann uns doch auch nicht das Metier beschäftige – weder die Kunst noch die Wissenschaft, selbst im weitesten Sinne gefaßt. Wir wollen und müssen auch direct von uns und unseren Nächsten leben; da gilt dann freilich oft das alte Losungswort: Leben – Leiden.“
Else hatte sich bald, nachdem er begonnen, lebhaft aufgerichtet und erwiderte nun:
„Sie wissen, darauf höre ich gar nicht. Das Leben ist zur Freude da, für mich nur zum Genießen, und zwar von meiner lieben Doris knusprigen Morgenbrödchen an bis zum letzten müden Blick, der an den Spitzen des Kopfkissens verdämmert. Nicht charmant gesagt? Bester Schwager, machen Sie nicht ein so finsteres Gesicht! Ja, ja!“ fahr sie auf eine lässige Handbewegung Hemmingen’s fort, „es ist so. Nun, für das große Allgemeine muß ich es Ihnen ja so wie so zugeben – niemals aber für mich, wenigstens für jetzt – nein niemals! Mir sind entre nous die beiden Jahre in Königsberg entsetzlich lang geworden, und hätte ich nicht damals meinen Kopf darauf gesetzt, ich wäre längst aus der Lehre gelaufen. Jetzt ist das aber vorüber; ich habe das Zeugniß der Reife in der Tasche, nein, im Koffer. Nun will ich auch meine Jugend – neunzehn Jahre und drei Monate nennen Sie hoffentlich noch jung? – genießen, ach, nichts als genießen.“
Sie zog die Schwester an sich heran und küßte sie rasch auf Wange und Mund.
„Wildfang!“ wehrte diese.
„Wir sind bereits wieder ehrbar,“ begann Else in so tiefen Tönen, wie sie ihr zu Gebote standen „sonst wird Monsieur Hemmingen wirklich böse. Die Geschichte vom Krüppelchen lasse ich mir aber trotzdem nicht zum dritten Mal erzählen; ob man auch zu Egoismus und Hartherzigkeit verurtheilt wird, es bleibt dabei – nach Burgsdorf fahrt Ihr künftig allein. – O, da ist unsere Gartenmauer schon! Wie Brillant heute bellt! Und Bergmännchen, Waldine – das reine Concert!“
Der Wagen kam nun auf Steinpflaster; noch einige Minuten, dann hielt er vor der Hauptthür eines langen, einstöckigen Hauses, an welchem sich nur der Mittelvorsprung durch reicheren Schmuck von Sandstein-Ornamenten auszeichnete. Ein Diener und ein Mädchen, die bereits wartend auf der Rampe gestanden, halfen beim Aussteigen; Else begrüßte zärtlich die beiden Bracken, dann verabschiedet sie sich gleich für heute bei den Ihrigen, da sie von der schwierigen Vertheidigung angegriffen sei, wie sie dem Schwager auf’s Ernsthafteste versicherte.
Dieser, welcher seinen Pelz dem Diener überlassen warf sich im Wohnzimmer in einen Sessel und sah vor sich nieder. Als das Mädchen, mit Doris’ Mantel und sonstigen Umhängen beladen, gegangen war, sagte er in einer Art verzweifelten Humors:
„Was soll das nun geben? Förster will morgen um Else anhalten?“
Doris, die sich am Spiegel ihr Haar ordnete, drehte sich erschrocken um, antwortete aber im ersten Moment nicht.
„Er glaubt ihrer Neigung bereits sicher zu sein,“ fuhr Hemmingen fort. „Ich konnte ja weder zu- noch abreden; was weiß ich, wie die Beiden mit einander stehen!“
„O, das ist schlimm,“ versetzte Doris.
„Hast Du denn in letzter Zeit bei ihr ein wärmeres Interesse für Förster bemerkt?“
„Jedenfalls ist er ihr nicht gleichgültig.“
„Und dabei diese Lieblosigkeit, ja Härte gegen das Kind!“
Doris trat zu dem Gatten heran und legte ihre Hand wie besänftigend auf seinen Arm:
„Je strenger wir urtheilen, um so mehr fühle wir mitunter. Es war ein unglücklicher Zufall, daß wir gerade heute hingefahren sind; selbst ich habe das Kind noch nie so unliebenswürdig gesehen.“
Eine Pause entstand.
„Alles in Allem,“ fuhr dann Hemminge auf, „wollen wir den Zufall jedoch eher einen glücklichen nennen. Nun ist keine Illusion möglich; sie weiß, was ihrer wartet, und kann sich also genau prüfen, ob für sie bei dem gebotenen Glück Licht oder Schatten überwiegt. Denn für ein Glück wäre dieser Antrag immerhin zu erachten, natürlich nach menschlichem Ermessen.“
Doris nickte.
„Förster ist ein so durch und durch nobler Mensch. In so mancher delicaten Lage haben wir seinen Tact ja geradezu bewundert. Sein Reichthum dabei, die distinguirte Erscheinung –“
„O, viel mehr als distinguirt!“ unterbrach ihn Doris, „wir rechnen Förster zu den schönen Männern.“
„Meinetwegen auch zu den schönen! Um so mehr des Glückes also, wenn es ein Glück ist, einen schönen Mann zu besitzen. Das mußt Du doch am besten wissen?“
„Es ist ein Glück.“ Dabei beugte sich Doris zu ihm herab und küßte seine Stirn. Beide mußten lächeln.
„Ich habe morgen ja Termin,“ begann Hemmingen von Neuem, „kann Förster also nicht einmal einen Wink gebe.“
„Wäre das überhaupt richtig?“ fragte Doris zweifelnd. „Einer von beiden Theilen muß da wohl unbefangen bleibe.“
„So willst Du Else darauf vorbereiten?“
„Besonders nach dem, was wir eben von ihr gehört haben, halte ich es für Pflicht. Sie könnte bei ihrer Neigung, nur dem augenblicklichen Impuls zu folgen, etwas ablehnen, was sie später vielleicht lebenslang bedauerte. Else hat bei all ihrer Wärme und Lebhaftigkeit jetzt oft etwas Scheues, in sich Zurückgezogenes; auch scheint es mir Interesse zu beweisen, daß sie niemals mit mir über Förster spricht, ihm hier und da sogar aus dem Wege geht. Heute hat sie nur der Aerger über Rudi und Dein Widerspruch gereizt, so viel von jenem Hause zu sprechen.“
„Nun, Förster kommt erst gegen Abend; so habt Ihr vollkommen Zeit, darüber einig zu werde. Ich werde bis Sechs zurück sein und Friedrich ein paar Fläschchen kalt stellen lassen?“
Doris zuckte leicht die Achseln. „Ich wage nichts Bestimmtes zu sagen – wie Du denkst,“ meinte sie.
„Schaden kann es ja nie. Kommt es zu Nichts, so trinken wir wenigstens Alle zusammen einen Kummertropfen. Weißt Du, wie es immer bei Euch eine Kummertorte gab, wenn Jemand fortreiste? Weigert sich Else übriges entschieden, so müßte Förster wohl darauf vorbereitet werden? Dann heiße ihn mich nur erwarten – das wird er schon verstehen. Mache Deine Sache gut! Man wird sich doch zu etwas so Aeußerem, wie solchem Kinde stellen können! Das Geschöpfchen ist ja noch wie Wachs, jedem Einfluß zugänglich. Stelle ihr das nur richtig vor – die großen Vorzüge der Partie drängen sich schon von selbst auf. Ich hoffe nun eigentlich doch das Beste.“
Damit erhob er sich, nahm die Lampe und ging seiner Gattin nach dem Schlafzimmer voran.
Es war ein gar traulicher Raum, den Else von Düchau seit zwei Monaten wieder bewohnte. Eine ältere Cousine hatte sich denselben, da sie jahraus, jahrein aus längere Zeit nach Barten zu kommen pflegte, vollständig nach ihrem Geschmack eingerichtet, und von diesem war es in der ganzen Familie bekannt, daß er selbst mit einfachen Dingen die freundlichsten Wirkungen hervorbrachte. Hier konnte weder der purpurne Plüschbezug der Meubles, noch die birkenen Etageren, Tische und Stühle auf irgend welche Eleganz mehr Anspruch machen, wohin sie aber gestellt waren, unter welchen Bildern sie standen, selbst durch welche der zahllosen Nippes sie geziert wurden – diese Anordnungen brachten ein reizvolles Ganzes hervor.
Else hatte sich nach der Verheirathung der Cousine für ihre Besuche in Barten ebenfalls diesen Raum zum Bewohnen ausgebeten; nur einige Kleinigkeiten waren hinzugefügt, nichts Wesentliches umgestellt, so war er geblieben, was er immer gewesen, der volle Ausdruck einer weichen, sinnigen Persönlichkeit. Obwohl gerade der Ausdruck für Else wenig paßte, fühlte sie sich doch in dieser Umgebung wohl und versicherte gern, daß sie das Zimmer nur gewählt habe, um so ihrer lieben Hertha rascher ähnlich zu werden. Natürlich trat dabei schon in der bloßen Art und Weise, wie sie dergleichen hinwarf, der tiefe Gegensatz zu Tage, der zwischen ihrem Wesen und dem ihres Ideals lag.
Eben freilich hätte Niemand, der sie nicht kannte, ihren Bewegungen, ihrer Haltung die sonstige Lebhaftigkeit zugetraut. Sie war immer wieder nachdenklich stehen geblieben hatte nur einmal wie verstohlen gelacht, ja die Blätter der Fächerpalme in so schmeichelnd zarter Weise gestreichelt, daß diese unter der ganz ungewohnten Liebkosung gleichsam erschauern mußten. Und jetzt stand sie schon eine Weile vor den beiden kleinen Oelbildern, welche über dem Sopha hingen: rechts die Rosenlaube mit all den Sonnenfunken, die golden auf der Erde lagen, schien sie am meisten zu fesseln, obwohl sie auch dem Wasserfall im Mondschein dann und wann einen Blick gönnte. „Froloff“ las sie mechanisch auf einer Rosenranke und versuchte sich nun darauf zu besinnen, was ihr die Cousine von dem Maler erzählt hatte: war es nicht Eigenthümliches gewesen?
Doch was kümmerte sie im Grunde dieser Maler! Hatte sie nicht an so viel Anderes zu denken? Es wurde schon dunkler; die Sonne mußte im Untergehen sein – jede Minute konnte Förster kommen. Wie er eigentlich aussah? Und würde seine Liebe tief genug sein, um das Opfer zu bringen? Wenn nicht, wenn nicht? Wäre das aber denkbar?
Sie richtete sich hoch auf: so voll empfand sie ihren Werth, daß sich der kleine Mund zu einem spöttischen Lächeln verzog. Und damit schwand auch das bisherige Träumerische ihres Wesens. Unruhig begann sie von einem Zimmer in’s andere zu gehen, trat hier an’s Fenster – dann dort, schlug auch ein paar Accorde auf dem Pianino an, doch blos, um gleich wieder aufzuhören, und war schließlich bereits im Begriffe zur Schwester hinüberzugehen, als sie deutlich Schlittengeläute hörte. Da kam er: noch rasch in’s Wohnzimmer, ihn dort an Doris’ Seite zu empfangen.
Sie ließ jedoch die Thürklinke, welche sie schon gefaßt hatte, wieder los. Wie Absicht könnte das aussehen, beinahe als würde er erwartet, von ihr erwartet. Das durfte nicht sein.
Nachlässig ging sie von Neuem bis an’s Fenster und sah scheinbar ruhig dem Tanze wirbelnder Flocken zu; dabei hörte sie aber genau, daß der Schlitten hielt und dann seitwärts nach der Remise fuhr. Recht lange dauerten die paar Minuten sogar, bis der Bediente „das gnädige Fräulein“ herüberbat.
Ganz als „Gnädige“ trat sie über die Schwelle des Wohnzimmers, doch flog sofort, ehe sie Förster recht angesehen, ein Rosenschimmer (es konnte allerdings noch ein Abglanz von ihrem vorherigen Studium der Rosenlaube sein) über ihre Wangen, und sie eilte nun in ihrer natürlichen Weise einem Stuhl in der Nähe von Doris zu, die eben von ihrem Mißfallen an dem eingetretenen Schneewetter gesprochen hatte.
Förster wandte sich gleich an Else:
„Schon Ihrer Frau Schwester drückte ich meine Freude aus, daß sich unser neuer Weg bei seiner gestrigen Einweihung so manierlich aufgeführt und selbst Ihrem schweren Wagen keine Schwierigkeiten bereitet hat. Wir waren recht in Sorge.“
„O, der Weg ist sogar alles Lobes würdig!“ scherzte Else.
„So lange wir ihn passirten, vertrugen wir uns auf’s Beste, da wir schweigen mußten; sobald die Chaussee erreicht war, ging auch der Streit los.“
„Du bist aber –“
„Nein – nein!“ unterbrach Else die Schwester, „glauben Sie mir nur – wir haben uns sehr ernstlich gezankt. Selbstverständlich Hemmingen und ich; Doris schlummerte sanft oder stand mir bei.“
„Und worüber – wenn die Frage nicht indiscret ist – waren die Meinungen so getheilt?“
Else hob ein wenig die Schultern und antwortete, Förster endlich voll ansehend:
„Diesmal kann ich Sie nicht zu meinem Ritter bekehren, wie neulich, wenigstens für jetzt nicht; ich muß noch über Alles schweigen – Familienangelegenheiten!“
„Verzeihen Sie!“
Doris machte eine Bewegung der Ungeduld und sagte:
„Else bemüht sich den Kobold zu spielen; also –“
„Davon weiß ich nichts,“ fiel Förster ein.
„Danke schönstens!“ rief Else und fuhr zu Doris gewendet fort: „Siehst Du, so gehen Verleumdungen zu Schanden. Ihr allein habt blos immer Tausenderlei an mir auszusetzen – ja; die theure Familie! Doch nun wieder gut sein, Dorette! Auch ich vergebe Dir.“
Damit sprang sie auf und ging nach einem seitwärts stehenden Schränkchen.
„Wir haben die Photogramme, von denen wir gestern sprachen, hervorgesucht. Hier sind beide Bilder von meinem lieben, lieben Starnberger und da – der unheimliche Königssee!“
Sie legte die Blätter vor Förster auf den Tisch.
„Habe ich nun nicht Recht? Hier Alles – Leben, Glanz, gleichsam nichts als Glück; da finsterer Ernst, selbst bei Sonnenschein – ein Frösteln nahe.“
„Doch wie charaktervoll!“ versetzte Förster. „Leider habe ich beide nicht gesehen, würde aber nach dem Bilde glauben, daß der Königssee eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Urnersee haben müßte. Und ich kenne nichts, was mich so bis in das Innerste berührst ja ergriffen hätte, als der erste Blick nach Flühen hinüber. Ganz unvergeßlich!“
„Gewiß!“ erwiderte Doris, „die beiden Seen gleichen sich. Der Urner liegt nur noch freier: man hat doch die Rütlipartie, das grüne Urier Thal; am Königssee – Felsen an Felsen; hier das Stückchen Land mit Sanct Bartholomae“ – sie zeigte auf die betreffende Stelle des Photogramms – „bemerkt man kaum.“
„Unvergeßlich, sagten Sie vorher?“ warf Else ein, „unsere Rückfahrt über den Königssee bleibt mir gleichfalls unvergeßlich. Es stieg ein Gewitter, hier über den Watzmann, auf, mit einer Schnelligkeit, in so schauerlicher Wolken – der Athem stockte uns. O, Doris auch, nicht blos mir! Die Schiffer mußten rudern, was in ihren Kräften stand; das Wasser kräuselte sich schon und sah wirklich aus wie König Watzmann’s Blut.“
„Aber Else!“ sagte Doris lächelnd, indem sie aufstand und nach ihrem Nähtisch ging.
„Ich kann mir nicht helfen,“ rief diese. „Wie Blut sah es aus. Irgendwo mag noch eine rothe Wolke am Himmel gewesen sein – der Wiederschein! Damals dachte ich das schon. Was hat man nun an einer solchem Erinnerung? Noch heute empfinde ich ein Grauen, sobald ich mich da wieder hineindenke.“
„Ein Gewitter –“ meinte Förster.
„O für den See,“ unterbrach ihn Else, „ist Gewitter eine beinahe gleichgültige Zugabe. Herzbeklemmend bliebe er immer: und wenn man seine Felsen über und über mit Alpenrosen bestecken könnte, sie starrten doch wie das Unglück selbst drein. – Ich liebe nun einmal dergleichen Eindrücke nicht und suche sie noch viel weniger: überall Licht, Lachen und Freude! Nach unserm gestrigen Gespräch glaube ich übrigens, wäre das auch Ihr Geschmack – nicht wahr?“
„Für mein Haus, meine nächste Umgebung vermöchte ich mir nichts Reizenderes zu denken,“ erwiderte Förster warm. „Wie sich im Leben aber nicht Alles fortscherzen läßt, ja unser Herz, wenn auch vielleicht kaum bewußt, nach langer Helle wieder seine Schmerzen ersehnt, so möchte ich solche ernste Bilder nicht unter meinen Erinnerungen missen. Laube sagt einmal vom Drama: es solle nicht blos unterhalten, sondern auch schrecken und erschüttern, [656] weil Schreck vor dem Gewaltigen die gesunden Nerven der Seele kräftige und jene tiefsten Regungen belebe, die unter den Alltagseindrücken im Schlummer bleiben und so allmählich verkümmern. Was da vom Drama gefordert wird, legt uns das Leben ganz ungefordert auf, ob mir uns nun davor wehren oder nicht: und da dürfte es schon für das Ertragen gar nöthig sein, daß man auch von jenem Anderen, nicht blos vom Lachen weiß. Aber welcher Mensch wüßte nur davon, kaum ein Kind! Sie haben mit Absicht übertrieben, um Ihre Schauer vor dem See –“
„Sie irren durchaus!“ fiel Else ein. „Vor der Hand mindestens habe ich keine Spur von Sinn für die Leiden der Welt. Ich habe in Königsberg genug gelitten, nicht wahr, Dorette?“ Sie sah sich um – ihre Schwester war verschwunden. Sofort in tiefer Befangenheit aufstehend, rief sie nach der Thür des Nebenzimmers: „Doris!“
Förster trat rasch auf sie zu und bat, seine Hand aus die ihrige legend:
„Lassen Sie Ihre Schwester! Ich glaube Ihnen ja. Ob es überhaupt Etwas gäbe, was ich Ihnen nicht glauben würde, Fräulein Else? Wo mein Verstand selbst nicht mitwollte, dürfte das Herz sehr tyrannisch werden können. O, Sie ahnen nun schon, weshalb ich heute gekommen bin? Ich fühle es an dem Beben Ihrer Hand – und darf ich wirklich hoffen? Else! sprechen Sie ein Wort!“
Sie wandte den Kopf noch weiter ab: jetzt mußte gesagt werden, was so kalt war. Wohl bloßer Egoismus, wie es auch Doris genannt? Doch nein! Wollte sie bleiben, was er gestern als sein Höchstes hingestellt halle, die Frohnatur, die an Allem, was ihn betraf, lebendig Theil nahm, ihm das Schwere erleichterte, das Schöne doppelt schön machte, so durfte sie nicht fortdauernd das Häßliche vor Augen haben – sein Kind. Und hatte sie nicht auch eben gehört, wie er ihr Alles glauben müßte? So trat sie einen Schritt zurück und sagte mit zitternder Stimme:
„Ihren Wunsch muß ich ahnen, weil Doris davon zu mir gesprochen hat, und – –“.
„Und –?“ .
„Sie hielt das für nothwendig, da ich gestern – behauptet hatte –“.
„Was? – Was?“
„Ich könnte mit Rudi – niemals zusammenleben.“
Sie hatte die letzte Worte heftig herausgestoßen, und stand nun da – bleich und leblos wie eine Statue.
Ueber Förster’s Gesicht zuckte etwas hin: war es bloßes Weh oder ein Auflachen des Hohns? Dabei faßte er nach dem Tische und stützte sich auf denselben. Kein Laut unterbrach die Stille – für einen Moment lebte Nichts in dem Zimmer als die Blicke der Beiden, und die sprachen schon kaum noch von Liebe, nur von Trotz und Stolz. Else wuchs gleichsam unter diesen Blicken; Förster stützte sich nicht mehr und fragte nun sogar mit einer Art von Verbindlichkeit:
„Was Sie gestern behauptet haben, gilt natürlich auch heute noch?“
„Ja!“
„Und was verstehen Sie unter diesem Zusammenleben? Schon die bloße Anwesenheit des Kindes im Vaterhause? Vergeben Sie, wenn ich so ausführlich bin; das Gespräch scheint Sie zu quälen –“
„Ich fühle mich nur müde; gestatten Sie, daß ich mich setze!“
Sie nahm auf dem nächste Stuhl Platz.
„Nur müde!“ sagte Förster langsam. Dann fuhr er, starr auf Else blickend, fort: „Es ist wohl die Pflicht des älteren Mannes, keine Unklarheit bestehen zu lassen, wenn er so weit gegangen ist, wie ich. Sie haben mir noch nicht geantwortet.“
Else sah zu ihm empor.
„Ob die bloße Anwesenheit des armen –“
„Bei meinem besten Willen,“ unterbrach sie hastig. „ich vermöchte es nicht, dieses immerwährende Leiden mit anzusehen. Ich würde selbst krank dabei; nichts von dem, was Ihnen an mir Freude machte, wie Sie gestern sagten – nichts könnte ja bleiben. Wie sollte ich in einem Hause lachen können, wo mich immerfort Etwas marterte?“
„Die Gewohnheit, das Muß ist eine grausame Lehrerin –“
„Nicht für mich!“ rief Else. „Ich bin nicht zur Geduld geschaffen; ein Krankenzimmer macht mich schon leiden, und ich will nicht leiden. Jeden Augenblick brauche ich meine liebe Sonne: nur in ihr bin ich, wozu ich glaube bestimmt zu sein. O , und es darf Frauen geben, die ihren Platz neben dem Manne suchen, mit ihm streben und vorwärts gehen, die nicht blos ihren kleinen Lebensberuf darin finden, für sein Haus zu sorgen. Dazu sind seine Dienstboten.“
„Im Krankenzimmer – Dienstboten? Muß ich Sie an all die edlen Fürstinnen erinnern, die für ihr Liebstes –“
„Für ihr Liebstes!“ fiel sie wie bestätigend ein.
„Sie haben ganz Recht,“ entgegnete er mit halber Verbeugung. „Das heißt darin Recht, einen unbegründeten Anspruch zurückzuweisen: nur mir ist das Kind etwas Liebstes.“
„Ich glaube,“ flammte Else auf, „Sie können einfach sagen, überhaupt Ihr Lieb–“ sie stockte und sah, glühend roth geworden, zu Boden.
„Else!“ rief Förster in erschütterndem Tone. „Um Gotteswillen , Fräulein. Else ! Ich darf nichts von dem vergessen, was ich eben gehört habe: und das ist Schweres, läßt sich nicht beschwören wie irgend ein Vorurtheil, weil es mit uns verwachsen ist – tief, allzu tief!“ Er strich sich über die Stirn; dann fuhr er wie in Selbstironie fort: „Früher gab man uns körperliche Thaten zu Ehren der Geliebten auf; heute werden seelische gefordert. Ob sie leichter zu vollbringen sind? Nun! Der Augenblick wenigstens soll über nichts entscheiden – dazu stehen wir wohl zu hoch: und vielleicht fänden Sie auch – nach einem Tage der Sammlung, meine ich – daß Sie zu Schweres gefordert?“
Sie blieb regungslos. So sagte er denn nur leise, indem er sie noch einmal schmerzlich ansah:
„Leben Sie wohl!“
Die Thür war bereits hinter ihm zugegangen, als Else mit einem krampfhaften Aufschluchzen ihren Kopf in den Händen verbarg.
Edelweiß.
Unter allen Blumen der Welt ist wohl keine zweite, an deren Erlangung soviel Muth und Kühnheit gesetzt würde und deren verlockender Reiz schon soviel Menschenleben vernichtet hätte, wie das viel umworbene, vielbesungene Edelweiß unserer Alpen. Allein in den Umgebungen von Berchtesgaden, an den herrlichen steilen Ufern des Königssees sind demselben 1879 bis 1880 binnen Jahresfrist vier Menschenleben zum Opfer gefallen, und zwar handelte es sich dabei in keinem Falle um im Klettern ungeübte, mit den Gefahren der Berge unbekannte Touristen, sondern um Einheimische, die das Edelweiß theils zum Verkauf, theils als Schmuck für ihren Hut suchten. Fremde würden dem nämlichen Geschick wahrscheinlich noch häufiger verfallen, wenn sie es nicht in der Regel vorzögen, dieses Wahrzeichen der höheren Regionen, das Abzeichen der Gipfelbezwinger, drunten im Thale zu kaufen. In der Ebene bildet man sich nicht selten ein, daß diese Blume eine förmliche Liebhaberei besitze, nur an den gefährlichsten Orten, an den steilsten Abhängen und auf den schroffsten Klippen zu wachsen, sodaß sie, einer Loreley unter den Blumen vergleichbar, ihre Verehrer geradezu in’s Verderben locke und überhaupt von Niemand anders als gemsengleich kletternden Hirtenbuben und gefeierten Steigern zu erlangen sei. Dies ist aber keineswegs der Fall. Das Edelweiß ist vielmehr in einer Höhe von über sechstausend Fuß auf Kalkunterlage eine sehr verbreitete Blume, und ich habe sie z. B. im Heuthal am Berninapaß und am Strehlapaß an Oertlichkeiten gesammelt, welche auch nicht die leiseste Gefahr darboten. Das Verhältniß ist vielmehr so, daß diese Blume, eine nahe Verwandte unserer Katzenpfötchen und Sand-Immortellen, an allen Orten, wo ein bedeutender Fremdenverkehr und demnach auch eine gesteigerte Nachfrage nach derselben ist, aus den zugänglicheren Plätzen gänzlich ausgerottet ist, sodaß sie sich eben nur noch an
[657][658] den gefährlicheren und nicht Jedermann erreichbaren Standorten behaupten kann.
Man muß die riesenhaften modischen Tellersträuße, in denen die Blume jeden poetischen Reiz verliert und die Körbe voll, welche im Sommer an vielen Eisenbahnstationen zum Verkauf ausgeboten werden, gesehen haben, um das zu begreifen. Angesichts dieses Mißbrauches kann man es nur billigen, daß eine Reihe von Cantons-Regierungen wie Bern, Graubünden und Obwalden, den Edelweißverkauf neuerdings durch Gesetze eingeschränkt haben. Dieselben verbieten zwar Niemanden, das Abpflücken und Ausgraben des bedrohten Kleinods der Alpen wohl aber das Feilbieten desselben auf Märkten und Straßen.
Obwohl die Gefahr einer Ausrottung bei der weiten Verbreitung und der großen Vermehrungsfähigkeit der Pflanze wirklich nicht so groß ist, wie sie erscheinen könnte, muß man diese Maßregel doch durchaus billigen, da es sich bei dem Verkauf und Versand der Wurzelpflanzen um den ziemlich verfehlten Versuch handelt, das Edelweiß in unseren Gärten und Zimmern einzubürgern. Es ist wahr, wir haben viele Alpenpflanzen an unsere Gärten und Töpfe gewöhnt, wir ziehen Eisenhut, Alpenveilchen, Alpenstiefmütterchen, Aurikel, Feuerlilien, Alpenrosen und andere von den Bergen stammende Blumen in unseren Gärten und Alpenanlagen, allein eine ziemliche Anzahl dieser Kinder der freiesten und herrlichsten Natur fügt sich durchaus nicht einer solchen Verpflanzung in tiefere Regionen, und weit entfernt, uns damit zu ärgern, vermehrt diese Freiheits- und Heimathsliebe nur die Bewunderung des echten Pflanzenfreundes für sie, geradeso wie derselbe die selteneren Orchideen seiner heimatlichen Wälder und Wiesen nur um so mehr schätzt je schwerer sich dieselben im Garten einbürgern lassen. Das Edelweiß läßt sich ja, wenn man ihm einige Sorgfalt widmet, Jahre lang im Garten cultiviren, allein meist verliert es schon binnen kurzer Zeit den dichten weißen Filz, der das Gewächs so einzig schmückt, und statt, wie andere Gartengewächse, in der Pflege geschickter Hände an Schönheit zu gewinnen, erinnert es in seiner kümmerlichen Erscheinung dann meist an jene gefangenen Vögelchen, die der egoistische Mensch, ihres Freiheitsdurstes nicht achtend, mit unendlicher Gefühllosigkeit im Käfig dahinschmachten läßt. Auch dem Edelweiß kann keine Gartenkunst die reine dünne Luft und das intensive Licht seiner Heimath ersetzen.
Als ich vor einigen Jahren mit einem jungen Poeten mehrere Wochen in den Hochalpen umherzog, sprachen wir oft von der unvergleichlichen Schönheit der Alpenpflanzen, die ihre Schwestern in der Ebene an Größe sowohl, wie an Farbentiefe und Duft entschieden zu übertreffen scheinen. Ich sage: scheinen; denn die Größe der Blüthen wenigstens beruht im Wesentlichen auf einer Täuschung, die in vielen Fällen nur durch die geringe Stengelentwickelung in dem überaus kurzen Hochalpensommer- und durch die Eigenthümlichkeit der Blätter hervorgebracht wird, sich zu dichten Polstern zusammenzudrängen, welche die Wurzeln vor Kälte schützen. Sie brauchen das Licht dort oben auch nicht mit langen Stengeln und weit umhervertheilten Blättern zu suchen; denn da oben giebt es keinen Schatten, außer dem unentrinnbaren der Bergeshäupter, der Wolken und Nebel, da der Wald viel tiefer liegt. Wer wollte den tiefen Azur der Enziane, das reine Carmin- und Purpurroth der Silenen, Nelken und Primeln der höhern Alpen übersehen? Selbst die gemeinen gelben Habichtskräuter und Löwenzahnarten entwickeln hier ein Goldgelb, das bis zu Orange und Mennigroth sich verdichtet, und die in der Ebene weißen Doldenblumen erscheinen hier rosa bis purpurn überhaucht. Ebenso verkünden die würzigen Düfte der Alpenblumen ihren Ruhm weithin.
Meinem Begleiter verschaffte es seiner Naturgabe gemäß größeren Genuß, diese in die Augen springenden Vorzüge vieler Alpenpflanzen als ein undurchdringliches Geheimniß der Natur zu bewundern; mir hinwiederum sagte es mehr zu sie zu analysiren und das Verständniß ihrer Oberheerschaft in den natürlichen Bedingungen ihrer Existenz zu suchen Es zerstört für mich die Poesie der Natur nicht, nach der neueren, den Lesern der „Gartenlaube“ in einem besondern Artikel (1878, S. 50 bis 52) vorgeführten Blumentheorie zu denken, daß die Blume alle ihre Anziehungskraft und ihre lockenden Reize zu ihrem eigenen Vortheile entfaltet, um dadurch Insecten anzulocken, die ihre Bestäubung und Fortpflanzung sichern; nein, diese Erkenntniß vertieft den Naturgenuß.
Natürlich müßte nach diesen Voraussetzungen ein Wettstreit unter den Blumen um die Entfaltung der höchsten Reize entbrennen, und so haben denn Nägeli und andere Botaniker für die Entfaltung höherer Schönheiten seitens der Alpenblumen schon vor Jahren die natürliche Erklärung darin gesucht, daß in den Hochalpen die Insecten sparsamer seien, sodaß immer nur die farbenprächtigsten und würzigsten Pflanzen-Abarten von ihnen zur Nachzucht ausgewählt und bevorzugt worden seien. Mein verehrter Freund, der Oberlehrer Dr. Hermann Müller, welcher die Beziehungen der Blumen zu den Insecten zu seinem Lebensstudium erwählt und seit einer Reihe von Jahre jeden Sommer seine Ferien in den Hochalpen zugebracht hat, um die Alpenblumen nach dieser Richtung zu untersuchen, auch kürzlich ein besonderes Werk über dieselben veröffentlichte,[1] will freilich diese Erklärung nicht als genügend ansehen. Er meint, es fehle an der Grenze des ewigen Schnees im Sommer durchaus nicht an Insecten, welche geeignet seien, die Fortpflanzung der Blumen daselbst zu sichern, namentlich nicht an den fleißigsten und geschicktester derselben an Bienen und an Schmetterlingen. Nun seien aber die Schmetterlinge jedenfalls die farbenfrohesten aller Insecten, wie schon ihr eigenes, oft in der höchsten Farbenpracht schillerndes Gewand bezeugt, und Dr. Müller schreibt ihrem Ueberwiegen dort oben im Besonderen die Züchtung der von ihnen bevorzugten herrlich carminrothen Alpenblumen zu. Aber die Schmetterlinge sind außerdem auch Duftverständige und verbreiten mittelst besonderer Duftpinsel oft selbst für unsere Nasen sehr angenehme Düfte, wie dies zuerst der ausgezeichnete deutsche Naturforscher Fritz Müller in Brasilien, ein Bruder des Vorgenannten, endeckte. In einem Briefe über einen Ausflug in das Quellgebiet des Rio Negro schrieb mir derselbe vor einigen Jahren in Betreff eines dortigen Tagschmetterlings (Papilio Grayi), daß derselbe wie eine Blume dufte, weshalb er ihn, zum gelegentlichen Daranriechen wie einen Strauß in der Hand getragen habe. Man kann sich deshalb kaum darüber wundern daß die Tagfalter als Beherrscher der mittleren Alpenregionen dort eine Anzahl besonders würziger roter Blumen gezüchtet haben, wie z. B. das Herzbrändli (Nigritella angustifolia) und einige andere Orchideen (Gymnadenia odoratissima) , die gestreifte Daphne und verschiedene Nelken und Primeln – im Gebirge Speik genannt – Blumen deren Duft zwischen Vanille und Nelken schwankt.
„Halt da!“ rief eines Tages mein Begleiter, indem er sich bückte und ein prächtiges großes Edelweiß dicht an unserem Pfade pflückte; „erklärt man dieses farben- und duftlose Symbol der Hochalpen-Natur etwa auch durch den hochästhetischen Formensinn der Insecten? Reichen da die natürliche Zuchtwahl, das Ueberleben des Passendsten, und wie diese Schlagworte sonst noch heißen, auch zur Erklärung aus? Ist nicht diese herrliche Blume vielmehr in aller und jeder Beziehung ein Abbild der majestätischer Natur, in der sie erblüht? Ihre Farbe ist so rein, wie der Firnenschnee der zackigen Bergeshäupter im Sonnen- und Mondenglanz, der dichte schneeige Filz, der selbst die Blumenblätter bekleidet, ist der Nachbarschaft des ewigen Schnees angemessen und der Blumenstern selbst ein frappantes Abbild des Schneesterns, dem die Firnen, Gletscher und alle die Wunder der Hochalpen ihren Ursprung verdanken. Wahrhaftig, das Edelweiß ist ein echtes Miniaturbild der Hochalpen-Natur in ihrer ganzen erhabenen Reinheit und Schönheit, und ein solches, mit seiner Umgebung in vollster Harmonie stehendes Wunderwerk konnte nur die aus dem Ganze schaffende Natur zu ihrer Selbstbespiegelung vollenden.“
- ↑ „Alpenblumen, ihre Befruchtung durch Insecten und ihre Anpassungen
an dieselben. Mit 173 Holzschnitten.“ Leipzig, Engelmann.
1881 – Diejenigen Leser, die sich auf eine bequeme Weise mit der zierlichen
und farbenprächtigen Erscheinung der Alpenblumen bekannt machen
wollen, möchten wir bei dieser Gelegenheit auf das schöne bei F. Tempsky
in Prag lieferungsweise erscheinende Farbendruckwerk „Die Alpenpflanzen
von Joh. Seboth nach der Natur gemalt“ aufmerksam machen. – Ferner
wird der „Deutsche und Oesterreichische Alpenverein“ für seine Mitglieder
eine „Anleitung zu botanischen Beobachtungen und zum Bestimmen von
Alpenpflanzen“ im Frühjahre 1882 herausgeben. Um aber das Erkennen
der einzelnen Arten dem Laien zu erleichtern, beschloß man, diesem von
Professor Dr. R. W. von Dalla Torre in Innsbruck bearbeiteten Werke
noch einen „Atlas der Alpenflora“ beizufügen Die erste Lieferung
desselben liegt uns bereits vor; die Kinder der Alpenflora sind in derselben
auf hellgrauem Papier in ihren bunten natürlichen Farben von
dem bekannten Künstler Anton Hartinger in Wien trefflich wiedergegeben,
sodaß die Arbeit das ungetheilte Lob aller Blumenfreunde sich erringen
dürfte. Da der Atlas, welcher im Ganzen fünfunddreißig Lieferungen
enthalten soll, auch an Nichtmitglieder des Alpenvereins zu dem Preise
von zwei Mark für die Lieferung abgegeben wird, so empfehlen wir denselben
der Aufmerksamkeit unserer Leser auf das Wärmste. D. Red.
[659] Es gelang mir nicht, den Poeten von dieser phantastischen Naturauffassung zu befreien; er hörte kaum darauf, als ich ihm sagte, die Aehnlichkeit mit der Schneeflocke sei eine blos eingebildete und die nüchterne Naturbetrachtung in diesem Falle poetischer, als die poetische, indem sie uns zeigt, daß diese Wunderblume thatsächlich ein Unicum und in gewissem Sinne die höchste Leistung der Flora ist, nämlich gar keine eigentliche Blume, sondern ein Strauß aus Sträußen, von einer geradezu einzigen und künstlerischen Composition. Versuchen wir es nun an dieser Stelle, die eigenartige Natur des Allerweltslieblings zu zergliedern !
Die neuere Blumenerklärung, welche Schopenhauer in die Worte kleidete: die Blumen seien nur um ihrer selbst willen und nicht für andere Wesen schön und anziehend, erklärt uns, warum kleinere Blumen, die für sich im Laube verschwinden würden, wie z. B. die unserer einheimischen Orchideen, des Klees, der Reseda, der Doldenblumen, Scabiosen und unzählige andere, sich zu dichten Aehren, Trauben, Köpfchen, Scheiben und Sträußchen zusammendrängen, um nach dem Principe: „Vereinigung macht stark“, ihre Duft- und Farbenwirkung zu erhöhen und von Weitem besser gesehen zu werden. Die Blume bietet sich in solchem Falle ihren Verehrern gleich als Strauß dar, und oft als ein Strauß von wunderbar zierlicher Composition. Das Straußwinden ist bekanntlich eine Kunst, welche viel natürlichen Geschmack erfordert, und es giebt dabei gewisse kleine Kunstgriffe, welche die Wirkung sehr erhöhen. Um mich nicht in ein Detail zu verlieren, dessen Verfolgung an dieser Stelle die Fülle des Stoffes verbietet, erinnere ich nur an die meist aus Papier oder zartem Stoff gefertigten, zierlich zerschlitzten Manschetten, die wir unseren Sträußen als effectvolle Unterlagen geben. Ich weiß nicht, ob die ersten Straußbildner diesen Kunstgriff der Natur abgesehen haben; jedenfalls verschmäht erstere denselben nicht, namentlich wenn es darauf ankommt, aus kleinen und unscheinbaren Blüthen ein effectvolles Ganzes zu componiren. In der Regel geht jede einzelne Blüthe aus der Achsel eines einzelnen meist grünen Blattes, des sogenannten Stützblattes oder der Bractee hervor, und bei der Vereinigung vieler Blüthen zu einem Strauße vereinigen sich nicht selten die Bracteen unter sich, um diesem Strauße eine geschmackvolle Manschette oder Unterlage zu gewähren. Wir finden solche Beispiele sehr schön bei einer Abtheilung der durch Mohrrübe, Fenchel, Petersilie, Schierling etc. auf unsern Wiesen und Gartenbeeten überall vertretenen Doldenblüthler, die sich durch Bildung kleinerer und dichterer Blüthenstände auszeichnen, nämlich bei den Sterndolden und Mannstreu-Arten, denen sich die weniger bekannten Bupleurum- und Hacquetia-Arten, anschließen. Es ist nun bemerkenswerth, daß sich die schönsten Beispiele von Manschettenbildung unter diesen zum Theil auch in der Ebene vertretenen Arten wiederum im Gebirge finden. Auf dem von Künstlerhand entworfenen Alpenblumenstrauße, der diese Skizze schmückt, sehen wir, die andern Blumen überragend, die beiden verbreitetsten Sterndolden (Astrantia major und minor) dargestellt, von denen Albrecht von Haller in seinem Gedichte über die Alpen sang:
„Der Blumen zarten Schnee, den sanfter Purpur färbet,
Schließt ein gestreifter Stern in weiße Strahlen ein.“
Blickt man diese Blumen in der Natur genauer an, so bemerkt man die zierlichste Zeichnung in dunkelgrüner und violetter Aderung auf weißer Sternrosette. Die Mannstreu-Arten der Ebene, welche Dürer auf seinen Bildern so häufig gezeichnet hat, werden weit übertroffen von der in der Mitte unseres Straußes und in zwei seitlichen Exemplaren dargestellten Alpen-Mannstreu (Eryngium alpinum), deren Blüthenköpfchen von einer bei großen Exemplaren über alle Beschreibung schönen, stahlblau schimmernden Stachelrosette umgeben ist. Mit Recht trägt man sie im Waadtlande als Chardon bleu überall statt Edelweiß oder Gemsbart am Hut, wozu sich der wie aus feinstem, glänzend polirtem und blau angelassenem Stahl gefertigte Strahlenstern prächtig eignet.
Offenbar haben diese Straußmanschetten die Bedeutung von Anlockungsmitteln aus der Ferne, und dies tritt besonders hervor bei solchen Pflanzen, deren Blüthen klein und unscheinbar, womöglich grünlich gefärbt sind, wie bei vielen Arten des großen Wolfsmilch-(Euphorbia-)Geschlechts. Bei den gewöhnlichen Wolfsmilch-Arten unserer Gärten und Triften bilden die Bracteen verwachsene Hüllen, die am Rande mit goldgelben Halbmonden verziert sind, bei einigen andern Arten, die wir in unsern Gewächshäusern ziehen, der Euphorbia fulgens, splendens, punicea, pulcherrima etc. bilden sie, wie schon diese Beinamen besagen, herrliche, meist brennend scharlachrothe Einfassungen des an sich ganz unscheinbaren Blüthenstraußes, welche denselben auch für Menschenaugen so anziehend machen, daß die mexicanischen Damen diese Wolfsmilchsträuße als prächtigsten Schmuck ihres dunklen Haares verwenden, wozu sie sich in der That wie keine anderen natürlichen Sträuße eignen, da sie selbst eine lange, heiße Ballnacht hindurch vollkommen frisch bleiben. Bei der letztgenannten Art, die auch als Poinsettia pulcherrima unterschieden wird – die Spanier nennen sie Osterblume, Flor de Pasqua – wird die zinnoberrothe Straußmanschette handgroß, und sticht von dem maigrünen Laube und den ebenso gefärbten Blüthenknospen prächtig ab.
Dieses Vereinigungsprincip erscheint auf die höchste Spitze getrieben bei derjenigen artenreichsten Pflanzenfamilie, die zugleich nach geologischen Forschungen die jüngste ist und somit als der höchste Ausdruck der pflanzlichen Entwickelung anzusehen wäre, bei den Korbblüthlern (Corymbiferae) oder Zusammengesetzten (Compositae), zu denen unsere Kornblumen, Kamillen, die Gänseblümchen, die Sonnenblumen, Astern, Georginen und auch unser Edelweiß gehören. Die Eigenthümlichkeit dieser Familie besteht darin, daß ähnlich, wie in den früher erwähnten Fällen, zahlreiche, oft Hunderte einzelner Blüthen in einer einzigen, von den äußeren Bracteen gebildeten manschetten- oder korbartigen Hülle zu einer höheren Einheit, gewissermaßen zu einer Blume der zweiten Potenz zusammengefaßt sind. Als die älteren Botaniker erkannt hatten, daß z. B. ein Gänseblümchen ein aus vielen einzelnen Blumen zusammengesetzter Strauß, eine Blüthengesellschaft sei, wehrten sie sich dagegen, diese Blüthenstaaten mit den einfachen Blumen auf eine gleiche Stufe zu stellen. Aber die geistvollen Botaniker Link und Schleiden nahmen die alte Anschauung, daß die Composite ein wirklich abgeschlossenes einheitliches Ganzes, eine Blume höherer Ordnung, die Vollendung des Blumenideals sei, gegen die Einsprüche Cassini’s und Anderer in Schutz, lange bevor man wußte, daß sie zu den auf unserem Erdballe zuletzt aufgetretenen Kindern Flora’s gehören. Jedenfalls sind sie die vollkommensten Blüthen in den Augen der Insecten; denn diese finden hier eine ganze Garbe, ja ein förmliches Erntefeld mit Honigröhren bei einander, welches sie, bequem auf der Scheibe umherspazierend, ausbeuten können, und daher hat auch die Ansicht ihre Berechtigung, daß sie solche Blumenformen gezüchtet haben.
Aber auch hier war der Züchtung immer auffallenderer Blumen höherer Ordnung ein weites Feld geöffnet, und daher erklärt sich eben der unermeßliche Formenreichthum der Korbblumen. In den einfachsten Fällen, wie z. B. bei den Disteln, dem Löwenzahn und vielen andern, sind alle in einem solchen Körbchen zusammen eingeschlossenen Blumen unter sich gleichgestaltete und gleichwerthige Blüthen, das heißt regelmäßige oder unregelmäßige Zwitterblüthen mit je fünf Staubgefäßen und einer zweitheiligen Narbe. Solche Blumen mußten entweder durch bedeutende Größe, wie die Disteln, oder durch einen weitgeöffneten Strauß, wie der Löwenzahn und seine Verwandten, Aufmerksamkeit erregen, um nicht vernachlässigt zu werden, bei manchen von ihnen, wie der Karls-Distel des Gebirges, sind, wie in den oben erwähnten Fällen, die Hüllblätter in’s Mittel getreten und haben die Blumen mit einer silberglänzenden Strahlenglorie umgeben, und ähnlich übernahmen diese Hüllblätter bei den Immortellen und Strohblumen durch unverwelkliche Farben das Anlockungsgeschäft.
In den meisten Fällen dagegen haben sich die Blüthen des Blumenkorbes zum Theil selbst dem Anlockungsgeschäft gewidmet und deshalb in zwei Classen getheilt, die man als Strahlblumen und Scheibenblumen unterscheidet. Schon bei weniger einheitlich zusammengefaßten Blüthenständen, z. B. bei den oben erwähnten Schirmblumen und Scabiosen, sieht man die Randblüthen eine unregelmäßige, auf der äußeren Seite ihres Saumes verlängerte Form annehmen; sie strahlen, vielleicht in Folge günstigerer Lebensbedingungen, aus und tragen dadurch erheblich zur Augenfälligkeit des Blüthenstraußes bei. Bei den Korbblüthen findet man alle möglichen Entwickelungsstufen dieses Vorganges. Der einfachste Fall ist derjenige, wenn die Randblüthen sich nur durch etwas gesteigerte Größe und verringerte Regelmäßigkeit von den inneren Blüthen des Körbchens unterscheiden, sonst aber in Farbe und allgemeiner Gestalt den innern Blüthen gleichgeblieben sind, wie wir dies bei unserer gefeierten Kornblume und einer ebenso schön [660] blauen, aber doppelt so großen Schwester der Alpen (Centaurea montana) sehen, die der Künstler in unserem durchweg in verjüngter Gestalt gezeichneten Strauße mehrfach verwendet hat. Man kann nun nicht verkennen, daß dieses Ausstrahlen der Randblüthen die Anfälligkeit und Anziehungskraft der stillen Gemeinde vermehren mußte, und da dieser Vortheil der Gesammtheit zu Gute gekommen war, so bildete sich je länger je mehr eine vollständige Arbeitstheilung heraus, bei welcher die Strahlblüthen in erster Reihe für die Anlockung der Insecten zu sorgen haben und zu langen, andersfarbigen Fahnen und Zungen auswachsen, dafür aber keinen Blumenstaub erzeugen, gewissermaßen also nur die Blumenblätter dieser „Blumen höherer Ordnung“ darstellen. In den häufigsten Fällen sind diese, die meist gelbe Scheibe wie ein Heiligenschein umgebenden Strahlblüthen weiß oder gelb gefärbt, wie bei den Schaaren der Kamillen, Inula- oder Senecio-Arten, aber bei den auch in unserem Strauße vertretenen, weil im Gebirge heimischen Astern, den Cinerarien und anderen Gartenblumen färbt sich der Strahl im schönsten Gegensatze zu der goldgelben Scheibe tiefblau, violett und roth.
Ein noch anderes Princip machte sich bei solchen Compositen geltend, deren einzelne Körbchen verhältnißmäßig klein und daher unscheinbar bleiben. Ebenso wie in den früher erwähnten Fällen die einzelnen Blumen, ordnen sich hier die Körbchen oder zusammengesetzten Blumen zu Blüthenständen zweiter Ordnung zusammen. Wir sehen dies z. B. bei den Beifußarten, welche lange zusammengesetzte Aehren bilden und von denen die (am Bändchen unseres Straußes dargestellte) ganz in Silberfilz gekleidete, an den Grenzen des ewigen Schnees wachsende Edelraute (Artemisia mutellina) von den Aelplern als ein ebenso ersehnter Hutschmuck angesehen wird, wie das Edelweiß, und im Ganzen kaum weniger Leben gefährden soll, als dieses.
Etwas Aehnliches findet man bei den Arten der Schafgarbe (Achillea), deren kleine Blüthenkörbchen sich zu Dolden vereinigen, von denen mehrere alpine Arten in dem Strauße erkennbar hervortreten. Es sind meist sehr aromatische und zum Theil, wie das Edelweiß und die Edelraute, in Silberfilz gekleidete Kräuter, die man in den Alpen als Wildfräulein oder Iva bezeichnet und zur Bereitung des geschätzten Iva-Bittern einsammelt.
Die höchste Stufe in der Richtung des Vereinigungsprincipes wird aber von dem Edelweiß erreicht, und damit auch die Bewunderung des Botanikers für diese Blume gerechtfertigt. Es handelt sich hier, wie man aus dem monströsen, aber deshalb doppelt lehrreichen obern Exemplare unseres Straußes deutlich erkennt, um einen aus vielen einzelnen Korbblumen gebildeten Strauß, der in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle das Ansehen einer einfachen Blume angenommen hat, also nach Schleiden das höchste Ideal der Pflanzenwelt, eine Blume dritter Ordnung annähernd verwirklichen würde. In der Regel sind die vier bis acht äußeren Körbchen mit der größten Regelmäßigkeit um ein größeres Mittelkörbchen geordnet und zu einem natürlichen Kreise verbunden, als ob es sich wirklich um eine künstlerische Composition handelte. Und doch schließt jedes einzelne durch das schwarze Krönchen umgrenzte Körbchen zwanzig bis dreißig männliche und vierzig bis sechszig weibliche Blüthen ein, sodaß die scheinbar einfache Straußblume viele hundert Einzelblüthen enthält. Ihre charakteristische Schönheit gewinnt aber diese Blüthengemeinschaft erst durch die mit weißem Filz überzogene, einen mehr oder minder großen, vier- bis zwanzigzackigen Stern bildende Manschette, die aus den oberen Stengelblättern gebildet wird. Wie die Alpen-Mannstreu ihre Schwestern aus der Ebene, so überragt das Edelweiß seine Verwandten im Thale, und die Botaniker haben es deshalb in den Adelstand erhoben und von dem zierlichen Katzenpfötchen unserer Triften als Löwentatze (Leontopodium alpium) unterschieden.
Ich denke, meine Leser (und der poetische Freund mit eingeschlossen) werden das Edelweiß darum nicht geringer schätzen, wen sie erfahren haben, daß man es im Sinne Schleiden’s als Blume dritter Ordnung und somit als die höchste bekannte Leistung der natürlichen Blumenzüchtung ansehen kann. Mich dünkt, man könnte nach solcher Erkenntniß nur mit noch vertiefter Ueberzeugung beim Anblicke desselben ausrufen:
Um die Erde.
„Ein Besuch der Nationalhauptstadt ist nur halb gemacht, wird in denselben nicht das Heim und Grab Washingtons eingeschlossen,“ sagt Edward Everett, der Biograph Washington’s. Um mich dieser Unterlassungssünde nicht schuldig zu machen, verließ ich am Morgen des 8. April das Weichbild der „Stadt der wunderschönen Entfernungen“, mit welchem Namen der Amerikaner seine Landeshauptstadt treffend belegt, Mount Vernon, das Heim Washingtons, ist im County Fairfax in Virginien, sechszehn Meilen südlich von Washington gelegen, und wer sich in den kühlen Schatten seiner herrlichen Baumgruppen flüchten will, den entführt der „Corcoran“, ein trefflicher, eigens dazu gebauter Dampfer, nach dem amerikanischen Mekka.
Es war Frühling, Frühling in Virginien. Das riesige Dampfboot keucht stromab, umschwärmt von zahlreichen kleineren Schaluppen und Segelbooten. Eine köstliche Fahrt! In den Fluthen des Potomac zeichnen sich die Umrisse der mehr und mehr zurückweichenden Hauptstadt zitternd ab. Ueber das Gewirr der hölzernen Baracken, die das Stromufer bekleiden, wo ganze Negerhorden mit den Fischern um den Betrag ihrer Beute feilschen, erheben sich die stolzen Paläste der Capitale, das „Weiße Haus“, die Residenz des Präsidenten, die elastischen Giebel und Fronten der Treasure- und Interiordepartements, der verfehlte Bau des Kriegsministeriums und das halb kirchliche, halb schloßartige Smithsonian-Institut, der Centralpunkt des wissenschaftlichen Lebens in Amerika. Weit zur Rechten blinkt die schneeige Riesenkuppel des Capitols im Sonnenschein, doch all die stolzen Bauten sie werden überragt von dem Marmorpfeiler des Washington-Monuments, das der amerikanischen Nation ihren größten und besten Mann in dankbarer Erinnerung halten soll.
Der ursprüngliche Entwurf des Denkmals, dessen Grundstein am 4. Juli 1848 gelegt wurde, beabsichtigte einen kreisförmigen Bau von 250 Fuß Durchmesser und 100 Fuß Höhe, und darauf einen Obelisk von 70 Fuß im Quadrat an der Basis und 500 Fuß Höhe. Die innere Mauerfläche des Denkmals war dazu bestimmt, Steinblöcke mit passenden Inschriften als Beiträge von fast allen Nationen und fast allen Volksclassen der Erde aufzunehmen, um die allgemeine Verehrung für den edlen Mann zu bezeugen. In dem Rumpfe des Denkmals und in dem anliegenden Bauschuppen begegnen wir Marmorblöcken aus Carrara und Paros, Granittafeln, bedeckt mit deutschen, chinesischen, türkischen, griechischen und malayischen Inschriften, und selbst fern entlegene Indianerhorden haben in Form roher Porphyr- und gepreßter Lehmbrocken ihr Scherflein beigetragen zu dem stolzen Bau.
Wie aber die Geschichte lehrt, daß derartige Werke durch freie Beiträge selten oder nie zu Stande gekommen – so auch hier. Hatten die ursprünglichen Beiträge hingereicht, das 1783 beschlossene, 1848 aber erst begonnene Monument zu einer Höhe von 184 Fuß zu bringen, so waren sie später kaum noch hinreichend, den Bau vor Verfall zu schützen, und gingen schließlich ganz ein. Erst nachdem der Staat die Sache in die Hand genommen und in einer der letzten Congreßsitzungen die nothwendige Summe bewilligt hat, ist Aussicht zur Vollendung des Monuments vorhanden.
Der erste Landungsplatz unseres Bootes ist Alexandria, der zweite Fort Foote, welchem bald darauf Fort Washington folgt. Von dort hat man den ersten Blick auf Mount Vernon; das Anziehen der Flagge, das feierliche Klingen der Schiffsglocke, ein Geläute, das „tolling bell“ genannt wird, verkündet den Passagieren daß sie sich dem Heim Washington's nähern.
Die „Tolling bell“ ertönt von jedem das Grab Washington’s passirenden Dampfer; eine Sitte der Ehrerbietung für den edlen Todten, die man auf den Commodore einer englischen Flotte,
[661] Gordon, zurückführt, welcher, als er am 24. August 1814 Mount Vernon passirte, anordnete, die Glocke des Flaggenschiffes in kurzen, gemessenen Schlägen zu läuten. Menschliche Größe erhielt niemals einen schöneren Zoll der Verehrung, als Washington ihn durch diesen Act seemännischer Begrüßung empfing.
Der Strom ist hier zwei Meilen breit und scheidet die Staaten Maryland und Virginien. Von der Hügelkette, die dem letzteren Staate zugetheilt wurde, blinkt zwischen hohen Baumgruppen das einfache Mount Vernon hernieder, einst der Wohnsitz, jetzt die Ruhestätte Washingtons, von dem sein Volk sagte: „er war der Erste im Kriege, der Erste im Frieden und der Erste im Herzen seiner Landsleute“ – eine Sentenz, die auch das Motto bildet, welches die Statuen zu Ehren des Todten schmückt.
Sind wir an’s Land gestiegen und haben wir die halbe Höhe unseres Weges hinter uns, so begegnen wir in einer kleinen Schlucht einigen Trauerweiden, die dem Grabe Napoleon des Ersten auf St. Helena entstammen. Wenige Schritte noch, und wir stehen vor dem Grabe Washington’s. Heilige Stille herrscht rings umher; nur aus dem dunklen Nadelholze, das über das Grabmal seine Schatten webt, tönen des Spottvogels seltsame Laute. Das Grab besteht, dem testamentarisch angesprochenen Wunsche Washington’s gemäß, aus einem schlichten Backsteinbau; die Frontseite ist anspruchslos und hat einen weiten bogenförmigem durch ein eisernes Gitter geschlossenen Eingang, über welchem eine einfache Marmortafel die Inschrift trägt:
General George Washington.“
Generals Georg Washington.“)
Die Vorhalle zu dem Gewölbe umfaßt zwölf Fuß im Geviert, und hier sind die beiden Sarkophage aufgestellt, welche die Ueberreste Washington’s und seiner Gemahlin umschließen; während in dem Gewölbe im Hintergrunde etwa dreißig Anverwandte ruhen, Glieder der Familien Washington, Blackburn, Corbin, Bushrod, Lewis und Custis. – Das ursprüngliche Grab, in welchem der General bis zum Jahre 1881 schlief, befindet sich etwa hundert Schritte zur Rechten, jenseits des zu dem Wohnhause führenden Weges und wurde aufgegeben, nicht nur weil es der tiefen Ruhe entbehrte, die das heutige Grabmal umgiebt, sondern vornehmlich auch darum, weil es zu wenig fest gebaut war, um die Gebeine des großen Todten vor räuberischen Eingriffen, die in der That vorgekommen waren, zu schützen.
So wurde denn in der Congreßsitzung des Winters 1832 der Vorschlag laut, die Leiche in die Krypta des Capitols zu übertragen, und der hundertjährige Geburtstag Washington’s sollte zugleich der Tag dieses feierlichen Actes sein, aber die Bestimmung [662] des letzten Willens des Generals bezüglich dieses Punktes war so entschieden, daß der Vorschlag aufgegeben wurde. Die Uebertragung der Leiche in die neue Grabkammer geschah am 7. October 1837, und damit Niemand die Ruhe Washington’s störe, ward das Thor des Gewölbes geschlossen und der Schlüssel in den Potomac versenkt. Die Marmorsarkophage, durch das Gitter den Besuchern sichtbar, sind ebenso einfach, wie die Aufschriften, die ihre Flächen zieren.
Consort of Washington.
so lautet die Inschrift des einen Sarkophags, während die des anderen als einzigen Schmuck das Wappenschild der Vereinigten Staaten zeigt und darunter das einfache Wort:
Lenken wir nun unsere Schritte dem Hause zu, in welchem der Liebling der amerikanischen Nation lebte und starb, so führt unser Weg an einer mächtigen Eiche vorüber, unter welcher er häufig zu ruhen pflegte. Das Haus ist ein Holzbau und wurde im Jahre 1743 von Lawrence, dem Bruder Washingtons, errichtet und von ihm zu Ehren des britischen Generals Vernon, mit welchem er während der Campagnen in Westindien 1741 bis 1742 sehr befreundet gewesen, Mount Vernon genannt. Georg, der große amerikanische Staatsmann und Patriot, ward nicht hier geboren, sondern in der alten Heimstätte seiner Vorfahren am Bridges Creek, nahe dem Punkte, wo derselbe in den Potomac mündet. Jenes Haus ist längst verschwunden, und nur ein mit einer Inschrift versehener Stein bezeichnet die Stelle, wo das alte Farmhaus gestanden. – Nach dem Tode seines Bruders erbte Georg das Gut auf Mount Vernon und unter seiner Wirthschaft wurde das einfache Landhaus zu einem großen mit schönen Colonnaden und Balustraden verzierten Heerensitze, dessen Länge 98, dessen Tiefe 30 Fuß betrug.
Treten wir in die Haupthalle des Hauses, so finden wir die Wände mit allerhand Reliquien und Bildern bedeckt, die an den letzten Bewohner erinnern, und hier sehen wir auch als erstes Object von Interesse den in einem Glaskästchen hängenden „Schlüssel zur Bastille“, welches Emblem der Unterdrückung nach Zerstörung der Bastille dem „großen Freunde der Freiheit“ 1789 von Lafayette mit folgenden Worten zugesandt wurde: „Es ist ein Tribut, welchen ich schulde als Sohn meinem adoptirten Vater, als Adjutant meinem General, als Missionär der Freiheit meinem Patriarchen.“
Thomas Paine, ein Republikaner in London, welchem der Schlüssel zur ersten Aufbewahrung übergeben war, schrieb an Washington erfreut: „daß die Principien von Amerika die Bastille geöffnet, ist nicht zu bezweifeln, und deshalb kommt der Schlüssel an seinen richtigen Platz.“
An die Hausflur schließen sich verschiedene Räume; zunächst gelegen ist das Musikzimmer oder „East Parlor“, im Stile der Revolutionszeit geschmackvoll ausgestaltet, unter welchem wir unter Anderem ein Spinett, Washington’s Brautgeschenk an Eleanor Custis, gewahren.
Weiter gelangen wir in das alte Eßzimmer, in dem die hervorragendsten Geister der Neuen Welt so oft beisammen gesessen. Decke und Wände sind mit Stuckornamenten geziert, der größte Schmuck aber besteht in einer Kaminbekleidung aus Carrarischem Marmor, dessen Ausführung Canova zugeschrieben wird. Dieses Kunstwerk, von einem Engländer Washington zum Geschenke gemacht, fiel während der Ueberfahrt von Italien nach Amerika in die Hände französischer Piraten, welche, als sie entdeckten, für wen das Werk bestimmt war, es unversehrt an den Ort seiner Bestimmung sandten. In der Mitte desselben Raumes fand auf einem Tische von Rosenholz ein aus dem Granit des zerstörten Gefängnisses gefertigtes Modell der Bastille seinen Platz, ebenfalls ein Geschenk Lafayette’s.
Haben wir das sogenannte Westparlor und das Familienzimmer passirt, welche, wie die Mehrzahl der anderen Gemächer, mit Denkwürdigkeiten aus dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts ausgestattet wurden, so treten wir in die Bibliothek. In den Tagen Washington’s war dieselbe der Lieblingsaufenthalt der Familie, und gar oft saß der große Staatsmann hier am Fenster oder in dem nahen Portico, um den Blick über den herrlichen Strom und die wunderbare Landschaft zu seinen Füßen gleiten zu lassen. Jetzt ist die Bibliothek wüst und leer; denn die Bücher gelangten in den Besitz des Bostoner Athenäums, und die Kostbarkeiten gingen in alle Winde.
Eine breite, dreimal getheilte Treppe führt uns nach oben, bis an das Gemach, welches Lafayette während seiner Besuche auf Mount Vernon inne zu haben pflegte. Haben wir ein zweites Zimmer passirt, in welchem zahlreiche Reliquien und Kleidungsstücke aufbewahrt werden, so stehen wir in dem Sterbezimmer Washington’s. Es ist ein mittelgroßes Schlafzimmer, zur Rechten ein Feuerplatz, an welchem das Wappen des Hauses noch erhalten ist. Zur Linken schließen sich ein bescheidenes Ankleidegemach und ein zur Aufbewahrung von Wäschegegenständen dienendes Gelaß an, während zwei große Fenster genügend Licht spenden und zugleich eine wunderbar schöne Aussicht über den Fluß hinüber nach den blauen Hügeln des Staates Maryland eröffnen, Das zwischen beiden Fenstern abgestellte Bett ist dasselbe, auf welchem Washington starb; es ist genau in derselben Weise ausgestattet, wie während der Lebenszeit des großen Generals. Ebenso sind die wenigen und bescheidenen Möbel im Gebrauch Washington’s gewesen.
Eine interessante Erinnerung aus den schweren Tagen, in denen der Liebling der amerikanischen Nation zur Ruhe gegangen war, ist das an der Wand hängende handgroße Zeitungsblättchen des New-Yorker „Mercantile Advertiser“ vom 21. December 1799, welcher in geradezu erschütternder Weise Washington’s Hingang beklagt:
„Wir empfinden eine Trauer, die unsere Sprache nicht beschreiben kann, wenn wir zurückblicken auf die bedrückende Nachricht, daß am Sonnabend, den 14. dieses Monats, auf seinem Sitze Mount Vernon in Virginien plötzlich starb
Generallieutenant und Oberbefehlshaber der Armeen der
Vereinigten Staaten von Amerika.
‚Eine korinthische Säule im Tempel der Unsterblichkeit.‘
Reif an Jahren, bedeckt mit Ruhm, reich an Zuneigung des
Leser, wo immer du bist, in welchem Theile der Erde du wohnst, beweine mit uns den Tod des Freundes der Freiheit, des Erlösers unseres Landes, des Verteidigers unserer Rechte, des Kriegers, des Staatsmannes und des bescheidenen Bürgers, weicher niemals in seiner Pflicht abwich vom Pfade der Wahrheit, niemals sich anmaßte ungebührende Macht in den Stellungen, die ihm gegeben waren dessen Handlungen beabsichtet waren zum allgemeinen Wohle, von seinen frühesten Tagen bis zum Ende seiner Zeit … Im Felde, im Cabinet, als einfaches Glied der Gemeinde – überall gebot er Achtung und Bewunderung; in jedem Sinne des Wortes war er ein Mann, wie ihn ähnlich wieder zu sehen uns niemals erlaubt sein wird, ein Mann, dessen Tugenden in immerwährender Erinnerung bleiben werden.“
Endlich beschauen wir noch eine zweite Treppe höher das Kämmerlein, welches der hinterlassenen Wittwe zur Wohnung diente, jetzt aber in modernem Stile ausgeschmückt ist. Frau Martha war das Muster einer virginischen Hausfrau, schön, intelligent, ehrenhaft und praktisch. Die achtzehn Monat ihrer Wittwenschaft verbracht sie zumeist am Fenster ihrer stillen Klause, vielfach ohne andere Gesellschaft als die ihrer Katze, zu deren bequemerem Zutritt die Thür an der Ecke einen Ausschnitt zeigte.
Haben wir noch einen Blick in den schönen Blumengarten und die das Herrenhaus umschließenden Anlagen geworfen, so verlassen wir Mount Vernon, das jetzt im Besitze des „Mount Vernon-Frauenvereins“ ist, durch denselben Laubengang, durch welchen Washington dereinst seine Braut in sein Heim geführt, durch denselben Laubengang, durch den vierzig Jahre später der endlose Zug Leidtragender sich bewegte, die gekommen waren, den Liebling der Nation zur ewigen Ruhe zu betten.
Wir besteigen das Schiff – wieder flattert die Flagge am halben Mast; wieder tönt in gemessenen Schlägen die „tolling bell“; wieder stehen die Matrosen und alle Passagiere entblößten Hauptes – so ehrt das amerikanische Volk seinen größten Todten.
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Heinrich der Achte von England hat eine böse Rolle als Ehemann gespielt, und die Frauenwelt nennt seinen Namen nicht ohne Grund mit einem heimlichen Grauen. Von seiner ersten Gemahlin Katharina von Arragonien erzwang er die Ehescheidung; Anna Boleyn, ihre Nachfolgerin, ließ er hinrichten; Johanna Seymour, die dritte Frau, starb im ersten Wochenbett; Anna von Cleve, die nächste, entließ er kurzer Hand, sobald er sie näher kennen gelernt; die fünfte, Katharina Howard, überlieferte er wiederum dem Henker, und erst die sechste, Katharina Paer, wußte sich durch die gefährlichen Klippen dieses Ehestandes mit Glück hindurch zu winden und neben dem alternden Fürsten zu behaupten. So hat Heinrich in der That etwas von dem frauenmörderischen Blaubart des Märchens.
Es ist unmöglich, die Behandlung, welche Heinrich der Ehestandsfrage angedeihen ließ, zu rechtfertigen; eine mildere Beurtheilung, als die flüchtige Zusammenstellung der Thatsachen sie erlaubt, ergiebt sich allenfalls, wenn man die Figur des Mannes, seinen Charakter, seine Denk- und Handlungsweise im Zusammenhang mit der politischen Rolle, welche er spielte, geschichtlich werden und wachsen sieht. Nicht nur, daß die Politik direct das Geschick der einen und anderen jener Frauen bestimmte: der selbstherrliche, rücksichtslose und gewaltthätige Zug, der von vornherein im Wesen Heinrich’s lag, wurde durch die Kämpfe, die er mit kirchlicher und weltlicher Macht zu bestehen hatte, gerade bezüglich der Ehescheidungsfrage fast bis zum krankhaften Eigensinn gesteigert.
Für Heinrich’s Verhältniß zu seinen Frauen wirkte die Scheidung von Katharina von Arragonien grundlegend. Als Gattin des Prinzen Thronfolgers Arthnr war sie an den englischen Hof gekommen und als jungfräuliche Wittwe dem Bruder ihres verstorbenen Gatten, Heinrich, angelobt worden, da er fünfzehn Jahre zählte; fromm wie eine spanische Infantin, ernst und gediegen, voll häuslicher Tugenden, eine in jeder Beziehung ansprechende Erscheinung, erzwingt sie die Achtung und Theilnahme des Geschichtsforschers. Der Papst hatte zu dieser uncanonischen Ehe mit des Bruders Weib den Dispens gegeben, aber der junge Heinrich protestirte vor dem Staatssecretär, dem Bischof von Winchester, wegen seiner zu großen Jugend; als er indeß zur Regierung gekommen und dem Lande eine Mutter geben sollte, war es doch Katharina, welche er zur Königin kürte.
Sie war noch jugendlich blühend, obschon älter als Heinrich; ihre vornehme geistige Art imponirte ihm; ihre Jugend reizte ihn noch, allein er liebte in starkem Kraftgefühl und jugendlicher Sinnlichkeit bunte, lebensvolle Feste, bei denen sich Schönheit, ritterliche Waffenspiele, bei denen sich Kraft entfaltete, und er war darum Katharina, welche aus den spanischen Stiefeln nie recht heraus kam und „jede Stunde für verloren hielt, welche sie am Putztisch zubrachte“, wohl nie recht treu.
Sie gebar ihm eine Tochter, die am Leben blieb, zwei Söhne, welche starben; der Mangel eines männlichen Erben wurde als Gottesfluch gedeutet, weil die Ehe gegen das göttliche Gebot verstoße, und eines Tages hatte der allmächtige Lenker der Geschicke Englands, Cardinal Wolfey, den Plan, England, statt an Spanien, an Frankreich zu knüpfen und so Kaiser Karl den Fürsten, den Neffen der Katharina, recht empfindlich dafür zu kränken, daß er ihm nicht auf den päpstlichen Stuhl verholfen. Zugleich sollte Katharina als Opfer seiner politischen Pläne fallen. Heinrich stimmte zu.
Lange zogen sich die Ehescheidungs-Verhandlungen mit Rom hin. Und nun trat Anna Boleyn in die Scene. Heinrich verliebte sich in diese jugendliche Schönheit, und da sie sich weigerte, seine Maitresse zu werden, versteifte er sich darauf, sie zur Königin zu machen. So bekamen mit einem Schlage alle bisher für die Scheidung geltend gemachten Gründe: der mangelnde Erbe, die uncanonische Ehe, die Lossagung von Spanien-Deutschland zu Gunsten fester Annäherung an Frankreich, eine zwingende Gewalt.
Die Boleyn’s gehörten, wiewohl seit nicht langer Zeit, den vornehmsten Geschlechtern an. Die Familie stand unter Heinrich dem Achten in höchstem Ansehen: Herzog Thomas von Norfolk, der Oheim der Anna, war Großschatzmeister, der erste weltliche Minister Heinrich’s und der vornehmste Magnat am Hofe. Anna hatte ihre Jugend fröhlich im Schlosse Rochford verlebt, und als im Spätsommer 1514 Heinrich’s schöne Schwester Maria sich nach Frankreich einschiffte, um – ein Opfer der Politik – dem dreiundfünfzigjährigen Ludwig dem Zwölften angetraut zu werden, da befand sich in ihrem Gefolge auch die etwa dreizehnjährige Anna, die dann später am Hofe der edlen Claude de France, der „guten Königin“ und der Margarethe von Valois Tage des Glanzes verlebte, bis sie von ihrem Vater nach England zurückgerufen und als Hofdame dem Hofstaate der Königin Katharina einverleibt wurde.
„Ein hübsches Geschöpf, schön gewachsen, artig, liebenswürdig, sehr angenehm und eine gute Musikerin,“ so schildert sie ein alter Schriftsteller, und ein anderer berichtet: sie habe alle anderen Hofdamen rasch durch ihr liebenswürdiges Wesen und musterhaftes Betragen weit hinter sich gelassen. Man rühmte den Adel ihrer Haltung und das Ausdrucksvolle ihrer Augen. Uebrigens galt sie für eine versteckte Reformirte, und sie hatte entschieden protestantische Neigungen aus der Umgebung Margarethen’s mitgebracht.
Daß Heinrich sie mit heimlichem Wohlgefallen betrachtete, ward bald bemerkt.
Im Dienste des Cardinals Wolsey stand Lord Percy, der älteste Sohn des Herzogs von Northumberland. Nicht lange, so verband ihn glühende Neigung mit Anna, und die Beiden sahen nichts, was ihrer Vereinigung hätte im Wege stehen sollen. Allein sie hatten die Rechnung ohne den König gemacht.
Eines Tages hatte Percy Dienst beim Cardinal. Ganz unvermuthet fuhr ihn dieser an:
„Bist Du von Sinnen, daß Du wagst, ohne Einwilligung Deines Vaters und des Königs mit diesem Fräulein anzubändeln? Du wirst sofort mit ihr brechen.“
Der bestürzte Liebhaber bat unter Thränen, der Cardinal möge seine Neigung unterstützen.
„Laß Dir nicht einfallen, sie je wieder zu sprechen,“ war die Antwort. Zugleich mußte Anna den Hof verlassen.
„Für diese Kränkung will ich Rache nehmen!“ rief sie in ihrer Herzensnoth, da sie von London nach Schloß Hever ging. Wenige Tage später verlobte sich Percy mit Lady Mary Talbot. Anna weinte; dann verachtete sie den Ungetreuen, wie sie den Cardinal haßte.
Sir Thomas Boleyn aber nahm die Verbannung der Tochter vom Hofe sehr übel, und bald setzte er für sie die Erlaubniß zur Rückkehr durch. Percy war ja nun unschädlich, sie selbst rasch getröstet. Das hübsche schlanke Mädchen mit dem schwarzen Haar und den großen lebhaften Augen, welches sang wie eine Nachtigall, tanzte wie eine Elfe, ein wenig kokett und doch spröde dabei war und von liebenswürdigem Scherz und treffenden Antworten sprudelte, ohne je die gute Haltung zu verlieren oder den Grazien ungetreu zu werden, bezauberte Alles.
Sie war damals zwanzig, Katharina vierzig Jahre alt. Heinrich beschenkte sie mit Geschmeide – das war noch nicht auffällig. Aber einst war er mit ihr allein, und da gestand er ihr, daß er sie anbete. Sie stürzte ihm wie von einem Blitzschlag getroffen zu Füßen und rief unter Thränen:
„Sire, Ihr wollt mich nur auf die Probe stellen. Wo nicht: lieber mein Leben verlieren, als meine Ehre!“
Und als Heinrich meinte: sie möge ihm nicht alle Hoffnung nehmen, erhob sie sich und sagte mit Stolz:
„Ich begreife nicht, wie das möglich sein soll. Euer Weib kann ich nicht sein; denn Ihr seid verheiratet, und wenn dem auch nicht so wäre, ich wäre dieser Ehre nicht würdig. Eure Geliebte aber – seid versichert! – werde ich niemals sein.“
Sechs Jahre lang widerstand sie seinen Verführungskünsten, trotzig, heftig abweisend. Niemand wagte an ihrer Ehrenhaftigkeit zu zweifeln; selbst die Königin behandelte sie nach wie vor mit Freundlichkeit und Achtung. Eines Tages aber gab ihr Katharina zu verstehen, daß sie Alles wisse. Sie spielte mit ihr Karte – Heinrich war zugegen. Anna hatte oft den König im Spiel.
„Ihr habt Glück mit dem König, Mylady,“ sagte Katharina laut; „Ihr macht es nicht wie die Anderen: Ihr wollt Alles oder Nichts.“
Die Hofdame erröthete; von da ab wurden ihr die Gunstbezeigungen des Königs unerträglich, und sie verließ den Hof.
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[665] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [666] Heinrich war unglücklich. Er schrieb ihr einen Brief: er könne nicht glauben, daß sie nicht mehr an den Hof kommen wolle, aber Anna blieb fest – und Heinrich war nicht der Mann, auf etwas, was ihm am Herzen lag, in Resignation zu verzichten. Er setzte es endlich durch, daß Anna an den Hof zurückkehrte. Indessen sprach man bald bei Hofe von nichts, als den glänzenden Aussichten der Anna, und den Feinden des Cardinals lachte das Herz vor Vergnügen.
Aus der Liebelei, die der Cardinal begünstigt, war ein für ihn sehr bedenklicher Ernst geworden. Er beschwor den König kniefällig, „ein bis zwei Stunden“, wie er selbst erzählt, den Gedanken aufzugeben. Umsonst! Mit Entsetzen berichtete er dem Papst, daß eine junge Dame, welche von der Königin von Navarra erzogen und folglich von der Luther’schen Ketzerei angesteckt sei, das Herz des Königs gewonnen habe. Es blieb ihm nur die Hoffnung auf Intriguen – denn die Scheidung mußte er mit Rom weiter verhandeln.
Inzwischen wurde Anna allmählich umgestimmt. Heinrich schrieb ihr einen rührenden Brief nach dem anderen, und einer derselben schließt:
„Auch bitte ich Euch, daß, wenn ich Euch jemals beleidigt habe, Ihr mir ebenso vergeben möget, wie Ihr mich darum bittet, und versichere Euch zugleich, daß mein Herz in Zukunft Euch allein gehören wird, und ich wünsche sehr, daß es auch mein Leib könnte, wie Gott es fügen kann, wenn es ihm gefällt, zu dem ich jeden Tag einmal darum flehe, in der Hoffnung, daß mein Gebet mit der Zeit Erhörung finden werde. Möchte es bald kommen! Die Zeit dünkt mich lange. Auf Wiedersehen! Geschrieben von der Hand des Schreibers, der mit Herz und Leib und Willen Euer ergebener und ganz getreuer Diener ist. H. T. rex.“
Bei der Unterschrift steht die Zeichnung eines Herzens mit den Buchstaben A. B. darin, links die Worte: „Nichts als“, rechts: „sucht H. T.“ - „Nichts als Anna Boleyn’s Herz sucht Heinrich Tudor“ heißt das Ganze.
Eines Tages erklärte Anna: „Sobald der König frei ist, will ich ihm meine Hand nicht mehr vorenthalten.“
Damit war das Schicksal Katharinens besiegelt.
Um diese Zeit brach die furchtbare Schweißfieberseuche in England aus. Der König nahm in einem Anfall von Gewissensbissen die Königin zu sich und ging nach Waltham, Hemsden, von Ort zu Ort, jedesmal den Aufenthalt wechselnd, sobald der Tod in seine Umgebung hineingriff. Zuletzt schloß er sich in einen einzeln stehenden Thurm ein, mit der Königin versöhnt. Das geschah im Sommer 1528.
Die Seuche ließ endlich nach; der Hof sammelte sich wieder, und der wankelmütige Heinrich brachte neues Feuer in die Scheidungsverhandlungen; er berief eine Notablenversammlung, welcher er die Scheidungsgründe plausibel zu machen suchte – er soll sogar mit Todesdrohungen geschlossen haben.
Inzwischen bezog Anna königlich eingerichtete Gemächer im Schlosse und erhielt ihren Hofstaat so gut wie die Königin. Dabei lebten die beiden Frauen äußerlich auf gutem Fuße zusammen. Anna’s Einfluß machte sich in manchen Fragen geltend – die Alleinherrschaft Wolsey’s begann zu schwanken. Sie führte in der That, wie dieser gefürchtet, reformatorische Elemente dem Könige nahe, wenngleich sie ein kirchliches Interesse nicht hatte, und die politischen Combinationen brachten es mit sich, daß bald auch die Volksstimmung sich dem Bruch mit dem Papstthum zuneigte.
Die Proceßverhandlungen wurden fortgesetzt, aber die Unklugheit des Papstes, welcher das Scheidungsgericht nach Rom verlegte und Heinrich zu einem Termine dorthin lud, widrigenfalls er zehntausend Ducaten Buße zu zahlen habe, schlug dem Fasse den Boden aus. Wolsey’s Sturz war die nächste Folge – er starb bald darauf. Die weitere Folge war Heinrich’s Entschluß, England von der geistlichen Jurisdiction Roms loszureißen.
Er hatte jetzt in der Ehescheidungsfrage freie Hand, legte die Gutachten, welche er längst von Theologen und Universitäten erhalten hatte und die sich gegen die Dispensbulle des Papstes Julius des Zweiten erklärten, dem erzbischöflichen Gerichte zu Canterbury vor und ließ seine erste Ehe annuliren. Für Katharina blieb nur der Titel einer Prinzessin-Wittwe.
Zu Anfang des Jahres 1533 fand in aller Stille die Vermählung Heinrich’s mit Anna Boleyn statt, nach Fällung des Spruchs über Katharina auch die Krönung der neuen Königin. Es war am Donnerstag nach Pfingsten – da erschien der Lordmayor nebst den Gewerken von London, um sie abzuholen. Ein Prachtgeschwader von Barken geleitete sie; bunt wehten die Wimpel und Flaggen; die Musik spielte festliche Weisen. Die Kanonen des Tower begrüßten die junge Fürstin, der Alles huldigte. Am folgenden Sonnabend zog sie, von achtzehn neugebackenen Rittern des Bathordens in vollem Schmuck und einem großen Theile des Adels geleitet, durch die City nach Westminster. Zwischen Rossen edelster Art hing ein prachtvolles Ruhebett; darauf lag Anna Boleyn, unbedeckten Haares, liebreizend und glücklich, über sich einen Baldachin, welchen die Barone der fünf Häfen trugen. Am Sonntage läuteten die Glocken der alten Abtei; der Erzbischof von Canterbury, sechs Bischöfe und der Abt von Westminster mit zwölf andern Aebten führten die in Purpur Gekleidete zur Kirche; der Herzog von Suffolk trug die Krone vor ihr her; ihre Damen folgten in Scharlach. Als der Erzbischof ihr die Krone aufgesetzt, grüßte sie ein Sturm von Huldigungen.
Anna trug bereits ein Kind unter dem Herzen; nicht den Thronerben, auf den Alles wartete, sondern eine Tochter. Aber diese Tochter hieß nachmals Elisabeth, Königin von England.
Der Papst antwortete mit der Cassierung des erzbischöflichen Urtheils, und die Cardinäle erklärten in einer Gerichtssitzung die Ehe mit Katharina für rechtsbeständig. Das Parlament aber faßte den Beschluß, daß die Thronfolge der Anna Boleyn gebühren solle, selbst wenn sie eine Tochter gebären würde.
In kirchlichen Reformversuchen und der Bekämpfung der sich aus der entstehenden Gäherung heraushebenden Opposition vergingen zwei Jahre. – –
Das so glänzend aufgegangene Gestirn von Anna Boleyn neigte rasch zum Niedergange. Heinrich hatte seinen Willen durchgesetzt, wie er immer that, aber vielleicht gerade, weil es einer solchen Anspannung aller Kräfte bedurft hatte, Anna zu erringen, war die Ermattung, die in Heinrich’s Verhältniß zu ihr eintrat, um so tiefer und plötzlicher. Schon bald nach ihrer Krönung, im November 1533, läßt er Unzufriedenheit mit ihr durchblicken. Es ist psychologisch begreiflich, daß der Verdruß über die Art, wie sie ihm den Weg zu sich erschwert, nachträglich die souveraine, sonst durch jedes Hinderniß in Wuth gebrachte Natur Heinrich’s gegen sie verbittert hat.
Daß sie nicht fest blieb, daß sie auf die Heirath mit Heinrich einging, statt ihn dauernd abzuweisen, war ihre echt tragische Schuld, an welcher sie überraschend schnell zu Grunde gehen sollte. Ein gewisser Eigensinn, der sich neben dem autokratischen Gatten behaupten wollte, eine kokette Ader, die sich unbekümmert geltend machte, kam hinzu; haarsträubende Erfindungen der Eifersucht und neidisch-gehässiger Zuträgerei sind es, die Heinrich ihr nachher schuld gab. Vielleicht bot sie Veranlassung zu diesen Beschuldigungen der Untreue, indem sie absichtlich seine Eifersucht erregte, um ihn zu fesseln; denn sie selber war beständig von Eifersucht gequält, zuletzt im höchsten Maße jener Johanna Seymour gegenüber, welche ihre Nachfolgerin werden sollte. Schlimm für sie war es, daß sie mit einem Fuß im Parteigetriebe stand: ihre protestantischen Neigungen trugen ihr die Feindschaft einer ganzen Partei ein und von dem, was Heinrich durch Anknüpfen an den Protestantismus Unangenehmes erfuhr, fiel wohl auch ein Schatten auf sie.
Es ist Thatsache, daß die Stimmung Heinrich’s gegen Anna immer erbitterter ward, wie daß sie selbst endlich in einen Zustand der Aufregung gerieth, welcher an Wahnsinn streifte. Sie gebar noch einen Sohn – todt; ihrer Verzweiflung über Heinrich’s Verhältniß zur Seymour gab sie die Schuld an diesem Ausgang ihrer Hoffnung.
Bei einem Turnier zu Greenwich, Anfangs Mai 1536, fiel das Taschentuch der Königin über die Logenbrüstung hinab. Heinrich, bei welchem das Maß eifersüchtigen Grolles voll war, wurde darauf aufmerksam gemacht. Bleich und finster verließ er den Platz und gab Befehl, drei Personen aus der Umgebung der Königin, Norris, Brereton und Smeton, sowie ihren Bruder, den Herzog von Rochford, gefänglich einzuziehen. Der König war überzeugt, daß Anna das Taschentuch geworfen, um einem ihrer Liebhaber ein Zeichen zu geben; die drei Vertrauten waren ihm längst als in sträflichem Umgang mit der Königin stehend verdächtigt, den Herzog aber hatte seine eigene nichtswürdige Gattin, welche mit Anna verfeindet war, verbotenen Umgangs mit ihr bezichtigt. Auf [667] dem Schlosse Forthringham übergab Heinrich ist der größten Aufregung und Eifersucht seine Gemahlin dem Lieutenant der Wache, und Anna ahnte alsbald verzweiflungsvoll ihr blutiges Schicksal.
Das dieser Skizze im Holzschnitt beigegebene schöne Bild Piloty’s, welches die Unglückliche ihrem feindlichen Gatten in so ergreifender Situation gegenüberbringt, stellt diese historische Scene dar: Heinrich weist jede Selbstverteidigung Anna’s zurück.
Im Gefängniß fiel sie auf die Kniee und betete: Gott möge sie nur so gewiß selig machen, wie sie unschuldig wäre.
Von dort schrieb sie an den König:
„Euer Majestät wolle nicht glauben, daß Ihre arme Gemahlin sich je werde dahin bringen lassen, einen Fehler zu bekennen, an welchen sie nicht einmal gedacht hat. Wahrlich: niemals hat ein Fürst eine Gemahlin gehabt, welche in aller Pflicht und wahrer Liebe treuer gewesen, als Sie solche in Anna Boleyn besessen haben. Mit diesem Namen und Stande hätte ich mich gern begnügen wollen, wenn es Gott und Euer Majestät so gefallen hätte. Seit meiner Erhebung zur königlichen Würde habe ich nicht daran gezweifelt, daß ich ein Schicksal, wie es mich jetzt trifft, gewärtigen müsse; denn da meiner Erhebung nichts zu Grunde lag, als ein Einfall Euer Majestät, so mußte ich gefaßt sein, daß die geringste Veränderung hinreichen werde, diesen Einfall auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Sie haben mich aus niedrigem Stande gewählt, Ihre Königin und Genossin zu sein, weit mehr, als ich verdiente oder verlangte. Wenn Sie mich solcher Ehre für würdig fanden, theurer, gnädiger König, so geben Sie nicht zu, daß eine nichtige Erfindung und Aufhetzung meiner Feinde mir diese königliche Gnade entwende, und lassen Sie diesen Flecken der Untreue nicht Ihrer gehorsamsten Gemahlin und der unmündigen Prinzessin, Ihrer Tochter, zur Schande anhaften! Lassen Sie mich gerichtlich verhören, theurer König, aber lassen Sie mich ein gesetzmäßiges Verhör haben und meine geschworenen Feinde nicht meine Ankläger und Richter zugleich sein! Dann mögen Sie sehen, wie entweder meine Unschuld dargethan – oder meine Schuld öffentlich erklärt wird, sodaß in allem, was Gott oder Sie über mich bestimmen, Euer Majestät von allem öffentlichen Tadel befreit und, falls mein Unrecht gesetzlich bewiesen wird, Euer Majestät Freiheit hätten, vor Gott und Menschen, nicht nur mich zu strafen, sondern auch Ihrer Neigung zu folgen, welche bereits an diejenige Person geknüpft ist, um deren willen ich mich jetzt in diesen Umständen befinde und deren Namen ich bereits geraume Zeit hätte nennen können, wie denn auch Euer Majestät mein Argwohn in dieser Beziehung nicht unbekannt ist. Wenn Sie aber über mich schon etwas verhängt haben, wenn nicht nur mein Tod, sondern auch schmähliche Nachrede Ihnen zum Genuß Ihrer begehrten Glückseligkeit helfen muß, so bitte ich Gott, daß er Ihnen Ihre große Sünde vergebe, gleicherweis meinen Feinden, welche zu ihr mithelfen, und daß er von Ihnen für Ihre unkönigliche und grausame Behandlung meiner Person an seinem allgemeinen Gerichtstage, an welchem wir beide bald erscheinen müssen und in dessen Entscheidung, wie ich nicht zweifle (möge die Welt denken, wie sie wolle), meine Unschuld offenbar werden wird, nicht allzu strenge Rechenschaft fordern möge.“
Zum Schluß bittet sie für die Unschuldigen, welche ihretwegen im Gefängniß schmachteten, in rührender Innigkeit, als des Königs „gehorsamste und ewig treue Gemahlin Anna Boleyn“.
Man sieht: sie hat den Muth, dem Könige seinen Vorwurf der Untreue zurückzugeben.
Die drei Leute aus ihrem Gefolge wurden verhört. Nur Smeton, in der Hoffnung sich zu retten, log sträflichen Umgang mit Anna. Sie wurden nebst einem Vierten, Weston, hingerichtet, ohne Beweise für ihre Schuld. Die Königin selbst und ihr Bruder wurden vor ein Gericht gestellt, bestehend aus dem Herzog von Suffolk, dem Marquis von Exeter, dem Grafen von Arundel und dem Herzog von Norfolk als Vorsitzenden. Man fand nichts Begründetes gegen Anna, und als Schuld ihres Bruders ergab sich nur die Thatsache, daß er sich einst vor einer Anzahl Zeugen an das Bett der Schwester gelehnt habe – nichts Sonderliches, wenn man weiß, wie die Sitte fürstlicher Personen, im Bett zu empfangen, in Frankreich sich sogar zum Bestandteil des Hofcermoniells ausbildete. Das Urtheil über Anna ward gefällt. Sie solle nach Gefallen des Königs entweder enthauptet oder verbrannt werden. Sie erhob die Hände und sprach mit nach oben gerichtetem Antlitz: „O Vater, o Schöpfer, der du der Weg, die Wahrheit und das Leben bist, du weißt, daß ich diesen Tod nicht verdient habe.“
Heinrich wollte sie noch tiefer vernichten. Das jugendliche Liebesverhäliniß zu Percy mußte herhalten. Ob zwischen ihm und Anna ein Ehecontract oder Eheversprechen bestanden? wurde er gefragt. Er leugnete es vor den beiden Erzbischöfen und nahm das Abendmahl darauf, in Gegenwart des Herzogs von Norfolk und anderer Räthe. Anna – es ist unsicher, ob mit besserem Gedächtniß als der Jugendgeliebte, oder in Folge der Drohung, im Leugnungsfalle die härtere Strafe leiden zu müssen – bekannte das Gegentheil. Ihres Todes war sie sicher. Noch einmal sandte sie eine Botschaft an den König, ihn ihrer Unschuld zu versichern, ihm ihre Tochter anzuempfehlen. Er habe sie aus einer adeligen Person zur Königin gemacht – höher habe er sie auf Erden nicht heben können; nun wolle er sie zu einer Heiligen im Himmel machen. – Sie äußerte keine Furcht vor dem Tode. In einem Gemach des Towers fand die Hinrichtung statt. Zuvor betete sie für den König, den sie einen gnädigen und wohlwollenden Fürsten nannte, welcher gegen sie stets ein guter und gnädiger König gewesen wäre. Sollte Jemand ihre Sache untersuchen, so bäte sie ihn, das Beste zu denken.
Der Scharfrichter von Calais führte den Streich; man hatte ihn kommen lassen, da er den Ruf größerer Geschicklichkeit vor seinen englischen Collegen voraus hatte. Anna’s Körper ward nachlässig in einen gemeinen Sarg von Ulmenholz gelegt und im Tower begraben. Dies geschah am 19. Mai 1536.
Am Tage nach der Hinrichtung vermählte sich Heinrich mit Johanna Seymour, und drei Wochen später erklärte das Parlament auf Grund ihres eigenen Bekenntnisses, die Ehe mit Anna sei nie rechtsgültig gewesen, ihr Kind außerehelicher Geburt und successionsunfähig. Es ist schmählich zu sehen, unter welchen speichelleckerischen Redewendungen und bombastischen Huldigungen gegen Heinrich dieser Beschluß gefaßt ward. Niemand bedachte, daß hiernach Anna des Ehebruchs gar nicht mehr beschuldigt werden konnte, daß Percy’s von Northumberland Ehe damit gleichfalls für ungültig erklärt war.
So endete diese geistvolle, anmuthige, interessante Frau, als Opfer eines tragischen Geschicks. Ihr ward eine glänzende Genugthuung in dem von der Geschichte gefällten Urheile wie in der Rolle, welche ihre Tochter Elisabeth auf dem englischen Throne gespielt hat.
Wir sind heutzutage ein schnellebiges Geschlecht. Das zeigt sich unter Anderem auch darin, daß die Jetztlebenden so wenig selbst von einer unweit rückwärts liegenden Vergangenheit wissen. Kaum daß von den Aelteren Einige (weitaus nicht Alle) sich dessen erinnern, was sie selbst früher erlebt, gethan oder gelitten. Und doch ist so manches, das im Schooße der Vergangenheit schläft, werth, in unserem Gedächtniß fortzuleben, zumal, wenn es vom Hauche edler Freiheit und jenem höhen Unabhängigkeitssinne durchweht ist, an den zu erinnern in Tagen der Reaction, wie wir sie heute durchleben, doppelt Pflicht ist.
Lassen Sie mich in der leichten Form einer „Plauderei“ ein paar lose Blätter dieser Vergangenheit wieder aufschlagen!
Ich versetze mich um fünfzig Jahre zurück. Ich war Student in dem romantischen Heidelberg, das damals noch viel romantischer war als jetzt, weil es noch nicht zu einer englischen Colonie geworden, sondern einen stillversteckten Winkel, ganz im Horazischen Sinne, bildete, traulich hineingeschmiegt in die Ausläufer des Odenwaldes und doch von seiner stolzen Schloßruine, von seinem Kaiserstuhle aus weite Aus- und Umblicke gewährend auf die herrliche Rheinebene bis hinüber zu den Vogesen und bis hinauf zum Donnersberg und zu den Gebirgen des Rheingaus.
Es war eine bewegte Zeit. Ein frischer Hauch war kurz vorher, nach langer Grabesstille, durch die deutschen Lande gegangen. Das freie Wort, lange gefesselt oder doch gedämpft, war
[668] wieder lebendig geworden in den süddeutschen Ständesälen und in der süddeutschen Presse. Selbst der kältere Norden war teilweise aus seinem Schlummer erwacht und regte sich. Der Geist, welcher freie, volkstümliche Verfassungen schafft hielt seinen Siegeszug in Deutschland von Land zu Land und stand erst still vor den schwarz-weißen Grenzpfählen im Nordosten und den schwarz-gelben im Südosten. Aber schon machte sich die Gegenströmung geltend. Die Ueberschwenglichkeiten des Freiheitsfiebers drohten wie so oft, die Freiheit selbst zu vernichten. Die lauernde Reaction ersah sich den Moment von Neuem hervorzubrechen. Auf der alten Feste zu Hambach (an deren Stelle jetzt die modern-mittelalterliche Maxburg steht) hatten im Mai 1832 neben deutschen Fahnen auch französische und polnische geweht. Das war schon nicht gut. Schlimmer war der wahnsinnige Frankfurter Putsch im April 1833, wo eine kleine Schaar Verwegener bei hellem Tage die Hauptwache am Sitze des Bundestags stürmte, um natürlich im nächsten Augenblicke von einer soldatischen Uebermacht zerstreut, in die Flucht gejagt oder gefangen genommen zu werden. Der Bundestag hatte nun alle seine Donner losgelassen. Censur, Paßwesen, Aufsicht auf die Universitäten, Alles war verschärft worden.
Trotzdem glaubte man, daß zu Pfingsten 1833 ein zweites Hambacher Fest stattfinden werde. Es war ein althergebrachtes Volksfest, welches alljährlich die lustigen Pfälzer auf der prächtigen Bergkuppe, diesem malerischen Luginsland, zu versammeln pflegte.
Ich hatte mich bis dahin wenig um Politik gekümmert; meine Gedanken schweiften nach anderen, idealeren Zielen hin. Aber wie hätte ich der Versuchung widerstehen sollen, auch einmal ein solches Fest und seine Erregungen in der Nähe mit anzusehen. Die Universitätsbehörde händigte mir auf mein Verlangen unbedenklich einen ordnungsmäßigen Paß aus, wie man einen solcher damals auf Schritt und Tritt benöthigte, zumal wenn man aus einem „souverainen“ deutschen Staate in den andern hinüber wandern wollte. Als harmloser Spaziergänger ohne Gepäck passirte ich glücklich die Schiffbrücke bei Mannheim und kam unangefochten, selbst ungefragt, bei der blau-weißen Schildwache vorüber, welche dort die königlich baierische Grenze vor gefährlichen Eindringlingen schützen sollte. So wandelte ich bei herrlichstem Frühsommerwetter durch die liebliche Pfalz hin, an Rebengeländen vorüber, das blauende Hardtgebirge vor mir; so klomm ich zu dem alten Hambachschlosse hinan und beschaute mir die Vorbereitungen zum morgenden Feste; dann stieg ich hinunter nach der baierischen Festung Landau, um dort zu übernachten und morgen nach Hambach zurückzukehren.
Der folgende Tag war ein Sonntag. Ich ging gewissenhaft auf’s Polizeiamt, um meinen Paß visiren zu lassen, und da dieses geschlossen war, zu dem hochmögenden Polizeicommissar in dessen Wohnung. Ich fand in ihm einen Typus des altbaierischen Beamten mit dem echt bajuvarischen verkniffenen, kleinen Schnurrbart und einer goldenen Brille über den argwöhnisch blickenden Augen. Bescheiden reichte ich ihm meinen Paß und stellte das übliche Begehr nach dessen Visirung. Beim ersten Blicke in der Paß entfiel dem guten Manne beinahe vor Schreck die Brille; sprachlos starrte er mich an. Ein Heidelberger Student mitten in der vermeintlich so wohlgehüteten Pfalz, nur eine Stunde entfernt von dem Hambacher Schlosse, jedenfalls entschlossen, morgen dort „mitzumachen“! Endlich sprach er gelassen das große Wort aus: „Auf diesen Paß kann ich Sie nur arretiren lassen.“
Nun ward ich belehrt, daß, weil mein Paß auf Mannheim, Speyer und zurück laute, ich aber auf einem Wege betroffen worden sei, der nicht zwischen Mannheim und Speyer, sondern abseits liege, ich mich straffällig und verdächtig gemacht habe und folglich arretirt werden müsse. Vergebens stellte ich vor, daß man bei solcher Erholungstouren in den Pfingstferien nicht die nächsten, sondern die schönsten Wege aufsuche und daß der schönere Weg unstreitig nicht am sandigen Rheinufer hin, vielmehr hier längs der Hardtberge laufe.
Der Hochmögende blieb beharrlich bei seinem Spruch. Er behauptete, die Universitätsbehörde zu Heidelberg hätte mir gar keinen Paß ertheilen dürfen; denn alle benachbarte Universitäten (hier schwatzte er aus der Schule) seien ersucht worden, während dieser Pfingstferien keine Pässe auszuliefern – natürlich damit kein Student den baierischen Boden betrete und dadurch das Vaterland vor Gefahr bewahrt bleibe! Das war nun aber doch geschehen, und unmöglich konnte ich für ein Versehen der Universitätsbehörde büßen. Aber der Mann ward immer ärgerlicher. „Sie haben in Hambach mit Revolution machen wollen,“ herrschte er mich an. Dagegen protestirte ich. Aber was half’s? Er hatte die Macht, ich nur mein Bewußtsein der Harmlosigkeit.
So mochte ich wohl eine halbe Stunde oder länger mit ihm vergebens capitulirt haben – du erschien mir ein rettender Engel in Gestalt der Familie des Gestrengen. Frau, Tochter und, wie es schien, Schwiegersohn kehrten vom Spaziergange heim und fanden zu ihrer sichtlichen Ueberraschung den Gatten und Vater in lebhafter Aufregung und ihm gegenüber ein junges Blut, dessen bestürztes Gesicht – ein solches mochte ich wohl machen – ihr Mitleid erregte. Genug, ich bemerkte, wie eine der Frauen um die andere dem erzürnten Jupiter etwas in’s Ohr flüsterte – fürbittende Worte, vermuthe ich; denn die Wogen seines Zornes legten sich; und er gab mir endlich den tröstlichen Bescheid: für diesmal wolle er es noch dabei bewenden lassen, mir – einen Zwangspaß mach Heidelberg zurück, auf dem geradesten Wege über Speyer, auszustellen: morgen früh neun Uhr müsse ich mich damit unfehlbar auf dem Polizeiamt zu Speyer melden. Auf meine Vorstellung, daß, da bis Speyer sechs Stunden Weges seien, ich früh drei Uhr würde ausrücken müssen, milderte er auch diese Sentenz auf elf Uhr. Was half’s? Ich wanderte nach Speyer, meldete mich und hatte die Genugthuung, daß man dort über den allzu großen Eifer des Landauer Collegen lächelte.
Uebrigens konnte ich meinem guten Geschick und dem baierischen Commissar zu Landau danken, daß ich verhindert worden war, diesem sogenannten Hambacher Feste beizuwohnen. Denn kaum daß dort eine pfingstfestfrohe Volksmenge sich eingefunden und bevor nur irgend etwas Verdächtiges geschehen, hatte das baierische Militär auf die Wehrlosen eingehauen und Viele verwundet. (Vergl. über diese empörenden Vorgänge die „Gartenlaube“ Jahrgang 1872, S. 364.)
Das ist ein kleines Geschichtchen aus der guten alten bundestäglichen Zeit und aus der Blütheperiode des Polizei- und Paßwesens! Nun ein paar andere Erinnerungen erfreulicherer Art!
Die Neujahrsnacht von 1833 zu 1834 war denkwürdig durch einer Sturm von seltener Heftigkeit, denkwürdiger noch für Deutschland durch ein anderes, politisches Ereigniß. Der mächtig durch Deutschland dahinbrausende Geist einer neuen Zeit – auch ein Sturm, und ein gewaltiger – warf in dieser Nacht ein Dutzend oder mehr bunte Schlagbäume um, die ebenso viele Grenzsperren für den inneren deutschen Verkehr von Land zu Land bedeutet hatten; an ihrer statt erstand eine gemeinsame Zolllinie, die ein Gebiet von beiläufig 24 bis 28 Millionen Einwohnern zu einem einiger, starken Handelskörper zusammenschloß. Der deutsche Zollverein war über Nacht entstanden, diese große, zukunftschwangere Schöpfung, von der damals ein deutscher Publicist prophetisch sagte: „Kaiser von Deutschland ist dermalen der deutsche Zollverein.“ Nun, er war mindestens die erste Stufe, oder besser gesagt, der Unterbau zu dem deutschen Kaiserthron, der freilich erst siebenunddreißig Jahre später errichtest werden sollte.
Und auf dieses erste hochwichtige Ereigniß des Jahres 1834, das die großen Industrieländer draußen, England und Frankreich, in lebhafte Erregung versetzte und ihre Sprachen mit einem neuen, bisher nicht gekannten Worte „Zollverein“ bereicherte, auf dieses erste folgte nicht lange nachher ein zweites – unscheinbar anfangs auf kleinen Raum beschränkst und doch in seinen Wirkungen kaum weniger bedeutungsvoll, als jenes: Zwischen Dresden und Leipzig ward der erste Spatenstich zu der ersten größeren deutschen Eisenbahn gethan; das war die erste Masche jenes ungeheuren Netzes von Schienensträngen, das heutzutage Deutschland nach allen Richtungen durchzieht und alle deutschen Länder mit einander verkettet, Leipziger und Dresdener Kaufleute hatten, von Friedrich List angeregt und ermuthigt, den Gedanken erfaßt, die beiden Städte durch einen Schienenstrang zu verbinden. Kühn, sehr kühn war dieser Gedanke damals; denn man hatte, auf dem europäischen Festland wenigstens, noch so gut wie keine Erfahrungen in Bezug auf dieses ganz neue Verkehrsmittel. Nur in England waren einige Eisenbahnen in’s Leben gerufen. Belgien begann sein großes Bahnnetz gerade erst in demselben Jahre; Frankreich war darin noch völlig zurück. Und da wollten einfache Private – nicht, wie in Belgien, der Staat – es wagen, einen solchen Bau und Betrieb zu unternehmen.
Der Zähigkeit des einen der Unternehmer, Harkort’s, der ein Sohn der rothen Erde war, und der speculativen Phantasie eines
[669][670] anderen derselben, Dufour’s, in dessen Adern französisches Blut floß, war es hauptsächlich zu danken, daß das kühne Beginnen in Angriff genommen und glücklich durchgeführt ward.
Von den Erfindern der Leipzig-Dresdener Bahn lebte bis ganz vor Kurzem noch einer, der Banquier W. Seyffarth in Leipzig. Auch er ist nun geschieden. Harkort ist an der Stätte seines Wirkens im Standbild verewigt; seine Büste, inmitten des grünen Baumwerkes am Rande des Parkes zu Leipzig auf hohem Sockel aufgestellt, blickt hinüber auf den glänzenden Bahnhof, der jetzt den Ausgangspunkt der Bahnlinie in Leipzig überdeckt. Ein zweites Denkmal, von Seyffarth an einer andern Stellte des Parkes gestiftet, verewigt das Unternehmen selbst, seine ersten und seine jetzigen Leiter.
Heutzutage, wo der Staat den Privaten eine dieser großen Unternehmungen – der Eisenbahnen – nach der anderen aus der Hand nimmt und sich aneignet, wirft man vielfach nur übelwollende oder höchstes mitleidige Seitenblicke auf die Privatindustrie, die, meint man, zur Schaffung und Leitung so großartiger Verkehrsmittel weder befähigt noch berechtigt sei. Aber man sollte nicht vergessen, daß ohne die wagende Kühnheit eben dieser Privatindustrie und des sie unterstützenden Associationsgeistes Deutschland wahrscheinlich noch lange ohne Eisenbahnen und hinter anderen Ländern zurückgeblieben wäre; denn die Regierungen, weit entfernt, das vorhandene Bedürfniß einer so tiefeinschneidenden Reform des ganzen Verkehrswesens zu erkennen und zu seiner Befriedigung die Hand zu bieten, verhielten sich damals meist sehr kühl dagegen, ja hinderten vielfach das Zustandekommen zweckmäßiger, dem Interesse des großen Verkehrs wirklich dienender Bahnlinien durch allerlei Rücksichten. Gerade in unserer Zeit, die so geneigt ist, den hohen wirthschaftlichen, politischen, ja sittlichen Werth des Princips der Selbsttätigkeit des Volkes zu unterschätzen und zu mißachten, kann es nicht schaden, daran zu erinnern, wie die bedeutendsten, großartigsten Unternehmungen aus jenem Gebiete in den dreißiger und vierziger Jahren fast ausschließlich und jedenfalls zuerst auf dem Wege eben dieser Selbsttätigkeit der Privaten zu Stande gekommen sind.
Noch ein anderes Bild aus jener Vergangenheit!
Das denkwürdige Jahr 1848 war fast zur Hälfte verflossen und hatte bereits Ereignisse von unberechenbarer Tragweite aus seinem Schooße geboren: in Preußen einen Thronwechsel; an der westlichen Grenze Deutschlands, in Frankreich, eine künstliche Heraufbeschwörung des Schattens Napoleon’s des Ersten und eine neue Auflage des Rufes nach dem „linken Rheinufer“. In der Metropole des deutschen Buchhandels aber, in Leipzig, feierte man in ungetrübter, voller Festesfreude das vierhundertjährige Jubiläum der Buchdruckerkunst, dieser echtdeutschen Erfindung. In Berlin hatte die Polizei das Fest verboten, oder sie hatte wenigstens alle die öffentlichen Kundgebungen verboten, die erst ein solches Fest zu einem rechten Volks- oder Nationalfeste machen. In Leipzig dagegen war die Polizei – Ehre ihr dafür! – so frei von Angst und so voll Vertrauen auf den guten Geist der Bevölkerung, daß sie ein wirkliches „Volksfest“ (auf dem großen Exercirplatze bei Gohlis) mit allen möglichen Lustbarkeiten nicht blos gestattete, sondern daß sie auch jeder sichtbaren Ueberwachung der wohl 30,000 bis 40,000 Köpfe starken Menge sich streng enthielt, die Wahrung der Ordnung lediglich dem Festcomité überlassend. Und sie hatte sich nicht getäuscht. Nicht Ein Fall von Unordnung, von Trunkenheit oder Lärmen trübte das schöne Fest: das Volk bewies durch die That daß, wenn man ihm vertraut, es dieses Vertrauen rechtfertigt.
Tags vorher hatte die geistige Feier stattgefunden. Auf dem Marktplatze war eine Tribüne errichtet, von der aus Raimund Härtel, der Verstand der Buchdruckerzunft, die Festrede hielt. Am Schlusse dieser ward eine dort aufgestellte Buchdeckerpresse enthüllt, die sofort ein Festgedicht druckte, das unter die Kopf an Kopf gedrängten Zuhörer vertheilt ward. Als die Masse gegen die Tribüne hin wogte, um die von da herabflatternden losen Blätter aufzufangen, sah ich neben mir einen langen, hagern Mann, ernsten, fast sauren, aber bedeutenden Gesichts und sichtlich voll lebhaftesten Interesses, halb vorwärts drängend, halb gedrängt. Es war Dahlmann, das Haupt der berühmten „Göttinger Sieben“, deren tapfere Gewissensthat kurz vorher das fast in politischen Schlummer versunkene Deutschland so mächtig aufgerüttelt hatte. Mit seinen Freunden, den Grimm’s und Albrecht, war er nach Leipzig gekommen, um das Fest mitzufeiern, zugleich um sich persönlich für die warme Theilnahme zu bedanken, die Leipzig dem Schicksal der Sieben gewidmet; denn Leipzig war der Ausgangspunkt und Sitz jenes „Göttinger Comité“ gewesen, das Ehrensammlungen veranstaltete für die Männer, die ihrer Stellen entsetzt worden waren, weil sie ihren Verfassungseid nicht brechen wollten, der Ausgangspunkt jener Bewegung, welche nicht blos Adressen und Dankesworte, sondern auch klingende Beweise dafür geliefert, daß, wenn ein deutscher Fürst strenge Gewissenhaftigkeit mit Entziehung von Amt und Gehalt straft, das deutsche Volk bereit sei, aus seinen Mitteln solche Ehrenmänner zu entschädigen.
So trat mitten in die Festesfreude der Leipziger Jubelfeier der volle Ernst des Lebens hinein, gleichsam verkörpert in der edlen Gestalt Dahlmann’s: die Erinnerung an die traurige politische Misere unserer rechtlosen deutschen Zustände, glücklicher Weise aber auch zugleich das erhebende Gefühl, daß es noch Männer gäbe, die solchem Unrecht muthig die Stirn böten.
Damals war dies der erste und einzige Staatsstreich in Deutschland. Seitdem sind wir – namentlich in den fünfziger Jahren – überreich mit Staatsstreichen aller Art gesegnet gewesen. Aber, Gott sei Dank, auch da hat es nicht an Solchen gefehlt, die dem von den „Göttinger Sieben“ gegebene schönen Beispiel von „Männerstolz vor Königsthronen“ nacheiferten – freilich auch nicht an Solchen, die schwächlich oder charakterlos genug waren, ihre Ueberzeugungen zu wechseln mit dem Wandel der herrschenden Systeme. Immerhin wird das deutsche Volk gut thun, jene tapfere Mannesthat der Sieben auch jetzt und für alle Zeit als ein leuchtendes Vorbild unvergessen sein zu lassen.
Mutter und Sohn.
Ottilie, Gräfin Seeon, hatte sich, seit sie uns als jugendliche Comtesse Riedegg aus den Augen schwand, in den vornehmen Lebensformen ihres Standes bewegt. Ihr Großvater selbst hatte sie in die große Welt eingeführt.
Das Wiederauftreten dieses seiner Zeit so hervorragenden, seit Jahrzehnten in Einsamkeit vergrabene Magnaten erregte Aufsehen; er ward von Seite des Hofes wie der Gesellschaft mit Auszeichnung empfangen, und diese Auszeichnung übertrug sich auch auf das schöne Mädchen, seine einzige Erbin.
Ottilie sah sich umworben, gefeiert, beneidet, und ihre kühle, etwas hochfahrende Art, diese Huldigungen anzunehmen, steigerte nur den Eifer Derer, welche nach ihrer Hand strebten – ein vermögensloser Officier aus altem Hause, Major Seeon, welcher den Jahren nach ihr Vater sein konnte, führte sie heim. Die Haltung, mit welcher Major Graf Seeon von seinem Glücke Besitz nahm, bewies jedoch, daß er solcher Auszeichnung werth sei; seine gediegene Persönlichkeit erschien überall an ihrem richtigen Platze und erwarb sich die Liebe Aller; nur mit seinem Schwiegervater, dem Grafen Riedegg, harmonirte der Major wenig, und die Jahre änderten nichts an dieser Kühle der gegenseitigen Beziehungen. Daß Ottiliens einziges Kind ein Mädchen war, bestärkte noch Graf Raimund’s Gleichgültigkeit. Mehr als je auf sich selbst zurückgezogen grollend gegen Menschen und Schicksal, den öffentlichen Ereignissen gegenüber völlig theilnahmlos, verzehrte der Greis in tiefster Einsamkeit sein Dasein, für dessen Ziele ihm dereinst die Erde kaum weit genug erschienen war.
Ottilie war glücklich, wenn dieses Wort auf leidenschaftsloses Zufriedensein Anwendung finden darf. Seit dem gewaltsamen Tode ihres über Alles geliebten Vaters, des einzigen Menschen, der ihr junges Herz erwärmt hatte, waren die Elemente des Stolzes, der Kälte, welche in ihr lagen, vorherrschender geworden, aber was [671] auch das Leben aus dem Menschen macht, in jedem schlummert ein Theil seiner eigenen frühen Jugend, gleichsam deren Seele, ihr besserer Theil, welcher nur auf den Moment wartet, um zu erwachen.
Die Wärme, welche Ottilie dereinst für ihren Vater empfunden, gehörte jetzt ihrem Kinde. Es war eine von Strenge durchwobene Liebe. Trotz mancher Beschränkung genoß aber Margarita die glückseligsten Kinderjahre. Gleich einem Sonnenstrahl glitt die holde Kleine durch das Vaterhaus, stets in beflügeltem Schritte, immer bereit zum Lieben und Freuen, als wären ihre Füßchen nur geschaffen, einher zu tänzeln, ihre weichen Arme nur da, um sich nach Jemand auszustrecken Der Ton freundschaftlicher Einigkeit zwischen den Eltern, der vornehme, aber nicht luxuriöse Zuschnitt des häuslichen wie gesellschaftlichen Lebens, die sorgsam ausgewählte Persönlichkeiten des intimeren Umgangs – Alles, was diese frische Menschenknospe umgab, trug einen harmonischen Charakter
Inzwischen war Graf Seeon zum General avancirt und wurde als Commandant nach S. versetzt. Für die Generalin knüpfte sich bald ein persönliches Interesse an diese Garnisonstadt. Die flüchtige Begegnung Siegmund’s vor drei Jahren war ihrem Gedächtnisse nach und nach entschwunden, obgleich die auffallende Aehnlichkeit des jungen Mannes mit ihrem verstorbenen Vater sie damals nicht wenig frappirt und ihre Gedanken zu alten Zeiten und Fragen zurückgeführt hatte. Als nun aber Lieutenant Friesack ihr gegenüber diese Begegnung berührte, stieg die merkwürdige Aehnlichkeit auf’s Neue und so fragwürdig in ihrem Gedächtnisse auf, daß sie nicht zögern mochte, Näheres über den jungen Mann zu erforschen. Was sie erfuhr, ließ ihr kaum einen Zweifel, daß es sich um keinen Anderen handelte, als um Den, dessen Existenz lange Zeit hindurch ihre Gedanken beschäftigt hatte. Wie aus weiter Ferne und doch so unvergessen schmerzlich erwachte in ihrem Ohre das geheimnißvolle, ihr nie entschleierte Wort des sterbenden Vaters: „Du hast einen Bruder.“
Oberst Friesack hatte ihr gesagt, Siegmund Riedegg’s Herkunft sei einigermaßen dunkel – „keinerlei Papiere seien vorhanden“. Dies bestärkte Ottilie in der Ueberzeugung, daß sie in der Voraussetzung nicht irre, der junge Officier müsse ihr Halbbruder sein.
So ward ihr der Moment, in welchem ihr Max Friesack seinen in die Garnison zurückgekehrten Freund vorstellte, zu einem hochbedeutsamen; sie fand in feinen Zügen, in dem edelgeschnittenen Auge, dem weichen blonden Haar ihren Vater wieder – freilich war diese Aehnlichkeit damals, als sie ihn zuerst sah, im Augenblick flüchtiger Begegnung, wo momentanes Schwanken den energischen Charakter des Gesichtes gleichsam aufhob, rascher erkennbar als heute, wo das anders geartete Naturell ihm bereits seine volle Signatur aufgeprägt hatte. Je öfter Ottilie mit dem jungen Officier zusammentraf, desto unverkennbarer drängte sich ihr jene Aehnlichkeit auf, welche die Natur so geheimnißvoll weiter spinnt – geheimnißvoll! denn oft wiederholt sie eine Bewegung, einen Klang der Stimme, einen raschen Blick sogar da, wo die Zusammengehörigen einander nie gekannt.
Die Beachtung, welche eine so hochgestellte Frau ihm gönnte, setzte Siegmund um so mehr in Erstaunen, als er auf die darauf bezüglichen Aeußerungen seines stets zur Übertreibung geneigten Freundes gar kein Gewicht gelegt hatte. Aber es konnte ihm selbst so wenig entgehen, als es Anderen entging, daß Generalin Seeon ihn auszeichnete, und obgleich dies in der Ottilie eigenen maßvollen Weise geschah, ward ihre sichtliche Bevorzugung eines noch so jungen bürgerlichen Officiers um so mehr bemerkt, als ihr der Ruf größter Exclusivität vorausgegangen war. Dieses Bemerken kam seiner Aufnahme in den geselligen Kreisen zugute. Siegmund’s natürliche Zurückhaltung, welche weit davon entfernt war, je anspruchsvoll zu sein, erhielt das einmal angeregte Interesse wach. Stolz ist nicht, wer es möchte, zurückhaltend ebensowenig; diese Eigenschaften gehören dem Einzelnen zu wie die Farbe seiner Augen, und drücken ihrem Eigner ein vornehmes Gepräge auf; wer sich nicht ausgiebt, bleibt überdies stets interessant.
Wöchentlich einmal, an jedem Donnerstage, fand sich im Salon des Commandanten ein intimer Kreis zusammen. Der eigentliche Inhalt dieser Zusammenkünfte war gute Hausmusik, aber auch die Nichtmusikalischen fanden ihre volle Rechnung während der Plauderstunden vor und bei Tische, da erst nach dem Souper musicirt zu werden pflegte. Gräfin Seeon hatte diese Abende hauptsächlich im Hinblick auf Margarita eingerichtet, welche sie in diesem Winter noch nicht in die große Gesellschaft einzuführen und doch auch nicht mehr auf die Schulstube und den kleinen Familienkreis allein zu beschränken wünschte. Das junge Mädchen, bei dessen Erziehung jede Anlage berücksichtigt worden war, besaß eine sympathische, wohlgeschulte Stimme, spielte auch mit seelenvollem Vortrag Clavier. Hätte die Generalin eines Vorwandes bedurft, um Siegmund häufig bei sich zu sehen, so war ein solcher durch seine hervorragende musikalische Ausbildung geboten.
Es gestaltete sich wie von selbst, daß dem Lieutenant Riedegg die Leitung dieses Theiles der Donnerstagabende zufiel, und seine Beziehungen zum Musikdirector Fügen erleichterten manche Zusammenstellung von Ensembles. Die jungen Leute spielten vierhändig; Siegmund begleitete Margarita’s Gesang und gerieth auf die natürlichste Weise den Damen Seeon gegenüber in die Stellung, ihnen auch außer dem Hause durch kleine Dienstleistungen gefällig zu sein, sie begleiten zu dürfen, wenn der General daran verhindert war, kurz, ihnen häufig zur Seite zu bleiben. Graf Seeon sanctionirte die Auszeichnung, welche seine Frau dem jungen Officier zu Theil werden ließ, indem auch er ihm sein persönliches Interesse zuwandte.
Ottilie hatte ihrem Gatten schon vor Jahren alles mitgetheilt, was sich auf die Sterbestunde ihres Vaters bezog, und hielt nur kurze Zeit mit der Entdeckung zurück, die sie neuerdings gemacht. Der nun eingeweihte General beobachtete Siegmund scharf und war bald ebenso überzeugt, wie seine Frau, daß der junge Mann ganz ahnungslos über die Beziehung sei, welche ihn mit der Familie verband. Er richtete sein Augenmerk auf Siegmund’s militärische Tüchtigkeit und erfuhr mit Vergnügen sowohl durch dessen Regimentscommandeur wie durch manches gesprächsweise Examen, das er mit ihm vornahm, welchen eisernen Fleiß Siegmund seiner wissenschaftlichen Fachausbildung zuwendete.
Graf Seeon freute sich des begabten, strebsamen Officiers, der durch manche am Arbeitstisch verlebte Nachtstunde die Zeit einzubringen wußte, welche er dem Frauendienst gewidmet, und war entschlossen, das Seine dazu zu thun, um diesen ihm, wie er sich scherzend gegen seine Frau äußerte, au natural Verschwägerten nach Möglichkeit zu fördern, sobald sich dazu Zeit und passende Gelegenheit ergeben würde.
Der naiven Grazie Margarita’s gegenüber, die aus der Gewohnheit des Glücklichseins entsprang und eben darum wärmte wie die Sommersonne, ward sich Siegmund erst bewußt, wie fern seine eigene Kindheit und Jugend von solcher Helle geblieben und daß immer irgend ein Schatten auf seinen Weg gefallen sei. Spät war ihm das Bewußtsein aufgegangen, wie düster doch seine geliebte Mutter während seiner Kinderjahre dahin gelebt, wenn ihre Zärtlichkeit auch ihn selbst nichts hatte vermissen lassen, als vielleicht ein Licht, welches er nur deshalb nicht entbehrte, weil er es nicht kannte. Und dann die Trennung, die anfangs herben Schuljahre, die eigenen Seelenkämpfe, endlich der Krieg – immer ein ernster, ein hemmender Zug, woraus sein Wesen allmählich diese Beimischung von Schwere erhalten, welche ihm unmöglich machte, ohne Prüfung zu ergreifen und zu genießen, was die Stunde bot. Die beschwingte Natur Margarita’s erhob ihn aber gleichsam mit sich in eine leichtere Sphäre, in eine Sonnennähe, wo es sich ganz von selbst verstand, daß dort nur Himmelblau und Wärme zu finden sei. Es war vor Allem dieses Kindes Herzensgüte, was ihn anzog; ihre unschuldigen Augen trübten sich nur, wenn sie von Mangel oder Kummer hörte, und sie ruhte dann nicht, bis sie ausfindig gemacht, womit Trost und Hülfe wenigstes zu versuchen sei; ihr Vater pflegte sie damit zu necken, daß sie schon als kleines Kind stets erblaßt wäre, wenn ihre Puppe unvorsichtig gestoßen ward.
Margarita verkehrte in harmlosester Zutraulichkeit mit dem junge Hausfreunde, der stets zur Stelle war, wenn etwas Schönes in Aussicht stand, und der ihr nach und nach mit ihrer geliebten Musik in Eins verwuchs. Trotz ihrer reizenden Natürlichkeit bestand eine kleine Nuance zwischen dem Ton, welchen sie ihm oder Anderen, z. B. Max Friesack gegenüber anschlug. Obgleich dieser gutherzige Mensch, der mit rührender Liebe an dem ihm geistig überlegenen Siegmund hing, meinte, dem Freunde Alles zu gönnen, was zwischen Himmel und Erde zu erreichen war, fing er nun doch an, sich innerlich mit einigem Neid herumzuschlagen; denn er hatte sich in kürzester Frist bis über die Ohren in Margarita verliebt und hätte seinen kleinen Finger darum gegeben, wäre ihm vergönnt gewesen, so oft um sie zu sein, wie sein glücklicherer Freund. Dennoch war er nicht eifersüchtig auf ihn. So oft Max [672] die Beiden zusammen sah, überzeugte er sich auf’s Neue, daß Siegmund seinen eigenen, noch sehr geheimen Hoffnungen gewiß nicht im Wege stand; denn eigentlich war es doch nur das gemeinschaftliche Musiciren, das Siegmund mit Margarita verband. Saß sie zu vierhändigem Spiel neben ihm am Flügel oder sang sie zu seiner Begleitung eines der schwermütigen Lieder, die sie seltsamer Weise am meisten liebte, dann war freilich die tanzende Elfe aus einmal wie vertauscht und das liebliche Gesicht glich dem einer Muse. Dann trat ein fremder, geheimnisvoller Zug um die braunen Augen, den feinen Mund. Kaum aber war das Notenblatt niedergelegt, so sah Max voll Befriedigung, wie schnell Margarita zur Gruppe der jungen Welt zurückflog und wie häufig sein Freund sich neben die Generalin setzte, um sich mit ihr in allerlei Gespräch zu vertiefen.
Siegmund fühlte sich in der That von der Mutter fast ebenso sehr angezogen wie von der Tochter. Die tactvolle, gütige Weise, mit der Ottilie ihre persönliche Theilnahme für ihn durchblicken ließ, hatten ihm manche offene Aeußerung über sein bisheriges Leben und Sein abgewonnen. Sie legte so viel Interesse für seinen Entwickelungsgang, seine Kindheits- und ersten Jugendjahre an den Tag, daß seine angeborene Scheu, über sich selbst zu sprechen, davor wich. Außerdem fand er in dieser Frau etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes; ihre unbestechlich rechtschaffene Gesinnung, ihr Bedürfniß der Wahrheit und Klarheit stimmten mit seiner Lebensanschauung überein.
Gewöhnt, seiner Mutter von Allem, was ihn anging, Mittheilung zu machen hatte er ihr in seinen Briefen wiederholt von dieser neuen, ihm so erfreulichen Beziehung gesprochen; er war aber nicht wenig befremdet, diesen Punkt in ihren Antworten stets mit einer gewissen Consequenz übergangen zu sehen. Ueberhaupt bot ihm die Correspondenz mit ihr nicht mehr den früheren Genuß voller Befriedigung. Unstät wie ihr Leben, das sie beständig in der weiten Welt umherführte, erschien ihm auch die Stimmung, welche aus ihren immer seltener gewordenen Mittheilungen sprach. Seine Briefe gelangten nur auf dem Umwege über Paris an sie, und zwar durch einen Banquier, der Herrn von Clairmont’s Geschäfte führte und die Anweisungen an Siegmund übermittelte.
Diese Umständlichkeiten verstimmten ihn und trugen dazu bei, seine Lust an einem Briefwechsel zu dämpfen, der eigentlich kaum mehr eine solche Bezeichnung verdiente. Siegmund empfand die Unzulänglichkeit solcher Verbindung mit seiner theuern Mutter schmerzlich, ohne sich darüber zu äußern, nicht einmal gegen Fügen, dessen Hausgenosse er auch dann geblieben, als der Meister sich Jana nach neuem Werben zur Hausfrau gewonnen hatte.
Es konnte nichts Behaglicheres geben, als die Häuslichkeit des Fügenschen Ehepaares. Der glückliche Gatte war wie verjüngt, Jana vielleicht noch etwas stiller geworden als früher. Herzenskundige mochten in ihrem Gesicht den leisen Zug erkennen, welchen großes Herzeleid unverwischbar einprägt, aber ihre liebreichen Augen, ihr ruhiges Lächeln sprachen von Trost, sogar von Glück. Das Ehepaar lebte zurückgezogen aber nicht vereinsamt; denn Befreundete gingen gern in ihrem Hause aus und ein, wo man die Wirthe stets daheim traf und die Gäste so herzlich empfangen wurden. Hier fühlte sich Siegmund durchaus heimisch. Je mehr Gemeinschaftliches aber diese drei Menschen verband, um so bewußter ward Jedem von ihnen die unsichtbare und doch so fühlbare Veränderung, welche in ihrem Verhältnisse zu Genoveva eingetreten war. Frau von Riedegg hatte neuerdings keinen Brief aus dem Fügen’schen Hanse mehr anders als durch Grüße beantwortet, die Siegmund bestellt. Dieser verweilte nicht gern bei Gesprächen, die seine Mutter betrafen, und so hielten auch die Gatten ihre Fragen und die unbestimmte Unruhe zurück, welche sie unter vier Augen gegen einander äußerten. War Fügen hierin discret, so fiel es Siegmund dagegen auf, wie eingehend er sich nach den Beziehungen des jungen Officiers zu der Seeon’schen Familie erkundigte. Für den in die näheren Verhältnisse eingeweihten Capellmeister war es ja längst kein Geheimniß mehr, daß Gräfin Seeon jene Tochter erster Ehe sei, deren Genoveva erwähnt hatte, als sie ihm die Geschichte ihres bestrittenen Rechtes erzählte. Die hochstehende, im Aussterben begriffene Familie Riedegg im Auge zu behalten war nicht schwierig; Fügen hatte also längst erfahren mit wem sich diese Halbschwester seines Mündels vermählt hatte, und auch Genoveva war durch den Freund von Allem unterrichtet. Als General Seeon jetzt nach S. versetzt worden und Siegmund’s Rückkehr in Aussicht stand, schrieb er ihr auch dies, ohne einen Augenblick zu zögern. Ihre Antwort hierauf war der letzte Brief, den Fügen von ihr erhalten; er beschränkte sich aus die kurze Weisung: den Dingen ihren Lauf zu lassen und das bisherige Schweigen Siegmund gegenüber streng zu bewahren. Gut und schön, soweit das ihn und Genoveva betraf! Wie stand es nun aber mit dieser Gräfin Seeon? Wußte sie, die damals noch ein Kind gewesen, von ihres Halbbruders Existenz, von den Ansprüchen, welche dessen Mutter erhoben? Weshalb sie ihn in ihr Haus gezogen, was aus alledem werden sollte, vermochte Fügen nicht zu überschauen und ließ es sich nicht wenig im Kopfe herumgehen. Siegmund, der unter all diesen Wissenden stand und doch von nichts wußte, empfand nach und nach eine Rückwirkung dieser ganz besonderen Lage. Mehr als einmal ward er durch einen Blick, eine Miene, eine flüchtige Frage betroffen, die ihn Verborgenes, ihn Angehendes ahnen ließ, und geriet nach und nach in ein Grübeln, das er umsonst zu verscheuchen strebte. Ein Bedürfniß glücklich zu sein, sich des schönen Lebens, seiner reichen Jugendtage zu freuen, wehrte instinctiv alles Störende ab und behielt vollends den Sieg, wenn Margarita ihm nahe war. Bei ihr gab es nichts Verhülltes; sie brauchte ihn nur anzusehen oder mit dem freien, frischen Lächeln ein Wort an ihn zu richten – und Alles in ihm wurde licht und klar.
Blätter und Blüthen.
„Brüderchen schläft.“ Wie unser heutiges Bild (S. 669), so sind
auch die übrigen künstlerischen Produkte ’’Joh. Georg Meyer’s’’ von
Bremen durch seltene Naturtreue ausgezeichnet, welche, mit echt künstlerischer
Auffassung gepaart, den Gestalten des Meisters den Reiz bestrickender Anmuth
und Lieblichkeit verleiht.
Meyer von Bremen, der in den Jahren 1833 bis 1842 in Düsseldorf auf der Akademie seine Ausbildung empfing, legte seinen Gemälden anfänglich mit Vorliebe biblische Stoffe unter, wie „Abraham und Sarah“ etc. Bald jedoch erkannte er, daß das Genrebild sein eigentümliches Gebiet sei, und schuf nun in rascher Aufeinanderfolge trefflich gelungene Oelgemälde aus der Kinderwelt. Im Jahre 1853 siedelte er nach Berlin über, wo er sich noch jetzt aufhält: er ist Mitglied mehrerer Akademien. Auch gehört er zu denjenigen deutschen Künstlern, die sich großer Anerkennung im Auslande erfreuen; seine Arbeiten wurden größtenteils von Engländern erworben, gingen aber auch zum Theil nach Paris und Amerika. Durch den Kupferstich sind seine besten Gemälde schon früher weiteren Kreisen bekannt geworden, wie z. B.: „Die Wittwe, Abendandacht haltend mit ihren Kindern“, „Die Heimkehr des Landwehrmannes“, „Das jüngste Brüderchen“, „Blindekuhspiel“ und „Das erste Gebet“.
Etwas von den Sinnen der Ameisen. Seit uralter Zeit fesselte
den Naturforscher das Leben und Treiben der Ameisen, jener geschäftigen
Republikanerinnen des Thierreiches, welche, so winzig auch ihr Körperbau
erscheinen mag, mit so großen Geistesgaben ausgestattet sind, daß ihnen,
was die Verstandesthätigkeit betrifft, auf dieser Erde nach dem Menschen
der erste Platz gebührt. Im Allgemeinen ist die Ansicht verbreitet, daß
dieses interessante Gebiet des Thierlebens vollständig erforscht sei und daß
man nur in einem größeren Handbuch der Thierkunde nachzuschlagen
brauche, um einen Blick zu gewinnen in alle Geheimnisse dieser kleinen
verständigen Wesen. Diese Meinung ist aber durchaus irrtümlich. Wir
kennen zwar einige Hauptzüge aus dem gesellschaftlichen Leben der
Ameisenarten, fremd sind uns dagegen die seelischen Eigenschaften der einzelnen
Individuen geblieben. Erst in jüngster Zeit hat ein englischer Gelehrter,
L. Lubbock, sich der Mühe unterzogen, Ameisennester in seiner
Wohnung zu cultiviren und in jahrelangen Beobachtungen ihre Eigenschaften
genauer kennen zu lernen. Ihm verdanken wir auch einige Aufschlüsse
über die Sinne der Ameisen, also die wichtigen Organe des Seelenlebens
dieser Insecten.
Der geniale Forscher belehrt uns, daß die Ameisen in der Hauptsache nur auf den Geruchssinn angewiesen sind: sie haben zwar fünf Augen, die aus unzähligen Facetten zusammengesetzt sind, aber die Sehkraft derselben ist äußerst gering: denn nach sinnreichen Experimenten Lubbock’s vermögen die Ameisen nur auf wenige Centimeter die Gegenstände deutlich zu unterscheiden. Im Allgemeinen lassen sie sich nur durch den Geruchssinn leiten, und wenn die Fährte, auf welcher sie sich befunden, plötzlich aufhört, bleiben sie rathlos in unmittelbarer Nähe des gesuchten Gegenstandes stehen. Dagegen sind die Ameisen gegen Farben sehr empfindlich; in den von Lubbock teilweise aufgedeckten Nestern mieden sie beharrlich die Stellen, welche mit roten oder violetten Gläsern bedeckt wurden, während sie sich durch gelbe oder grüne Lichtstrahlen angezogen fühlten. – Die Untersuchungen des englischen Gelehrten bilden die ersten Anfänge zur Psychologie unserer nächsten Geistesverwandten: sie haben zunächst die Dürftigkeit unserer Kenntniß nach dieser Richtung hin dargetan und dadurch hoffentlich zu neuen Forschungen auf diesem dankbaren Gebiete angeregt.