Die Gartenlaube (1882)/Heft 12

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[185]

No. 12.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


„Also Du hattest doch eine Zusammenkunft, Hilda!“ sagte Edwin.

„Ja, allerdings – und ich bin Ihnen volle Offenheit schuldig, Edwin.“

„Sie haben seltsam damit begonnen.“

„Hören Sie also! Schon gestern beabsichtigte ich Ihnen alles mitzutheilen, aber –“

„Aber,“ fiel er ihr in’s Wort, „ich verschmähte es, Bekenntnisse aus der Vergangenheit zu hören. Allerdings scheine ich mich in der natürlichen Voraussetzung, daß sich die Vergangenheit nicht in die Gegenwart hineinspinne, getäuscht zu haben.“

Hilda sah ihn groß und verwundert an.

„Lassen Sie mich einen Fehler, den ich absichtslos beging, gut machen! Ich setze voraus, daß Sie unsere Familienverhältnisse kennen. Franz wird sie Ihnen, denke ich, nicht verhehlt haben; er ist zu wahrheitsliebend, als daß er seine Braut und die Ihren auch nur einen Augenblick darüber im Unklaren gelassen hätte. So hörten Sie denn gewiß auch schon, daß ich außer Franz noch einen Bruder habe, einen armen unglücklichen Bruder. – Er ist es, von dem ich komme. Und nun wissen Sie, Edwin, wie vorschnell, wie ungerecht Ihre Vermuthung war.“

„Wie? er ist hier?“

Die Frage klang verlegen, mißtrauisch.

„Schon seit einer Reihe von Tagen. Krank und elend kam er hier an, in dem Irrthum, daß seine Rückkehr straffrei sei. Ich glaubte ihn vor Allen verbergen zu müssen, selbst vor Franz. Vielleicht habe ich Unrecht damit gethan.“

„Also das ist es!“ rief Edwin in einem Tone, der aus einem erleichterten Herzen kommen sollte, aber doch mehr gezwungen als fröhlich klang. „O, so war ich denn ohne Grund eifersüchtig, meine Theure!“

„Sie scheinen das beinahe zu bedauern.“

„Gewiß, weil ich mich dadurch an Dir verging, Du Engelsreine,“ beeiferte er sich, den eigentlichen Sinn ihrer Worte scheinbar überhörend, seine Reue kundzugeben. „Aber Du kannst mir deshalb nicht zürnen. Vergeben ist so schön und das Vorrecht des Frauenherzens. Aber, meine süße Braut,“ fuhr er fort, und die Hast, in der er sprach, deutete an, daß er schnell über das peinliche Thema hinwegzuschlüpfen wünschte, „Du hast mir heute noch nicht gesagt, daß Du mich liebst, daß Du mein bist. Sag’ es mir mit einem Kuß! Nur die Vögel im Gezweige belauschen uns hier. Zürnst Du mir denn noch, Grausame? Laß uns die erste Versöhnung feiern und erlaube, daß ich Dir dieses Armband umlege, als Sinnbild – –“

„O, jetzt nicht!“ wehrte sie seine Zärtlichkeit ab. „Hören Sie mich erst zu Ende! Mein armer Bruder, der auf Verjährung baute, befand sich in einem verhängnißvollen Wahn. Er ist in Gefahr, entdeckt zu werden.“

„Ja, das ist freilich seine Schuld. Er hätte bleiben sollen, wo er war.“

Die Kälte dieser Worte that Hilda weh.

„Nun ist er aber hier, und wenn er entdeckt wird, ist er verloren.“

„Das hätte er seiner Familie auch ersparen können,“ sagte Edwin mit unverhohlenem Unmuthe. „Es ist wahrlich keine besondere Ehre, der Verwandte eines verfolgten Verbrechers zu sein. Weißt Du – man muß trachten, ihn sobald wie möglich wieder fortzuschaffen.“

„Das ist auch mein Wunsch,“ sagte sie, und das Blut stieg ihr heiß in die Wangen, „ich war schon bemüht, es in’s Werk zu setzen, aber – aber ich muß Sie nun bitten, Edwin, mir dabei behülflich zu sein. Wollen Sie?“

„Ich? Wie komm’ ich zu –?“

„Das eben will ich Ihnen mittheilen. Doch reichen Sie mir indeß den Arm, und gehen wir weiter, damit keine Zeit verloren wird!“

Zu der Bereitwilligkeit, mit der er dieser Aufforderung entsprach, stand die Art und Weise, wie er Hilda’s Eröffnung über das Schicksal Wilhelm’s aufnahm, einigermaßen in Widerspruch. Anfangs zwar zeigte er scheinbar Theilnahme bei der Schilderung der Leiden, welche der arme Flüchtling erduldet, bald aber nahmen seine Ausrufe, mit denen er hie und da ihre Erzählung unterbrach, einen weniger freundlichen Charakter an, obgleich sie sich zuerst nur auf Schöpf und sein Auftreten bezogen. Nach und nach galten sie aber nicht mehr dem „Frechen“, dem „Elenden“, dem „gemeinen Schurken“ allein, sondern die Entrüstung übertrug sich auch auf den durch das Schicksal von dem „Blutsauger“ abhängigen „Schwächling, der nun alle in solche Fatalitäten brachte“. Die Gefahr, welche ihm drohe, habe er sich nur selber zuzuschreiben, aber es wäre rücksichtslos von ihm gehandelt, auch Andere in dieselbe mit hineinzuziehen, und dafür verdiene er reichlich jede Strafe – das war Edwin’s zuletzt deutlich ausgesprochene Meinung, durch die er offenbarte, wie wenig er Hilda’s Sorge theilte.

„Man muß dieser Revolverbande klar machen,“ sagte er, „daß sie sich täuscht. Führt der Spitzbube seine Drohung wirklich aus, [186] so fällt er selbst in die Grube. Man belangt ihn einfach wegen Erpressung.“

„Nein, wir dürfen es nie dazu kommen lassen,“ wandte Hilda ein.

„Ich sehe nicht ein, was man anderes thun könnte. Der Gauner wird sich übrigens wohl hüten, irgend welche entscheidende Schritte zu thun, da er weiß, daß hier jeder Pfeil auf den Schützen zurückprallen muß.“

„Indem er Rache nimmt, kann er sich ganz leicht selbst der Verantwortung entziehen. Er braucht nur abzureisen.“

„Ei, so mag der Schuft zum Henker gehen! Eine widerwärtige Geschichte – aber sie läßt sich nicht ändern.“

„Sie vergessen, Edwin, daß ich Verpflichtungen übernommen habe, die mich –“

„Die Dich doch solchen Leuten gegenüber nicht binden können.“

„Gewiß binden sie mich. Ein Versprechen ist mir heilig, wem ich es auch gegeben.“

„Mein Gott, wie unbesonnen! Das ist so echte Frauenart, sich von einer sentimentalen Regung zu den wahnwitzigsten Opfern verleiten zu lassen. Zum Leben gehört vor allem Eines: Klugheit!“

„Klugheit!“ wiederholte sie mit eigenthümlicher Betonung. Ihr tönte plötzlich ein anderer Ausspruch Edwin’s in den Ohren, jener Ausspruch über die „verknöcherte Selbstsucht“, gegen welche er vor Kurzem erst in ritterlichem Anlaufe eine Lanze gebrochen, wofür sie ihm dann, wie zur Zeit der Turniere und Minnelieder, einen Rosendank gespendet. Ach, wem hatte sie die Rosen vorenthalten, die Edwin empfangen? Nun war es ihr wieder, als hörte sie Meinhard’s Worte: „Es giebt Lagen, wo der Mensch einzig und allein dem Impulse seines Herzens folgen muß.“ Aber jetzt, wo sie wirklich in solcher Lage war, in der nur das Herz sprechen darf, wie stand ihr jetzt Meinhard’s Gegner, der Mann, der die „verknöcherte Selbstsucht“ mit so beredten Worten bekämpfte, – wie stand ihr Edwin, derselbe, den sie sich zur Stütze und zum Lebensgefährten gewählt – wie stand er ihr jetzt gegenüber?

„Ich war der Meinung,“ fuhr sie nach einer kleinen Weile in gedämpftem Tone fort, „daß Sie denjenigen glücklich preisen, der ohne Berechnung seinem Drange folgen und als Engel des Erbarmens und der Liebe Hülfe bringen darf. Denken Sie heute anders darüber?“

„Ich ändere meine Ansichten nie,“ erwiderte er, ohne auch nur einen Augenblick zu stutzen oder in Verlegenheit zu gerathen. „Glücklich nannte ich denjenigen, der so handeln darf und kann. Das hängt eben von den Verhältnissen ab.“

„Gottlob, daß es mir die meinen gestatten!“

„Das ist ja eben nicht der Fall. Zehntausend Gulden – die giebt man nicht so weg! Bedenken Sie doch, Hilda, ein ganzes Capital!“

„Für die Rettung meines Bruders!“

„Ach was! Ein solcher Bruder ist zu kostspielig.“

„Für die Ehre der Familie!“

„Was einmal geschehen ist, wird ja doch nicht ungeschehen gemacht.“

„Wir fühlen und denken verschieden,“ sagte Hilda kalt, fast verächtlich. „Meine Ansichten über die Unerläßlichkeit gewisser Dinge sind unerschütterlich, und da Sie mir nicht zu rathen, zu helfen wissen, so gestatten Sie mir wohl, auf dem nun einmal beschrittenen Wege zu verbleiben – nicht wahr?“

„O, wie Sie meinen,“ erwiderte er beleidigt.

„Ich muß aber doch noch einmal auf Ihre Unterstützung zurückkommen, es ist nur eine kleine Gefälligkeit Ihrerseits, Edwin, auf die ich zähle, und Sie werden davon nicht allzusehr in Anspruch genommen werden.“ Sie nahm die Obligationen hervor. „Hier sind Papiere im Werthe von sechstausend Gulden,“ fuhr sie fort. „Die wünsche ich nicht wegzugeben, sondern nur belehnen zu lassen, weil ich sie zu einer kleinen Mitgift für Mimi bestimmt habe. Sie sollen ihr bleiben und können ausgelöst werden, sobald mir Franz meinen Vermögensantheil herausbezahlt. Der Rest muß gegen Wechsel aufgenommen werden und noch Eintausend mehr, die ich für Wilhelm brauche. Sie begreifen, daß er nicht mittellos in die Welt hinaus gehen kann.“

Mit steigender Unruhe hatte Edwin ihr zugehört. Nun vermochte er sich nicht länger zu halten.

„Haben Sie denn summirt?“ fragte er, und sein Gesicht röthete sich vor Aufregung und peinlicher Verlegenheit. „Sechs und sechs macht zwölf, und fünf – macht siebenzehntausend Gulden, Provision und Interessen noch ungerechnet.“

„Es wird so sein,“ entgegnete sie mit ruhiger Gelassenheit, die einen starken Gegensatz zu seiner Erregtheit bildete.

„Sie wollen sich also Ihres Besitzes möglichst entäußern?“ versuchte er zu scherzen. „Wissen Sie, daß man Sie eigentlich als Verschwenderin unter Curatel setzen sollte? Nein, nein, denken Sie nicht an dieses Darlehn, liebste Hilda! Dazu kann ich übrigens als Ihr künftiger, natürlicher Vertreter auch nie meine Einwilligung geben.“

„Noch bedarf ich derselben nicht,“ antwortete sie kurz, aber schon im nächsten Augenblicke that ihr die schroffe Antwort leid, und in freundlicherem Tone sagte sie. „Sie sollten es mir nicht so schwer machen, Edwin, eine Gewissenspflicht zu erfüllen. Daß ich mich an Sie wende, ist ein Zeichen des Vertrauens, und es ist nicht gut, nicht edel von Ihnen, wenn Sie mich hierin einschüchtern. Stehen Sie mir treulich bei und verdienen Sie sich meinen Dank! Wollen Sie, Edwin? Ich bitte Sie darum.“

Der weiche, freundliche Ton blieb ohne Eindruck auf ihn, und die bittend ausgestreckte Hand fand die seine nicht.

„Ich kann nicht,“ sagte er, noch immer in starker Erregung. „Sie haben nicht bedacht, was Sie zu thun im Begriffe stehen. Es ist meines Wissens die Hälfte Ihres Vermögens, welches Sie zu Gunsten Ihres Bruders abtreten wollen – und was für eines Bruders!“

„Ja, die Hälfte meines Vermögens, und müßte es mein ganzes sein – ich dürfte nicht zaudern.“

„Fürwahr, ein Heroismus der Familienliebe, der – an den Wahnsinn streift, wie jeder Heroismus!“ lachte er scharf auf. „Ich werde dazu nie und nimmer die Hand leihen. Ich kann es nicht, Hilda – ich darf es nicht.“

„So muß ich es denn allein vollbringen.“

Er hatte ihren Arm losgelassen und war stehen geblieben. Ohnedem konnten sie nur einzeln durch das Drehkreuz in der Hecke des Obstgartens gehen, das sie jetzt erreicht hatten.

„Ich kann es nicht,“ wiederholte Edwin. „Das hieße – unsere Zukunft in Frage stellen und darum beschwöre ich Sie, Hilda, überlegen Sie noch einmal Ihr Vorhaben! Sie setzen mit demselben mehr auf’s Spiel, als Ihnen bisher klar geworden. Sie dürfen mich nicht mißverstehen; ich bin weit davon entfernt, einen Druck auf Sie üben zu wollen aber die Offenherzigkeit muß wohl zwischen uns Beiden eine gegenseitige sein. So poetisch die Liebe auch ist, und so sehr gerade ich geneigt bin, mich von ihrem Zauber umspinnen zu lassen, kann ich doch nicht umhin, auch die praktische Seite der Sache in’s Auge zu fassen. Es ist dies des Mannes Pflicht, wenn er eine Familie gründen will, und mehr als sich selbst noch ist er es der Geliebten schuldig. Da Sie so lange einem Haushalte vorgestanden, werden Sie selbst wissen, wie viel zu seiner Führung erforderlich ist. O, daß man diese prosaischen Dinge berühren muß! Aber es giebt eine Grenze selbst im Staatsbudget, jenseits welcher bekanntermaßen das Deficit beginnt. Man erhöht dann Zölle, Steuern, macht Schulden und dergleichen. Das wäre denn also auch unsere künftige Finanzpolitik; denn – Sie wissen es wohl? – ich, ja ich besitze nichts.“

Sie sah ihn so mitleidig an, daß es ihm das Blut in die Schläfe trieb.

„Ein Mann, der Kopf und Arme hat, sollte nie sagen, daß er nichts besitze – aber es fehlt Ihnen eine Haupttugend des Mannes – der Muth.“

„Wenigstens der Muth, eine Frau der Armuth und Entbehrung auszusetzen. Das scheue ich mich nicht zu gestehen, und fehlt mir der Muth, Hilda, so fehlt Ihnen – die Ueberlegung.“

„Nein, nicht diese fehlt mir, Edwin, nur die Selbstsucht. Ich habe übrigens keine Wahl – –“

„Das will sagen: Sie geben mich auf für den Bruder?“

Sie wären es, der mich aufgäbe.“

„Sie zwingen mich dazu.“

„Und der Würfel ist ja bereits gefallen,“ erwiderte sie, ohne ihre Geringschätzung sonderlich zu verbergen. „Für die halbe Mitgift ein halbes Herz!“

„Wahrhaftig!“ brauste er auf, und diesmal war es kein künstliches Feuer. „Ihnen steht am wenigsten das Recht zu, mich mit solchem Vorhalte zu strafen. Wo war Ihr Herz, als Sie mich an den Besitz desselben glauben ließen? Sie haben in mir [187] nicht den Geliebten, den künftigen Gatten vor Augen gehabt, sondern – wie es scheint – nur den Makler für Ihre geschäftlichen Affairen.“

Hilda senkte den Kopf. Der Vorwurf war gerecht und trieb ihr flammende Schamröthe in die Wangen; sie mußte sich selbst schuldig bekennen; denn wie unverhüllt sich sein Egoismus, seine kalte Herzlosigkeit auch dargestellt, ihr eigenes Verhalten gegen ihn war kaum minder selbstsüchtig gewesen. Sie hatte das auch längst – nur nicht so klar – empfunden, und aus dieser Quelle war auch die stumme Ergebung in das selbstgeschaffene Schicksal entsprungen, durch die sie das an Edwin begangene Unrecht zu sühnen vermeinte. Jetzt gewann sie mit der Selbsterkenntniß auch die verlorene Energie zurück.

Langsam sah sie zu ihm auf, und ihre Stimme klang nicht unfreundlich, wenn auch bestimmt, als sie sagte:

„Edwin, wir haben wohl Beide geirrt, und das Schicksal hat uns nicht für einander bestimmt. Sie finden nicht in mir, was Sie gesucht. Ich will hinwieder nicht leugnen, daß ich Ihnen – in meiner Hülflosigkeit wirklich zwei Rollen zugedacht hatte, die des Gatten und die des – Helfers in der Noth; ja – aber Sie haben die Probe in keiner bestanden. Von dem Manne, der mich zu lieben vorgab, mußte ich Theilnahme und Verständniß erwarten; der durfte mich auch nicht schon am Tage nach der Verlobung für fähig halten, ihn zu verrathen. In meinen Jahren darf man nicht mehr durch äußerliche Vorzüge Leidenschaften hervorzurufen glauben. Was uns Zuneigung verschafft und erhält, kann einzig und allein Wesen und Gesinnung sein. Mein Herz, mein Charakter ist Ihnen fremd geblieben. Es war eine Täuschung, in der wir uns befanden. Wir haben diese Täuschung nun hinter uns und wollen einander darob nicht grollen.“

Zuletzt hatte sie ihm selbst die Hand gereicht, er aber legte die seine nur zögernd hinein.

„Ich glaube, ich lerne Sie verstehen,“ sagte er nicht mehr mit dem Tone kalter Berechnung, sondern fast bewegt, „und ich könnte Sie auch anders lieben, Hilda – wenn Sie nur –“

„Das kommt jetzt wohl zu spät,“ unterbrach sie ihn lächelnd. „Doch Eines noch! Ich darf von Ihrer Ehrenhaftigkeit wohl voraussetzen, daß Sie das Ihnen anvertrauete Geheimniß ängstlich hüten. Geben Sie mir Ihr Wort darauf, daß Sie es nicht verletzen!“

„Wo wollen Sie jetzt hin?“ fragte er, nachdem er mit einer kühlen Verbeugung den Händedruck erwidert.

„Zur Stadt!“

„Sie sind unverbesserlich!“ stieß er unwillig hervor und wandte sich ab. Dann aber sah er ihr kopfschüttelnd nach. „Da hat’s Mama!“ sagte er, als sie ihm aus den Augen entschwunden war. „Das nächste Mal folg’ ich aber entschieden nur meinem eigenen Kopfe – was auch daraus wird.“ Er schlenderte, seine neue Polka pfeifend, als ob nichts geschehen wäre, dem Hause zu. –

Hilda hatte unterdeß den Pfad längs des Zaunes verfolgt, der in einem Bogen zur Dorfstraße hinausführte. Sie griff wie ein sorgloses Kind nach den rothen Hagebutten, die feucht von den Rosenzweigen herabhingen. Es war ihr zu Muthe wie einem Gefangenen, dem man plötzlich die Kerkerthür aufgeschlossen. Harte Kämpfe hatte sie durchgerungen, während sie nach Meinhard’s Abschied scheinbar in dumpfem Hinbrüten die Wunderwelt ihres erschlossenen Herzens staunend durchforschte, doch war ihr der Gedanke nicht gekommen, ihr Wort zu brechen. Ehrlich und loyal wollte sie ihr Versprechen halten, das ihr, wie sie selbst gesagt, heilig war, wem immer sie es auch gegeben. Mochte sie sich innerlich verbluten, stolz und ruhig wollte sie ihr Loos tragen. Da aber riß er, dem sie ihre Hand geschenkt, selbst die Kluft auf, und plötzlich wurde ihr die Nutzlosigkeit des großen Opfers klar, das sie zu bringen im Begriffe stand. Er liebte sie ja gar nicht; er verlor nichts an ihr. Eine Sünde wäre es gewesen gegen die heiligste Wahrheit, eine Sünde gegen Gott und Menschheit, wenn sie das Bündniß am Altar mit ihrem „Ja!“ besiegelt hätte. Ihr Herz schlug hoch auf in wiedergewonnener Freiheit. Einsam zwar sollte es bleiben, dieses befreite Herz, aber es war doch frei.

Und in dieser Empfindung schien ihr die ganze Welt wie in lichtes Sonnengold getaucht. Eine frische, muthige Zuversicht war über sie gekommen. Wie leicht erschien ihr nun die übernommene Aufgabe! So beschloß sie denn, nunmehr alles selbst zu erledigen, und, um nicht aufgehalten zu werden, schlug sie, ohne erst nach Hause zurückzukehren, den Weg nach der Stadt ein.

Sie schritt rüstig dahin und war nach einer guten halben Stunde am Ziel. Nur einmal zauderte ihr Fuß – als sie an dem alten Amtshause vorüberkam. Mit unwiderstehlicher Gewalt zog es sie dem Thore zu; jetzt hätte sie ja auch keine Entdeckung ihres Geheimnisses mehr zu fürchten gehabt, da Meinhard die Leitung der Geschäfte bereits abgegeben und somit durch ihre Mittheilungen in keine Collision der Pflichten gebracht wurde. Aber ihre Sehnsucht, sich im Vertrauen ihm noch einmal – nur einmal noch zu nahen, verstummte vor einem Gefühl der Furcht; würde er ihren Schritt nicht falsch auslegen? Der Mann, der ihren Abschiedskuß hingenommen und dann ohne ein weiteres Wort gegangen war – was war sie ihm noch? was konnte sie ihm noch sein? Vorüber! Das war vorüber. Ihm ihr Gefühl verrathen? Sie hätte vor Scham sterben müssen. Gestern noch war ihr der Besuch bei ihm wie etwas Natürlich-Harmloses erschienen – heute – –? Tief erglühend wendete sie das Gesicht ab und eilte wie auf der Flucht an dem Hause vorbei.

Es mußte ja auch allein zu Ende zu führen sein. Sie durfte ihrer Kraft vertrauen.

Nach wenigen Minuten stand sie vor dem Geldwechsler, der schon seit Jahren mit ihrem Bruder Verbindung unterhielt. Allerdings vergingen Stunden, die sie, in unruhige Gedanken versunken, mit Warten verbringen mußte, bis es dem Manne, der keinen Anstand nahm, ihrem Begehren zu entsprechen, gelang, die für seine beschränkten Verhältnisse sehr große Summe, welche durch das Depot und ihre Accepte gedeckt war, herbeizuschaffen, aber endlich durfte sie doch erleichtert aufathmen. Welche Vermuthungen durch die Erhebung eines so hohen Betrages hervorgerufen wurden, kümmerte sie nicht – morgen durfte ja alle Welt die Wahrheit erfahren.

So hatte sie denn das Geld in Händen! Mit innerem Frohlocken betrachtete sie es und machte sich eilends auf den Rückweg. Keine Minute wollte sie versäumen – der Abend begann doch schon hereinzubrechen. Mit um so größerer Freude begrüßte sie Doctor Schöller, der sie, ehe noch die letzten Häuser der Stadt hinter ihr lagen, von seinem kleinen Wagen aus anrief; sie stieg rasch zu ihm ein. War auch der Arzt zum Glück überflüssig geworden, so konnte doch die Erlösung dem unruhig harrenden Gemüthe des unglücklichen Bruders gewiß nicht zu früh kommen. Etwas wie eine bange Ahnung trieb sie.

„Thorheit!“ sagte Hilda beruhigend zu sich selbst. „Das ist nur die Nachwirkung all der Aufregung.“

Gottlob, nun nahm sie ja ein Ende, diese quälende Aufregung. Alles war in Ordnung. Was hätte denn noch drohen können?




10.

Es dämmerte schon stark, als endlich auch Franz mit seiner jungen Frau nach Waltershofen heimkehrte. Bereits beim Vorfahren des Landauers an der Treppe kam Mimi den Eltern entgegengesprungen. Es war ihr bei allem Seelenschmerz doch nicht so gleichgültig, ob die langgenährte Sehnsucht nach einem eigenen Pferde gestillt werden sollte oder nicht; denn das ist klar: als Amazone kann man stolzer über alles Erdenleid hinwegsetzen, als wenn man nur so als graue Fledermaus über den nebelfeuchten Grasboden hinflattert.

„Abgeschlossen, abgeschlossen, Kleine!“ lautete Papas beruhigende Antwort. „Morgen treffen sie ein; dann noch ein paar Rasttage und Montag heißt’s: in den Sattel; da beginnen wir mit den Reitstunden. Etwas zu zierliche Beine hat das für Dich bestimmte braune Ding freilich; ich wollte mir’s eigentlich überlegen, aber bedanke Dich bei Mama! Die meinte, eine Mücke, wie Dich, werde das Thierchen schon tragen, und im Grunde war’s ein guter Handel. Saldorf wollte das Pferd nun einmal aus dem Stalle haben, und das entschied zu unseren Gunsten. Aber das sag’ ich Dir, mein Töchterlein, wenn Du Furcht hast –“

„Eine Beleidigung, Papa! Du wirst sehen, daß ich keine Furcht habe.“

„Na, glaub’s auch!“ sagte er schmunzelnd, während er seiner Frau aus dem Wagen half. „Wer zur Jagd Muth hat, wird auch eine beherzte Reiterin. Wollen sehen, wer von Euch Beiden raschere Fortschritte macht, die Mama oder Du, mein Kind. Wirst Dich zusammennehmen müssen, Albertine,“ wandte er sich zu seiner [188] Frau, „ich traue dem Wildfang da zu, daß er Dich aussticht. Und jetzt gehen wir gleich zum Schnepfenfang. Kommst Du mit, liebes Weib?“

„Nein, Franz,“ seufzte müde die junge Frau. „Ein anderes Mal will ich gern mit Dir gehen, aber heute bin ich zu erschöpft;“ sie reichte ihm freundlich die Hand. „Willst Du Dir nicht auch Ruhe gönnen?“

„Man sollte meinen, es handle sich um einen Feldzug,“ spottete er, den Arm in Arm in’s Haus tretenden Damen folgend. „Der kleine Spaziergang bis zu den Laufdohnen im Jungholz ist doch wahrlich nur ein Katzensprung.“

„Ich begleite Dich,“ erbot sich Mimi in ihrer freudig dankbaren Erregung.

„Brav! Und wie steht’s mit Dir, Schwager Edwin? Kommst Du auch mit? Saldorf sagt mir, daß schon gestern der erste Schnepfenzug bei ihm eingefallen. Da will ich doch nachsehen, ob Halder die Dohnen auch frisch gerichtet hat. Na, es giebt ja kein Blutvergießen dabei, und die Schnepfe wird Dich mit ihren brechenden Augen auch kaum vorwurfsvoll ansehen, daß Du Deinem Princip, dem Sport nicht zu fröhnen, untreu geworden bist. Ich denke, Du wagst es. Will nur mein Festgewand abthun, bin gleich wieder da.“

Er schüttelte Edwin, der auf den Corridor herausgetreten war, die Heimkommenden zu begrüßen, kräftig die Hand und eilte auf sein Zimmer. Ehe noch Albertine dazu gekommen, von den mancherlei Erlebnissen des Tages zu berichten, war Franz auch schon wieder zurück.

Er fand die beiden Begleiter seiner wartend, rief die Hunde an, die beim Anblick des Gewehres, das er nur so aus Gewohnheit über die Schulter geworfen hatte, ihrer Jagdlust deutlich Ausdruck gaben, und wendete dann seine Schritte dem Walde zu.

Unterwegs erzählte er von seinem Besuche und von den Pferden; es fiel ihm dabei nicht auf, daß Mimi und Edwin sich stets nur mit ihm, aber gar nicht mit einander unterhielten. Als er jedoch einmal zurückbleiben mußte, um die auf eigene Faust jagende Diana abzustrafen und an den Riemen zu nehmen, da fand er bei seiner Rückkehr zu den Beiden das Paar in offener Feindseligkeit.

„Und sie hat doch einen heimlichen Gast,“ hörte er seine Tochter in großer Erregung sagen.

„Wer hat einen heimlichen Gast?“ fragte er in guter Laune, ohne es gerade auffällig zu finden, daß er nicht sofort eine Antwort erhielt.

Der Krieg war auch hier, wie so häufig, dem Annäherungsversuche der einen Partei entsprungen. Edwin’s Herz war nicht gebrochen. „Es taugt entschieden nichts, wenn eine Frau älter ist als der Mann – da will sie immer dominiren,“ hatte er sich gesagt und sich wieder der „gefügigeren, anschmiegbareren Jugend“ zugewendet.

„Ich weiß, was ich weiß,“ fuhr Mimi fort, „sie mag Ihnen am Heckenkreuz gesagt haben, was sie will.“

„Sie sahen uns?“

„O blos zufällig,“ beeilte sich Mimi, die Bedeutung der ihr unbedacht entschlüpften Bemerkung möglichst abzuschwächen. „Es ist mir wahrlich ganz gleichgültig, wo, wann und worüber die Herrschaften sprechen.“

„Mir aber nicht,“ fiel ihr Vater scherzhaft ein. „Ich verstehe wirklich kein Wort. Worüber streitet Ihr denn eigentlich, Kinder?“

„Nicht der Rede werth – blos ein Irrthum,“ wollte Edwin ablenken, rief dadurch jedoch bei Mimi nur verstärkten Widerspruch hervor.

„So war also auch jene Flasche Madeira nur ein Irrthum,“ fragte die aufgeregte Kleine hastig weiter, „welche Trine von der Köchin holte, als die Tante damals früh fortging, und der Thee, der so wunderbarer Weise aus der Büchse verschwand, war der auch nur ein Irrthum?“

„Du hast ja gehört, liebe Mimi, daß Hilda wieder einen ihrer Kranken hat.“

„Gut, Papa, das bestreite ich gar nicht. Aber Trine ist gesund, und Halder ist es auch. So muß es, wie Du zugeben wirst, ein Dritter sein, dem ihre Besuche im Jägerhause gelten. Und etwas Anderes, als die Anwesenheit dieses fremden Mannes, dem dort Aufnahme gewährt worden ist, habe ich auch gar nicht behauptet.“

(Schluß folgt.)




Land und Leute.

Nr. 48.0 Jahrmarkt im baierischen Hochland.

Es gab eine Zeit in unserem baierischen Hochland, wo die Berge zugleich die Mauern des Landes waren; in tiefer Abgeschlossenheit lebte das Volk dahin, und nur zum eigenen Bedarf nützte man damals die Heerden auf der Weide und das Korn in der Scheuer. Das Wenige aber, was von auswärts kam oder nach auswärts ging, trug das Saumroß über den Bergsteig, doch allenthalben an Weg und Brücken lag harter Zoll, sodaß das „Saumergewerk“ oft schwere Mühsal litt.

Zwar standen so manche unserer Gebirgsdörfer an den uralten historischen Handelsstraßen, wie z. B. Partenkirchen; durch den Chiemgau führte der Weg aus dem Vorland nach den Tauern, aber die Mehrzahl der Orte lag doch in tiefer unberührter Einsamkeit. Für sie war es ein Ereigniß, wenn ihnen aus kaiserlicher oder landesherrlicher Gnade das Marktrecht verliehen ward; denn auf den Jahrmärkten, die kraft dieses Privilegs gehalten wurden, kam der Bauer zuerst mit fremdem Volk und fremder Waare zusammen. In der Regel wurden diese Jahrmärkte nach den Heiligen genannt, an deren Fest sie grenzten, und fast ausnahmslos fanden sie an einem Sonntag statt, wo auch der gemeine Mann freie Zeit und freie Bewegung hat. Hier mochte sich dann der uralte Brauch des katholischen Volkslebens am besten bewähren, daß Frömmigkeit und Lebenslust sich trefflich vertragen; neben der Kirche muß das richtige Wirthshaus stehen, und in den letzten Glockenton hallt der erste Juhschrei.

Seitdem hat sich freilich die Zeit wundersam gewandelt, aber dieser Satz, der ungeschrieben doch zur uralten lex Bajuvariorum gehört, gilt noch heute, und auch heute noch ist der Sonntag, wo Markt gehalten wird, ein Fest für die ganze Umgegend. Und so möchten wir denn den freundlichen Leser auf einen jener oberbaierischen Märkte begleiten, wie sie etwa im Sommer in Tölz, in Miesbach oder in Gmund im Brauche sind – und wir hoffen, es soll ihm der Tag nicht zu lang werden.

Auf allen Straßen der Nachbarschaft spürt man schon einige Tage zuvor den fremden Zuzug; Kärrner mit hageren Rößlein trotten des Weges, vor Allem aber ist der Stellwagen hoch geladen mit Kisten und Koffern. In seinem Innern sitzen zusammengepfercht die dicken Krämerfrauen, schnatternd und keifend, doch der Kutscher macht nicht viel Federlesens; denn unser Oberländer hat wenig Respect vor diesen Nomaden des Handels. Ihm gilt nur ein Dasein auf eigenem Grund und Boden als rühmlich.

„Mach’, daß D’ einikommst, alte Schachtel!“ herrscht er die Letztgekommene an und schleudert mit einem Griff sie selber in den Wagen und ihren Reisesack auf’s Dach. Dann trinkt er noch eine „Extramaß“, „weil heut der Wagen so voll ist,“ und im gemächlichen Trab geht’s von dannen.

Sein Fuhrwerk ist längst im Staub der Straße verschwunden – da kommt noch eine andere Karawane des Weges. Es ist ein Wagen, wie eine Arche Noah; aus den Fenstern schauen ungekämmte Kinder mit schwarzem Gelock; ein lediger Pony und ein geschorener Pudel trotten hinterdrein, und zu beiden Seiten gehen Männer mit langgestreckten Hälsen und strähnenartigem Haar, das noch die Spuren des Stirnreifs trägt. Ein unglaubliches Negligé umhüllt ihre Glieder, die sonst im silberfarbigen Tricot paradiren; es sind Künstler, die zum Markte reisen, aber heute reisen sie noch – incognito.

Vor einem kleinen Wirthshause am Wege machen sie Rast. Auf der Schattenseite des Hauses wird abgekocht; die Kinder kollern im Staube; die Frauen zigeunern durch’s Haus, um Milch oder Schmalz zu erbitten, und drinnen, in der Wagenwohnung, wird

[189]

Der bezwungene „Hercules“.
Nach dem Oelgemälde von J. Adam.[WS 1]

[190] unterdessen geflickt, gewaschen, gesäugt und gehämmert, wie’s eben die Stunde bringt.

Knurrend erhebt der Haushund Protest, und mit scheuen Augen blickt der Bauer auf dieses Treiben; sein Mitleid ist gemischt mit Widerwillen, aber dennoch lockt die Neugier Alt und Jung herbei aus dem Dörflein. Es kommt der Großvater mit seinen Enkeln; aus Stall und Stube schauen die Dirnlein hervor, und der Schmied drüben legt seinen Hammer nieder und rückt mit seinem Gesellen an.

So giebt’s im Nu eine ganze Gesellschaft.

Da meint wohl der „Hercules“, der die Truppe begleitet, daß man das Eisen schmieden müsse, so lang es heiß ist, und ehe man sich’s versieht, springt er in Gala aus dem Wanderwagen; die Eisenstange thut ihre verblüffende Wirkung, und im nächsten Augenblicke wird es laut verkündet: Zwanzig Mark Belohnung, wer den „baierischen Hercules“ (recte Mathias Hinterhuber) zu Boden bringt.

Eine dramatische Spannung faßt die Gemüther; der Alte bedauert zum ersten Mal, daß er sich schon im Stadium des Großvaters befindet, und der Schmied blickt prüfend auf seine sehnigen Arme:

„Ja,“ meint er, „wenn i ’n niederschlagen dürft, na wär’s a leichts, aber ringen – dös hat ja kein Werth nit.“

„Sag lieber, daß Du kei Schneid hast!“ erwidert der „Hercules“ im reinsten Altbaierisch, das mit dem hellenischen Stammbaum seines Namens seltsam contrastirt.

Da stürmt der Simei, der Oberknecht, durch die offene Stallthür; er hat nur halbe Worte gehört: „Schneid“, „niederwerfen“ u. dergl., aber das genügt, um alle Lebensgeister in ihm wachzurufen – war doch der Simei in Baierisch-Zell daheim.

„Wer hat kei Schneid?“ brüllt er dem gespreizten Gladiator entgegen, „probir’s, Du g’schecketer Hansdampf!“

Ein helles Lachen scholl bei diesen Worten, und unvermerkt wich auch der Kampfesgroll wieder dem Scherze.

„Zahlst mir a Maßl, wenn i ’s g’winn?“ rief der Simei dem Wirth entgegen.

„Jawohl, gern aa no’(ch),“ sprach der Wirth.

„Und ’s Grethei muß mir a Bussl geben?“ fügte er schalkhaft hinzu, mit einem Blick auf die Tochter des Hauses.

„Jawohl, gern aa no’(ch),“ sprach das Grethei.

Da war’s ein Augenblick und mit Sturmgewalt waren die Leiber der Kämpfenden in einander verschlungen; bald war der, bald jener in den Lüften; denn die ungefüge Naturkraft des Bauers hatte schweren Stand wider die blitzschnelle Gewandtheit des Ringers. Athemlos lauscht die Runde – da kracht der Boden von einem jähen Fall, und – von der eigenen Kraft noch fortgerissen – prallt der kühne Bauer zwei Schritte zurück. Sein Gegner rollt auf der Erde und stemmt die nackten Ellnbogen in’s Gras; zum Glück ist seinem Körper kein Leid geschehen, aber die Rüstung in diesem Turnei, das blanke Tricot, trägt eine klaffende Wunde, und sein – Ruhmesglanz ist dahin.

Das ist der einzige Schmerz, den er empfindet, wenn er die jubelnden Gesichter sieht; mit Schrecken schauen die Seinigen auf den gestürzten „Hercules“. Dann erhebt er sich schweigend und verschwindet in dem großen gelbgetünchten Wagen. Gar oft hat der arme Mann mehr Pflichtbewußtsein, als der reiche – wortlos bietet „Hercules“ dem Sieger das verlorene Goldstück dar. Aber der spricht lachend:

„B’halt Dein Geld! Du bist g’schlagen gnua, daß D’ verloren hast. B’hüt Di’ Gott!“

Keine Kränkung war damit dem Gegner zugedacht; nur ein heimathstolzes Selbstgefühl kräuselte die Lippen des kühnen Knechtes, und dann sprach er fröhlich, mit einem Schelmenblick wider den Wirth. „Kellnerin, a Maß!“

Mit dem Zeigefinger der Rechten aber winkte er unter die Menge und rief schmunzelnd: „Grethei!“

„Geh, gieb mir a Bussel
Und mach’ koa so G’sicht!
I mach’ schon die Aug’n zu,
Damit ’s Niemand siecht.

Denn die richtigen Dirndln
Die busseln so gern;
Und wie mehra daß s’ busseln,
Wie schöner daß s’ wer’n!“ –

Auch im Dorfe selbst aber zeigt bereits der „Markt“ seine lebensfrohen Spuren. Auf der Straße werden rechts und links die kleinen Bretterstände gezimmert; überall wird Platz geschafft für diese Eintagsherrlichkeit, und der Bierwagen des Wirthes ist heute noch einmal so hoch geladen wie sonst. Morgen sind’s wohl die Gäste.

Auch in Küche und Schlachthaus giebt’s Arbeit genug; denn man darf wohl auf tausend Fremde rechnen, und Mancher feiert schon den Abend vorher mit einer doppelten Atzung. Samstag Abend ist ja ohnedem den dunkleren Mächten unserer Natur geweiht, und wenn der Bergbauer, der noch eine Stunde heim hat, um elf Uhr vor die Thür des Wirthshauses tritt, dann dreht er sich schwindelnd um die eigene Achse und lugt in die Sterne und brummt: „Herrgott, aber morgen giebt’s an schönen Markt!“

Endlich kommt die Sonne hinter den Bergen hervor; die Sonntagsglocken schallen durch’s Thal, und überall herrscht buntbewegtes Leben. Auf der gewundenen Straße rollen die Bernerwäglein einher; das braune Pferd ist sorglich gestriegelt, und drinnen sitzt der Bauer mit seiner „Alten“ im Feierstaat oder ein kecker Bursch mit seiner Liebsten. Das stößt und stolpert über die harten Steine, daß Einem wohl die Seele aus dem Leibe fliegen möchte, aber unsere baierische „Volksseele“ ist nicht so sensibel. Je mehr Püffe, desto mehr Vergnügen, und dann ist’s doch immer noch „gefahren“ – denn stärker, als wir ahnen, hält ja gerade der Bauer auf’s Repräsentiren.

Aber auch wer zu Fuße kommt, trägt heute sein bestes Gewand, vor Allem die Mägdlein, die aus den Einödhöfen der Nachbarschaft heruntersteigen. Da schmückt die breite Goldschnur den Hut, und im Mieder prangt der „Buschen“ von rothen Nelken oder Geranium.

Der Zudrang ist so stark, daß gar nicht Alles in der Kirche Platz hat; schaarenweise stehen die Männer vor dem geöffneten Thor, mit dem Hut in der Hand, und wenn nun das Hochamt verklingt, dann drängt die ganze geschmückte Schaar hinaus auf den freien Platz, wo die Zwiesprach wohl noch ein Viertelstündlein dauert.

Hier ist ja das allgemeine „Rendez-vous“ der Bauernwelt; Leute, welche die ganze Woche hindurch nicht in’s Dorf kommen, weil sie im Holzschlag oder auf entlegenen Gehöften ihrer Arbeit pflegen, finden sich am Sonntag „vor der Kirch’“. Dann aber geht’s mit ganzem Eifer auf den Markt, der heute alle übrigen Interessen verdrängt; schon dröhnt die Trommel der „Künstler“, die im Wirthsgarten ihr Seil gespannt; schon hört man „Kasperl“ im Fistelton rumoren, kurzum, mit jeder Minute würde ein Wunder versäumt. Aber nur langsam und mühsam durchdringen wir dieses Gewühl; hier und dort schallt lauter Gruß, wenn Bekannte sich begegnen, übermüthiger Neckruf klingt von Einem zum Andern, und dazwischen lassen sich die kreischenden Lobeshymnen der Krämer hören, die ihre Waare verkünden.

Am dichtesten ist das Gedränge indessen dort, wo der Kleiderteufel zu Markt sitzt; es werden Pers- und Wollenstoffe feilgeboten, vor Allem aber die schönen seidenen „Tücheln“, die das eigentliche Prachtstück des weiblichen Costüms bilden. Sie sind auch das populärste Geschenk, das der Bursch seinem Mädel bietet; sie schmücken die Fahnen, die beim Schießen als Preise vertheilt werden, und gar Mancher hofft, daß er damit den Weg von außen nach innen finde – vom Tüchel in’s Herz.

In langen Reihen stehen die Mägdlein hier vor dem verlockenden Laden. Es heißt wohl, daß schöne Mägdlein selten seien im baierischen Hochland, aber wer dort sich umsieht, der wird gern das Gegentheil gewahren. Nußbraun fallen die Zöpfe um die frohen Gesichter, und die kichernden Stimmen klingen hell durch einander, bis das schönste Stück gefunden und der äußerste Preis erzielt ist.

Doch auch Kleider männlichen Geschlechtes kommen zu Markte, in allen Längen und Formaten, und dieser nichtsnutzige Import trägt meines Erachtens keine kleine Schuld an dem Verschwinden unseres volksthümlichen Costüms. Den Bauer lockt das Neue, das Fremde, und vor Allem das Fertige; er spürt von der Devise „Billig und schlecht“, die jeden Jahrmarkt regiert, natürlich nur den ersten Theil, und so kommen unvermerkt jene grauen „Spenser“, schwarzen Hüte und langen Hosen in’s Land, die den Bauer auch äußerlich dem Bürger gleichmachen; denn die Gedanken, die unter einem schwarzen Filzhut aufwachsen, sind nun einmal andere, als [191] die, so unter einem kecken grünen Spitzhütlein gedeihen; auch in diesem tieferen culturgeschichtlichen Sinne kann man sagen: „Kleider machen Leute.“

Am meisten sucht natürlich das jüngere Geschlecht die „Mode“, und selbst der noch ganz kleine Filius, dem solch’ ein Markttag neue Hüllen schafft, wird schon in schwarzes Tuch oder in symbolisches Grau gekleidet, statt daß man ihn mit nackten Knieen aufwachsen ließe, wie es sein Vater und „Ahnl“ gethan. Am längsten hält sich noch die Joppe (die übrigens nicht baierischen Ursprungs ist, sondern aus Tirol kam), und auch davon giebt es reichen Vorrath; fast auf jedem größeren Markte ist der „Kochelschneider“ vertreten, der als Specialist in diesem Fache gilt, wie ja auch das Gewandstück selbst „Kochler-Joppe“ genannt wird.

Auch eine Feder am Hut mag der Bauer ungern entrathen, trotz aller modernen Versuchung, und so gehört denn ein Kaufstand, wo alles erdenkliche Federspiel vertreten ist, zu den unvermeidlichen Artikeln eines richtigen Marktes. Wer gern großthun will, kauft einen „Adlerflaum“; auch ein „Reiherspitz“ findet allzeit gute Kunden, aber das Beliebteste bleibt doch der „Gamsbart“ und die Spielhahnfeder. Mit den Händen in der Hosentasche stehen die jungen Burschen[WS 2] vor dem Kramladen dort und mustern die Waare, während so mancher achselzuckend vorübergeht und denkt: „Dös holt man si’ droben am Berg, nit herunten beim Kramer.“

„Herr Nachbar, a Parasol? Morgen regnet’s,“ ruft der Schirmfabrikant einem kurzgedrungenen Bauer zu, der eben vorüberstapft.

„Dös is g’scheid; na wachs’ i no’(ch) a bißel,“ lautet die Antwort, ohne daß der Redende sich umsieht.

„Aber schöne silberne Knöpf, dös wär’ scho was anders für an guten Bauern,“ tönt eine schrille Stimme aus dem nächsten Stand – „oder an Anhenker für’s Dirndl?“ (So nennt man das silberne Halsgeschmeid.)

„Da brauchst scho an eiserne Ketten zum Anhänge, und nachher kommens Dir do’(ch) no’(ch) aus,“ brummt der Alte dawider – abermals ohne sich umzusehen; der Krämer aber rafft mit beiden Händen seine Schätze auf und weist sie der lugenden Menge.

Hier findet sich noch so manches köstliche alte Ding an Schnürwerk und Geschmeide; denn manches Erbstück, das Jahrhunderte lang im Besitz derselben Familie war, wird heute leider veräußert oder gegen modernen Zierrath eingetauscht. Die „Herrschaften“ aber, die über Sommer auf’s Land kommen, lieben das „alte Zeug“, und gerade auf sie ist hier die Speculation gerichtet; in dichter Menge umdrängen die schönen Fräulein aus der Stadt die hölzerne Bude, um Knöpfe von Silberfiligran, oder Gürtelschließen oder ein Halsgeschmeid zu holen, das vor dreihundert Jahren auf der vollen Brust einer Bauerstochter glänzte, wenn sie der Jäger von Hohenwaldeck oder der Bergknapp von Hall zum Tanz geführt.

Unbekümmert um diese zarten Gestalten und ihre alterthümlichen Passionen drängt dort ein breitschultriger Bursche durch den engen Markt; sein Halsgeschmeid sind ein paar breite Eisenketten, die er für den Zuchtstier daheim gekauft und die er auf diese Weise am bequemsten transportirt; als holde Zuthat trägt er über der Schulter einige Hacken und Heugabeln, die gleichfalls an solchem Tage für den häuslichen Bedarf erworben werden.

„Aufg’schaugt!“ ruft er phlegmatisch, so oft sich einer an denselben gestoßen hat.

Auch ein Verkaufsstand mit feststehenden Messern gehört zu den nothwendigen Attributen eines baierischen Marktes. Der Gebrauch derselben ist zum Glück im Hochland unendlich seltener, als in Niederbaiern , wo sie bei jedem Streite sofort gezogen werden, aber als Waffe, als Zeichen seiner Wehrhaftigkeit will sie auch der Bauer in den Bergen nicht missen. Ja, es ist bezeichnend genug für die Charakteristik des Stammes, daß König Rudolph von Habsburg bereits in einem Landfrieden, der speciell für die baierischen Gebietstheile galt, ein Verbot dieser Art für nöthig hielt. Es heißt dort (dd. 6. Juli 1281): „Swer stechmezzer in den hosen trait (trägt), dem sul man die hand abslahen.“

So grimmig ist zwar die Polizei von heute nicht, aber an Verboten hat es auch im neunzehnten Jahrhundert niemals gefehlt und noch weniger an – ihrer Uebertretung.

Ganz leer geht wohl Niemand vom Markte heim; denn auch die Generosität kommt an einem solchen Tage zu ihrem Recht, und sie ist im Bauernstande vielleicht verbreiteter, als wir es denken. Das alte Sprüchwort „nothi’ is’s nit lusti“ gilt vor Allem, wenn man außer Haus geht; es ist Ehrensache, daß der Bursch seinem Mädchen ein Geschenk macht, wenn sie an diesem Tage zusammentreffen; der Pathe muß seiner „Godl“ (das heißt dem Pathenkind) eine Gabe nach Hause bringen, und ebenso erwarten es die Kinder von den Eltern. Spielzeug aller Art liegt ausgebreitet, unschuldige Kränzlein für den Frohnleichnamstag, aber den Vorzug hat auch hier das Eßbare, „die essende Sach’“, wie der Bauer sagt. Darum ist der Lebzelter der populärste Mann mit seinen breiten braunen Herzen aus Pfefferkuchen, die ein geheimnißvoller Sinnspruch ziert. Noch geheimnißvoller freilich sind die Büchlein, die auf dem nächsten Stande ausgebreitet liegen: Ritter- und Räubergeschichten und Traumdeutereien.

„Stück für Stück zehn Pfennig,“ kreischt die Megäre, die diese Schätze hütet, und traumversunken steht der hochgewachsene Tiroler dort, der die Woche über als Holzknecht in den Bergen weilt; er hält seinen Schatz an der Hand, auch ein Tirolerkind aus dem Zillerthale, wie schon der breitkrämpige Hut verräth. Das Büchlein, das er in den ungefügen Fingern hält, soll das Recept verrathen, wie man unfehlbar in der Lotterie gewinnen muß – er streicht die Stirn mit dem blonden Ringelhaar und schlägt die großen blauen Augen auf und blickt stumm auf das sanfte und frische Antlitz des Mägdleins, als wäre nun das Glück ihrer Beider geborgen. Mühsam holt er den Zehner aus dem ledernen Beutel, und fast verstohlen birgt er das Wunderbuch im Brustfleck und geht mit seinem Schatze an der Hand so schnell von dannen, daß er gar nicht hört, wie die Megäre zum Nächsten spricht: „Stück für Stück zehn Pfennig!“

Da wirbelt wieder die Trommel: – rrrr – rrrr – bumbum – und im Sturmschritte drängt sich Alles den Seiltänzern zu; „’n Hercules, den müß’ ma sehgn.“ Es ist unser armer Freund von gestern, aber zum Glück ist sein Verhängniß erst bei Wenigen ruchbar geworden, und so genießt ihn die Mehrheit noch im unverkürzten Nimbus. Schon den ganzen Morgen über war seine Eisenstange und ein schwerer Feldstein frei auf dem Platze gelegen, damit Jeder sich daran versuchen könne; denn eine Verschleppung derselben war aus guten Gründen nicht zu besorgen. Ein dichter Kreis Schaulustiger umgiebt beständig die zwei gewaltigen Stücke. Der und Jener versuchte seine Kraft, aber nur ein achtzehnjähriges Bürschlein sah ich, das die Zweicentnerstange über den Kopf hob. Es war ein Futterknecht vom Bauer in der Au. Der Zauber, den die nackte Kraft auf den gemeinen Mann übt, bleibt ihm doch stets unwiderstehlich, das Elementare, Sinnenfällige, das darin liegt, hält ihn gefangen, und der Mann, der allein einen Fuhrwagen von der Stelle zieht, imponirt ihm unendlich mehr, als der verwehende Dampf, der einen ganzen Festzug beflügelt.

„Jetzt kimmt er, jetzt kimmt er,“ heißt es von allen Seiten, wenn nun der „Hercules“ in die umseilte Arena tritt; ein hoher Kieshaufen, der zur Seite steht, erscheint als günstige Tribüne; er ist im Nu erstürmt und fällt alsbald in sich zusammen unter der Last seiner neugierigen Besteiger. Unterdessen haranguirt ein abgeschabter Clown die Menge und erzählt unter Purzelbäumen die Biographie des „Hercules“, die in dem wichtigen Aviso gipfelt: „Ist noch nicht verheirathet.“

Hercules – es ist wohl der einzige Name, der sich aus der griechischen Mythologie in’s altbaierische Volksleben verirrt hat und der dort sogar eine Art Hausrecht gewonnen hat: der prächtige braune Zuchthengst des Weissachmüller’s heißt Hercules, wenn auch an der Stallthür „Herluckes“ geschrieben steht.

Und wenn nun die Production beginnt, da solltet ihr erst die glänzenden Bauernaugen sehen, die jedes Stück begleiten: er läßt sich den Oberarm mit einer starken Peitschenschnur umbinden und durch einen Ruck der Muskeln zerreißt er die Schnur; er wirft ein Messer auf den Tisch, daß es stecken bleibt, aber von seinem Arme prallt es ab, als ob es auf Eisen gefallen wäre. Und während noch Alles in höchster Spannung lebt, umkreist der bekannte Teller die „hochverehrte Versammlung“, aber zuerst den äußersten Ring, damit keiner entwische.

Mit verzweifelter Anstrengung macht „Kasperl“ dem verhaßten Gegner Concurrenz, und er hat hinwiederum den Vortheil, daß es dort Prügel in Menge giebt. Dieses erhabene Schauspiel bleibt dem Volke doch immer das liebste; die ganze dramatische Action liegt hier im Knüppel, den der Held des Stückes führt, und die Glanzstellen seiner Diction verhallen auf den Köpfen von Tod und Teufel. Wie unvertilgbar seit Jahrhunderten ist diese deutsche [192] Legende – trotz aller modernen Anwandlung, der selbst das Landvolk unterliegt!

Oder ist das nicht hoch modern, wenn dicht hinter der Bude des Hanswurstes ein photographisches Atelier steht, ad hoc für die „Herrn Landleute“ gezimmert? In solcher Stunde bringt der Bauer wohl das dümmste Gesicht zu Stande, das er jemals im Leben zeigt; mit aufgerissenen Augen und ausgespreizten Beinen sitzt er dort, und neben ihm steht triumphirend ein Maßkrug als volksthümliches Ornament.

So wird ein Mensch, der sonst hervorragt durch freie Beweglichkeit, zum reinen Gliedermann unter dem feierlichen Drucke des Apparates, die Cameraden aber, die alsdann das Portrait bewundern, sagen ausnahmslos: „Ah, schön is er kemma,“ „akkrat wie’s Leben,“ und keiner versäumt hinzuzusetzen: „Siehst – an Maßkrug hat er aa.“

Daß der Maßkrug auch außerdem an Markttagen eine große Rolle spielt, ist natürlich; das viele Hin und Her und besonders das „Umeinandersteh’n“ macht müde und Müdigkeit zeugt Durst. So sind denn alle Gaststuben überfüllt; in der Fensternische und im Winkel sitzen die Alten und disputiren noch über dieses und jenes Geschäft; denn jeder Bauer hat ja heutzutage „so a bissel a Handelschaft“. Das kommt erst morgen recht an’s Licht; denn nach dem „Leutmarkt“ wird am Montag „Viechmarkt“ gehalten: so lautet die traditionelle Bezeichnung der beiden Tage.

Doch während die Alten klügeln und rechnen, dröhnt die Decke zu ihren Häupten; droben im Saale ist Schuhplattltanz für das junge Volk; denn auch das ist ein hergebrachtes Privileg des Markttages, daß an demselben Tanzmusik gehalten wird.

Es dämmert schon, bis das kleine Fuhrwerk wieder heimwärts trollet auf dem gewundenen Sträßlein, wo wir es zuerst gesehn. Der Bauer sitzt noch stramm und aufrecht darinnen, und er fühlt mit sichtlichem Stolz, daß er trotz schwerer Zeche so unversehrt davon gekommen – die Bäuerin aber schaut ihm nicht ohne Argwohn auf die Zügel und ist froh, daß wenigstens der Bräundl so sicher geht. Es wird spät, bis man heim kommt, aber trotzdem sind die Kinder noch auf und jubiliren den Alten entgegen: „Hast uns an Markt mitbracht?“ Auch das ist ein stehender Ausdruck der Volkssprache.

… Wie lind die Nacht ist! – Alles ging längst zur Ruhe in dem großen Bauerngehöft; nur Mann und Frau sind noch wach und sitzen auf der Hausbank vor der Thür. Vor ihnen dehnt sich Stall und Scheune; der alte Lindenbaum rauscht und blüht, und wenn sie da so schweigsam in die Sterne schauen, da mag es ihnen wohl durch die Seele gehen, was Erb’ und Eigen werth ist und wie glücklich neben all’ dem fahrenden Volk ein Mann ist, der Haus und Hof in hundertjähriger Folge sein nennt. Es giebt ein altes Sprüchwort:

„Eigen Rauch und Gemach
Geht über alle Sach’!“

Karl Stieler.     




Zu Joseph Haydn’s hundertundfünfzigster Geburtsfeier.

Von Ludwig Nohl.

Eine der wunderbarsten Eigenschaften, welche die Musik zeigt, ist die zwingende Wirkung, die sie auf unsere Stimmung ausübt. Ob im gewohnten Sinne „musikalisch“ oder nicht, wem in der vollen Deutlichkeit der Darstellung ein stimmungsvolles Meisterstück vorgeführt wird, der fühlt sich davon erfaßt und gestimmt, er mag wollen oder nicht. Die Philosophie lehrt uns schon seit der Griechen Zeiten, daß die Musik vom Wesen der Dinge rede, während die bildenden Künste ihren Schein reproduciren, und Schopenhauer, so wenig musikalisch er an sich ist, sagt doch sehr zutreffend speciell von der Melodie, sie erzähle uns die geheimste Geschichte unseres Inneren, sie male jede Regung, jedes Streben, jede Bewegung desselben, kurz alles das, was die Vernunft unter dem weiten Begriff „Gefühl“ auffasse.

Ein Meister, der diese individuelle Stimmung, nicht etwa in die Musik überhaupt eingeführt, wohl aber zuerst völlig auch für die instrumentale Kunst zum Princip erhoben und der sie zu Anlaß und Richtschnur seines Schaffens gemacht hat, feiert am 1. April seinen hundertundfünfzigjährigen Geburtstag – Joseph Haydn.

Es lohnt sich wohl, zu solcher Zeit einmal näher in Geist und Sinn eines Mannes einzugehen, der uns Nachlebenden noch heute in musikalischem Humor und inniger Empfindung ein kaum erreichter Meister ist und dadurch eine Kunst heraufbeschwor, die kein Volk und keine Zeit zuvor gekannt hat - die deutsche Instrumentalmusik.

Geboren in der Nacht vom 31. März auf den 1. April des Jahres 1732 zu Rohrau an der Leitha in kleinen, mehr bäuerlichen als städtischen Verhältnissen, theilte er von Jugend an die einfache Ruhe dieser Stände, die das Sichausleben in einer Empfindung und Stimmung vorzugsweise begünstigt. Und nun gar die Gleichmäßigkeit des Daseins in jener Donau-Gegend an der ungarischen Grenze und im vorigen Jahrhundert! Wenn des Tages Arbeit vorüber war, saßen die Mitglieder der Familie mit einander auf der Ofenbank und sangen „simple kurze Stücke“, das heißt volksmäßige Weisen, die der Vater auf seiner Wanderschaft gehört hatte und jetzt zugleich auf der Harfe begleitete. Der kleine Sepperl übte hier nicht blos das Ohr, sondern vielleicht viel tiefer noch Herz und Gemüth, und geradezu eine andere Art Gottesdienst muß es diesen religiös frommen Leuten gewesen sein, was sie da in unbewußter Aufdeckung ihres Heiligsten, des inneren Gefühles, mit einander trieben. Denn noch als Sechsziger, als Haydn, ein weltberühmter Mann, die einfache Stube wieder betreten sollte, konnte er nicht anders, als, ehe er die Schwelle überschritt, niederzuknieen und sie zu küssen. Wie tief muß also sein Gemüth bei diesen jugendlichen Musikübungen betheiligt gewesen sein, daß er sie geradezu als heilig zu haltende Quelle all seines künstlerischen Vermögens und Leistens empfand und betrachtete! Die Welt hatte ihn allerdings auch seitdem durch mancherlei Noth und Qual hindurchgetrieben, aber immer hatte er sein inneres Heim wiedergefunden.

Seine schöne Stimme brachte den Knaben, welcher zuvor eine Zeit lang in dem Städtchen Hainburg bei Verwandten gelebt hatte, mit acht Jahren in die Capelle der Stephanskirche in Wien. Hier war Schmalhans Küchenmeister. Dies trieb ihn aber dazu, bei mancherlei Haus- und Festmusik mitzuwirken und so sich praktisch tüchtig zu machen. Doch weihte ihn die Kirchenmusik auch in die tieferen Wirkungen der Harmonie ein, und die einfachen Klänge der weltlichen Kunst erschienen hier zu dem Erhabenen des Himmelsdomes erweitert, den er in der Natur so oft still anbetend bewundert hatte: wir wissen es aus seiner „Schöpfung“.

Aber auch der fröhliche Lebenssinn und Jugendübermuth des Knaben blieb in dieser beengten Existenz der gleiche wie früher, und selbst als er, weil seine Stimme sich brach, aus der Capelle entlassen und der baaren Noth des Lebens preisgegeben wurde, verließ ihn die Zuversicht nicht. Ein armer Chorist nahm ihn zu sich auf das Dachstübchen, und die Mitwirkung bei den Musikbanden zu Spiel und Tanz verschaffte ihm wenigstens das tägliche Brod. Die Nächte aber wurden dem Studium gewidmet, und bald konnte er als Gesangsbegleiter bei einem berühmten Maëstro eintreten, der ihn zugleich in den „echten Fundamenten der Satzkunst“ unterwies, wofür er ihm dann auch – die Kleider ausklopfen durfte.

Dieser Maëstro, Nicolo Porpora, gehörte als Singmeister und Componist jener italienischen Opernschule an, die damals in ganz Europa die musikalische Kunst beherrschte. Haydn konnte hier lernen, dem Anmuthenden der Natur, das seiner dem Volke entlehnten Weise eigen war, die Grazie der Kunst und vor allem die schöne Durchsichtigkeit der Harmonie zu verleihen. Und dies war für einen Deutschen etwas. Denn nachdem Sebastian Bach die Kunst der contrapunktischen Polyphonie auf die höchste Stufe erhoben hatte, war der deutschen Musik, seitdem sie nur Kleinmeister hervorbrachte, etwas handwerkerlich Steifes geblieben, während die Halbbrüder der Alten, die Italiener, wie in der bildenden Kunst, so auch in der Musik die schöne Melodielinie gefunden hatten.

Noch etwas aber fehlte, um unseren Haydn zu dem zu machen, als was die Welt ihn immer feiern wird, und dies gab

[193]

Joseph Haydn.
Nach einem Wachs-Medaillon von Irwach auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.


ihm ein Deutscher, Philipp Emanuel Bach. Wie das Instrumentenspiel an der Hand der Oper zuerst in Italien eine allgemeinere Bedeutung gewann, so waren auch dort in Nachbildung von Lied und Tanz zuerst selbstständige Instrumentalstückchen (Symphonien) entstanden, und ihnen reihte sich dann bald in der feinen Gesellschaft dieses hochcultivirten Landes die Musica da camera, die Kammermusik an. Aber die dem Deutschen eigenthümliche Anlage zur tieferen Erfassung des Lebens befähigte nun, gegenüber der italienischen Musik, auch vor allem die deutsche Kunst, dieser Instrumentalschöpfung den vollen Athem einzuhauchen: da war es denn Philipp Emanuel Bach, der, aus der unerschöpflichen Harmoniewelt seines großen Vaters stammend, hier alle erforderlichen Mittel der Gestaltung und des Ausdrucks zu Gebote hatte und nun in seinen dreisätzigen Sonaten für Kenner und Liebhaber seinen Spruch, „die Musik müsse fürnehmlich das Herz rühren“, zur That und Wahrheit machte. Eine glückliche Fügung spielte schon dem jungen Haydn diese Neuschöpfung in die Hände, und nun kam er nicht mehr von seinem Claviere fort, bis alles durchgespielt war. Ja, wenn er oben unterm Dache vor seinem von Würmern zerfressenen Instrumente saß, beneidete er keinen König um sein Glück.

Derweilen war er jedoch selbst schon eben durch Instrumentalcomposition zu einem gewissen Ruhme gediehen, den ihm freilich die Handwerksmusiker mit den Ausdrücken „Modehansl“ oder „Gsanglmacher“ neideten. Er hatte die damals modische Menuett, die, vom Hofe Ludwig’s des Vierzehnten kommend, überall den Tanz der vornehmen Welt bildete, eben dieser mehr äußerlichen Vornehmheit entkleidet und sie, ausgestattet mit der ganzen österreichischen heiteren Gutmüthigkeit, dem Bürger und dem Volke geschenkt, die sie in Wirthschaft und Haus, in Garten und Salon gern aufnahmen. Hier verbanden sich Haydn’s volksmäßig natürliche Empfindung und sein Humor mit seinem künstlerischen Können, um ein vollendetes Gebilde zu schaffen; denn er fügte mit dem gesunden Instincte seine Menuetts ständig der Sonate ein und gab ihr damit zu der Vornehmheit der Kunst den Ton der Unbefangenheit, der sich schon bei Haydn zu dem Klange einer weltverlachenden Heiterkeit steigerte.

Claviersonaten schrieb er schon früh. Zu der Gattung des Quartetts und der Symphonie aber, als deren Schöpfer er zu gelten hat, führten ihn die Anregungen und Bedürfnisse der Zeit selbst. Das erstere wünschte sich einmal ein Musikfreund, Herr von Fürnberg, zu einer Hausmusik, an der Haydn theilnahm, und der Künstler schrieb dann in kurzer Zeit deren achtzehn. Die erste Symphonie aber entstand, als er selbst Dirigent eines Orchesters wurde. Dies letztere blieb er dann durch volle dreißig Jahre bei dem Fürsten Esterhazy in Ungarn. Und weil er dabei nach Belieben experimentiren, probiren, ab- und zusetzen konnte, so mußte er original werden, wie er selbst sagte. Doch liegt das Originale wohl mehr in [194] seiner eigenen inneren Natur und der Lebensfügung, welche dieselbe immer kräftiger und selbstständiger hervordrängte. Und da nun später nur noch ein entscheidendes Ereigniß, die Berührung mit dem erweckteren Volksgeiste und breiteren Leben des alten Englands, weiterbildend auf ihn wirkte, im übrigen aber sein individueller Geist es war, was ihn diesen Zug verstehen und in seinen zwölf Londoner Symphonien, die auch heute noch überall leben, künstlerisch darstellen ließ, so nähern wir uns dem Verstehen seiner allgemeineren Bedeutung am besten dadurch, daß wir uns seine Individualität deutlich vorzuführen trachten. Sind doch darüber, weil sich schon früh soviel Menschen für ihn interessirten, Nachrichten über ihn genug vorhanden.

Zunächst erfahren wir, wie das Leben selbst ihn darauf führte und förmlich dazu zwang, die eigentlichen Quellen des Glücks in sich selbst zu suchen und als eine wirkliche Lebensgefährtin die Kunst zu betrachten: Haydn war, und zwar durch ein ganzes langes Leben, unglücklich verheirathet.

Seine Heirath ereignete sich aber so: In Wien, wohin er im Herbst und Winter zurückkehren durfte, gehörten die beiden Töchter eines Perrückenmachers Keller zu seinen Schülerinnen. Die Jüngere gefiel ihm bald gar sehr, das junge Mädchen zog es jedoch vor, in ein Kloster zu gehen.

„Haydn, Sie sollten meine älteste Tochter nehmen,“ sagte darauf einmal scherzend der Vater, dem der tüchtige junge Capellmeister offenbar sehr behagte, und Haydn – that es. War’s Unkenntniß und Unbehülflichkeit in Dingen des Lebens oder der Drang nach einem ehelichen Leben – Haydn that es; er heirathete ohne oder gar gegen seine Neigung, und wir hören nun, wie schwer er es zu büßen hatte.

Schon daß die Frau älter war als er, blieb ein Mißverhältniß. Allein sie war obendrein eine herrschsüchtige und eifersüchtige Frau, die, keiner Ueberlegung fähig, zanksüchtig und herzlos erschien. Zudem war sie, entgegen der einfachen Herzensfrömmigkeit Haydn’s, sehr bigott und prunkte gern mit ihrer Gläubigkeit. Gleichwohl urtheilte Haydn vom Anfange der Ehe an milde genug über seine Ehehälfte:

„Wir gewannen uns lieb. Dessenungeachtet entdeckte ich bald, daß meine Frau viel Leichtsinn besaß.“

Er mußte wegen ihrer Putzsucht sogar seine Einkünfte sorgfältig verbergen. Auch lud sie die geistlichen Herren gar oft zu Tische, ließ viel Messen lesen und gab mehr kirchliche Spenden, als Haydn’s Lage gestattete. Von ihres Mannes Künstlerthum hatte sie so wenig Begriff, daß Haydn einmal selbst sagte:

„Ihr ist’s gleichgültig, ob ihr Mann ein Schuster oder ein Künstler ist.“

Sie verwendete sogar seine Notenblätter zu Papilloten oder Pastetenunterlagen und suchte ihn obendrein oft absichtlich zu ärgern. Als sie aber eines Tages sich beklagte, es sei nicht einmal so viel Geld da, um ihn, wenn er unerwartet sterbe, begraben zu lassen, verwies er sie auf eine Reihe Canons, die er in Ermangelung von Bildern in Glas und Rahmen an die Wand gehängt habe: er stehe dafür, daß sie ein Leichenbegängniß decken würden. Aber so groß auch seine Langmuth war, mitunter konnte er sich eines bitteren Wortes über seine Frau doch nicht enthalten, und als im Jahre 1805 der berühmte Geiger Baillot mit ihm sein Haus durchschritt, ergriff er denselben plötzlich am Arme und zeigte auf ein Bild: „Das ist meine Frau; sie hat mich oft in Wuth gebracht.“ Sie war damals schon fünf Jahre todt.

Es ist somit begreiflich, wenn auch nicht entschuldbar, daß er allmählich anderer Neigung sich hingab. Er wandte sein Herz der Sängerin Luigia Polzelli, einer neunzehnjährigen Neapolitanerin, zu, welcher er mit ihrem kränklichen Manne bei Esterhazy begegnete. Ohne gerade schön zu sein, war sie von zierlichem Wuchse und sehr einnehmendem Wesen. „Ein schmales längliches Gesicht von dunklem Teint, dunkle lebhafte Augen; Brauen und Kopfhaar waren kastanienfarbig,“ sagt Haydn’s Biograph C. F. Pohl. Er hatte an einem Weibe die Hölle im Hause; der Sängerin war ein ähnliches Loos beschieden – kein Wunder, daß die Herzen sich zusammenfanden und gegenseitig Trost suchten. Es fehlte jedoch der Boden zu wahrer fesselnder Neigung. Bei all seinen glühenden Betheuerungen ewiger Liebe vermissen wir in Haydn’s Briefen jene Zeichen höherer Achtung, ohne welche ein dauerndes Herzensband nicht denkbar ist. Die Neigung zu Luigia Polzelli verstrickte Haydn in jahrelange Seelenkämpfe, bis er seiner Empfindung für die anmuthige Sängerin Herr wurde und ihr männlich entsagte.

Hören wir zum Schluß, wie Haydn persönlich im Leben erschien und wie sein Naturell beschaffen war! Mit Recht achtet Goethe das Naturell des ausübenden Künstlers so hoch und entscheidend für die Kunst. Und wenn es wahr ist, was Vasari meint, daß Niemand einen schöneren Kopf malen kann, als er selbst hat, so wird uns umgekehrt Haydn’s Portrait an seine Musik gemahnen.

Haydn’s hagere, aber kräftige Figur blieb etwas unter dem Mittelmaß. Seine Züge waren ziemlich regelmäßig, der Blick feurig und sprechend, jedoch meist im Ausdruck gütig und wohlwollend. Aus der ganzen Physiognomie und Haltung sprach Bedächtigkeit und sanfter Ernst, während das Gesicht Würde ausdrückte. Doch nahm er im Gespräch eine heiter lächelnde Miene an; nur hörte man ihn nie laut lachen. Seine große gebogene Nase war durch einen Polypen entstellt und hatte in Folge der Blatternarben an jedem Nasenloche eine andere Form. Die Unterlippe ragte kräftig sinnlich vor. Die Gesichtsfarbe war sehr braun; ein Chronist nennt ihn geradezu einen „Mohren“, und er selbst spricht von einem Fürstenpaare, das ihn wegen seiner Häßlichkeit nicht habe leiden können. Der Perrücke, die er von Jugend auf trug, blieb er bis in sein höchstes Alter treu. Sie verdeckte aber zum Nachtheil des Gesichtsausdrucks einen großen Theil der breiten und schön gewölbten Stirn. Lavater sagt von Haydn’s Schattenriß:

„Etwas mehr als Gemeines erblick’ ich im Aug’ und der Nase;
Auch die Stirne ist gut, im Munde was vom Philister.“

„In seinem Charakter war viel Frohsinn und Scherz,“ sagt ein Zeitgenosse über Haydn. „Die bürgerliche Beschränkung und regelmäßige Einfachheit der Lebensweise erhielten ihm zeitlebens das so köstliche Gut der Gesundheit, und so sehr er stets der inneren Arbeit zugethan war und daher ruhige Betrachtung und ernsteres Besinnen liebte, wußte er doch dem Gespräche meist eine launige Wendung zu geben. Ehre und Ruhm waren die zwei mächtigen Triebfedern, die ihn regierten, mir ist aber kein Beispiel bekannt, daß sie in Ehrsucht ausgeartet wären.“

Daß Heiterkeit der Grundzug seines Wesens war, dafür hier noch ein Beispiel. Da war in Wien die noch ziemlich jugendliche Frau von Genzinger, die Gattin eines angesehenen „Damendoctors“, der auch Leibarzt von Haydn’s Fürsten war. Bei ihr verkehrten Dittersdorf, der Componist von „Doctor und Apotheker“, Beethoven’s späterer Lehrer Albrechtsberger, Mozart und andere erste Künstler Wiens. Frau von Genzinger hatte auch die Freundschaft des „Vaters der Symphonie“ gesucht und auf die beste Weise gefunden; denn der Weg zu derselben war das Arrangement einer Symphonie für Clavier gewesen. So genoß er denn dort die „allerangenehmsten Unterhaltungen“, wenn er das „unschätzbare Glück hatte, neben Ihrer Gnaden zu sitzen und sie Mozart’s Meisterstücke spielen zu hören“. Allein des Fürsten Abneigung gegen die Residenz in diesen späteren Jahren verurtheilte ihn nur zu bald wieder zur „traurigen Einsamkeit“. So sendet er denn manchmal an seine „wohledelgeborene sonders hochschätzbare allerbeste Freundin“ tragikomische Seelengrüße, wie den folgenden vom 9. Februar 1790, dessen Originaltext man in den „Musikerbriefen“ findet:

„Nun, da sitze ich in meiner Einöd’, verlassen wie ein armer Wais, fast ohne menschliche Gesellschaft, traurig, voll der Erinnerung vergangener, edler Tage. Ja, leider vergangen! Und wer, wer weiß, wann diese angenehmen Tage wiederkehren werden, diese schönen Gesellschaften, wo ein ganzer Kreis ein Herz, eine Seele ist, alle diese schönen musikalischen Abende, welche sich nur denken und nicht beschreiben lassen, wo sind alle diese Begeisterungen? Weg sind sie und auf lange weg! Wundern sich Euer Gnaden nicht, daß ich so lange nichts von meiner Danksagung geschrieben habe! Ich fand zu Hause alles verwirrt; drei Tage wußte ich nicht, ob ich Capellmeister oder Capelldiener war. Nichts konnte mich trösten; mein ganzes Quartier war in Unordnung; mein Clavier, das ich dort so liebte, war unbeständig, ungehorsam; es reizte mich mehr zum Aerger, als zur Beruhigung. Ich konnte wenig schlafen, sogar die Träume verfolgten mich, und da ich Mozart’s ‚Figaro‘ zu hören träumte, weckte mich der fatale Nordwind auf und blies mir fast die Schlafhaube vom Kopfe.“

Mit diesem heitern Brieffragment des wackern Musikers mögen die obigen anspruchslosen Beiträge zu seiner Charakteristik ihren Abschluß finden. Das Andenken des gemüthvollen Meisters sei uns für alle Zeit gesegnet!




[195]

Etwas über die Lage der Deutschen in England.

Von Wilhelm Hasbach.


Es gehört unstreitig zu den anziehendsten Capiteln der Culturgeschichte, dem breiten und vielverzweigten Strome der deutschen Auswanderung zu folgen und zu schauen, wie er in fernen Ländern wüste Strecken urbar macht und unter weniger civilisirten Völkern echte Bildung und Sitte verbreitet. Nicht minder interessant ist es aber, die Lage der deutschen Einwanderer in hochcivilisirten Ländern zu prüfen und zu erfahren, wie dort unsere Landsleute unter ebenbürtigen Nationen an den Werken der Cultur rastlos arbeiten und durch ihren emsigen Fleiß die Ehre des deutschen Namens zu wahren wissen. Ein solches Bild des deutschen Lebens und Strebens auf englischem Boden soll in den nachfolgenden Zeilen unseren Lesern vorgeführt werden, ein Bild, das einen Einblick in die stolzen Erfolge, welche die deutsche Colonie in England errungen, und die Leiden, welche sie dort zu erdulden hat, eröffnet.

Im Jahre 1871 (die Berichte über die jüngste englische Volkszählung von 1881 sind noch nicht veröffentlicht) zählte man in England 32,823 Deutsche, und zwar 21,232 männlichen und 11,591 weiblichen Geschlechts.[1] Unsere Landsleute bildeten den größten Bestandtheil aller Fremden; denn ihre Zahl betrug 32,64 % der Gesammtsumme fremder Einwanderer, während diejenige der Franzosen sich auf 17,81 %, die der Polen auf 7,02 % und die der Holländer auf 6,22 % belief.

Theilen wir nun die Deutschen in England in einzelne Gruppen ein, je nach dem Beruf, dem sie sich widmen, so ersehen wir, daß die Mehrzahl unserer Landsleute im Handel und Gewerbe beschäftigt ist. Nehmen wir also diese wichtigsten Zweige der deutsch-englischen Colonie zum Ausgangspunkte unserer heutigen Betrachtungen!

Der deutsche Handelsstand ist hier in commercieller Beziehung nicht gerade beliebt. Von Zeit zu Zeit wird in Zeitungen untergeordneter Bedeutung eine kleine Deutschenhetze veranstaltet, die immer wieder dieselben Gedanken vorbringt. Eine Stelle aus dem „Globe“, welche der prägnanteste Ausdruck der allgemeinen Ueberzeugung ist, soll hier folgen. Der Meinungskampf wurde in der beliebten Weise englischer Zeitungen durch an die Redaction gerichtete Briefe geführt. Er wurde eröffnet durch die Epistel eines „Preußen“, welche sehr roh gewesen sein soll. Darauf wurde nun in der folgenden Nummer erwidert: „Ganz so, wie er – der Preuße – sich darüber beklagt, daß die Juden in Deutschland auf Kosten der Deutschen reich werden, so klagen englische Kaufleute, daß die Deutschen, welche heerdenweise herüberkommen, auf Kosten der Engländer reich werden. – Ihre Kaufleute unterbieten uns; ihre Commis arbeiten für niedrigere Löhne, als die unserigen, und da ihre Begriffe von kaufmännischer Ehre weiter, als diejenigen englischer Kaufleute sind, so gelingt es ihnen gewöhnlich, in kurzer Zeit ein großes Vermögen zu erwerben. Aber nun kommt der Unterschied. Der deutsche Jude, der in Deutschland Geld im Verkehre mit Deutschen gemacht hat, bleibt dort und giebt es dort aus, wo er es verdient hat, während der Deutsche, welcher in der äußersten Armuth nach England gekommen ist, reich in sein Vaterland zurückkehrt, um unter seinem Volke seine Tage zu beschließen und sein Geld auszugeben. Gehen Sie, wohin Sie wollen – Sie werden in jedem Kreise englischer Kaufleute dieselbe Meinung über die Deutschen hören. Es ist nicht zu viel gesagt, daß sie allgemein verhaßt sind. Sie verkaufen zu niedrigeren Preisen; sie betrügen uns (overreach), und zur selben Zeit schimpfen sie über das Land, welches sie gastfreundlich aufnimmt.“ Der Artikel ist unterzeichnet: „Ein Engländer und ein Jude.“

Der Vorstellung, daß die deutschen Kaufleute, welche sich mit bedeutenderem Gewinn aus dem Geschäft zurückziehen, regelmäßig nach Deutschland zurückkehren, muß an der Hand der Statistik entschieden entgegengetreten werden. Die auf eine arme Bevölkerung von 30,000 Menschen entfallende Rentnerzahl ist nothwendig gering. Wenn aber laut amtlicher Zählung 62 Deutsche, die von ihren Renten leben, in England verbleiben, so kann der in’s Vaterland wieder einwandernde Theil reich gewordener deutscher Kaufleute nicht groß sein.

In der folgenden Nummer des „Globe“ fand sich nachstehendes, von der Redaction des Blattes geschriebene Entrefilet: „‚Ein in England lebender Deutscher‘ protestirt in, wie wir gestehen müssen, gemäßigten Ausdrücken gegen den Ton des Briefes, welchen wir gestern mit der Unterschrift ‚Ein Engländer und ein Jude‘ brachten. Der Deutschenhaß (anti-German Feeling) in diesem Lande, von welchem der zuletzt genannte Verfasser sprach, mag nicht so gerechtfertigt sein, wie er glaubt, aber wir sind der Meinung, daß Niemand, welcher viel in Gesellschaft verkehrt, die Existenz dieses Gefühles leugnen wird. Wenn ‚Ein in England lebender Deutscher‘ es nicht bemerkt hat, so muß er dies der guten Erziehung der Engländer zuschreiben, mit welchen er zusammengekommen ist.“

Ich habe mich natürlich bemüht, englische Kritiken über diese Stellen zu hören. Ueberall gab man zu, daß die Abneigung gegen die Deutschen bedeutend sei. Aber ein englischer Kaufmann erzählte mir auch, daß die deutschen Kaufleute sich viel mehr Mühe zu verkaufen gäben, als die englischen und deshalb den Engländern eine erfolgreiche Concurrenz bereiten.

Der deutsche Commis zeichnet sich durch meistens schwer wiegende Vorzüge im Vergleich mit seinen englischen Collegen aus, vor Allem durch eine bessere geistige Bildung, welche er sich in Realschulen, Bürgerschulen und Handelsschulen erworben hat. Mit Hülfe seiner Kenntniß mehrerer moderner Sprachen – diese besitzt er gewöhnlich – gelingt es ihm in kurzer Zeit, sich das fremde Idiom für alle zunächst wichtigen Zwecke anzueignen. Er bringt meistens nach England den Fortbildungstrieb mit, welcher den deutschen Kaufmannstand so vortheilhaft von demselben Stande in andern Ländern unterscheidet, und diese Neigung wird noch unterstützt durch die Gewöhnung an ernste, geistige Arbeit, durch eine höhere anregende Allgemeinbildung und den uninteressirten Wissensdrang, welcher häufiger in Deutschland, als in England gefunden wird. Der junge Engländer hat in der Militärpflicht keinen äußeren Zwang. Die Schulen sind theuer und sehr oft schlecht. Zudem verdient er der Regel nach nicht den Namen eines lernbegierigen Schülers von rascher Auffassung, und der Ruhm, im Football oder Cricket zu glänzen, steht ihm oft genug höher, als die Kenntniß fremder Sprachen. Junge Leute aus nicht gerade vornehmer oder reicher Familie, welche für den Kaufmannsstand bestimmt sind, erhalten zudem in den meisten Fällen nur eine gewöhnliche Elementarschulbildung, da die Engländer zu glauben pflegen, daß ein Mensch, welcher eine höhere Bildung besitzt, nicht gewöhnlicher Kaufmann sein könne. Kann ein so vorgebildeter junger Mann nach Ablauf der Geschäftsstunden für etwas anderes, als Vergnügen der simpelsten Art Sinn haben? Nicht zu vergessen ist es eben, daß einen der tiefsten Schäden des heutigen Englands der Mangel an Gelegenheit zu veredelnden Vergnügungen bildet.

Dazu kommt der volkswirthschaftlich außerordentlich wichtige Umstand, daß die Lebensführung des Engländers höher ist. Der englische standard of life hat eine gute und eine schlechte Seite. Gut ist der höhere Werth, den man überall in England auf genügende Quantität und gute Qualität der Nahrung sowie auf eine würdige äußere Erscheinung legt. Gut sind weiter die [196] englischen Kaufsitten. Nirgendwo ist die Vorliebe für das Billige so selten zu finden, wie in England. Das schlechte Element der englischen Lebensführung dagegen liegt in der Vorliebe des Engländers für einen plumpen, schwerfälligen, oft überflüssigen und rein materiellen Luxus und in dem Mangel an Sparsamkeit.

Die deutsche Art zu leben enthält weder die guten noch die schlechten Elemente der englischen, und daher kann der deutsche Commis für geringeren Lohn arbeiten. Noch jetzt sind englische Kaufleute manchmal erstaunt, zu welch geringem Preise deutsche Commis ihre Arbeitskraft anbieten, obwohl sich der englische Unternehmer daran gewöhnt hat, den Deutschen als einen außerordentlich genügsamen und billigen Arbeiter zu betrachten. Eine Stellung, welche einem Engländer 150 Pfund Sterling einbringt, übernimmt ein Deutscher nicht selten für 60 bis 80 Pfund Sterling. Unsere Landsleute bieten sich außerdem in solchen Mengen auf dem Arbeitsmarkte an, daß Manche keine Stellung finden würden, wenn sie sich nicht bereit erklärten, ohne Gehalt zu arbeiten. Sie wollen eben, wenn auch mit Opfern, festen Fuß fassen, und den Vortheil davon haben natürlich die englischen Arbeitgeber. Einige derselben beuten die Verhältnisse so gründlich aus, daß sie deutsche Commis für 80 Pfund Sterling anstellen und nach einigen Jahren, wenn eine Aufbesserung des Gehaltes am Platze wäre, dieselben entlassen und frisch angekommene Deutsche mit demselben bescheidenen Gehalte engagiren.

Der englische Commis leidet selbstverständlich unter dieser Concurrenz. Sein Gehalt wird durch dieselbe manchmal gedrückt, und er muß eine Lebensführung, an die er sich von Jugend auf gewöhnt hat und die, wie gesagt, in mancher Beziehung besser als die deutsche ist, aufgeben. Manche englische Commis werden aus ihren Stellen durch deutsche verdrängt. Es wäre daher ungerecht, diese Verhältnisse nur vom deutschen Standpunkte aus zu betrachten. Wer da weiß, von welchem Vortheile eine hohe Lebenshaltung für ein Volk ist, wird den Proceß, der sich vollzieht, nur mit Schmerz vor sich gehen sehen. Wenn auch der Engländer so argumentiren, wenn er vorurtheilslos die Bildungsvorzüge des deutschen Kaufmanns anerkennen und das Bestreben zeigen würde, den englischen Commis auf das geistige Niveau des deutschen zu erheben, dann würde er alle Billigdenkenden auf seiner Seite haben.

Haydn’s Geburtshaus in Rohrau an der Leitha.
Nach einer Aufnahme vom Jahre 1825 auf Holz gezeichnet.

Aber er findet es ungerecht, daß die Deutschen überhaupt nach England kommen, wie wir aus dem angeführten Briefe ersehen haben. Der gewöhnliche John Bull möchte am liebsten jeden Fremden, vor Allem aber die Deutschen aus England ausgewiesen sehen. Er läßt es natürlich völlig außer Acht, daß die Einwanderung deutscher Commis eine Form der freien Concurrenz ist, welche man doch, wo sie England Vortheil bringt, nicht genug rühmen kann. Die Befehdung der Deutschen in England ist um so unverständiger, als gerade der Engländer überall zu finden ist, überall große Unternehmungen in’s Leben ruft und in allen Ländern die Fremden ausbeutet. Er murrt über die Deutschen und andere Landeskinder just zu derselben Zeit, da die erschöpfte Türkei und das ausgesogene Aegypten sich über die großen Gehälter müßiggehender englischer Beamten beklagen und das arme Indien Tausenden von Engländern ungeheure Gehälter bezahlen muß, die sie theilweise in England verzehren. Und wäre es nicht viel richtiger, die englischen Prinzipale anzugreifen, ohne deren Willen ja doch kein deutscher Commis eine Anstellung finden könnte?

Junge deutsche Kaufleute, welche nach England herüberzukommen gedenken, sollten diese Verhältnisse wohl beherzigen. Möchten sie sich nicht durch die glänzende Stellung einiger deutschen Commis in England blenden lassen! Es wäre ebenso klug, fest auf einen großen Gewinn in der Lotterie zu rechnen, wie auf gute Stellungen in England. Sie sehen nicht die Menge junger Leute, welche monatelang auf eine Stelle warten und, wenn sie ihre Ersparnisse verzehrt haben, zuweilen so tief sinken, daß an ein Aufstehen nicht mehr zu denken ist. Wenn junge Deutsche nicht wenigstens einem dreimonatlichen Aufenthalte ohne Stellung in’s Auge sehen können, wäre es am besten, wenn sie in Deutschland blieben. Der Aufenthalt in einer billigen englischen Pension berechnet sich mit Wäsche auf 30 Mark wöchentlich. Der junge Kaufmann sollte also vor seiner Uebersiedelung ein Capital von 500 Mark besitzen.

Mit all diesen nicht gerade verlockenden Schwierigkeiten hat der deutsche Kaufmann in England zu rechnen; der deutsche Handwerker befindet sich gleichfalls in einer nicht beneidenswerthen, von Rassenhaß und Concurrenzneid gefährdeten Lage. Ihn ziehen zunächst die hohen Löhne nach England. Dort liegen die Verhältnisse für ihn aber so: ein tüchtiger Arbeiter verdient wöchentlich durchschnittlich 18 bis 20 Schillinge, und in einzelnen Gewerben, z. B. in der Schneiderei, gelten 25 Schillinge wöchentlich für einen guten Lohn. In anderen Zweigen des Handwerks, welche längere Ausbildung und mehr Körperkraft fordern, geht er auf 30, 35 Schillinge bis zu 2 Pfund Sterling hinauf. Die Löhne sind jedoch ihrer Natur nach schwankend, und der Handwerker muß sich wohl hüten, eine vorübergehende Conjunctur für einen dauernden Zustand zu halten. Ein zweiter Umstand, welcher oft unsere Landsleute zur Auswanderung nach England bestimmt, ist die geringere wöchentliche Arbeitsstundenzahl, an der in England festgehalten wird. Sie beträgt hier 54 Stunden, während in Deutschland noch vielfach die Arbeitswoche von 72 Stunden die Gewohnheit bildet. Nun waren aber alle Handwerker, welche ich gesprochen habe, der Ueberzeugung, daß in diesen 54 Stunden viel intensiver gearbeitet wird, als bei uns zu Hause, und so der anscheinende Verlust reichlich eingebracht wird, sie betrachten es indessen allgemein als eine große Annehmlichkeit, daß die Woche am Samstag Mittag beschlossen wird, und nun eine Ruhepause von anderthalb Tagen folgt. Vielfach loben sie auch die englische Besteuerungsweise. Indem der Staat nur die nicht nothwendigen Genüsse des Arbeiters (Tabak, Branntwein, Bier) zu seinen Einnahmen heranzieht, giebt er ihm erstens einen Antrieb zur Mäßigkeit und ermöglicht ihm zweitens eine richtige Verfügung über seinen Lohn. Der Arbeiter hat nämlich nur eine directe größere Ausgabe: für die Miethe, wenn er verheirathet ist, und für Kost und Logis, wenn er unverheirathet ist.

Der praktische Sinn der Engländer hat es so eingerichtet, daß beide, auch die Miethe, am Ende der Woche erhoben werden, und tüchtige Handwerker legen auf den letzten Umstand besonderes Gewicht. Sie halten es für eine Nothwendigkeit, daß der Handwerker, der wenige directe Ausgaben hat, dieselben in kurzen Zwischenräumen, und zwar an seinen Zahltagen berichtigt. Auch das System der Baarzahlung halten sie darum für so segensreich, weil es den Arbeiter zwingt, Einnahmen und Ausgaben von Woche zu Woche zu vergleichen. Sie sprechen die Ueberzeugung aus, daß diese gesunden praktischen Sitten dem Arbeiter mehr Segen bringen, als hohe Löhne auf die Dauer, und schreiben ihnen theilweise das Gedeihen des deutschen Handwerkers in England zu. Im letzten Grunde beruht es zweifellos auf der Genügsamkeit, der Mäßigkeit, dem unermüdlichen Fleiße, der Ausdauer und der Zähigkeit der deutschen Handwerker, auf die wir allen Grund haben, stolz zu sein. Daß der englische Handwerker, welcher häufig genug den Wochenverdienst in Whiskey und Gin vertrinkt, seinen deutschen Collegen wegen der lobenswerthen Eigenschäften haßt, braucht wohl nicht ausdrücklich erwähnt zu werden.

[197]

Alte Liebe bei Cuxhaven.
Nach einem Oelgemälde von H. Hiller.

[198] Die Aussichten des deutschen Handwerkers in England sind nicht mehr so erfreulich, wie sie vor einem Menschenalter waren. Damals war er als ein kenntnißreicher, fleißiger und mäßiger Arbeiter jenseits des Canals sehr geschätzt. Er verfügte gewöhnlich über eine allseitigere gewerbliche Ausbildung als der englische und fand sich bald in die dortige Arbeitstheilung hinein. Jetzt klagen die hiesigen deutschen Meister, daß die jungen herüberkommenden Leute den Kopf voller politischer Theorien und Bildungsfetzen haben, aber weder eine umfassende Kenntniß ihres Gewerbes besitzen, noch sich in den einzelnen Zweigen tüchtig erweisen. Man giebt zu, daß sie willig und fleißig sind und es unter tüchtiger Leitung noch immer zu mittelmäßigen Leistungen bringen. Vor Allem räth man den jungen Leuten, in Deutschland mehr zu lernen. Aber auch die tüchtigen dürfen im Anfang nicht sofort auf ein gutes Verdienst rechnen; denn die Arbeitstheilung ist in England viel weiter fortgeschritten als in Deutschland. In großen Kleidermagazinen ist sie auf den Punkt gelangt, daß ein Theil ihrer Arbeiter nur Knopflöcher macht, ein anderer nur Knöpfe annäht etc. Nun verfließt immerhin einige Zeit, bevor der Handwerker herausgefunden hat, für welche Detailarbeit er sich am meisten eignet, und bevor er in seinem Specialfache eine solche Gewandtheit erlangt hat, daß er erfolgreich mit dem Engländer concurriren kann.

Einige Gewerbe haben noch jetzt eine sichere Basis, da sie Producte liefern, welche von Engländern nicht hergestellt werden. Zu diesen gehört z. B. die deutsche Brodbäckerei; denn der englische Bäcker bäckt nur englisches Brod und überläßt das Backen des fremden Brodes den Fremden, den Deutschen und Franzosen.

Handwerksburschen und Commis mit kleiner Börse finden nicht blos billige Kost und Wohnung, sondern auch manchmal Arbeitsnachweisung in der „Deutschen Herberge“, welche an dem großen Finsbury Square Nr. 20, nicht weit von der City, der Geschäftsstadt Londons, entfernt liegt, diese „Deutsche Herberge“ wurde im Jahre 1872 von einem Londoner Jünglingsvereine gegründet und hat in den zehn Jahren ihres Bestehens sehr viel Gutes gewirkt. Da sie noch immer mit Deficit arbeitet, sei sie dem Wohlthätigkeitssinne deutscher Landsleute bestens empfohlen!

(Schluß folgt.)




Ketten und Verkettungen.

Novellette von B. Oulot.
(Fortsetzung.)


Nachstehend löse ich das eben gegebene Versprechen ein. In welcher Stimmung ich schreibe, das sage ich nicht, damit auch Sie nicht ohne Spannung davon kommen.

Klar und unbefangen, als ob mich die ganze Geschichte nichts anginge – staunen Sie über meine Ruhe – hebe ich also zu erzählen an:

Als ich am Morgen des angegebenen Tages erwachte, blitzte ein ungeheures Freudenbewußtsein durch meine Seele, und in der nächsten Secunde hatte ich auch schon die ganze Situation erfaßt: Diane, die reizende, ersehnte, mysteriöse Ungekannte, sollt’ ich heute kennen lernen.

Das Rendezvous der Jäger war in einem ungefähr eine Meile von Saalfelden entfernten Jagdschlößchen für zehn Uhr Vormittags angesetzt. Dort würden die Herren – so lautete die Einladung – ein Frühstück einnehmen, darauf einige Stunden hindurch dem Jagdvergnügen huldigen und sich alsdann zum Diner im Schlosse des Gastgebers versammeln.

Um neun Uhr saß ich bestiefelt und bewaffnet im Sattel, um nach dem angegebenen Orte zu reiten. Mein treuer Bohuslav – fast in jeder Geschichte kommt ein treuer Diener vor, daher habe ich Bohuslav, von dessen Tugenden ich keinerlei Erfahrung habe, mit diesem Prädicate versehen – meinen treuen Bohuslav also hatte ich mit einem kleinen Koffer und Toiletten-Necessaire nach Saalfelden vorausgeschickt.

Nach einstündigem Ritte befand ich mich am Platze des Rendezvous. Saalfeld kam mir entgegen.

„Ah, grüß Dich Gott, Ritterglas! Ich dachte schon, Du würdest nicht kommen. Du hast Dich überhaupt so lange nicht blicken lassen, weder bei mir, noch bei den anderen Nachbarjagden. Warst Du krank?“

„Ich? Krank? Nein – danke! Hast Du viele Gäste im Schloß? Viele Damen?“

„O ja, das ganze Haus voll, und auch Damen. Aber jetzt ist es Zeit, an das Frühstück und an die Jagd zu denken; die Damen wirst Du Abends zur Genüge sehen.“

„Wer sind die Damen? Wer sind sie – sag’ mir das, Freund! Wie heißen sie, die Damen? Woher kommen sie, und wie sehen sie aus, die Damen?“

„Welch ein Eifer! Von dieser Seite kenne ich Dich gar nicht, Ritterglas. Uebrigens kann ich Dir nicht einmal Auskunft darüber geben. Weiß Gott, nicht! Du kennst ja unsere hiesigen gesellschaftlichen Gewohnheiten: meine Schwester macht die Honneurs von Saalfelden und besorgt auch die Einladungen der Damen. Ich kümmere mich nur um die jagenden Gäste – um die Herren.“

Nach dem Frühstück nahm also die Jagd ihren Anfang. Ich bin sonst, wenn auch kein leidenschaftlicher, so doch ein recht anständiger Jünger Nimrod’s, aber diesmal muß ich mich in den Augen der anwesenden Jäger und Treiber mit Schmach bedeckt haben; denn meine Gedanken waren so sehr mit den bevorstehenden Dingen beschäftigt, daß ich keinen Hasen gesehen, viel weniger geschossen habe, und doch wurden deren an diesem Tage fünfhundert erlegt.

Einmal nur wurde ich aus meinen Träumen gerissen. Ein unweit von mir stehender Schütze rief mir zu:

„Sie gehören wohl nicht zu den Anbetern Dianens, Herr Baron von Ritterglas?“

Ich stürzte auf den Sprecher zu:

„Diane? Diane? Sie kennen sie – und Diane hat Anbeter – vielleicht Sie selbst? O, sagen Sie mir alles; ich beschwöre Sie!“

„Vor Allem haben Sie die Güte ünd halten Sie mir den Lauf Ihres Gewehres nicht unter die Nase!“

„Pardon! Also, Sie sagten Diane –“

„Nun ja; ich sehe nicht ein, warum Sie da so in Feuer gerathen, als wären Sie Actäon selbst, welcher bekanntlich in die Jagdgöttin verliebt war.“

„Ah so – ja so – ah ja – so ja.“

„Sie sollten wieder auf Ihren Stand zurückgehen, lieber Freund; Ihre Conversation ist zwar recht anregend, aber jetzt müssen wir unsere Gedanken durchaus auf unser Jagdhandwerk richten.“

Gegen sechs Uhr Abends kamen wir nach abgethaner Jagd Alle in Schloß Saalfelden an. In dem mir angewiesenen Zimmer erwartete mich mein treuer Bohuslav und hatte schon alles Nothwendige zum Ankleiden vorbereitet.

Die Frage, wie ich beim Jagddiner erscheinen sollte, ob in Civil oder in Uniform, hat mich einige Ueberlegung gekostet, und ich entschied mich für das erstere; denn wie ich Diane zu kennen glaube, ist sie für die Würdigung eines tadellos eleganten evening-dress, wie die Engländer Frack und weiße Cravatte nennen, nicht unempfänglich, weil es eine eigene Kunst erfordert, diesen Anzug mit Distinction zu tragen, und man hat mir immer versichert, daß ich den Frack mit ganz besonderem Geschick zur Geltung bringe.

Ich habe eigentlich nie recht zum Oberlieutenant gepaßt. Ich hätte Diplomat werden sollen – – wenn nicht eben mein Beruf die Philosophie wäre.

Im Kamin loderte ein helles Feuer; warmes Wasser dampfte aus dem Waschkrug; am Bette lag der Abendanzug ausgebreitet, und in den Armleuchtern des Ankleidespiegels brannten vier Kerzen; am Tisch vor dem Sopha aber stand ein Plateau mit einem silbernen, lustig summenden Theekessel, Tasse, Zuckerdose und Rumfläschchen; die schweren Vorhänge vor den Fenstern waren heruntergelassen, und nach dem Heimwege an dem feuchten, dunkelnden Novemberabend machte das ganze Gemach einen unsäglich behaglich-warmen Eindruck.

Es währte noch eine Stunde, bis die Dinerglocke geläutet wurde. Ich hatte mich nach vollzogener Umkleidung auf dem [199] Sopha ausgestreckt, fortwährend an das nun Kommende denkend. Beim Schalle der Glocke sprang ich auf, und nachdem ich noch einmal vor dem Spiegel die Schleife meiner Cravatte zurecht gerichtet, verließ ich mein Zimmer. Dieses war im zweiten Stockwerk gelegen, und ich mußte, um zu den im ersten Stock befindlichen Empfangssalons zu gelangen, über breite, teppichbelegte Treppen und durch bilder- und statuengeschmückte Corridore gehen.

Ich erwähne alle mich damals umgebenden Details von Pracht und Luxus, weil mir dieselben einen ganz besonders angenehmen Eindruck machten. Wenn man in einer Freude und Vergnügen erwartenden Stimmung ist, so tragen die äußeren, auf die Sinne wirkenden Reize der Umgebung zur Erhöhung dieser Stimmung bei. Nicht umsonst wird daher beim geringsten ländlichen Feste Blumen- und Fahnenschmuck herbeigeschafft und, wenn im Saal des Dorfwirthshauses Sonntags ein Ball stattfindet, die weißgetünchte Wand mit Laubguirlanden behängt.

Mit höher schlagendem Herzen und beengtem Athem trat ich in den hellerleuchteten Salon. Auch an dieser Schwelle erfaßte mich wie eine eigenthümliche Freudeströmung die von Pracht, Licht und Duft durchwebte Atmosphäre.

Eine Gesellschaft von ungefähr zwölf bis fünfzehn Damen in glänzender Abendtoilette und ebenso vieler Herren war in verschiedenen Gruppen, sitzend und stehend, in dem großen, von Damast, Spiegeln und Vergoldung strotzenden Gemache zerstreut. Mit mir zugleich und nach mir traten noch mehrere Personen ein. Eine Dame rauschte an mir vorbei, anmuthig und elegant – war dies vielleicht Diane?

Graf Saalfeld und dessen Schwester standen in der Nähe des Kamins, und dorthin lenkte ich meine Schritte, um der Hausfrau meine Hüldigung darzubringen. Diese, eine freundliche ältliche Stiftsdame, reichte mir die Hand:

„Herzlich willkommen, lieber Baron,“ sagte sie, „waren Sie glücklich auf der Jagd?“

Zum Glücke traten eben andere Gäste an die Gräfin heran, zu welchen sie sich wandte, und ich war einer Antwort auf ihre verfängliche Frage überhoben. Nun blickte ich in die Runde, um die anwesenden Damen zu mustern. Es waren mehrere hübsche, junge Mädchen da – noch mehr ältere und unbedeutend aussehende Frauen – keine unter ihnen Allen, die dem Ideale meiner Diane entsprach. Jene schöne Frau, welche bei der Thür an mir vorübergegangen war, stand jetzt in einer Fensternische, mir den Rücken kehrend.

„Nur diese kann es sein,“ dachte ich. Ich wandte mich an Saalfeld:

„Willst Du mich einigen Damen vorstellen?“

„Gern,“ antwortete er, „kennst Du Niemanden?“

„Nein, Niemanden! Wer ist denn jene Gestalt dort in der Fensternische?“

„Ah, nimm Dich in Acht – das ist eine sehr gefährliche Kokette.“

„Wie so?“

„Erstens, weil sie eine Polin ist – und diese sind ja Alle bekannt als gefährlich und kokett.“

„Verheirathet?“ fragte ich.

„Geschieden oder so etwas. – Kennst Du auch die jetzt eintretenden Damen nicht?“

„O, Frau Katharina Meier und ihre Tochter!“ rief ich.

„Weißt Du,“ erklärte der Graf, sich gewissermaßen entschuldigend, „sie sind unsere nächsten Nachbarinnen, und meine Schwester ist sonst sehr exclusiv, aber ich habe sie überredet, eine Einladung nach Dürrstein zu schicken – und das Fräulein ist wahrhaftig wunderschön.“

„Da ist wohl Herr Schwanberg, der Verlobte des Fräuleins, auch unter Deinen Gästen? Aber ich bitte Dich, stelle mich der gefährlichen Polin vor!“

Frau Katharina Meier stand jetzt ganz in unserer Nähe; ich verneigte mich grüßend. Mit einem vergnügten Lächeln reichte sie mir die Hand:

„Ah, Herr Baron, wie froh bin ich, Jemanden Bekannten zu treffen,“ sagte sie.

In diesem Augenblicke wurden die Saalthüren geöffnet und das Diner gemeldet. Saalfeld winkte mir, und es blieb mir nichts Anderes übrig, als der eben mit mir im Gespräche begriffenen Frau Meier den Arm zu bieten.

Bei Tisch kam ich zwischen dieser und einer anderen alten Dame zu sitzen. Die schöne Polin befand sich an einem ganz andern Ende der großen Tafel, und da ich etwas kurzsichtig bin, so konnte ich weder ihre Züge unterscheiden noch sehen, ob sie den Blick manchmal in meine Richtung sandte.

Uns schräg gegenüber saß Fräulein Elsbeth. Ich grüßte hinüber; sie dankte mit einem holdseligen Lächeln. „Wahrhaftig ein schönes Mädchen – glücklicher Schwanberg!“ dachte ich. und dies veranlaßte mich, meiner Nachbarin zu sagen:

„Ihr künftiger Herr Schwiegersohn ist hier wohl nicht anwesend, gnädige Frau?“

„Mein künftiger Schwiegersohn? Ah so, Sie wissen nicht, daß die Partie aus einander gegangen ist?“

„So – ah – ich bedaure, das ist das Erste, was ich davon höre.“

„O, es ist nichts zu bedauern; es ist viel besser so. Er war doch zu alt für meine Elsbeth, und sie liebte ihn nicht. Vor ungefähr einem Monat erklärte sie plötzlich, daß sie sich von der Verlobung lossagen wolle, daß sie fühle, unglücklich zu werden, wenn sie diese Ehe einginge, und so wurden denn Herrn Schwanberg nebst einem entschlossenen Briefe die Brautgeschenke und der Verlobungsring zurückgeschickt.“

Ich horchte den Worten meiner Nachbarin nur zerstreut; denn ich verfolgte alle Bewegungen meiner interessanten Polin, welche, wie ich trotz meiner Kurzsichtigkeit wahrnehmen konnte, in sehr lebhaftem Gespräch mit dem zu ihrer Linken sitzenden Officier begriffen war. „Ich hätte vielleicht doch besser gethan, meine Uniform anzulegen,“ überlegte ich – dennoch mußte ich auf Frau Meier’s Mittheilung etwas antworten.

„Ja, das ist eine traurige Geschichte. Das muß Sie wohl sehr betrübt haben.“

„Betrübt? Anfänglich wohl; denn die Partie war brillant; Schwanberg ist mehrfacher Millionär, aber denken Sie, welches Glück: meiner Tochter ist vor vierzehn Tagen, nachdem sie ihrem ehemaligen Bräutigam schon den Abschied gegeben hatte, von einem väterlichen Onkel eine Erbschaft zugefallen, die wir nie erwartet hätten – ein Capital von zwei Millionen Mark. Jetzt ist sie selbst sehr reich – reicher noch, als alle ihre Brüder zusammengenommen.“

„Wie, Fräulein Elsbeth ist nicht Ihre einzige Tochter?“

„Einzige Tochter wohl, aber ich habe drei Söhne erster Ehe, welchen mein ganzes Vermögen und Dürrstein zufallen wird; Elsbeth hätte nur eine ganz unbedeutende Mitgift erhalten, und da wäre Schwanberg eine brillante Partie für sie gewesen, aber jetzt ist sie selbst eine der reichsten Partien im Lande und kann wohl auf einen Grafen Anspruch machen; denn wissen Sie, es ist doch etwas sehr Schönes um Wappenschild und Krone, und wenn meine Tochter Gräfin wäre, würde mich vielleicht die stolze, alte Stiftsdame dort auch nicht mit einer so auffällig sein sollenden Herablassung behandeln und mich fühlen lassen, daß ihre Einladung eine besondere Gnade war.“

Mir war das Geschnatter meiner Nachbarin furchtbar uninteressant, und mit Ungeduld sah ich dem Ende des Diners entgegen. Endlich erhob man sich von der Tafel und kehrte in die Salons zurück. Dort stürzte ich auf den Hausherrn und bat ihn, mich endlich mit der schönen Polin bekannt zu machen.

Er führte mich in den Rauchsalon. Hier hatten sich drei oder vier Damen, welche die Cigaretten nicht scheuten, auf den niedrigen orientalischen Divans in der Mitte der zahlreichen Herren niedergelassen. Halb sitzend, halb liegend, war auch meine Polin zwischen die Kissen eines Divans hingegossen, das Füßchen – o, es mußte dasselbe Füßchen sein, welches sich auf meinem Bilde zeigte – unter dem Kleidersaum etwas vorgestreckt.

„Erlauben Sie mir, Madame de Boworowska, Ihnen meinen Freund Baron Ritterglas vorzustellen,“ sagte Saalfeld und entfernte sich.

Ich ließ mich neben Frau von Boworowska, welche mir mit einem freundlichen „Freut mich sehr“ die Hand gereicht hatte, nieder und musterte sie mit scharfen Blicken. Ihre Züge waren nicht regelmäßig, doch hatte sie das mobile Mienenspiel, welches ihre Landsmänninnen so auszeichnet, und sprechende, feurige Augen. Die Stirn, ebenfalls mit Löckchen bedeckt, mochte wohl dieselbe sein wie auf dem Bilde, obwohl sie mir etwas niedriger schien. Arm und Nacken konnte ich mit der Photographie nicht vergleichen, [200] da Frau von Boworowska nicht decolletirt war, doch war die Gestalt ebenso fein und anmuthig, wie auf meinem Bilde die Hand von ähnlicher Form, und besonders das Füßchen.

Kein Zweifel: sie war es – aber im Ganzen erfaßte mich doch eine Art Enttäuschung. Es war, als hätte ich etwas verloren. Die Wirklichkeit entsprach nicht meinen Träumen.

Und jetzt sollte ich liebenswürdig und geistreich sein! Ein Königreich für ein Bischen Geistreichthum!

Sie sprach zuerst.

„Waren Sie heute glücklich auf der Jagd?“

Immer diese Frage!

„Diana füllt meinen ganzen Sinn,“ sagte ich.

„Wirklich? So leidenschaftlich? Und wie viel Hasen haben Sie erlegt?“

„Kann man denn mit einem armen Jäger von nichts Anderem als von Hasen und sonstigem Gethier reden?“

„Sie sagten ja eben selbst, daß die Jagd Ihren ganzen Sinn erfülle.“

„Diane,“ sagte ich halbleise, „ich erkenne Sie.“

„Wie?“ fragte sie, als hätte sie nicht gehört.

Ich konnte meinen Satz nicht wiederholen; denn nun kamen mehrere andere Herren heran, und die Conversation wurde eine allgemeine. Frau von Boworowska entfaltete viel Witz und Heiterkeit und ließ dabei ihre funkelnden Augen spielen. Ich wußte nicht, wem ihr besonderer Vorzug galt, doch fiel auch mancher lächelnde Blick auf mich. „Eine Kokette,“ dachte ich, „Saalfeld hat Recht.“

Ich kehrte in den Salon zurück, entschlossen mit jeder der anwesenden Damen ein Gespräch anzuknüpfen; denn möglicher Weise konnte ich mich doch mit der Annahme getäuscht haben, daß Frau von Boworowska meine Correspondentin sei.

Ich machte die Bekanntschast dreier Comtessen, Schwestern, welche, im sacré-coeur erzogen, die Löwinnen der vorjährigen Carnevalssaison gewesen. Ihre Conversation bewegte sich nur auf Hof- und Picknickbällen im Jargon des blaublutigsten Hochmuths.

Unter ihnen konnte Diane nicht sein.

Eine geistreiche Frau von Hochfels, nicht mehr jung, aber sehr liebenswürdig, hätte mich einen Augenblick irreführen können, doch ein Blick auf ihre lange unschöne Hand belehrte mich, daß dies auch nicht das Original meiner Photographie sein könne.

Auf meinen Entdeckungsfahrten im Salon kam ich auch zu Fräulein Elsbeth. Ihr gebührte jedenfalls die Palme der Schönheit in diesem Frauenkreise.

Mehrere junge Cavaliere schienen ihr lebhaft den Hof zu machen, wahrscheinlich durch die Mitgift von zwei Millionen Mark noch gewaltiger angezogen, als durch die junonische Erscheinung des Fräuleins. Ich mischte mich in die Gruppe. Fräulein Elsbeth schien zerstreut, kalt, wortscheu. „Kein besonderes Geisteskind!“ dachte ich im Stillen, tauschte einige banale Phrasen und setzte meine Rundreise fort. Dabei erlebte ich einen großen Schreck. Die schnurrbartgeschmückte Hausfrau, Saalfeld’s fünfzigjährige Schwester, rief mich zu sich:

„Spielen Sie Whist, lieber Baron?“ fragte sie mit besonderer Freundlichkeit.

„Ich kenne keine Karte, gnädige Gräfin.“

„O, ich werde Sie nicht zu einer Partie zwingen. Sie können immerhin gestehen, daß Sie das Spiel kennen; cela n’engage à rien.“

Bei diesen Worten rieselte es mir kalt über den Rücken.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die Alte Liebe. (Siehe Abbildung S. 197.) Die Landungsbrücke von Cuxhaven verdankt ihren eigenthümlichen Namen einem Wortspiele: Als die Stadt Hamburg im Jahre 1732 ihre Kolonie an der Elbmündung mit einem Nothhafen ausstattete, ward das zu diesem Zwecke errichtete Bollwerk auf einige dort versenkte alte Schiffe fundirt, die mit Pfählen umgeben wurden. Eines der Schiffe hieß, so erzählen Viele, „Olivia“ oder „Oliva“, und hieraus soll, durch Anklang an die Wörter des landesüblichen plattdeutsch „ole“ und „Leew“ jene Bezeichnung entstanden sein. Andere behaupten indessen, das Schiff habe nur „Die Liebe“ geheißen. Das Werk ist in einem derb-massigen Stile erbaut, dessen sich Fasolt und Fafner bei Errichtung der Burg Walhalla nicht zu schämen gehabt hätten; soll es doch dem gewaltigen Andrang der Meereswogen bei Nordweststurm Stand halten, ebenso den Eismassen Trotz bieten, welche allwinterlich der mächtige, hier drei deutsche Meilen breite Elbstrom gegen die Uferwerke schmettert. Und was das bedeutet, davon kann sich nur Jemand einen Begriff machen, der nahe einer Strommündung wohnt. Dem Bewohner des Binnenlandes klingt es fast unglaublich, was Abendroth, weiland Hamburgischer Bürgermeister, in seinem 1818 erschienenen Werke „Ritzebüttel und das Seebad zu Cuxhaven“ sagt: „Hier spielen die Wellen mit Felsenblöcken von 2000 bis 3000 Pfund, als mit einer leichten Last, und schleudern sie weit aus ihrer Lage rückwärts.“

Abendroth aber lebte lange als „Amtmann“ (= Senator, Statthalter) in Ritzebüttel und ist unbedingt glaubwürdig. Jenen Umständen angemessen wurden zu den mächtigen Pfählen, welche die Brücke um 3 bis 4 Meter überragen, Baumstämme von circa 18 Meter Länge und entsprechender Stärke genommen. Die halten schon einen Wogenprall aus. Gleich starke Construction weist auch die benachbarte „Kugelbaak“ auf, ein auf hohen Balken ruhendes, auf cyklopische Steinwälle fundirtes Seezeichen nordwestlich von der „Alten Liebe“. Es warnt vor der höchst gefährlichen Sandbank links vor der Elbmündung, dem „Schaarhörn“. Zwischen dieser und dem nördlich gelegenen Vogelsand führt nur eine verhältnißmäßig schmale Fahrrinne hindurch. Abendroth sagt: „Wer auf Vogelsand geräth, ist gewöhnlich mit Schiff und Mannschaft verloren; auf Schaarhörn wird die Mannschaft oft gerettet, Schiffe nur selten –“ also eine tückische Scylla und Charybdis. Ein Schrank auf der Kugelbaak, für gute Kletterer leicht erreichbar, enthält wollene Decken, Brod und Branntwein, damit schiffbrüchige Seefahrer, die sich hierhin retten, sofort Hülfe und Labung finden. Die Unterhaltung dieser Bauten sowie der Seezeichen, Feuerschiffe, Leuchtthürme, überhaupt die Betonnung und Baggerung der ganzen Unterelbe beschafft Hamburg aus eigenen Mitteln, obwohl die Kosten sehr hoch sind.

Es ist schön auf der „Alten Liebe“: Weite Wasserfläche fast nach allen Seiten, denn das flache Elbufer jenseits ist nur dem bewaffneten Auge erkennbar. Zur Linken der weiße Leuchtthurm und die dunkle Kugelbaak, sowie die niedrigen Schanzen der Forts, in denen deutsche Kanoniere die Küstenwacht halten; rückwärts zur Rechten die Thürme und Wälle des Schlosses Ritzebüttel, früher eine Raubritterburg, deren Insassen den hanseatischen Schiffen auflauerten bis 1392 die Hamburger mit bewaffneter Hand das Nest stürmten. Die bisherigen Besitzer, die reichsfreien Herren von der Lappe, traten dann im Friedensschlusse alle ihre Rechtsansprüche für 2000 Mark feinen Silbers an Hamburg ab. – Auf dem Strome bietet sich uns das bunte Panorama der Schifffahrt dar; stolze schwanengleiche Segler, rauchumflatterte Dampfer, dann die Fischerfahrzeuge und Ewer mit ihren braunrothen Segeln beleben das Bild.

Von der „Alten Liebe“ wird dieses Bild mit Kenneraugen betrachtet; denn dort pflegen die Lootsen in unbeschäftigten Stunden ihre kurze Tabakspfeife zu schmauchen oder ihr „Priemchen“ zu kauen. Wer es versteht, sich mit den alten Wasserratten in ein Gespräch einzulassen, der kann sich manch hübsches „Garn“ aus dem Seemannsleben spinnen lassen. Und wenn an schönen Sommerabenden das Meer leuchtet, wandert die Jugend Cuxhavens zur „Alten Liebe“, wirft Steine in’s Wasser und jauchzt, wenn die blauen Funken hoch aufspritzen und wenn die Ruderschläge und die Kielfurchen der Jollen feurige Strudel ziehen.

Auch ein Scherz knüpft sich an die „Alte Liebe“, den J. G. Kohl in seinen „Nordwestdeutschen Skizzen“ erzählt. Weil an den stets von den Wellen geschlagenen Balken die eisernen Klammern endlich verrosten, so wird Allen, die nach Cuxhaven kommen, demonstrirt, „daß an diesem Erdenfleck ausnahmsweise doch die alte Liebe roste“.

Bedeutungsvoll dürfte der Name auch manchem Auswanderer erscheinen, wenn sein Blick auf den Landmarken des Vaterlandes ruht; möge er auch „drüben“ der alten Liebe, der deutschen Heimath, nicht vergessen!


Kleiner Briefkasten.

Ph. P. in Brünn. Ungeeignet! Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!

Ein achtundzwanzigjähriger Abonnent in Halle. Allerdings. Geben Sie gefälligst Ihre Adresse an!

E. S. in Schleiz. Ad. Klinger in Reichenberg i. B.



Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere. Die Verlagshandlung. 


Redacteur Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es fanden sich Deutsche fast in allen Berufsclassen. Ungefähr 70 waren in der Staats- und Selbstverwaltung thätig. Es werden aufgezählt über 80 Officiere und Soldaten, über 40 Geistliche, mehr als 700 Aerzte und Apotheker, 50 Schriftsteller, 100 Maler und Photographen, 173 Musiker und nicht weniger als 45 Straßenmusikanten. Unter dem Namen Lehrer, Erzieher und Professoren befanden sich damals gegen 500 Personen in England. Die Wirthshaus-, Schänken- und Gasthofsbesitzer erreichten mit ihrem Personale die stattliche Zahl von 1000 Personen. Dieselbe Höhe zeigte die Ziffer der Großkaufleute. Mehrere Hundert Agenten waren im Lande thätig. Die Commis hatten es auf 1257 gebracht. Auch darin that sich Deutschland hervor, daß es die größte Anzahl von Pfandleihern nach England entsandte. Vielleicht fällt einiges Licht in dieses Dunkel, wenn man erwägt, daß die Nation, welche uns am nächsten kam, die polnische war. Es gab damals 33 deutsche und 32 polnische Pfandleiher in England. Die Zahl der Buchhändler und Buchdrucker näherte sich der Ziffer 100. Die Musikinstrumentenmacher und Musikhändler waren etwas zahlreicher. Die Zahl der Uhrmacher betrug ungefähr 900, die der Bau- und Möbeltischler 650, der Schneider 1600, der Schuster 700, der Metzger 400, der Bäcker 1300, der Zuckerraffineure 900, der Goldschmiede und Juweliere 300. – Unter den Frauen hatte die Majorität den Beruf der Hausfrau eingeschlagen. Der Census führt 6120 Ehefrauen, 2200 Dienstmädchen und 1300 Gouvernanten auf. – 62 Personen lebten von ihren Renten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Laut Die Gartenlaube, Heft 16, Kleiner Briefkasten nicht Julius Anton Adam, sondern Karl Knabl
  2. Vorlage: Bursche