Die Gartenlaube (1882)/Heft 46

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1882
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 46.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Der Stein des Tiberius.

Novelle von F. Meister.


Wir hatten den ganzen Abend vor dem Kaminfeuer gesessen und uns über unsern verstorbenen Freund Wilhelm Wenzel unterhalten, immer eingedenk der alten Regel, daß man die Todten ehren solle. Zu meiner Verwunderung hatte unser Gastfreund nur sehr spärliche Worte in die allgemeine Unterhaltung eingeflochten, obgleich gerade er mit dem Dahingeschiedenen ganz besonders vertraut gewesen. Als die Gesellschaft aber endlich aufgebrochen und ich allein bei ihm zurückgeblieben war, da warf er frische Kohlen auf das Feuer, reichte mir eine neue Cigarre, dampfte die seine eine Zeit lang still und gedankenvoll und erzählte mir dann die folgende Geschichte:

„Vor achtzehn Jahren,“ sagte er, „war ich in Rom; dort traf ich zum ersten Mal mit Wenzel zusammen. Ich lernte ihn kennen und fühlte mich gar bald von seinem Wesen und seiner Persönlichkeit lebhaft angezogen, was eigentlich zum Verwundern war; denn ich war schon damals der stille, zurückhaltende Grübler, während in ihm bereits alle jene Schrullen und Excentricitäten zum Vorschein kamen, die ihn später für so Viele zum unleidlichsten Menschen machten. Er war cynisch, spottsüchtig, eigensinnig, von beißendem Witz, aber schärfstem Verstande. Allerdings war er dazumal noch jung, und im Schimmer der Jugend erscheinen gar viele unserer Fehler harmloser und unschuldiger, als sie wirklich sind. Wenzel aber hatte auch seine trefflichen Seiten; sonst hätte unsere Bekanntschaft wohl nicht zu einer wirklichen Freundschaft reifen können: sein Charakter war ehrlich und treu – trotz jener seltsamen Caprice, von der ich zu erzählen haben werde; meine Zuneigung für ihn entsprang nicht zum kleinsten Theil der Ueberzeugung, daß er, bei all seiner Eitelkeit, sein verschrobenes Wesen ebenso unangenehm empfand, wie andere Leute; das erweckte mein Mitgefühl. Er gab sich stets – und auch hier in Rom – den Anschein, als ob Alles ihn unerträglich langweile. Trotz alledem aber konnte er es nicht verhindern, daß ihn der Eindruck dieser oder jener Schönheiten oft so unvorbereitet traf, daß er geradezu überwältigt wurde; denn er war auch ein scharfer und feiner Beobachter, und wenn er einmal seinen guten Tag hatte, so gab es, dank seinen gründlichen Kenntnissen und seinem außerordentlichen Gedächtniß, keinen gediegeneren Kritiker und keinen belehrenderen und unterhaltenderen Gesellschafter als ihn. Mein Tagebuch aus jener Zeit wimmelt von gelehrten Gedanken und tiefsinnigen Vergleichen und Aussprüchen – das ist Alles Wenzel’s geistiges Eigenthum.

Trafen wir auf der Campagna den unvermeidlichen Hirten, der, Hände und Kinn auf seinen langen Stab gestützt, uns unter seinem dichten, wirren Haarwuchs hervor schwarzäugig anstierte, dann proclamirte ich denselben als den schönsten Kerl der ganzen Welt und bat auch wohl meinen Begleiter, zu verweilen, damit ich das wundervolle Genrebild mit wenigen Strichen skizziren könne, Wenzel aber wendete sich voll Abscheu und Verachtung von dem braunen Burschen ab, nannte ihn eine schmutzige Vogelscheuche und mich einen weibischen Salonpoeten. Die Sache lag aber einfach so: die Schönheit Italiens, die sich sowohl in den Menschen, wie in der Natur dort offenbart, verletzte und bedrückte meinen Freund. Er wußte und erkannte sich selber als einen Mißton in dieser Fülle süßer und weicher Harmonien – ein jedes Ding schien ihm hier zuzurufen:

‚Was gäbest Du wohl darum, wenn auch Du so heiter, so sorglos und ruhig, so liebenswerth und schön wärest, wie wir?‘

Und in der Tiefe seines Herzens war dies auch sein bitterer, schmerzlicher Wunsch. Um die ganze Bitterkeit des Neidgefühls, mit welchem die italienische Atmosphäre den armen Menschen erfüllte, zu verstehen, muß man sich in’s Gedächtniß zurückrufen, wie häßlich er gewesen. Und damals, mit dreißig Jahren, war er häßlicher, als später mit fünfzig; denn im Laufe der Jahre gewöhnte man sich daran, die Züge seines abstoßenden Satyrgesichtes sokratisch und distinguirt zu finden.

Unsere Freundschaft wurde fester und fester, und wir brachten täglich viele Stunden mit einander zu. Die schönsten darunter waren die, welche wir zu Pferde in der weiten Campagna verlebten. Der Winter war herangekommen; die Sonne schien so warm, wie hier in Deutschland im Monat Juni, und die Hügel und Ebenen lagen sommerlich grün in dem schimmernden, gelben Mittagslichte des italienischen Novembers.

Eines Tages bestiegen wir auf dem Grasplatz vor dem Lateran unsere Gäule und ritten hinaus in das Blachfeld, über welches der Claudinische Aquäduct seine träge Länge nur mühsam hinzuschleppen scheint; hier und da ist er thatsächlich unter der Last seiner Jahrhunderte stolpernd zusammengebrochen. Nach einem langen Ritt machten wir, nicht mehr weit von Albano, bei dem niederen Fragment einer Ruine Halt, banden unsere Pferde an einen in der Nähe stehenden Feigenbaum und schleuderten um das Getrümmer herum. Auf der sonnigen Seite desselben fanden wir im Grase einen schlafenden Menschen, einen jungen Mann, der mit dem Ausdrucke sorglosester Ruhe seinen Kopf auf einen Haufen pflanzenüberwucherter Steine gelegt hatte. Neben ihm gewahrten wir eine alte verrostete Flinte und eine leere Jagdtasche. Nach seinem festen Schlaf zu urtheilen, mußte man meinen, daß er heute schon einen langen, ermüdenden Marsch zurückgelegt, ohne Jagdbeute gemacht zu haben.

Ich blieb lediglich meinem damaligen Rufe und Charakter [758] getreu, wenn ich in der ganzen Stellung des jungen Menschen sofort eine anziehende, jugendlich-natürliche Grazie entdeckte. Er hatte die Beine über einander geschlagen; der linke Arm ruhte unter seinem Nacken, während der rechte neben ihm im Grase lag; das Kinn war erhoben und wies einen starken, vollen Hals, aber der Hut lag über den Augen, sodaß außer Mund und Kinn von seinem Gesichte nichts zu sehen war. Seine ländliche Kleidung zeigte hier und da einen Anflug städtischer Verfeinerung.

‚Sieh doch!‘ begann ich, ‚dieser junge römische Landmann liegt da wie eine Statue.‘

Er regte sich unruhig, während wir so dicht über ihm standen, und stieß einige unverständliche Worte hervor.

‚Laß uns weiter gehen!‘ fuhr ich fort und nahm meines Gefährten Arm, ‚wir thun nicht Recht, wenn wir ihn in seiner Ruhe stören.‘

Wenzel aber wich nicht von der Stelle, und jetzt bemerkte ich, daß etwas Besonderes seine Aufmerksamkeit gefesselt hielt.

Der Schläfer hatte unwillkürlich seine Lage etwas verändert und dabei die Hand geöffnet, die im Grase ruhte. In dieser Hand lag ein ovaler, dunkelfarbiger Gegenstand von der Größe einer kleinen Tabaksdose.

‚Was hat er da?‘ fragte ich meinen Begleiter.

Dieser beugte sich nieder, um besser sehen zu können, erwiderte aber kein Wort.

Meine im Eifer ganz laut gesprochene Frage hatte den Ruhenden erweckt; er erhob seine Hand, und dem Gegenstand in derselben entfuhr ein schwacher, aber deutlicher Lichtblitz.

‚Es ist ein Edelstein,‘ sagte Wenzel, ‚vor Kurzem erst ausgegraben und noch mit Staub und Erde bedeckt.‘

Der junge Eingeborene richtete sich langsam auf, schob seinen Hut zurück und starrte uns an. Er rieb sich die Augen, warf dann einen Blick auf seinen Edelstein – wenn es ein solcher war –, schob darauf die Hand mechanisch in die Tasche und lächelte zu uns empor.

‚Ich muß wissen, was er da hat,‘ murmelte Wenzel und musterte dabei den jungen Menschen mit scharfem Blicke.

Wenzel war ein Curiositätensammler und hatte als solcher bereits sämmtliche Alterthümer- und Trödler-Geschäfte Roms durchsucht. Er suchte in den Alterthümern weder Schönheit noch historischen Werth, sondern einzig und allein künstliche und mühevolle Arbeit – sonderbar genug!

‚Guten Tag!‘ rief ich jetzt unserem Findling zu. ‚Wir wollten Sie nicht stören; wir kamen ganz zufällig hier vorüber.‘

Der Angeredete schüttelte sich, stand auf und blickte uns unter seinen dunklen Locken hervor noch immer lächelnd an. Es lag etwas Kindisches, ja etwas Einfältiges in diesem Lächeln, und im ersten Augenblicke kam mir die Idee, daß wir hier wohl einen Schwachsinnigen vor uns hätten. Der Mensch war jung, aber kein eigentlicher Jüngling mehr; seine Augen waren groß und dunkel, aber sie blickten harmlos und gutmüthig, und seine geöffneten Lippen zeigten weiße, feste Zähne, seine Gesichtsfarbe ein bleiches Braun. Der lockige Kopf saß auf einer hohen, breitschulterigen Gestalt, und so erschien er, Alles in Allem, als ein so hübscher, stattlicher Vagabond, wie man ihn sich nur immer für den Vordergrund einer italienischen Landschaft wünschen kann.

‚Sie haben aber heute Ihren Schlaf noch nicht verdient,‘ begann Wenzel und deutete auf die leere Jagdtasche.

Der junge Mann blickte auf sein Jagdgeräth nieder und dann in Wenzel’s Gesicht; er fuhr sich durch die Haare und lachte.

‚Ich will auch gar nichts schießen,‘ sagte er. ‚Ich nehme die alte Flinte nur mit, um Etwas in der Hand zu haben. Mein Onkel brummt den ganzen Tag, weil ich nichts zu thun weiß, wenn er mich aber mit der Flinte abgehen sieht, dann glaubt er doch, daß ich wenigstens etwas für die Küche mit nach Hause bringen werde. Er weiß nämlich gar nicht, daß das Schloß an dem Dinge hier zerbrochen ist; wenn ich auch Pulver und Schrot hätte, die alte Muskete ginge doch nicht los. Und wenn ich hungrig werde, dann lege ich mich in’s Gras und schlafe.‘

Damit wandte er sich um und blickte grinsend auf sein eben verlassenes Lager.

‚Meinem Onkel,‘ fuhr er fort, ‚fällt es auch niemals ein, mich zu fragen, was ich mitgebracht habe; der ist ein gar frommer Mann und lebt nur von Schwarzbrod und Bohnen.‘

‚Wer ist Ihr Onkel?‘ fragte ich.

‚Der Padre Girolamo zu Ariccia.‘

Nunmehr unterzog er unsere Hüte und Reitgerten einer eingehenden Besichtigung; dann stellte er eine Reihe von Fragen über unsern Ritt und unsere Pferde, über den Miethspreis der letzteren, und schließlich ging er an die Thiere heran, um sie zu streicheln und zu befühlen.

‚Der Kerl hat ganz sicher ein Kleinod in der Tasche,‘ sagte Wenzel. ‚Sieh’ nur – jetzt zieht er’s wieder hervor. Er muß es hier irgendwo gefunden haben; in dem Boden der Campagna stecken noch ungezählte Schätze.‘

Wir näherten uns unserem neuen Bekannten, und als wir wieder dicht neben ihm standen, versteckte er, kindisch und verlegen lachend, die Hand, welche den Stein hielt, hinter seinem Rücken. Wenzel runzelte die Stirn.

‚Der Kerl ist ein Idiot,‘ rief er ärgerlich. ‚Meint ich, daß wir ihm das Ding hinterrücks entreißen werden?‘

‚Was haben Sie da in der Hand,‘ fragte er freundlich. ‚Dürfen wir’s nicht sehen?‘

‚Welche Hand wollen Sie?‘ lachte der Italiener.

‚Die rechte.‘

‚Die linke,‘ sagte Wenzel, als der Andere zögerte.

Der Italiener sah uns noch einen Augenblick ungewiß an, dann aber brachte er das Ding zum Vorschein. Wenzel nahm es in die Hand, wischte es mit dem Taschentuche sorgfältig ab und beugte dann seine kurzsichtigen Augen darüber. Ich wartete ohne Neugierde auf das Resultat seiner Untersuchung und beobachtete inzwischen den Neffen des Padre Girolamo. Der blickte meinen Freund ernsthaft an, zog die Brauen zusammen und bemühte sich augenscheinlich, seinen Verstand und Witz zu Rathe zu halten, um Wenzel’s jedenfalls vielversprechenden Bericht über die Art und den Werth des Steines sogleich recht aufzufassen und zu verstehen. Jetzt bemerkte ich auch, daß Wenzel’s Antlitz vor Erregung und Eifer geröthet war, und sofort brachte ich auch meine Nase über den Stein. Derselbe hatte ungefähr die Größe und Gestalt eines kleinen Hühnereies, war von mattbrauner Farbe, zum Theile mit einer festen, mißfarbigen Kruste überzogen und voll von Unebenheiten auf der Oberfläche. Wenzel setzte allen meinen Fragen ein beharrliches Schweigen entgegen und ließ sich in seinem Kratzen, Wischen und Poliren gar nicht stören. Endlich fragte er trocken und gleichgültig:

‚Wo haben Sie das Ding her?‘

‚Gefunden hab’ ich’s, dort weiter unten, in der Erde.‘

Und der junge Mensch streckte mit einer fast ängstlichen Bewegung seine Rechte aus, um seinen Schatz zurückzunehmen. Wenzel schwankte einen Moment, dann aber legte er den Stein wieder in die Hand seines Eigenthümers; dabei heuchelte er instinctiv die vollkommenste Gleichgültigkeit. Der Italiener stierte den Stein aufmerksam an, wendete ihn um und um und verbarg ihn dann wieder hinter seinem Rücken. Von Neuem spielte das einfältige Lächeln um seine weißen Zähne.

‚Das ist ein Zufall, wie er sich in Jahrhunderten nicht zum zweiten Mal ereignen kann,‘ murmelte Wenzel mir leise zu.

‚Aber so sprich doch! Was ist’s mit dem Steine?‘ fragte ich ungeduldig.

‚Schweig’! Ich wage es gar nicht auszusprechen, wenn auch der Kerl da offenbar kein Deutsch versteht – das Ding ist immens – vorausgesetzt, daß ich es richtig erkannt habe – und hier steht so ein grinsender Vagabond und hat das erste Anrecht darauf. Was machen wir mit ihm? Ich hätte nicht übel Lust, ihm mit dem Kolben seiner alten Mustete den dicken Schädel einzuschlagen.‘

‚Ich bin überzeugt, daß er dir das Ding verkauft, wenn Du ihm genug dafür bietest.‘

‚Wenn ich ihm genug dafür biete! Haha! Wie kann er wissen, was hier genug oder nicht genug ist!? Topas oder Kiesel – was weiß er davon?‘

‚Also ein Topas ist’s ?‘

‚Halt’ den Mund und nenne hier Niemand bei Namen! Der Kerl muß den Stein für einen Kiesel verkaufen – darauf kommt es an. Frag’ ihn, wo er ihn gefunden hat‘

Ich fragte ihn, und nun erzählte unser brauner Gefährte sehr bereitwillig und unter stetem Lächeln alles, was wir wissen wollten: er hatte heute in einem alten, einsamen Weidenbaume die frischen Spuren eines Blizstrahls entdeckt – das Wetter war [759] in der That eine Woche lang ungewöhnlich schwül gewesen und hatte sich vor einigen Tagen in einem schweren Gewitter entladen. Er fand den Baum fast zersplittert und die Erde um seine Wurzeln tief aufgerissen. Der Blitzstrahl selber hatte ein senkrechtes Loch hinterlassen, als ob ein Pfahl dort im Boden gesteckt hätte.

‚Ich weiß nicht, wie ich dazu kam,‘ fuhr er fort, ‚aber während ich in das Loch hinein starrte, schob ich auch zugleich den Lauf meiner alten Flinte hinab. Da stieß ich tief unten auf einen harten Gegenstand; ich stieß noch einmal, und es klang wie Metall. Aha, sagte ich mir, da unten ist etwas verborgen, das muß untersucht werden. Mit einem breiten Splitter des Weidenbaumes fing ich an zu scharren und zu graben, und nach einer halben Stunde fischte ich einen kleinen, verrosteten, eisernen Kasten herauf, der aber schon so mürbe und zerfressen war, daß ich ihn stellenweise mit den Händen eindrücken konnte. Inwendig fand ich feuchte Erde und eine Anzahl ganz verrosteter Eisenplättchen, die vielleicht von früheren Fächern herrühren mochten, und dann diesen Stein. Weiter nichts. Den zerbrochenen Kasten ließ ich liegen und den Stein habe ich behalten. Ecco!‘

Wenzel nahm den Stein, allerdings mit geringschätzigem Achselzucken, noch einmal in die Hand, wobei unser neuer Freund betheuerte, daß derselbe mindestens tausend Jahre alt sei; Julius Cäsar habe ihn in seiner Krone getragen.

‚Julius Cäsar trug überhaupt keine Krone, mein lieber Freund,‘ erwiderte Wenzel herablassend und gutmüthig. ‚Das Ding hier mag tausend Jahre alt sein, es kann aber ebenso gut auch nur zehn Jahre alt sein. Es kann ein Feuerstein sein; es kann auch ein – Achat sein. Ich weiß es nicht. Wollen Sie es auf die Gefahr hin verkaufen?‘

Bei diesen Worten warf er den Stein drei Mal hoch in die Luft und fing ihn ebenso oft wieder auf.

‚Ich bilde mir ein, daß er sehr werthvoll ist,‘ antwortete der junge Mann. ‚Hier in der Gegend werden alle Tage kostbare Sachen gefunden – warum sollte ich nicht auch einmal das Glück haben, wie so mancher Andere, und was Rechtes finden? Warum mußte der Blitz gerade in den Baum schlagen und in keinen andern? Weil mein Schutzpatron, der heilige Angelo, ihn gerade für mich dorthin gelenkt hat.‘

Er war gar nicht so einfältig, wie er aussah.

‚Wenn Du wirklich den Stein haben willst,‘ sagte ich zu Wenzel, ‚dann mach’ ihm Dein Gebot, damit die Sache zu einem Ende kommt!‘

‚Damit die Sache zu einem Ende kommt!‘ wiederholte Wenzel, ‚– das ist leicht gesagt.‘

Er überlegte einen Augenblick; dann steckte er entschlossen den Stein in seine Brusttasche, zog seine Börse hervor und warf langsam zehn Silberscudi, einen nach dem andern, in das Gras. Angelo – so hieß der Italiener – sah die Münzen fallen, machte jedoch keine Bewegung dieselben aufzunehmen. Aber seine Augen fingen an zu glänzen und in seinem Innern begannen Einfältigkeit und Verschlagenheit die Frage zu erörtern: Was thun? Verkaufen oder nicht verkaufen?

Das Häuflein Silber sah gar verlockend aus, andererseits aber wollte er auch kein schlechtes Geschäft machen. Er blickte Wenzel mit einem so bittenden Ausdruck in’s Gesicht, daß ich ganz gerührt davon wurde. Auch Wenzel blieb nicht kalt dabei; denn nach kurzem Zögern warf er noch einen weiteren Scudo klingend zu den übrigen. Angelo holte tief und enttäuscht Athem, mein Begleiter aber wendete sich kurz ab und setzte den Fuß in den Bügel. Gleich darauf saßen wir Beide im Sattel. Angelo stand regungslos und starrte auf das Geld.

‚Sind Sie zufrieden?‘ fragte Wenzel trocken.

Der Italiener lächelte seltsam.

‚Haben Sie ein gutes Gewissen?‘ fragte er mit einem Ausdrucke zurück, der in eigenthümlichem Gegensatze zu seinem vorherigen einfältigen Wesen stand.

‚Unverschämter Mensch,‘ schrie Wenzel, ganz roth in Gesicht. ‚Was geht Sie mein Gewissen an?‘

Damit gab er seinem Thiere die Sporen und sprengte, den Stein sicher in der Tasche, davon. Ich grüßte Angelo mit der Hand und folgte langsamer. Nach einer Weile blickte ich zurück. Der Italiener stand noch immer auf demselben Flecke und starrte uns nach. Er hatte das Geld augenscheinlich noch nicht angerührt.

Ich holte meinen Freund ein und ritt schweigend neben ihm her; ich grübelte über diesen eigenthümlichen Handelsabschluß; mir erschien die Geschichte nicht in der Ordnung. Wenzel legte Werth auf den Besitz des Steines, Angelo ebenfalls, und zehn Scudi und einer darüber waren nur ein elender Preis für etwas, das einem werthvoll ist. Nur mit Ueberwindung ging ich an den Gedanken heran, daß Wilhelm Wenzel, der Mann von sonst geradezu rauher Ehrlichkeit, sich hier zu einer Handlungsweise hatte hinreißen lassen, die zum Mindesten einer sehr künstlichen Erklärung und Entschuldigung bedurfte. Und mit dieser Erklärung rückte er auch schließlich heraus, halb ärgerlich und zornig, weil er sehr wohl wußte, daß seine Logik einen ziemlich grotesken Anstrich hatte:

‚Nur heraus damit!‘ begann er heftig; ‚sprich’s nur aus, um Himmelswillen! Ich weiß, was Du auf der Leber hast – ich habe den Tölpel dort hinten übervortheilt, nicht wahr? Und nun bin ich um Nichts besser als der erste beste Schwindler, he? Na, laß Dir aber sagen, daß ich durchaus keine Gewissensbisse darüber fühle, daß ich den Stein so billig erlangt habe! Hier hieß es: entweder zehn Scudi oder Nichts! Der Heller, den ich mehr geboten, hätte dem Menschen die schläfrigen Augen geöffnet. Also in die Tasche mit allen Bedenken, und zur That! Dem Dummkopf hätte man einen solchen Schatz nicht eine halbe Stunde länger anvertrauen dürfen; wer weiß, was sonst daraus geworden wäre. Und darum rettete ich das Kleinod, im Interesse der Kunst, der Wissenschaft und des Geschmacks.‘

‚Freund!‘ unterbrach ich ihn.

‚Laß nur!‘ fuhr er eifrig fort. ,Ich weiß schon – den vollen Preis dafür zu bieten hätte ich mir nicht einfallen lassen dürfen; denn wo sollte ich zehntausend Scudi hernehmen, um dafür ein Spielzeug zu kaufen? Und hätte ich mich verleiten lassen, hundert zu bieten, dann hätte unser pittoresker, dickköpfiger Freund sicherlich sogleich die Ohren gespitzt und den Stein fest gehalten. Er hätte sich Bedenkzeit erbeten und wäre spornstreichs in sein Dorf und zu dem verschmitzten alten Pfaffen, dem Onkel Girolamo, gelaufen. Der hätte die Weisen des Dorfes zu einem Conclave zusammengerufen, und es wäre vielleicht beschlossen worden, daß man sich nach Rom begäbe und den Signore Castellani oder den Director der königlichen Ausgrabungen zu Rathe ziehe. Irgend ein Schlaufuchs hätte von der Sache Wind bekommen und dem Padre Girolamo in’s Ohr geraunt, daß sein hübscher Neffe durch ein Gotteswunder zu Reichthum und Ansehen gekommen sei und nun auch eine Contessina heirathen könne. Und was wäre mir dann für meine Mühe geblieben?‘

‚Aber – –‘ warf ich ein.

‚Nichts von einem Aber!‘ unterbrach er mich. ‚Siehst Du, Freund, ich habe die Sache viel vernünftiger entschieden. Der Stein ist mein geworden; der kluge Angelo kann mit seinem Gelde vier Wochen lang lustig sein und dann meinetwegen wieder schlafen gehen. Mehr Geld würde ihn nur verdorben haben. Außerdem habe ich die Contessina gerettet; ich bin überzeugt, daß er sie nach acht Tagen schon geprügelt hätte. Auf diese Weise ist also alles in schönster Harmonie und Ordnung, und Du, mein Freund, willst allein ein finsteres Gesicht machen? Ich fühle mich durchaus ruhig, ich bin jetzt weder reicher noch ärmer. Ich bin nicht ärmer, weil ich die elf Scudi als ein Geschenk betrachte, das ich einem guten, harmlosen Kerl gereicht, damit er sich einen vergnügten Tag damit mache; ich bin auch nicht reicher, weil ich niemals den Stein zu Gelde machen werde. Hier liegt der Ehrenpunkt. Das Ding ist ein Stein und weiter nichts, und der ganze Genuß, den ich davon zu haben gedenke, wird der sein, daß ich die entzückten und funkelnden Augen der Leute beobachte, welchen ich das blitzende Kleinod zeigen und denen ich dabei erzählen werde, was für ein Kleinod es eigentlich ist.‘

‚Und was für ein Kleinod ist es denn nun, im Namen alles dessen, was den Menschen demoralisiren kann?‘ fragte ich in hoher Ungeduld.

Wenzel kicherte vergnügt vor sich hin.

‚Geduld!‘ sagte er und legte seine Hand auf meinen Arm. ‚Warte, bis ich ihn Dir eines Abends unter die Lampe lege und ihn funkeln lasse! Dann wird er Dir selber sagen, weß Geistes Kind er ist. Aber erst muß ich meiner Sache sicher sein,‘ fügte er, plötzlich ernst werdend, hinzu.

Während des Restes unseres Heimrittes sprachen wir nicht mehr viel. Wir waren bald zu Hause. Ich verlor die nächsten [760] Tage über das erlebte Abenteuer, das mir viel zu denken gab, nicht aus dem Gedächtnisse. – –

Inzwischen waren Wochen vergangen. Wenzel dachte nicht daran, seinen Stein einem Kunstverständigen oder einem Archäologen zu zeigen. Er erkundigte sich vielmehr ganz unter der Hand danach, wie antike Gemmen am besten zu reinigen und wieder aufzufrischen seien, beschaffte die nothwendigen Werkzeuge und Säuren und schloß sich sodann mit seinem Schatze ein. Ich stellte keine Fragen und ließ ihn gewähren, aber ich merkte es ihm an, daß er sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht sah. Er pfiff und sang vor sich hin, wie Einer, der endlich die Dame seines Herzens errungen hat. Und so oft ich ihn hörte oder sah, trat mir das Bild Angelo’s vor die Seele, wie er uns nachstarrte, als wir an jenem Tage, wie ein Paar Buschklepper in der Ballade, mit seinem Kleinode auf und davon ritten.

Wir wohnten seit längerer Zeit in einem und demselben Hause. Eines Abends hatte ich mich soeben zur Ruhe begeben, als mein Freund zu mir hereinkam und mich mit solcher Hast und Gewalt aus dem Schlafe rüttelte, als stände das ganze Haus in Flammen. Ich errieth den Zweck seines Erscheinens, noch ehe er den Mund geöffnet hatte; schnell schlüpfte ich in den Schlafrock und folgte ihm in sein Zimmer.

‚Es war mir unmöglich, meinen Triumph bis morgen früh für mich zu behalten,‘ sagte er mit unterdrücktem Jubel; ‚vorhin habe ich die letzte Hand angelegt – dort liegt er in seiner ganzen kaiserlichen Pracht!‘

Und da lag er, unter der Lampe, auf einem Kissen von weißem Sammet, ein feuersprühender, wundervoller Goldtopas.

Wenzel schob mir ein Vergrößerungsglas in die Hand und drückte mich dann in den vor dem Tische stehenden Stuhl nieder. Ich nahm den Stein unter die Lupe. In der Mitte seiner ovalen Oberfläche sah ich eine nackte Figur, die ich anfänglich für eine heidnische Gottheit hielt. Dann aber gewahrte ich den Erdball, die Kugel der Herrschaft, in der einen ausgestreckten Hand der Figur, in der andern aber das fein modellirte kaiserliche Scepter und auf ihrer niederen Stirn die Lorbeerkrone. Rings um die Fläche, an dem ovalen Rande hin, zog sich ein Kranz von vielen verschlungenen Gestalten von Kriegern, Rossen und Wagen, von jungen Männern und Weibern, über dem Haupte des großen Bildes aber, innerhalb der concaven Figurenguirlande, stand die Inschrift:

DIVUS TIBERIUS CAESAR TOTIUS ORBIS IMPERATOR.

‚Der göttliche Cäsar Tiberius,‘ sagte ich erstaunt, ‚der Gebieter des ganzen Erdkreises!‘

‚Ja, ein Stein des Tiberius!‘ bekräftigte mein Freund Wenzel.

Die Steinschnitzerei war mit bewunderungswürdiger Meisterschaft ausgeführt; das starke Vergrößerungsglas zeigte mir jede einzelne Figur in jener vollkommenen Vollendung, wie man sie nur bei den berühmtesten der antiken Marmorstatuen findet. Dazu war die Farbe des Steines von fleckenlosester Reinheit, und wie ich ihn jetzt in seiner ganzen Herrlichkeit vor mir sah, erschien mir seine Größe fast fabelhaft. Das war in der That das Kleinod der Kleinode – ein Schatz von fast unermeßlichem Werthe.

‚War’s nicht der Mühe werth, aus dem Bette aufzustehen, um hier die Bekanntschaft des Kaisers Tiberius zu machen?‘ rief Wenzel, nachdem er sich an meinem Erstaunen geweidet hatte. ‚Auf die Kniee, rothhaariger Barbar! Du stehst hier vor dem allmächtigen Herrscher der Welt. Habe ich diese Pracht mit meinen Lumpen und Lappen, mit meinen kleinen Feilen und mit all dem andern Kratzzeug nicht doch endlich an’s Licht geschafft? Jahrhunderte habe ich beseitigt und einen totius orbis imperator wieder an’s Licht gebracht. Kannst Du es fassen, Freundchen? Pocht Dein Herz nicht höher an die Rippen? Sicherlich noch nicht so, wie es sich gehört. Hier hat der Cäsar den Stein getragen‘ – er zeigte auf seine Brust – ‚nicht weit von der Schulter, und in ciselirtes Gold war das Kleinod gefaßt, besetzt mit Perlen, so groß wie Pflaumen – und so hielt es die beiden Seiten seines golddurchwirkten Mantels zusammen. Die Agraffe war’s des kaiserlichen Purpurs. Zittere, Wurm!‘ Und er nahm das funkelnde Juwel und hielt es gegen meine Brust. ‚Keinen Widerspruch – kein Aber – keine Spitzfindigkeiten, oder wir sind von Stund’ an Todfeinde! Du wolltest fragen, woher ich das Alles so genau weiß, he? Ich weiß es, weil es nicht anders gewesen sein kann. Verstanden? Das Kleinod ist zu köstlich, als daß es einem anderen Zwecke gedient haben könnte. Es ist der schönste Intaglio in der ganzen Welt. Und er hat mir alle seine Geheimnisse erzählt; während dieser ganzen Woche hat er mir täglich stundenlang classisches Latein in’s Ohr geflüstert.‘

‚Hat er Dir auch erzählt, wie er in den eisernen Kasten und unter die alte Weide gerathen ist?‘

‚Natürlich, und noch viel mehr als das, und mehr, als ich Dir jetzt wiedererzählen kann. Begnüge Dich zunächst damit, seine unvergleichliche Schönheit zu bewundern!‘

‚Fürwahr,‘ rief ich endlich, ‚dies ist der wundervollste aller bekannten Intaglios!‘ wenngleich ich nicht so fest wie mein Freund davon überzeugt sein konnte, daß wirklich Kaiser Tiberius den Stein getragen.

Wenzel schwieg eine Weile. Endlich rief er:

‚Aller bekannten? Sage lieber: aller unbekannten! Niemand soll je davon erfahren. Dich verpflichte ich hiermit zu immerwährendem Schweigen. Ich werde den Stein keinem menschlichen Auge zeigen – meine Braut ausgenommen, wenn ich jemals eine solche besitzen sollte.‘

Seine Braut! Sonderbarer Gedanke! Hielt ich es doch beinahe für selbstverständlich, daß mein Freund lebenslang ohne jene bessere Hälfte einherwandeln würde, etwa wie Peter Schlemihl ohne seinen Schatten. Und doch! Wie bald sollte die Zeit diese meine Ansicht corrigiren!“


(Fortsetzung folgt.)




Die Mecklenburger Herzogskinder bei „Frau Rath“.

Von Robert Keil.

Zu den interessantesten Episoden im Leben von Goethe’s Mutter gehört ihr Verkehr mit den Fürsten und Fürstinnen der Zeit, welche ihr theils durch ihren berühmten Sohn, theils durch den Zufall zugeführt wurden. Wie stets – mochte sie sich nun schlichten Menschen oder den Großen dieser Welt gegenüber befinden – so waren der Frau Rath auch hier, in ihren Beziehungen zu den allerhöchsten Kreisen, alle süßen, faden Redensarten, alle Schmeicheleien und Höflichkeitslügen durchaus zuwider. Wie sie dachte und fühlte, sprach sie auch, und genau so, wie sie sprach, schrieb sie, unmittelbar und geradezu. Ebendarum sind ihre originellen Briefe so wichtige, treue Belege ihrer Anschauung und ihres Charakters. An Fräulein von Göchhausen schrieb sie in einem ihrer drolligen Knittelvers-Briefe:

„Lirum larum Dudelsein,
Lassen wir die großen Männer sein
Und reden jetzt zu dieser Frist,
Wie uns der Schnabel gewachsen ist!“

So wie der Schnabel ihr gewachsen war, verkehrte sie, die frohe, lebhafte „Frau Aja“, mit dem Herzog Karl August, verkehrte sie mit der Herzogin Anna Amalie von Weimar, sowohl in ihren Briefen an dieselbe wie auch persönlich, als diese sie in Frankfurt besuchte; sie stand stets zu Beiden in innigem Verhältnis

„Ihro Durchlaucht“ – schrieb sie der Herzogin zum Beispiel am 22. October 1782 – „können ersehen, daß Frau Aja immer noch so ungefähr Frau Aja ist, ihren guten Humor beibehält und alles thut, um bei guter Laune zu bleiben. Den ganzen Winter Schauspiel! da wird gegeigt, da wird trompetet – ha! den Teufel möchte ich sehen, der Courage hätte, einen mit schwarzem Blut zu incommodiren!“

Dies war der Ton, in welchem Frau Rath an die Herzogin Amalie schrieb, und in gleich herzlichem Tone antwortete die geistvolle, lebensheitere Fürstin. Wie jeder Brief der Frau Rath ein wahres Fest am Weimarischen Hofe war, so war für die wackere Frankfurterin jeder Brief der Herzogin eine innige Freude. Eine

[761]

Die vierzehnjährige Prinzessin Louise mit ihrem elfjährigen Bruder am Brunnen der Frau Rath Goethe in Frankfurt am Main.
Originalzeichnung von Professor Paul Thumann.

[762] Reihe ihrer reizenden, herzlichen Briefe habe ich in meinem Buche „Frau Rath. Briefwechsel von Katharina Elisabeth Goethe“ (Leipzig, 1871) mitgetheilt. Die Herzogin berichtete ihr über die Weimarischen Festlichkeiten und über das Befinden und die Dichtungen des „Freundes Wolf“, „des Hätschelhans“ (Goethe’s), von den Aufführungen des „Jahrmarkts von Plundersweilern“ und der „Iphigenie“, und sandte ihr, der „lieben Frau Aja“, Arien, Gemälde für das „Weimarische Zimmer“, ja sogar Strumpfbänder und einen Geldbeutel, die sie mit eigener Hand für „die liebe Mutter“ gefertigt hatte. Einen der Briefe schickte sie ihr durch ihren Sohn Prinz Constantin, „einen jungen Menschen, der noch nicht ganz flügge ist“, und mit Beziehung auf die in Frankfurt stattgehabten Krönungsfeierlichkeiten, welche für Frau Rath stets von großem Interesse waren, schrieb Anna Amalia am 13. Juli 1783 wörtlich nach Frankfurt:

„Was soll ich Ihnen schreiben, Liebste Frau Aja! nachdem Sie mit Kayser, Ertzherzogen, Fürsten, und allen Teufel sich herum getrieben haben, was kan Ihnen Wohl weiter interessiren? – man muß aus dem hohen F. F. mit Ihnen sprechen, aber leider bey uns pasirt gar nichts, sogar kein ausländisches Thier gehet durch Weimar, geschweige den ein Kayser. Doch mein Herz sagt mir, daß Frau Aja bey allem Gaudium Frau Aja geblieben, daß sie doch seitwärts Blicke voll Liebe und Freundschaft auf die Entfernten geworffen hat, und ewig die Liebe gute Mutter ist und bleiben wird. Amen!“

Nicht weniger als fünf Kaiserkrönungen erlebte Frau Rath in Frankfurt. Sie alle boten ihr, um mich ihres Leibausdruckes zu bedienen, ein „großes gaudium“, die interessanteste und in ihren Folgen bedeutungsvollste von allen wurde aber für sie die vierte Kaiserkrönung, diejenige vom Jahre 1790; denn sie führte ihr neue, liebenswürdige fürstliche Gäste zu, mit denen sie in dauerndes, inniges Verhältniß trat.

Am 20. Februar 1790 war Kaiser Joseph der Zweite gestorben. Sein Tod machte, wie Frau Rath dem Sohne der Frau von Stein schilderte, die Stadt Frankfurt zu einem lebendigen Grabe. Vier Wochen hindurch ertönten täglich zweimal die Trauerglocken so ergreifend, „daß man weinen mußte, man mochte wollen oder nicht.“ Dann aber setzten die herannahende Kaiserkrönung und deren Vorbereitungen die ganze Stadt und mit ihr die echte Frankfurterin Frau Rath in Spannung und Aufregung. Am 11. Mai schrieb sie: „Im Juli ist die erste Auffahrt zur Wahl; das giebt ein groß Spectakel. Mein Haus wird von oben bis unten vollgepfropft.“ Einige Wochen darauf, am 12. Juni, machte sie, von dem Wunsche erfüllt, daß ihr Sohn und Friedrich von Stein zu den großen Festtagen nach Frankfurt kommen möchten, ihrem jungen Correspondenten Friedrich die anschauliche Schilderung: „Eine Berechnung, wieviel der Aufenthalt während der Krönung hier kosten möchte, ist beinahe ohnmöglich zu bestimmen, soviel ist gewiß, daß eine einzige Stube den Tag ein Karolin[1] kosten wird, das Essen den Tag unter einem Laubthaler gewiß nicht. Zudem ist auch die Frage, ob ein Cavalier, der unter keiner Begleitung eines churfürstlichen Gesandten ist, Platz bekommt, denn unsre besten Wirthshäuser werden im Ganzen vermiethet. … Wenn Leopold Kaiser werden sollte, so mag Gott wissen, wo die Leute alle Platz kriegen werden, denn da kommen Gesandte, die eigentlich nicht zur Krönung gehören, als der Spanische, Neapolitanische, von Sicilien einer etc. – Bei mir waren die Quartierherren noch nicht, – ich traue mir deswegen nicht vor die Thür zu gehen und sitze bei dem herrlichen Gotteswetter wie in der Bastille, – denn wenn sie mich abwesend fänden, so nähmen sie vielleicht das ganze Haus, denn im Nehmen sind die Herren verhenkert fix, und sind die Zimmer einmal verzeichnet, so wollte ich’s keinem rathen, sie zu anderem Gebrauche zu bestimmen. – Sie werden doch mit meinem Sohne kommen? Eine Stube sollen Sie haben, aber freilich müßten Sie sich begnügen, wenn’s auch drei Treppen hoch wäre, – was thäte das, wir wollen doch lustig sein.“

So kamen die großen Kaiserfesttage heran. Am 30. September wurde Leopold zum Kaiser gewählt; am 9. October wurde er mit altem feierlichem Pompe gekrönt, und erst sieben Tage darauf verließ er die festliche Stadt wieder. Weder Friedrich von Stein noch Goethe traf zu diesen Feierlichkeiten in Frankfurt ein, aber das Goethe-Haus erhielt anderen, gar lieben Festbesuch:

Prinz Karl von Mecklenburg-Strelitz, der nachherige Herzog, von Jugend auf dem großbritannisch-hannöverischen Kriegsdienste geweiht und in diesem bis zur Würde eines Feldmarschalls gestiegen, hatte seine erste Gattin Friederike, die durch hohe Geistesbildung ausgezeichnete Tochter des Landgrafen Georg Wilhelm von Hessen-Darmstadt, die ihm blühende Kinder geschenkt, im Jahre 1782 durch den Tod verloren. Er hatte den Kindern in der jüngeren Schwester seiner dahingeschiedenen Gattin, Charlotte, eine zweite Mutter gegeben. Als aber auch diese schon im Jahre 1785 gestorben war, war er aus dem activen Militärdienste getreten und hätte seinen Wohnsitz von Hannover nach Darmstadt verlegt. Hier genossen die Kinder, namentlich die beiden jüngsten Töchter Louise (nachherige Königin von Preußen) und Friederike, sowie der dritte Sohn Georg (später Großherzog von Mecklenburg-Strelitz), der Pflege der würdigen Großmutter, der schon verwittweten Landgräfin von Hessen-Darmstadt. Unter deren Aufsicht leitete Demoiselle Gelieux, aus der Schweiz gebürtig, als Hofmeisterin die Erziehung der Kleinen. Dort, an dem wegen seiner edeln Einfachheit und Verehrung von Wissenschaft und Kunst allgemein hochgeschätzten Hofe, entwickelten sich die Kinder, die in ihrem jungen Leben schon so schwere Verluste zu erleiden gehabt hatten, in erfreulichster Weise.

Als nun im Jahre 1790 die Festtage der Kaiserkrönung herankamen, reisten die Prinzessinnen Louise (damals vierzehn Jahre alt) und Friederike und – wenn man der Mittheilüng Bettina’s Glauben schenken darf – auch der elfjährige Prinz Georg unter Begleitung von Demoiselle Gelieux, zu der glänzenden Feierlichkeit nach Frankfurt. Gleich den vielen anderen während der Kaiserkrönung zu beherbergenden Fürstlichkeiten wurden sie von Seiten der Stadt auf bestimmte Wohnung angewiesen, und zwar wurden die mecklenburgischen Fürstenkinder, als die Verwandten der Königin von England, im sogenannten hannöverschen Viertel bei Frau Rath Goethe einquartiert.

Frau Rath, seit dem Jahre 1782 Wittwe und damals neunund fünfzig Jahre alt, hatte sich leiblich wie geistig die ihr eigemthümliche Frische erhalten. Ihr Aeußeres hat sie selbst einmal in einem Briefe an Friedrich von Stein vom 9. September 1784 folgendermaßen beschrieben:

„Von Person bin ich ziemlich groß und ziemlich corpulent, habe braune Augen und Haare und getraute mir die Mutter von Prinz Hamlet nicht übel vorzustellen. Viele Personen, wozu auch die Fürstin von Dessau gehört, behaupten, es wäre gar nicht zu verkennen, daß Goethe mein Sohn wäre. Ich kann das nun eben nicht finden, doch muß etwas daran sein, weil es schon so oft ist behauptet worden.“

Die Aehnlichkeit zwischen ihr und ihrem Sohne hatte schon im Jahre 1778 der Musiker Johann Friedrich Kranz, der sie in Frankfurt gesehen, in einem Briefe an sie bei Schilderung von Goethe’s Spiel auf dem Weimarischen Liebhabertheater bemerkt:

„Eines muß ich wegen großer Aehnlichkeit zwischen Ihnen und ihm doch melden. Goethe als Andrason kömmt vom Orakel …. O, wenn Sie ihn nur da hätten sehen sollen! Augen, Geberden, Ton, Gesticulation – Alles in Allem, sage ich Ihnen. Ich war gar nicht mehr im Orchester, ganz in der Atmosphäre von Casa santa.“

In den Tagen der Kaiserkrönung hatte sie noch ihren frischen Humor, ihren lebhaften, muntern Geist, ihren leichten, heitern Sinn, ihren derben Mutterwitz, ihr weiches, warmes Herz, ihr freundliches, tiefes Gemüth. Sie, welche „die Menschen sehr lieb hatte und immer die gute Seite auszuspähen suchte“, hatte an Anderer Freude selbst herzliche Freude. Ihr Haus war stets gastfrei; sie konnte sich rühmen, „daß noch keine Menschenseele mißvergnügt von ihr weggegangen, weß Standes, Alters und Geschlechts sie auch gewesen.“

Mit Freude empfing sie die ihr zugewiesenen fürstlichen Kinder. Die Ankunft derselben war ein wahres Fest für das Goethe-Haus; denn die anmuthigen Kinder hatten sofort das ganze Herz der Frau Rath gewonnen. Sie that ihnen Alles zu Liebe, zu Gefallen und zur Unterhaltung. Ohnehin war sie dem Verkehre mit der Jugend zugethan. So plauderte, spielte und schaffte sie denn auch ganz jugendlich mit den Fürstenkindern und gewann sich mit diesem herzigen Wesen gar bald die Liebe derselben. Auch an sorglicher Bewirthung ließ sie es nicht fehlen, aber [763] besser als alle Delikatessen mundete den Kleinen die bürgerliche Kost der Frau Rath. Einmal, als sie sich Eierkuchen gebacken hatte und ihn zu verzehren im Begriffe war, kamen die Kinder und sahen ihr zu, und dies Gericht reizte ihren Appetit dermaßen, daß sie, als sie ihnen davon zu essen gab, zu großem Ergötzen der Frau Rath es verspeisten, „ohne ein Blatt zu lassen“. Für Frau Rath war und blieb es ein „Hauptspas“, und den Kindern blieben die Eierkuchen unvergeßlich; noch nach Jahren gedachten sie der Lust, mit der sie dieselben verzehrt, und wie köstlich sie ihnen geschmeckt hatten.

Eine gleich reizende Scene spielte sich einmal im Hofe ab.

Der Hof, in den man von der Hausflur über zwei Stufen abwärts gelangte, war zwar ein beschränkter, von Gebäuden umschlossener Raum, aber ein stilles und kühles Plätzchen, und der Hausbrunnen bot den Kindern die schönste Gelegenheit zu Kurzweil und Spiel. War das ein Vergnügen, so recht nach Herzenslust pumpen – in Darmstadt hatten sie ja solche Gelegenheit nicht, und wäre das auch der Fall gewesen, so hätte die fürstliche Etikette die Benutzung derselben unmöglich gemacht. Doch auch hier drohte ihrem harmlosen Spiele Gefahr: die Hofmeisterin Demoiselle Gelieux machte Miene, die Kinder abzurufen, Frau Rath aber war ihr Schutz. Klug und weise, wußte sie „durch alle möglichen Argumente“ die Hofmeisterin abzuhalten, und endlich, als diese nicht mehr darauf Rücksicht nahm und kein anderes Mittel gegeben war, brauchte Frau Rath Gewalt: sie schloß die Demoiselle Gelieux im Zimmer ein. So konnten nun die jungen Prinzessinnen und der kleine Prinz ungestört „sich im Hof am Brunnen recht satt Wasser pumpen“.

„Ich hätte,“ sagte Frau Rath nachher darüber, „mir eher den ärgsten Verdruß über den Hals kommen lassen, als daß man sie in dem unschuldigen Vergnügen gestört hätte, das ihnen nirgendwo gegönnt war, als in meinem Hause.“

Die vierzehnjährige Prinzessin Louise und ihr elfjähriger Bruder am Brunnen der Frau Rath in heller Kinderlust – das ist die Scene, welche Thumann’s Meisterhand auf beifolgendem Bilde so allerliebst dargestellt hat.

Ueberglücklich waren die Kinder, so lange sie im Goethe-Hause logirten, und beim Abschied sagten sie es denn auch der liebevollen Frau Rath, daß sie nie vergessen würden, wie glücklich und vergnügt sie bei ihr gewesen.

Die großen Frankfurter Festtage waren vorüber; Frau Rath konnte an Friedrich von Stein schreiben:

„Nach dem großen Wirrwarr, den wir hier hatten, ist’s jetzt wie ausgestorben. Mir ist das ganz recht; da kann ich meine Steckenpferde desto ruhiger galoppiren lassen. Ich habe deren vier – wo mir eins so lieb ist wie’s andere, und ich ofte nicht weiß, welches zuerst an die Reihe soll. Einmal ist’s Brabanter Spitzenklöppeln, das ich noch in meinen alten Tagen gelernt, und eine kindische Freude darüber habe; dann kommt das Clavier; dann das Lesen und endlich das lange aufgegebene, aber wieder hervorgesuchte Schachspiel.“

Zu den Mecklenburger Fürstenkindern und deren Familie war und blieb aber Frau Rath seitdem in innigem Verhältnisse. Prinz Karl, der Vater, verehrte ihr für die so freundliche Aufnahme seiner Kinder eine prachtvolle Dose mit seiner Brillantchiffre. Zwei schöne Tassen, welche, von Frau Rath lange als werthe Andenken bewahrt, nach ihrem Tode in die Hände ihrer alten Dienerin Lieschen übergingen und sich jetzt in meinem Besitze befinden, sollen Zeichen der Dankbarkeit der beiden Prinzessinnen sein. So oft die letzteren nach Frankfurt oder in dessen Nähe kamen, besuchten sie die liebgewonnene Frau Rath, und diese war nicht wenig stolz auf „ihre Prinzessinnen“ und nahm stets für dieselben entschieden Partei.

Als Louise, fünfzehn Jahre alt, mit ihrer Großmutter einen Besuch beim Kurfürsten von Mainz machte und dort in einem blauseidenen Kleide mit „spitzen Aermeln“, wie man sie damals nannte, in das Zimmer trat, stürzte Frau von Guttenhofen, geborene Gräfin Hatzfeld, eine berühmte Schönheit am Mainzer Hofe, auf die junge Prinzessin mit den Worten zu:

„Wissen Sie wohl, Prinzeß, daß man hier nicht mit langen Aermeln herkommen kann?“

Sofort gefaßt, erwiderte ihr Louise:

„Ich thue alles nach den Befehlen meiner Großmutter, und so hab’ ich auch angezogen, was sie mir befohlen.“

Der Auftritt machte doch einen unangenehmen Eindruck auf sie, und niemals ist sie wieder dort gewesen. Frau Rath vernahm den Vorfall mit großem Unmuth und sprach lebhaft für ihr Prinzeßchen. Wie sie ihrem Unwillen nach Jahr und Tag Ausdruck gab, werden wir später sehen.

Schon am 1. März 1792 starb Kaiser Leopold der Zweite, und am 14. Juli wurde sein Sohn als Franz der Zweite zum Kaiser gekrönt. Es war die letzte Kaiserkrönung, welche die Frau Rath erlebte. Auch die mecklenburgischen Prinzessinnen nahmen an der Feierlichkeit wieder theil, und wohnten sie auch diesmal nicht im Goethe-Hause, so erfreuten sie doch die Frau Rath mit ihrem Besuche.

Im März des nächsten Jahres kamen beide auf der Rückreise von Hildburghausen nach Darmstadt wieder nach Frankfurt. Dort lernte der damalige Kronprinz von Preußen Friedrich Wilhelm die nun siebenzehnjährige Prinzessin Louise kennen und wurde von ihrer Schönheit und Anmuth, von ihrem Geist und Gemüth gefesselt. Wie in späterer Zeit zwei preußische Prinzen mit dem Schwesternpaar von Weimar sich verbanden, so erfolgte damals, am 24. April 1793 die Doppelverlobung in Darmstadt: Friedrich Wilhelm mit Louise, sein Bruder Ludwig mit Friederike. Mit lautem Jubel vernahm Frau Rath die frohe Kunde. Bald darauf weilten beide Prinzessinnen als Bräute mit ihren Verlobten und deren Vater wieder zu Frankfurt. Rahel nennt sie „die beiden schönsten Fürstinnen Deutschlands, holde, blonde, liebe Engel“.

Der König hatte im Theater seine Loge neben derjenigen der Frau Rath Goethe. Sie fehlte natürlich im Theater nicht; ihr Herz frohlockte, daß ihre Prinzeßchen so schönen und vornehmen Prinzen vermählt werden sollten; sie mußte ihrem Logennachbar zeigen, wie nahe sie den hohen Bräuten befreundet war. Wie drollig sie dabei verfahren und die vom Herzog von Mecklenburg empfangene Dose dazu verwandt hat, das hat sie selbst nachher ihren fürstlichen Freundinnen anschaulich erzählt; Friederike hat in liebevoller Erinnerung die Worte der Frau Rath noch nach Jahren wiedergegeben:

„Ich nehme meine Dose, geh’ in’s Theater und stelle sie mit draufdrückender Hand fest auf den Logenrand; der König sieht nichts. Ich nehme eine Prise, setze die Dose näher an den König, und sehe ihn an; er sieht nicht auf die Dose hin; er hat mehr dergleichen gesehen. Ich nehme sie abermals, setze sie noch näher und sehe wieder den König an; endlich blickt er auf die Dose, und wie er sie gesehen hat, sagt er ganz gütig: ,Ei! Madame Goethe, was haben Sie da für eine schöne Dose!’ Ja, Ihre Majestät, antworte ich, die hab’ ich auch von meinen Prinzessinnen von Mecklenburg.“

Und so mußte der König ihre Freude wissen, und die Sache war gelungen.

Am 24. December 1793 wurde Louise mit Friedrich Wilhelm vermählt, und im Jahre 1797 wurde sie die allgeliebte Königin von Preußen. Ihre Freundschaft zu Frau Rath blieb innig wie früher, und als sie im Sommer 1799 nach Frankfurt kam, ließ sie durch ihren Bruder Georg die Frau Rath zu sich einladen. Prinz Georg kam um Mittag zu Frau Rath, die inzwischen, durch die Kriegsunruhen veranlaßt, das Goethe’sche Haus verkauft und ein schönes Logis am Roßmarkt, der Hauptwache gegenüber, im sogenannten „Goldenen Brunnen“ bezogen hatte. Dort speiste der nun zwanzigjährige Erbprinz, der soeben die Universität Rostock verlassen hatte, bei der guten Alten, an deren kleinem Tische in traulicher Unterhaltung über die vergangenen frohen Tage, und lustig klangen die Gläser. Um sechs Uhr holte er sie in einem Wagen „mit zwei Bedienten hinten auf“ in den Taxis’schen Palast zur Königin, deren Schwester die Fürstin von Thurn und Taxis war, und Frau Rath meldete darüber am 20. Juli ihrem Sohne nach Weimar: „Die Königin unterhielt sich mit mir von vorigen Zeiten – erinnerte sich noch der vielen Freuden in meinem vorigen Hauß – der guten Pfannekuchen etc.“

Um jene Zeit mag sich wohl auch die ergötzliche Scene zugetragen haben, in welcher Frau Rath ihren alten Unwillen über Frau von Guttenhofen und das Ereigniß am Mainzer Hofe zum Ausdruck brachte. Königin Louise, die in Wilhelmsbad verweilte, lud die Frau Rath Goethe aus Frankfurt dahin ein; diese leistete der Einladung Folge und saß eines Tages im Brunnensaal neben der Königin, während „aller Welt Menschen“ (erzählt die Schwester Friederike) sich einfanden und ihre Huldigungen darbrachten. Frau [764] Rath hörte nicht auf, nach den ihr unbekannten Personen zu fragen: „Wer ist die? wer ist das?“ Und wie sie wieder nach dem Namen einer Dame fragte, die eben gesprochen hatte, antwortete die Königin:

„Frau von Guttenhofen!“

„Die Frau von Guttenhofen?“ fuhr sofort Frau Rath lebhaft und in größter Wuth auf; „die Frau von Guttenhofen, die so grob war? Lassen Ihro Majestät ihr nun gleich befehlen, sie soll sich ihre Aermel abschneiden!“

Auch im Juni 1803 sah Königin Louise die hochbetagte Freundin in Frankfurt wieder und erfreute sie durch das Geschenk eines goldenen Halsbandes.

Mit dem Prinzen Georg, dem Freunde ihres Sohnes, stand Frau Rath in Briefwechsel. In einem in meinem Besitze befindlichen Briefe vom 20. August 1805 schreibt er ihr von Charlottenburg aus in alter Herzlichkeit: „Da ich weiß, daß Sie Ihrem alten Freunde Gerechtigkeit widerfahren lassen, so würde es mir unmöglich seyn, Ihnen meine Freude Ihres lieben Briefes wegen mit den gewöhnlichen Schnörkeln auszumahlen. Ich sage Ihnen lieber, daß ich darin ganz meine alte, liebe Räthin erkannt habe, die Frau, von der es mich nie gewundert hat, daß sie uns Goethe gebahr …. Bleiben Sie mir nur immer recht gut und recht lang noch hier auf Erden – damit wir noch oft die Gläser anklingen können, wenn ich durch Frankfurth komme, zum Angedenken der schönen, alten Zeit; denn ich glaube nun mit ziemlicher Gewißheit bestimmen zu können, daß ich wohl immerdar der Alte bleiben werde. Die Königin, welche mich versichert, Sie mit herzlicher Freude in Frankfurth wiedergesehen zu haben, grüßt Sie schönstens, und ich – wenn Sie’s erlauben – umarme Sie nach alter Uebereinkunft auf alte deutsche Weise.“

Leider sollte sein Wunsch, die Frau Rath möge, „noch recht lang hier auf Erden“ bleiben, nicht in Erfüllung gehen. Wohl sah er sie im Februar oder März 1808 in Frankfurt noch einmal wieder. Er trat bei ihr gleich mit den Worten ein: „Frau Rath, werd’ ich heut’ Abend mit Ihnen einen Specksalat mit Eierkuchen essen?“ und gedachte der unvergeßlichen Krönungstage, der Brunnenlust und der eingeschlossenen Hofmeisterin. Doch schon wenige Monate später, am 13. September 1808, schied die wackere Frau aus dem Leben. Am 19. Juli 1810 folgte ihr die liebenswürdige königliche Freundin Louise. Prinz Georg aber, seit 1816 Großherzog von Mecklenburg-Strelitz, bewahrte der „alten lieben Räthin“ alle Zeit treues Andenken, und noch im Jahre 1822 erzählte Friederike, die damalige Herzogin von Cumberland (nachherige Königin von Hannover), zu Teplitz in vertrautem Kreise in treuer, liebevoller Erinnerung, ja mit kindlicher Nachfreude, von der guten Frau Rath und von der herzlichen Aufnahme, die sie einst bei ihr als Einquartierung im Goethe-Hause gefunden hatte.




Eine verschollene Universität.

Die Empfindung von der erhebenden Wahrheit des Dichterwortes: „Die Stätte, die ein guter Mensch betrat, ist eingeweiht –“ ergriff mich in ihrer ganzen Stärke, als ich die Straßen des alten braunschweigischen Städtchens Helmstädt durchwanderte und mich unter den Wölbungen seiner ehrwürdigen Häuser von den Geistern jener erleuchteten gelehrten Männer umwehen ließ, welche fast drei Jahrhunderte lang hier gearbeitet und geschaffen, gestrebt, gerungen und durch ihr Wort und Beispiel weit hinaus in’s deutsche Vaterland gewirkt haben.

Helmstädt! Wie Wenigen ist der Name überhaupt geläufig, und doch war diese reizend unter dem Elm gelegene braunschweigische Stadt bis in das erste Jahrzehnt unseres Jahrhunderts der Sitz einer Universität, welche einst eine glänzende Blüthezeit durchlebte und nicht nur durch eine Reihe berühmter Docenten, sondern auch durch die große Anzahl ihrer Studenten, die sich zeitweise auf 2000 steigerte, eine geistige Macht repräsentirte.

Die thüringischen, noch mehr aber die Städte des Harzes, vor Allem Braunschweig, zeigen in ihrer ganzen Anlage und ihrem Häuserbau fast durchgängig noch jenen unmittelbaren Charakter des späten Mittelalters und der Reformationszeit, welcher in anderen Städten des deutschen Nordens bis auf wenige Ausnahmen gänzlich geschwunden ist; wenn man sich in eine jener gewundenen Straßen oder auf einen der entlegeneren Plätze hinstellt, wo nicht moderne Kaufläden und Schilder störend in das alte Bild hineinragen, so glaubt man sich vollständig in die „gute alte“ Zeit zurückversetzt und erwartet jeden Augenblick, daß ein Hochweiser mit Sammetbarett, kurzem schwarzen Mantel und Schnabelschuhen oder eine Patricierfrau mit der hohen Spitzenhaube, gepufften Aermeln, knappem Mieder und dem vergoldeten Gebetbuche in der Hand uns entgegentreten müsse.

Helmstädt, zum Theil eine neue Stadt, trägt in seinen älteren Straßen noch ganz jenen Charakter der Reformationszeit; wir freuen uns an manchem charakteristischen Holzbau, an den mehrere Fuß über einander nach der Straße vortretenden Stockwerken, an Giebeln und Schnitzereien, an Inschriften, Figuren und Wahrzeichen; kaum können wir hier eine Straße zu Ende gehen, wo nicht an einem jener Häuser eine große Steinplatte mit goldener Inschrift die kurze Lebensgeschichte jener verdienten Männer erzählt, welche in diesen Häusern gewohnt und – um es gleich dazu zu sagen – docirt haben; denn die Collegien fanden in den Privatwohnungen der Docenten statt, eine Einrichtung, die sich manche Professorenfrau heute entschieden verbitten dürfte; die Gelehrten hatten in ihren Mauern ihre ganze geistige Werkstatt, Bibliothek und Laboratorium, hatten nicht die Störung des Umkleidens und des wenn auch nicht großen Weges nach der Universität, ein Moment, welches bei den riesenmäßigen Arbeiten der Gelehrten des sechszehnten und siebenzehnten Jahrhunderts gewiß in Betracht gezogen zu werden verdient. Das Universitätsgebäude, die sogenannte Julia Carola, war nämlich bei weitem nicht groß genug, daß sie für mehr als ein paar hundert Studenten hätte ausreichen können. Das jetzt in jenes Gebäude verlegte Gymnasium giebt nur etwa 250 Schülern Platz.

[765] Sämmtliche Tafeln an den Häusern, wie auch die Universität selbst und alle Gebäude, die zu ihr eine Beziehung haben, tragen als Wappen einen Simson, welcher einem grimmigen Löwen den Rachen aufreißt; hinter Mann und Thier sieht man eine Sonne mit den Worten: ex forti dulcedo (Süßigkeit von dem Starken). Dieses von Kaiser Maximilian verliehene Siegel brachte zuwege, daß man alle Diejenigen, welche nicht unter diesem Zeichen standen, also alle Nichtakademiker, mit dem Namen der von Simson bekämpften Philister belegte, eine Sitte, die noch heute durch ganz Deutschland auf allen Universitäten herrscht und deren Zurückführung auf das Städtchen Helmstädt gewiß Wenigen geläufig ist.

Der Stifter der Universität, dessen Bild und Gestalt uns in der Aula und in den vielen Reliefs und Statuen an der Façade des Gebäudes entgegentritt – ich benutze einen sehr ausführlichen, nach authentischen Quellen gearbeiteten Aufsatz des Montagsblattes der „Magdeburger Zeitung“ von 1876 – war der 1529 geborene Herzog Julius von Braunschweig, ein bedeutender Fürst, der, an der Grenzscheide des alten und neuen Glaubens stehend, gegen seinen streng katholischen Vater einen Kampf auf Tod und Leben durchzufechten hatte.

Die „Julia Carola“ (Theatrum Musarum) in Helmstädt. Originalzeichnung von G. Sundblad.

Aehnlich wie bei Friedrich Wilhelm dem Ersten und Friedrich dem Zweiten, spitzten sich in diesen beiden Männern die Gegensätze alter und neuer Zeit derartig zu, daß der junge ketzerische Herzog, für den bereits das Gewölbe zu seiner Einmauerung hergerichtet war, sich vor dem Tode nur durch eine gefahrvolle Flucht retten konnte. Die feste Ueberzeugung, der damals erschrecklichen Unwissenheit der Geistlichkeit nur durch die Gründung einer Hochschule im Herzogthum Braunschweig abhelfen zu können, ließ ihn die Ausführung dieses Planes mit großer Energie betreiben, und so konnte er schon im Jahre 1576 an der Spitze eines aus Fürsten, Grafen, Prälaten, Ritterschaft und Abgeordneten bestehenden farbenprächtigen berittenen Zuges der feierlichen Eröffnung der Universität Helmstädt als ihr Rector perpetuus im schwarzen „bischöflichen Habit“ beiwohnen. Bei seinem Tode, dreizehn Jahre später, hatte die Akademie bereits vier Theologen, fünf Mediciner, sechs Juristen und neun Philosophen zu Lehrern. Die Nachfolger dieses Herzogs hüteten das junge aufblühende Unternehmen mit großem Eifer.

So wurde unter seinem Sohne Heinrich Julius, der, ein wahres Wunderkind, schon in seinem zehnten Jahre die gelehrtesten Professoren in die Enge getrieben haben soll, der prächtige Bau des „Theatrum Musarum“ aufgeführt, der uns noch heute im Wesentlichen erhalten ist – ein Gebäude, wie es zu jener Zeit keine andere deutsche Universität auszuweisen hatte. Derselbe ist nach dem Vorbilde der Oxforder Universität in edlem Renaissancestil gebaut und macht mit seinen säulen- und statuengezierten, den Unterbau kranzartig umgebenden Erkern, seinen mächtigen, mit zierlichem Maßwerk durchflochtenen Fenstern, den beiden wappengeschmückten Portalen und dem zierlichen, hohen, mit steinerner Gallerie umgebenen Treppen- und Uhrthurm einen höchst harmonischen Eindruck. Unter dem Gebäude zieht sich ein Weinkeller hin – damit, wie der Herzog bestimmte, „die Studenten lernen sollen, daß Bacchus von ihnen mit Füßen getreten werden müsse.“

Der Schrecknisse des Dreißigjährigen Krieges, welchen eine große Anzahl öffentlicher Lehrinstitute erliegen mußte, ungeachtet, blühte die Universität weiter und glänzte während derselben durch ein Trifolium von Docenten, theilweise Schülern von Melanchthon, auf dem Gebiete der humanistischen Studien, durch Johann Caselius, den man den „Phönix Deutschlands“ nannte, ferner durch Cornelius Martini und vor Allem durch Georg Calixt, den hochangesehenen theologischen Gelehrten und Redner, einen Apostel der Milde und Toleranz, welcher, beweint „als der Universität Ehrensäule, das edelste Kleinod des lieben Vaterlandes“, und mit Titeln und Einkünften, wie nie zuvor ein Professor, gesegnet, 1656 zu Grabe getragen wurde.

Fast noch als Zeitgenosse von ihm glänzte der berühmte Polyhistor, „das Wunder des Jahrhunderts“, wie auf seinem Grabsteine steht, ein zweiter Faust, „der Theologie, Juristerie, Philologie und Medicin Doctor, Redner, Poet, Geschichtsschreiber“, gar einzig in seiner Art – Herman Conring. In allen Gebieten hatte er Hervorragendes geleistet, durch seine eminente publicistische Thätigkeit die Aufmerksamkeit auswärtiger Könige erregt und war bei diesem weitumfassenden Geiste so unscheinbar von Gestalt, daß er zu allerlei Anekdoten Veranlassung gab, die man sich heute noch in Helmstädt von ihm erzählt. So wartete einmal vor seinem Hause am Ziegenmarkt die herzogliche Equipage nebst Vorreiter, um ihn nach Wolfenbüttel abzuholen. Als Conring sich dem Wagen naht, fragt der Kutscher:

„Nun, Kleiner, willst Du denn auch mit?“ – und sagt, als sich der Geheimrath lachend vorstellt: „Na, wenn das ist, da hätten wir doch nicht vierspännig vorzufahren brauchen; Sie hätte ich in meiner Kiepe nach Wolfenbüttel tragen können.“

Ein einziges Mal, während des Dreißigjährigen Krieges, im Jahre 1626, waren die Vorlesungen für ein Semester eingestellt worden, weil die Professoren vor dem Eindringen von Heeresabtheilungen noch dem festeren Braunschweig geflohen waren, die Studenten aber meistentheils Kriegsdienste genommen hatten, um von der Beute im Wintersemester zu studiren. Darnach aber wuchs die Zahl der Akademiker bis auf die imponirende Zahl von 2000, welche allerdings schon bei Gelegenheit des hundertjährigen Jubiläums 1676 wieder auf die Hälfte zurückgegangen war.

Diese Säcularfeier, welche die ruhmreiche Thätigkeit von dreißig Theologen, achtunddreißig Juristen, dreiundzwanzig Medicinern und zweiundsechszig Philosophen registriren konnte, wurde unter dem feierlichen Geläute aller Glocken der Stadt und dem Schalle der Pauken und Trompeten, in Gegenwart einer großen Menge Festtheilnehmer kirchlich und akademisch, durch Umzüge, Bankette, die Promotion von zwanzig Doctoren, Chorgesänge, Denkmünzenprägung und, was den Vergnügungen jener Zeilen immer einen humanen Zug beifügte, eine große Armen-Speisung begangen.

Das zweite Jahrhundert des Bestehens der Universität glänzte durch das Wachsen der inneren Einrichtungen. Die Bibliothek war durch die Munificenz der gelehrten Herzöge auf 6000 Bände angeschwollen, besaß eine Zahl Originalcodices lateinischer Schriftsteller, handschriftliche Chroniken und Correspondenzen, unter ihnen namentlich die Briefe Luther’s und Melanchthon’s. Auch Luther’s Brautring mit dem Motto: „Was Gott zusammengefügt, soll niemand scheiden“ – wurde als Schatz verwahrt. Die Anatomie, die Bildergallerie, astronomische und astrologische Globen, Atlanten, physikalische Instrumente und allerlei Curiositäten, wie sie selbst in den Arsenalen der Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts nicht fehlen durften, erregten in der ganzen gebildeten Welt Aufsehen. [766] Das Rectorat über die Universität Helmstädt hatte seit der Theilung der braunschweigischen Dynastie zwischen den beiden Geschlechtern abgewechselt, doch hatte dieses Verhältniß bei der Ungleichheit an Macht und Mitteln zu vielen Mißhelligkeiten und Reibereien geführt, die schließlich im Jahre 1737 mit der Gründung der Universität Göttingen durch die kurfürstliche Linie ihren Ausdruck fand. Nun hatte die Julia, oder wie sie zu Ehren des um sie viel verdienten Herzogs Karl des Ersten nunmehr hieß: Julia Carola, trotz der wärmsten Pflege doch einen schweren Stand, indem sie siebenachtel der Bevölkerung, auf die sie angewiesen war, verloren hatte. Dennoch lebte der alte Ruhm, welcher am Anfang des Jahrhunderts durch den großen Pandektisten Augustin Leyser und den Theologen und berühmtesten Prediger seiner Zeit Johannes Laurentius von Mosheim neue Nahrung erhalten, in einer Nachblüthe fort, welche bedeutende Namen zeigte.

War auch die Zahl der Studenten auf ein paar hundert gefallen und erreichte solche nur zur Zeit, als während des siebenjährigen Krieges Göttingen militärisch besetzt war, ausnahmsweise die Ziffer 800, so zeugen doch die häufigen und eigenthümlichen Verordnungen, Einrichtungen und Verbote von dem frischen akademischen Leben und dem von oben herab vielleicht allzu sehr gepflegten studentischen Corpsgeist.

Wir finden da wiederholte Verwarnungen an die Bürgerschaft, „keinem Studioso ohne Vorwissen seiner Eltern oder Vorgesetzten baares Geld, es sei solches noch so wenig, zu leihen, bei Aufhebung jedes Rechtsschutzes und willkürlicher Strafe. Versetzte Waaren oder andere Galanterien sollen sofort weggenommen werden, und nur der Credit einer Vierteljahrsmiethe und Kost, Kleidung bis 20 Thalern, Schneider- und Schusterarbeit für Thaler 10 – und Bier und Wein für Thaler 4 soll erlaubt sein“. Bei dem damals billigen Bierpreise konnte man sich für dieses Geld übrigens schon einen ganz respectablen Spitz holen.

Alle ungebührliche Familiarität mit den Bürgern, gemeinschaftliche Gelage, Spiele, Brüderschaften und Divertissements wurden auf’s Schärfste verboten. Die öffentlichen Plätze mußten im Interesse der Herren Studiosi anständig und ruhig erhalten werden. Die Bürgerschaft mußte ihnen ausweichen, das Singen, Schreien, das Umherlaufen im Schlafrocke, mit brennender Pfeife war ihnen aber untersagt. Die jungen Leute waren, wie man sieht, die Herren von Helmstädt, das von ihnen allerdings einen Theil seiner Einnahmen bezog, und führten in dem ruhigen, reizend gelegenen Städtchen ein echt akademisches Leben. Sie arbeiteten in ihren engen Kammern, hörten in den Häusern der Professoren Collegien, speisten zum großen Theile an den von Inspectoren beaufsichtigten Freitischen gemeinsam und fanden auf den Promenaden und in den Waldungen um die Wälle der Stadt Zerstreuung und Sammlung. Das Duelliren und Commersiren war streng verpönt und konnte nur in großer Heimlichkeit betrieben werden.

In der zweiten und letzten Epoche waren es besonders folgende Männer, welche die lernbegierige Jugend um sich versammelten: vor Allem der berühmte Chirurg Lorenz Heister, einer der bedeutendsten Vertreter der Chirurgie im vorigen Jahrhundert, sodann der Historiker und Publicist Franz Dominicus Haeberlein, besonders durch seine umfassende Arbeit der „Deutschen Reichsgeschichte“ berühmt, und sein durch reiche Literatur noch berühmterer Sohn, der Staatsrechtslehrer und Publicist Karl Friedrich Haeberlein, ferner der namhafte protestantische Kirchenhistoriker Heinrich Philipp Conrad Henke und der viel kritisirte, viel verkannte und doch hochberühmte Gottfried Christoph Beireis. Dieser Letzterwähnte, ein Mann, dessen interessantes blasses Gesicht und große schwarze Augen uns noch heute aus einem halbvergilbten Portrait in der einstigen Aula anziehen, war Professor der Physik, Medicin und Chirurgie, Hofrath und Leibarzt des Herzogs, ein vielseitig hochgelehrter und aufopfernder Menschenfreund, ein Original: mit hechtgrauem Rocke und schneeweißem Jabot sah man den kleinen Herrn nur auf Krankenbesuchen, denen er bei Arm und Reich, unbekümmert um Wetter und Zeit, bis zu seinem im Alter von neunundsiebenzig Jahren 1809 erfolgten Tode unermüdlich oblag. Unverheirathet, mit einem einzigen treuen Diener lebend, liebte er es, sich mit einem Nimbus des Wunderbaren zu umgeben, welcher ihn schon oft zum Romanhelden gemacht hat. Der Verkauf und die Verwerthung einiger wichtigen Erfindungen in der Darstellung von Carmin im Auslande hatte ihn ein Vermögen eingetragen, welches er zu seiner weitberühmten Naturalien- und Kunstsammlung verwendete. Dort paradirte die berühmte Vaucanson’sche automatische, fressende und verdauende Ente, die übrigens in neuester Zeit aufgefunden und von dem St. Petersburger Curiositätencabinet von Gaßner angekauft worden sein soll, ein Stein, den er als einen Diamanten von 6400 Karat bezeichnete – der spurlos verschwunden ist –, die Guericke’sche Luftpumpe, Münzcabinete, Gemäldesammlungen und allerlei Wunderlichkeiten, auf deren Besitz er sehr stolz war und die auch Goethe bei einem Besuche des sonderbaren Mannes besichtigte. Er verblüffte gern seine Gäste; so soll er einmal die Farbe der Livreen der aufwartenden Diener aus roth in blau verwandelt haben; wer die eiserne Thürklinke seines stets geschlossenen Hauses berührte, bekam – eine liebenswürdige Ueberraschung, besonders für nervöse, den Arzt consultirende Damen – einen elektrischen Schlag versetzt.

Nun, noch steht das vornehme Haus dieses Gelehrten, aber seine Thür ist weit offen; Geschäftslocale sind hier, wie in den Hallen der meisten ehemaligen Professorenhäuser etablirt worden. So ging es auch mit der Universität selbst: das Gehäuse blieb erhalten, aber der Inhalt dieses Zusammenflusses von strebenden Geistern ist längst ausgestorben.

Als im Anfange unseres Jahrhunderts das braunschweigische Land dem Königreich Westfalen unter Jerôme einverleibt wurde, war die Aufhebung der Helmstädter Hochschule eine beschlossene Sache. Da entstand Verzweiflung in dem damals noch sehr vollzähligen Lehrkörper, unter den Studirenden, in der Bürgerschaft; es gab Reisen, Experten, Vorstellungen. Versprechungen, Hoffnungen und am Schlusse doch unerbittlich das Todesurtheil in Gestalt eines vom 10. December 1809 datirten Decretes:

„In unserem Königreiche sollen in Zukunft nur drei Universitäten sein, nämlich die zu Göttingen, Halle und Marburg, mit welchen diejenigen zu Helmstädt und Rinteln sollen vereinigt werden.“

So wurde ein leuchtender Feuerbrand wissenschaftlicher Bildung und hochbedeutender Förderung freier Forschung aus einander gerissen, aber die brennenden Scheite sind nicht ausgelöscht, sondern haben, wo sie niederfielen, weiter Flamme und Wärme gespendet. Nicht lange blieb der Herd verödet: ein wohl renommirtes Gymnasium hat in den geweihten Räumen der Universität Einzug gehalten, eine große landwirthschaftliche Schule, eine Bürgerschule, ein lutherisches Jungfrauenstift und eine gute Mädchenschule vereinigen in dem heute wohlhabenden industriellen Städtchen eine verhältnißmäßig große Anzahl lernender Jugend. Die meisten Bürgerfamilien haben einige dieser jungen Leute mit ihren in allen Farben schillernden Kappen in Pension, und in den freundlich lichten Räumen des ersten Stockwerkes stehen die Reste der noch immer ansehnlichen Bibliothek – wohl selten werden diese Bücher heute noch consultirt. Die werthvolleren Werke sind nicht mehr vorhanden. In dem Städtchen lebt kaum noch Jemand, der sich an die glanzvolle Zeit erinnert, die kaum vor siebenzig Jahren ihren Abschluß fand: Jeder geht seinen Geschäften nach – für die Interessen vergangener Tage fehlt dem Lebenden, der mit dem Heute und Morgen rechnet, doch die innere Beziehung – und der Fremde wird angestaunt, der vor den Häuser-Inschriften stehen bleibt, welche von Helmstädts glänzender Zeit Zeugniß geben.

Und es ist gut, daß es so ist. – Nur der rückhaltlose Bruch mit ausgelebten Vorstellungen kann den frischen Zug des Wachsthums erzeugen, welcher heute in allen Städten düstere Wälle und enge Gassen durchbricht, gesunde Wohnungen, luftige breite Straßen und grüne Parke hervorzaubert. Sagt doch unser idealster Dichter in richtiger Würdigung dieser Verhältnisse:

„Wir, wir leben – unser sind die Stunden,
Und der Lebende hat Recht.“

Oscar Justinus.[WS 1]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: I/Jnstinus
[767]

Populäre heimische Vögel auf der Anklagebank.

Eine praktische vogelkundliche Untersuchung.
Von Gebrüder Adolf und Karl Müller.
(Fortsetzung.)
2. 0Die Ueberhandnahme des Haussperlings.

In gewissem Sinne ist der Haussperling unter den gefiederten Wesen dasjenige, welches sich – wie der Hund unter den Säugethieren – den menschlichen Verhältnissen am meisten anzuschließen versteht. Er hat dem Gebieter der Erde Manches abgesehen und von ihm Mancherlei gelernt – aber umgekehrt wie der intelligente und treue Hund – im Verkehr mit dem Menschen sich hauptsächlich nur schlechte Gewohnheiten angeeignet.

Der Haussperling ist ein Culturvogel, und sein Bestehen knüpft sich eng an den Ackerbau: nur in Gegenden des landwirthschaftlichen Betriebs und unter Verhältnissen, welche diesem Vogel wesentlich die Nahrung aus Feld- und Gartenerzeugnissen bieten, nistet er sich ein; er vermehrt sich dort zusehends. Wenn wir schon im Jahre 1873 in unserem Werke „Die einheimischen Säugethiere und Vögel nach ihrem Nutzen und Schaden in der Land- und Forstwirthschaft“ im Allgemeinen zu dem Resultate kamen, daß der Schaden des Sperlings seinen Nutzen entschieden überwiege, so müssen wir kraft unserer fortgesetzten Untersuchungen und Ermittelungen dieses Urtheil heute vollauf bestätigen, ja noch schärfer als früher aussprechen:

Den Schaden, den Krähe und Dohle in großem Maßstabe anrichten, verübt unser Spatz im Kleinen. Aber die Masse, in welcher er auftritt, steigert die Verderblichkeit seines Thuns und Treibens. An Klugheit, Vorsicht und Frechheit giebt er der Krähe nichts nach, und dazu kommt, daß er sich kraft der vielfachen Beziehungen zu menschlichen Verhältnissen eine Lebenspraxis angeeignet hat, die ihn bei seinen Plünderungen nur allzu oft vor Nachstellungen schützt. Sein Naturell ist zählebig wie seine geistige Begabung vielseitig, und wie die Krähe in der Flur jede Nahrungsquelle ausfindig macht, so fühlt er sich in Haus, Hof, Garten, Haagen und Baumstücken daheim. Seine ganze nutzenbringende Thätigkeit beschränkt sich wesentlich auf die Zeit im Frühlinge, wo er seine ersten Bruten mit Insecten nährt, und zwar meistens mit Raupen. Die Nestlinge füttert er mit Kerfthieren – aber nur, so lange sie noch nackt sind; sobald sie die Kiele gestoßen haben, fängt sofort die Atzung mit Körnern, und zwar mit milchigen jungen Erbsen und Getreide, an, welche Nahrung allmählich die ausschließliche bei Jung und Alt wird. Den zweiten und späteren Bruten reicht der alte Sperling in den meisten Fällen nur Körner.

Mit dem Beginne der Kerffütterung aber fällt eine andere schädliche Bethätigung des Sperlings zusammen: er beißt freventlich die Blüthen- und Blattknospen an den Obstbäumen ab. Wenn nun neuerdings behauptet wird, daß alle abgebissenen Knospen Blüthenbohrer, wie z. B. den Apfelblüthenbohrer (Anthonomus pomorum), enthielten, so ist dies nicht zutreffend: wir haben uns wiederholt durch innere Untersuchungen frischerlegter Sperlinge davon überzeugt, daß die Masse im Kropfe vorhandener Blüthenknospen nur aus gesunden Exemplaren bestand. Das Abbeißen der Knospen artet bei diesen Vögeln in Unart, in Spielerei aus. Daß die Entdeckung eines Kerfs in den Knospen den Unhold bei solchen Ausartungen zum Abbeißen und Untersuchen von Knospen nach Insecten antreibt, wollen wir zwar nicht in Abrede stellen; denn oft genug haben wir wahrgenommen, daß er eine Zeitlang die abgebissenen Knospen im Schnabel herüber und hinüber wirft, um sie sodann fallen zu lassen. Daß er aber diese Verheerungen auch an ganz gesunden Knospen anrichtet, davon haben wir uns öfters genau überzeugt.

Unsere Hausfrauen und Gärtner ärgert der freche Eindringling gleich im Frühjahre durch Auflesen der ausgestreuten Sämereien. Vergeblich sind hier Scheuchen und Klappern aufgestellt worden, wie man sie auf den Obstbäumen zum Schutze der Früchte anwendet. Der Wohlerfahrene hat diese Popanze und Lärmmaschinen längst als ungefährliche Spielereien kennen gelernt und scheut sie deshalb absolut nicht, wie er umgekehrt die eiserne und steinerne Falle, welche ihm die Jugend stellt, respectvoll meidet. Die stillen Frühstunden oder die sonst irgendwie gesicherten Tageszeiten werden von dem Pfifficus schlau benutzt; er lockt seine Cameraden durch Rufe zu gemeinsamem unbedrohtem Handeln herbei. Unter und auf den bunt mit allen möglichen Drohungszeichen und Lärmapparaten decorirten Rabatten hebt das graue Gesindel nun frech die eben aufgekeimten Erbsenpflänzchen aus der Erde, um die angeschwollene Frucht zu verzehren oder die Jungen damit zu füttern, und wenn die Ranke die ersten Schoten treibt, dann ist der Spitzbubenhaufen der Alten mit der herangewachsenen Brut schon wieder zur Verheerung da. Ebenso fällt Monsieur Sperling häufig in den Weizen, die Gerste und den Hafer, ehe diese Früchte noch reifen, um seinen Jungen die willkommenen Körner zuzutragen. Gleich wie die Frucht des Feldes, so wird das Obst der Baumstücke und Gärten heimgesucht, und vor Allem liebt der Sperling das Steinobst; er liebt es leidenschaftlich. Zur Zeit der Reife dieser Obstart haben sich schon die meisten Bruten des Vorsommers als angehende selbstständige Spatzen zusammengeschaart und bemächtigen sich nun der besten Kirschen, Pflaumen, Aprikosen, Mirabellen, Reineclauden, Zwetschen etc., deren sie nur irgend habhaft werden können; sie schlürfen begierig den süßen Saft. Zuletzt kommen die Weintrauben an die Reihe, die von einzelnen Räubern und ganzen Räuberschaaren unter dem heimlichen Dämmer der Spaliere und des Gemäuers geplündert werden.

Vorher schon hat der Spatz in den ansehnlichen Flügen des August die Frucht- und Samenäcker, vornehmlich die den Ortschaften und Städten zunächstliegenden, überfallen. Im Hanfe, in der Hirse und dem Mohne zehntet er gehörig, sodaß unter dem Gewichte der sich niederlassenden Vögel die Halme sich beugen und zur Erde knicken am dort nach allen Richtungen hin verzerrt und verbissen zu werden. Die aufgestellten Garben umsitzt und umhängt das Diebsvolk oft wie ein grauwimmelnder Bienenschwarm den Korb. Auch das eingeheimste Getreide bestiehlt der Sperling den Winter über in den Scheunen und Diemen, wie die aufgeschüttete Frucht auf den Böden.

Was bedeutet nun die geringe Ausbeute des Vogels an Kerfen, welche er im Frühjahr macht – was bedeutet sie diesem Diebeshange nach Körnernahrung gegenüber? Was will die Leistung des im Fluge unbeholfenen Vogels beim Maikäfer-, Schmetterlings- und sonstigen Insectenfange sagen? Sie ist nicht erwähnenswerth im Vergleiche z. B. mit dem Nutzen, welchen die Saatkrähe uns durch massenhaftes Erbeuten des Mai- und Junikäfers leistet, indem sie ihn morgens mit Flügelschlägen von den Zweigen zur Erde wirft – nicht erwähnenswerth neben dem emsigen Haschen dieses Insects durch die gemeine Fledermaus. Und doch erweisen sich auch die Vertilgungen durch Krähe und Fledermaus in einem sogenannten Maikäferjahre nur als ohnmächtig. Noch weniger von Gewicht ist die nur gelegentliche und vorübergehende Ernährung des Sperlings durch Regenwürmer und Erdkerfe. Den Nutzen, welcher durch diese ganz untergeordneten Bethätigungen erzielt wird, drängt der Allesfresser wieder in den Hintergrund durch die nur wenig unterbrochenen Plünderungen in den Gehöften an ausgestellten Käsen, am Fleische und Fette der Metzgerläden, in den Vorrathskammern der Wohnungen, welche Orte alle er ebenso keck und aufgeräumt wie mißtrauisch und vorsichtig besucht, abgesehen von unzähligen anderen Diebswegen. Er lebt mit dem ganzen Volke des Hausgeflügels; ja er weiß sich sogar mit den Hofhunden zu vertragen, die ihm gern den Zehnten ihrer Futternäpfe überlassen.

Werfen wir nach der Schilderung dieser einzelnen Lebensäußerungen des Sperlings nunmehr einen Blick aus sein charakteristisches Betragen, sein Auftreten überhaupt dem Menschen und der gefiederten Weit gegenüber! Ueberall bekundet er sich als ein kecker, durch lange Duldung und Hegung immer muthwilliger und unverschämter gewordener Strolch, der vorübergehende, nicht durchgreifende Verfolgungen nur zu verhöhnen scheint, der sich mit der Miene eines übermüthigen Wohlberechtigten allerorten breit macht, wo er sich vorwitzig eingedrängt hat. Sein Losungswort heißt: ubi bene, ibi patria – zu deutsch: wo mir’s behagt und wo ich stehlen kann, da bin ich daheim, und er erweitert zu Gunsten seiner Beeinträchtigungen fremden Eigenthums diesen Spruch, indem [768] er noch hinzufügt: da will ich der Erste sein. So sehen wir ihn das beinahe fertig gebaute Nest der Hausschwalbe usurpiren und in gleicher Weise die ihm zugänglichen Nistkasten den nützlichen Höhlenbrütern zänkisch und malitiös streitig machen.

Er macht sich an allen Orten frech geltend, wohin ihn auch immer sein Diebssinn, seine Gewohnheiten, seine Launen führen mögen. Die Sucht des Sich-Hineinmischens in alle fremden Verhältnisse und Vorkommnisse der Vogelwelt, das freche, anmaßende, unruhige und lärmende Wesen des Herrn Spatzen vertreibt denn auch die lieblichsten und nützlichsten Vögel, die mit ihm unsere Wohnstätten umschwirren; ja wir sind mit dem vortrefflichen Beobachter und Kenner des Vogellebens E. F. von Homeyer zu der Ueberzeugung gekommen, daß alle zarten Sänger die Oertlichkeiten meiden und fliehen, an welchen der Sperling sein Wesen treibt.

Fassen wir nun noch die unumstößliche Thatsache in’s Auge, daß sich die Sperlinge von Jahr zu Jahr – und gerade in diesem letzten ganz besonders merklich – außerordentlich vermehrt haben, sodaß Flüge von Tausenden das Wachsthum der Felder und Gärten ernstlich beeinträchtigen, so muß entschieden der Stab über den Angeklagten ob seiner mannigfachen Unbilden gebrochen werden. Es ist von Homeyer festgestellt worden, daß 3 Morgen Weizenacker, auf 30 oder 36 Scheffel Ertrag geschätzt, bis auf 1 Scheffel Ernte durch Sperlinge zerstört wurden; es ist von uns constatirt worden, daß Gärten durch diese Vögel ihres edlen Obstes beraubt worden sind; wir haben in vielen Jahren, in besonders auffallendem Grade aber während dieses Nachsommers, Schwärme von mehreren Tausend Sperlingen über stehende Fruchtäcker, sowie über Garben Weizen, Gerste und Hafer herfallen sehen und nach kurzer Zeit diese befallenen Stätten bis auf ein Weniges zerstört gefunden. Solcher Schaden trifft in der Regel die Besitzungen unmittelbar an den Dörfern, die dann eben vollständig ruinirt werden. Der Spatz ist, wie das Kaninchen, örtlich, sporadisch in hohem Grade schädlich, aber den Werth seiner Zerstörungen zu berechnen, ist kaum möglich.

Wir haben oben gesagt, daß die Existenz des Sperlings als eines Culturvogels an die Ackerbauwirthschaft gebunden sei. Dies hat sich überall bewahrheitet, wohin auch der Mensch diesen gefiederten Räuber gebracht hat. Er ist nach Amerika, nach Australien verpflanzt worden und hat sich dort allerorts zum Schaden des Feld- und Gartenbaues erstaunlich vermehrt. Wir sehen die Einzelregierungen Neuhollands bereits eingreifen in die Reihen dieser diebischen Vogelart; denn man hat daselbst Preise für Lieferungen von Sperlingsköpfen ausgesetzt. Es wurden für je 100 Eier 2,5 Schilling und für 12 Köpfe 0,8 Schilling gezahlt, wonach in einem Zeitraume von zwei Monaten 81,600 Eier und 8000 Sperlingsköpfe eingeliefert wurden, gegenüber der dortigen Massenvermehrung des Vogels immerhin noch ein unzulängliches Resultat.

Angesichts der thatsächlich auffallenden Ueberhandnahme des Sperlings sollten in unserem Vaterlande die Regierungen nicht hinter den Behörden des Auslandes zurückstehen und die Frage ebenfalls in ernste, gründliche Erwägung ziehen; die Sächsische Kammer hat ja neuerdings die Aufhebung des Schongesetzes für den Haussperling bereits in ernste Erwägung gezogen.

Der Vermehrung dieses schädlichen Vogels muß unbedingt entgegengetreten werden. Schon die Consequenz in Hinsicht auf die Verfolgung anderer Vogelarten, eben der besprochenen Krähen und Dohlen, bedingt dies.

Bereits vor einem Jahrzehnt schlugen wir in unserem mehrerwähnten Werke vor, daß die Regierungen der einzelnen deutschen Staaten nicht gerade Vertilgungsverordnungen gegen den Sperling erlassen, die zu allerlei grausamen Ausschreitungen gegen diese Thiere führen könnten, wohl aber dem Landmanne und Weinbergsbesitzer, dem Inhaber von Gärten und Obstpflanzungen außer der Brutzeit die Freiheit der Nothwehr gegen den Spatz gestatten möchten.

Heute müssen wir einen Schritt weiter gehen und nicht allein das Erlegen des Sperlings außer der Brutzeit, sondern auch das Ausheben der Nester desselben empfehlen. Dies ist bei seinem allgemeinen Nisten an zugänglichen Oertlichkeiten der Wohn- und Hofgebäude leicht zu bewirken und hält, wenn es während mehrerer Sommer consequent und gründlich durchgeführt wird, die Vermehrung nieder. Ausrotten läßt sich der kluge, pfiffige Sperling so wenig wie der Gauner Fuchs, dem gewiß waidmännisch mit allen Kräften nachgestellt wird und der, widerstandsfähig wie er ist, trotz alledem sich siegreich behauptet. Bei allen Anstrengungen zur Verhütung der Zunahme wird der lebenszähe Spatz stets ein hinlängliches Contingent zur zeitweisen Raupenlese im Vorsommer abgeben.

Haltet die Ausbreitung des Sperlings nieder und schützt unsere Meisen, unsere Spechte und die entschiedenen Kerffresser! Das sei das Losungswort des Vogelschutzes in Bezug auf diesen argen geflügelten Dieb!

(Schluß folgt.)


Die Lachsfischereien am Columbia in Oregon.

Von Theodor Kirchhoff.

Es sind gerade siebenzehn Jahre vergangen seit jener Zeit, da ich den Lesern dieser Blätter zum ersten Male von den Lachsfischereien am Columbia, jenem gewaltigen Strome im Nordwesten der Union, erzählte.[2] Damals waren es Indianer, welche der Jagd dieses Bewohners der salzigen Tiefe bei seinen jährlich wiederkehrenden Massenwanderungen in die Flüsse jener Küstengebiete an den Stromschnellen der Dalles oblagen. Die Wildnisse des fernen Oregon haben sich seitdem in einen blühenden Culturstaat verwandelt, und meine vor mehr als anderthalb Decennien gemachten Andeutungen, daß der Lachsfischerei am Columbia im Laufe der Jahre eine großartige Entwickelung bevorstände, haben sich in einem Grade bewahrheitet, wie ich es mir damals nicht habe träumen lassen.

Als ich bei einer sich für mich alljährlich wiederholenden Geschäftsreise nach Oregon und dem Territorium Washington am Ostersonntage vorigen Jahres in Astoria, dem Emporium der Lachsfischereien am unteren Columbia, einen unfreiwilligen Aufenthalt nehmen mußte, benutzte ich die mir gegebene Mußezeit, um dort den Salmenfang und den Proceß des Präservirens der Lachse in den Lachspackereien gründlich kennen zu lernen, und will ich jetzt den Lesern dieser Blätter das Ergebniß meiner nicht uninteressanten Aufzeichnungen in möglichst klarer Weise vorlegen.

Astoria ist das Namenskind unseres weltberühmten Landsmannes, des New-Yorker Millionärs Jacob Astor. Dieses weitschauende kaufmännische Genie erkannte bereits beim Beginne unseres Jahrhunderts die Wichtigkeit des fernen nordamerikanischen Nordwestens und beschloß – es war im Jahre 1810 – an der Mündung des Columbia eine Handelsstation zu gründen, welche der damals allmächtigen Hudsonsbai-Pelzcompagnie in jenem entlegenen Lande Concurrenz machen sollte. Der Platz, den man zuerst für die Gründung des Handelsemporiums im Nordwesten bestimmte, wurde etwa 20 englische Meilen von der Mündung des Columbia an seinem linken Ufer gewählt, wo eine weitgeschweifte Bucht den über die gefährliche Barre einlaufenden Seeschiffen einen sicheren Ankergrund gewährte. Die Hoffnung des Gründers von Astoria, dort eine bedeutende Handelsstadt entstehen zu sehen, hat sich aber nicht erfüllt; es war vielmehr der 106 englische Meilen oberhalb Astoria am Willamette, einem Nebenflusse des Columbia, im Jahre 1845 gegründeten Stadt Portland vorbehalten, das Handelscentrum des Nordwestens zu werden. Könnte der alte Astor heute sein Namenskind besuchen, so würde er sich wahrscheinlich über dessen äußeren Anblick bitter enttäuscht fühlen. Aber er würde dort in der Nähe ein ganz neues Element der Größe finden, an welches er nie gedacht: eine Industrie, welche nach wenigen Jahren ihres Bestehens bereits mit Millionen rechnet und die in Astoria ihr natürliches Centrum findet: – ich meine eben die weltberühmten Lachsfischereien am unteren Columbia.

Die Stadt Astoria, welche etwa 3500 ständige Einwohner zählt, beherbergt zur Zeit des Lachsfanges fast die doppelte Zahl von Bewohnern und ist dann einer der lebhaftesten Plätze in Oregon. Im vergangenen Jahre wurde von den bei Astoria liegenden Lachspackereien (Canneries) etwas über eine Million Dollars an Fischerleute, Arbeiter etc. ausbezahlt, welche Summen

[769]

Im Kampf gefallen. Nach dem Oelgemälde von Bengt Nordenberg.

[770] dem Kleinverkehr in jener Stadt größtentheils zu Gute kommen; denn die Einwohnerschaft Astorias, aus den verschiedenartigsten Nationalitäten zusammen gewürfelt, gehört durchaus nicht zu dem Geschlechte der Philister, sondern läßt ihre schwer erworbenen Dollars auf noble Weise in den 40 Kneipen, in den Handelshäusern, den Austerstuben und anderen civilisatorischen Etablissements des auf eine große Zukunft aspirirenden Millionärstädtchens wieder unter die Leute kommen. Daß Raufereien, Schießaffairen und Stechereien in Astoria zu den Seltenheiten gehören, scheint bei einer so gemischten Bevölkerung fast unbegreiflich zu sein, ist aber dennoch der Fall, und es freut mich, dem lustigen Astoria in dieser Beziehung ein so gutes Zeugniß in diesem Weltblatte ausstellen zu können.

Ein prächtiges Schauspiel bot sich mir dar, als ich am Abend jenes Ostersonntags bei dem herrlichsten Wetter den Blick von den hinter Astoria gelegenen bewaldeten Höhen über den mächtigen Columbia schweifen ließ: ein etwa sieben englische Meilen breites Gewässer dehnte sich vor meinen Augen aus, und diese ungeheure Wasserfläche war mit mehr als 500 Segelböten bedeckt, die alle der Mündung des Stromes zustrebten, um dort bei einbrechender Nacht ihre Netze zum Fangen eines Theils der Avantgarde der diesjährigen Salmenarmee auszuwerfen. Unter mir lag Astoria mit seinen zahlreichen, auf Pfeilern in den Strom hinausgebauten Holzquais, und zu beiden Seiten der Stadt, von der unteren Bucht bis nach dem sich im Osten als dichtbewaldete Höhe in den Strom hinausschiebenden „Tongue Point“, zog sich in großen Bogen eine lange Reihe von „Canneries“ hin, d. h. von fabrikartig angelegten Anstalten zum Verpacken der Salmen. Am gegenüberliegenden Ufer des breiten Columbia erstreckten sich die malerischen, mit dichtem Waldstande bekleideten Höhenzüge im Territorium Washington und fanden in weiter Ferne ihren Abschluß in einem sich kühn aufbauenden grünen Vorgebirge, dessen Fuß der große Ocean bespült. Ich habe ein gutes Stück dieser schönen Erde gesehen, aber ich muß gestehen, daß ich kein Flußpanorama kenne, welches sich, wenn der Himmel seinen in diesen Breiten alltäglichen grauen Wolkenanzug einmal mit einem sonnigen blauen Festgewande vertauscht, an Großartigkeit mit dem des unteren Columbia messen kann.

Den Lesern soll hier jedoch keineswegs eine landschaftliche Studie geboten werden; es soll sich vor ihren Augen nur ein Bild des industriellen Treibens an den Ufern des Columbiastromes entrollen. Begleiten wir also die Armada der Segelböte auf ihrer Fahrt nach den Fischereigründen an der Strommündung! Nur vier Monate im Jahre – vom 1. April bis zum 31. Juli – ist den Lachsfischern ihr Handwerk nach den Gesetzen des Staates Oregon und des Territoriums Washington, deren Grenzscheide der Columbia bildet, gestattet. Früher und später und am Tage des Herrn können die Salmen ihre Wanderung 1000 Meilen stromaufwärts nach ihren Laichplätzen unter polizeilichem Schutze unternehmen; sie haben dann nur noch die Rothhäute an den Dallesfällen zu fürchten, welche über dem Gesetze stehen und die vorbeiflüchtenden Lachsgeschwader zu jeder Zeit mit Netz und Speer attaquiren. Wer sich für diese Art indianischen Fischfangs besonders interessirt, der möge den oben erwähnten Artikel in den früheren Jahrgängen der „Gartenlaube“ nachschlagen. Hier haben wir dagegen nur die Ausrüstung und die Thätigkeit der civilisirten weißen Lachsfischer in’s Auge zu fassen.

Jedes der Fischerböte, welche an der Mündung des Columbia auf den Lachsfang ausgehen, hat eine Besatzung von zwei Mann, einen Fischer und dessen Gehülfen. Es ist ein außerordentlich gefährliches Handwerk, welchem diese Fischerleute obliegen. Da die Salmen dort am delicatesten sind, wo sie aus dem Salzwasser in die Strommündung gelangen, so streben alle Böte darnach, ihre Netze so nahe dem Meere wie möglich auszuwerfen und dort die in den Fluß hineinschwimmenden Lachse zu fangen. Die Mündung des Columbia bildet nun aber eines der gefahrvollsten Gewässer der Welt, und die Barre des Stromes (Columbia river bar) ist das Schreckgespenst aller Seefahrer an dieser Küste. Selbst bei stillem Wetter ist es dort nichts weniger als gemüthlich, wüthet aber ein Südweststurm, so ist die Brandung auf der Barre grauenhaft.

Die Böte, welche auf den Salmenfang ziehen, benutzen stets die Nacht zur Ausübung ihres gefährlichen Handwerks, da diese die passendste Zeit für einen ergiebigen Lachsfang bildet. Einige Meilen oberhalb der Strommündung werfen die Fischer ein gewaltiges Netz aus, das eine Länge von etwa 1500 Fuß und eine Tiefe von 30 Fuß hat. Das Netz ist aber kein geschlossenes, sondern nur ein riesiger Maschenvorhang, der von circa 100 Pfund schweren Bleigewichten in senkrechter Stellung im Wasser gehalten und oben durch eine Menge von schwimmenden Holzklöpfeln getragen wird. Mit der Ebbe treibt dieser Maschenvorhang, dessen eine Seite am Boote hängt, langsam stromab. Das Netz hat eine bräunliche Färbung, sodaß die Salmen es im Dunklen vom Wasser nicht unterscheiden können. Die unglaublich schnell stromauf schwimmenden Lachse rennen nun kopfüber in die Maschen. Die kleineren dagegen zwängen sich durch die Maschen, welche einen gesetzlich vorgeschriebenen Durchmesser von 8 1/[4?][WS 1] Zoll haben – die größeren bleiben darin hängen. Verstricken sie sich mit den Kiemen in den Maschen, so können sie nicht mehr athmen und ersticken buchstäblich im Wasser, so paradox dies auch klingen mag. Gelangen aber die Fische mit dem halben Körper in die Maschen, so werden sie lebendig an’s Boot gezogen und dort – grausam genug! – mit einem Knüppel vom Leben zum Tode befördert.

Die armen Salmen sind aber noch der Verfolgung durch andere Todfeinde ausgesetzt, vor Allem durch die an der Mündung des Columbia sehr zahlreichen Seehunde und Seelöwen. Diese Thiere, denen ein fetter Lachs bekanntlich ein lucullisches Mahl dünkt (vergl. Jahrg. 1881, Nr. 37), stellen sich oft in den Fischereigründen ein und fressen als Feinschmecker den in den Netzen festgerannten Fischen die Kiemen ab, oder reißen sogar einen gefangenen Salm ganz aus dem Netze heraus und verschlingen ihn als guten Bissen. 11 Lachse von je 30 Pfund Gewicht sind ein Mahl für einen ausgewachsenen Seelöwen. Die Fischer haben daher eine erklärliche Wuth auf die Seelöwen, welche die erbeuteten Lachse wie zum Hohn über dem Wasser hin und her schleudern, ehe sie dieselben verschlingen. Aber dieser Spaß kommt manchem dieser lustigen Flußpiraten theuer zu stehen; denn oft muß er ihn mit einer Büchsen- oder Revolverkugel büßen. Nicht besser ergeht es ihm, wenn er, nach gefangenen Lachsen recognoscirend, das Netz entlang ruhig hin und her schwimmt und dabei unvorsichtig den Kopf über das Wasser hebt.

Die Böte treiben, wie gesagt, mit der Ebbe langsam der Barre zu und mit eintretender Fluth wieder stromaufwärts. Gerathen sie aber in stockfinsterer Nacht und bei stürmischem Wetter in die Brandung, so sind sie meistens verloren; denn bevor die Fischer ihre mit Salmen beschwerten Netze von dieser großen Last befreien können, werden sie von den Wogen fortgerissen; die Böte schlagen um, und an Rettung ist nicht zu denken. Sollen doch im letzten Jahre 190 Fischerleute daselbst um’s Leben gekommen sein, ja in einer Nacht kenterten dort 25 Böte, und am nächsten Morgen fand man einige derselben, das Unterste nach oben gekehrt, am Strande; die Insassen der Fahrzeuge hatten sich, um nicht von den Wogen fortgespült zu werden, an den Sitzbrettern festgebunden, waren aber in dieser Lage elendiglich umgekommen. Oefters kommt es auch vor, daß die Böte in Folge der Masse der eingeladenen Fische umwerfen, und die Fischer können von Glück sagen, wenn sie bei einer solchen Katastrophe nur die Salmen und Netze, nicht aber auch noch das Leben einbüßen. Daß eine Ladung von 150 bis 200 Lachsen, die von 20 bis 60 Pfund das Stück wiegen, die Widerstandskraft eines mittelgroßen Fischerbootes bei stürmischem Wetter auf das Aeußerste in Anspruch nimmt, ist wahrlich kein Wunder. Aber die Aussicht auf einen reichen Fang ist für diese waghalsigen Seeleute zu verlockend, als daß da noch die Furcht vor der Gefahr bei ihnen aufkommen könnte.

Die Besatzung der 1200 Fischerböte, welche gegenwärtig den Lachsfang am unteren Columbia betreiben, recrutirt sich aus den kühnsten Seeleuten der Welt. Fast alle seefahrenden Nationen sind unter ihnen vertreten, namentlich Griechen, Dalmatiner, Italiener, Skandinavier, Briten, Amerikaner, Portugiesen, Finnländer und Deutsche. Die Spanier zeichnen sich unter den Fischerleuten durch Heimtücke besonders aus und berauben nicht selten die fremden Netze; oder sie wissen es so einzurichten, daß ihr Netz in dunkler Nacht einige hundert Ellen vor einem anderen stromab treibt, um die Salme zuerst abzufangen, – was man mit dem technischen Namen „corking“ bezeichnet. Chinesen giebt es nicht unter den Fischern; denn die Söhne des Himmlischen Reiches sind zu vorsichtig, um ihre kostbaren Existenzen den oben beschriebenen Gefahren auszusetzen.

Die Böte sind theils das Eigenthum der Fischerleute; theils [771] gehören sie den Besitzern der „Canneries“. Besorgen die Fischer ihre eigene Ausrüstung, sowohl die der Böte, welche durchschnittlich 250 Dollars kosten, wie die der Netze, deren Herstellung an 400 Dollars Auslagen erfordert, so erhalten sie den vereinbarten Preis von 60 Cents pro Fisch. Hiervon bezahlt der Eigenthümer des Bootes und des Netzes seinem Gehülfen 15 Cents pro Fisch. Liefert dagegen eine „Cannerie“ die Ausrüstung, so werden für jeden abgelieferten Fisch 50 Cents berechnet, von welcher Summe noch ein Drittel für den Gebrauch des Bootes und des Netzes an die „Cannerie“ zurückerstattet wird. Auf die Größe der Fische kommt es dabei nicht an. Der Fischer erhält denselben Preis für jeden Fisch, den er abliefert, einerlei ob derselbe 15 oder 50 Pfund wiegt.

Die kostspieligen Netze sind unter der ganzen Ausrüstung das riskanteste Eigenthum; denn sie gehen nicht selten bei stürmischem Wetter verloren, oder werden von riesigen Stören und boshaften Seelöwen zerrissen. Mitunter kommt es auch vor, daß sie sich in mächtige, den Strom herabschwimmende Baumstämme verwickeln und zerschnitten werden müssen, damit man sie wieder loslösen kann. Im günstigsten Falle halten sie nicht länger als eine Saison aus, müssen also in jedem Jahre durch neue ersetzt werden.

Der Nutzen, welchen der Lachsfang bietet, entspricht jedoch vollkommen der Capitalanlage und den Ansprüchen der Fischerleute. Das leuchtet ein, wenn wir bedenken, daß bei warmem Wetter die Salmen zuweilen in Schaaren, welche nach Millionen zählen, in den Fluß kommen, sodaß die Fischer in kurzer Zeit eine volle Bootladung fangen. In diesem Falle sind die Leute sogar mitunter gezwungen, einen Theil der Beute wieder fahren zu lassen, um nicht zu riskiren, daß die Böte in Folge der Last untersinken oder bei schwerem Wetter kentern – Vorfälle, die durchaus nicht zu den Seltenheiten gehören.

Das Einbringen von 2000 Lachsen wird für ein Boot als der geringste Ertrag während der Saison angesehen, obgleich es schon oft vorgekommen ist, daß ein einzelnes Boot während der Fangzeit 5000 bis 6000 Fische eingeheimst hat. Unter diesen günstigen Umständen erwirbt ein gewandter Bootführer sich 600 bis 700 Dollars in der Saison, und wenn nur Wenige von diesen Leuten ihr Erworbenes wirklich capitalisiren, so liegt die Ursache davon in den Verhältnissen des lebensgefährlichen Handwerks, welches die rohen Naturen verführt, durch Schlemmen und Zechen die flüchtigen Stunden nach Kräften auszunutzen, ohne für die Zukunft zu sorgen.

Die Böte fahren, wie bereits erwähnt, stets gegen Abend nach der Strommündung und kehren bei Tagesanbruch wieder zurück; selten bleiben sie länger als zwei Nächte aus, da die Netze nothwendiger Weise wieder ausgebessert werden müssen. Bei Tage auf den Fang auszugehen, würde ganz zwecklos sein, weil die Fische alsdann die Netze sehen können und zu schlau sind, um in’s Garn zu laufen. Wenn die Lachse, die das kalte Flußwasser scheuen, bei eintretender warmer Witterung in ungeheueren Schwärmen vom Meere in den Columbia ziehen, dann pflegen die in einer Entfernung von dreißig bis vierzig englischen Meilen stromaufwärts liegenden „Canneries“ ihre Böte Abends in großer Zahl durch kleine Dampfer stromabwärts bugsiren zu lassen und dieselben Morgens, mit Fischen beladen, ebenso zurück zu befördern, um die gute Zeit auszunutzen und sowohl den Fang wie den Geschäftsgang in den Packanstalten möglichst zu beschleunigen. Die Fischerböte der in der Nähe von Astoria liegenden „Canneries“ segeln dagegen in der Regel nach der „Bar“.

Da die größeren „Canneries“ im Besitze von dreißig bis fünfzig und noch mehr Böten sind, die alle auf einmal von einem Dampfer in’s Schlepptau genommen werden, so ist das Schauspiel der den breiten Columbia in langen Reihen auf- und abziehenden Böte ganz einzig in seiner Art und höchst interessant.

(Schluß folgt.)


Blätter und Blüthen.

Ein ultramontaner Geschichtsschreiber des Jahres Achtundvierzig. „Wie man immer über die innere Berechtigung oder Nothwendigkeit, sowie über die unmittelbaren Resultate der großen Sturmbewegung (von 1848) denken mag, so bleibt sie doch für alle Zeiten eine der bedeutungsvollsten und, wenn richtig erkannt und gewürdigt, lehrreichsten Erscheinungen der neuern Geschichte, indem sie einen festen Wendepunkt und Markstein zwischen der Vergangenheit und der Zukunft unseres Staatslebens bildet. Das Jahr 1848 hat zugleich eine ernste Warnungstafel für die Regierungen, wie für die Völker aufgerichtet, auf welcher in Lapidarschrift die Worte: Weisheit, Mäßigung, Ordnung! eingegraben stehen. Niemals vordem sind in einer so kurzen Spanne Zeit mit so geringfügigem Kraftaufwande so große, anscheinend festbegründete Regierungen umgestürzt worden – aber auch niemals hat der ungezügelte Freiheitsdrang der Völker sich ohnmächtiger erwiesen, aus sich heraus gesunde und dauernde Schöpfungen zu begründen.

Dieses Jahr ruft vor Allem mit der Stimme einer großen Nation in tausendfachem Echo den zunächst verantwortlichen[WS 2] Regierungen die Wahrheit in’s Bewußtsein, daß alle äußere Staatsmacht, wie sie in einem wohlgeschulten Beamtenheere und einer zahlreichen Armee geschaffen werden mag, im entscheidenden Augenblicke den Dienst versagt, wenn ihr nicht ein innerlich befriedigtes und darum zuverlässiges Volk zur Seite steht.“

Im Jahrgang 1872 der „Gartenlaube“ (S. 140) haben wir unseren Lesern „Parlamentarische Charaktere aus Preußen“ vorgeführt und als Nr. 1 vorangestellt: „Die Führer der Ultramontanen“, und zwar: Windthorst, August und Peter Reichensperger und Mallinckrodt. Diese Männer standen damals schon in einem Alter, wo ein Wandel der Grundsätze und Ueberzeugungen im Menschen ausgeschlossen ist. Wer nun heute jene vier Charakteristiken wieder liest, wird nicht in Zweifel sein, welcher von den dort Geschilderten die Worte niedergeschrieben haben kann, die in der Einleitung zu der oben bezeichneten Geschichte des Jahres Achtundvierzig zu lesen sind. Es ist Peter Reichensperger, in dessen „Erlebnisse“[3] uns von dem Herrn Verleger derselben noch vor deren Veröffentlichung freundlich ein Einblick gestattet worden ist.

Peter Reichensperger, der Bruder des älteren August Reichensperger, der als der eigentliche Papst oder Vater der katholischen Fraction bezeichnet wird, hat sich als einer der besten Redner des preußischen Parlamentarismus erwiesen und als „ein Idealist von reinem Bewußtsein und naivem Glauben, der den Katholicismus als ewige Wahrheit betrachtet, welcher Lüge und Schlamm der Zeit in ihrem Kern nichts anhaben können“, – und „der fest davon überzeugt ist, daß eine heilsame Staatspolitik mit den Interessen der katholischen Kirche nothwendig übereinstimmen müsse“.

Trotz dieser seiner Ueberzeugungen lag es ihm jedoch ernstlich daran, die Schroffheit des Culturkampfes zu mildern, indem er sich wenigstens bemühte, die Feindseligkeit der Curie und seiner Fraction, wenn sie allzu offenbar gegen das neue deutsche Reich gerichtet war, möglich zu bemänteln. Ein redliches Streben nach Mäßigung und gesetzlicher Haltung ging bisher aus allen seinen Reden hervor. Mit um so gespannterer Erwartung muß man einem Rückblicke in das eigene Leben gerade eines solchen Mannes entgegen sehen. Peter Reichensperger hat die Zeit der großen Bewegung vom Anfang bis zum Ende mit durchlebt; er hat mitten in der Handlung gestanden und ist mit seiner Persönlichkeit mehrmals in wichtigen und entscheidenden Augenblicken hervorgetreten. Allerdings hat er in Frankfurt am Main nur die Tage des Vorparlaments mit erlebt und folgte schon Mitte Mai der Wahl in die preußische Nationalversammlung. Um so genauer führt er uns in diese Berliner Sturmtage ein, Manches enthüllend, das bis jetzt der Oeffentlichkeit entzogen war, die ganze dortige Bewegung aber von dem Standpunkte aus schildernd, den er vertreten.

Wie von diesem Standpunkte aus in einem Auge, das wir unbedingt für das eines ehrlichen und rechtsliebenden Mannes halten, die Bilder der gepriesensten Volkshelden sich gestalten, wollen wir wenigstens in einigen Beispielen zeigen.

Seite 35 der „Erlebnisse“ lesen wir: „Robert Blum hatte sich durch eisernen Fleiß und angeborenes Talent als Autodidakt aus der kümmerlichsten Jugend zur Stellung eines angesehenen Volksmannes erhoben, indem er nach seinem eigenen Geständnisse in Leipzig den Ronge’schen Deutsch-Katholicismus unbehelligt von der sympathisirenden Polizei und Censur dazu benutzte, das Volk socialpolitisch zu erregen und an sich zu fesseln.

An Geist, Kraft und Klugheit, sowie an natürlicher, oft blendender Beredsamkeit mit den entsprechenden Schlagwörtern der Zeit und der erforderlichen Stentorstimme hat es ihm ebenso wenig gefehlt, wie an Rücksichtslosigkeit und jener tribunizischen Gewandtheit, welche mit dem Pöbel und seinen Fäusten kokettirt, damit dieselben sich vorbereiten, dem Kronprätendenten der Volksmajestät im gekommenen Augenblicke die Steigbügel zu halten. Er erwies sich im späteren Parlamente als der bedeutendste Führer der demokratischen Partei, und sein standrechtlicher Tod in Wien am 9. November desselben Jahres wegen erfolgreicher Aufforderung zum bewaffneten Widerstande und persönlicher Theilnahme am Barricadenkampfe gegen die Truppen des Feldmarschalls Windischgrätz hat einen nicht zu lüftenden Schleier über manche Verirrungen seiner Vergangenheit gezogen.“

Worin diese „Verirrungen seiner Vergangenheit“ bestehen, ist leider nicht verrathen; ob das ausführliche Lebensbild, das Hans Blum von seinem Vater in der „Gartenlaube“ gegeben, den „Schleier“ davor für unsere Gegner noch immer nicht genug gelüftet?

Seite 37 heißt es über Gagern und Bismarck: „Heinrich von Gagern war in der That ein ganzer deutscher Mann, dem auch meine wärmsten Sympathien trotz wesentlicher Gegensätze unserer politischen Bestrebungen stets zugehört haben. Bekanntlich ist Niemand verpflichtet, ein großer Mann oder gar eis[n] Genie zu sein; das Vaterland aber sieht mit gerechtem Stolze und mit Dank auf alle seine Söhne, die eine hervorragende


Anbei eine Beilage „Zwanglose Blätter“ Nr. 1.

[772] Begabung seinem Dienste mit Treue und Hingebung gewidmet haben, – und zu Diesen wird es ihn immerdar in erster Reihe zählen. Wenn der Fürst Bismarck die ihm von Busch (‚Graf Bismarck und seine Leute‘, Bd. II., S. 14) in den Mund gelegten wegwerfenden Worte über Gagern wirklich gesprochen haben sollte, so würde das wohl nur als eine Bestätigung dafür zu betrachten sein, daß Nachtischreden überhaupt durch eine besondere Inspiration beeinflußt werden.“

Eine schlimmere Aufnahme findet „der mehrgenannte Abgeordnete Temme, der durch seine rücksichtslose Uebertragung privatrechtlicher Formeln auf staatsrechtliche Angelegenheiten wie durch die Leidenschaftlichkeit seiner Sprache bei der Linken großes Ansehen erlangt hatte, während die Mehrheit der Versammlung sich vielleicht über Gebühr durch seine auffallende Mohrenphysiognomie mit Ohrringen, wolligem Haare und eingedrückter Nase von ihm abgestoßen fühlte.“

Dagegen spricht er über Waldeck sich folgendermaßen aus: „Zeitungsnachrichten besagten, daß die äußerste Linke in der Verfassungsurkunde nur Eine Kammer zulassen wolle, die weder aufgelöst, noch auch durch ein aufschiebendes Veto der Krone beschränkt sein solle. Gewiß ist, daß deren Mitglied Waldeck diesen Standpunkt bereits in seiner Berliner Candidatenrede eingenommen hat und daß er bald als das Haupt, ja als das lebendige Programm der demokratischen Partei in der Nationalversammlung, wie im Lande anerkannt worden ist. Eine nähere Betrachtung seiner für die weitere Entwickelung der Dinge so bedeutsam gewordenen Persönlichkeit zeigt, daß er zwar die zu jener Führerschaft erforderlichen Eigenschaften in hohem Maße besaß, aber das allgemeine Vertrauen nicht gewinnen konnte. Seine äußere Erscheinung war selbstbewußt imponirend, und seine hervorragende juristische Befähigung officiell anerkannt, indem er kaum zweiundvierzig Jahre alt 1844 als Hülfsarbeiter, dann als wirkliches Mitglied in den höchsten Gerichtshof berufen worden war, obgleich er schon damals die bäuerlichen Rechtsinteressen in Westfalen vom demokratischen Standpunkte aus lebhaft vertreten und sich den Namen des ‚Bauernkönigs‘ erworben hatte. In jüngeren Jahren hatte er sich auch in Dichtungen versucht, allein seine spätere öffentliche Wirksamkeit läßt in ihm nur noch den streng geschulten Juristen erkennen, der die logische Formel mit echt westfälischer Zähigkeit um so einseitiger auf das politische Gebiet übertrug, als ihm die staatswissenschaftlichen und volkswirthschaftlichen Doctrinen verhältnismäßig fremd geblieben zu sein scheinen. Jedenfalls fehlte ihm der ruhige staatsmännische Tact, der ihn und seine Partei vor Maßlosigkeit hätte bewahren können. Der idealistische Grundzug seines Wesens trat nur noch insofern hervor, als er unter Mißachtung der sprüchwörtlichen Wahrheit, daß das Beste der Feind des Guten ist, nicht blos nach dem begrifflich Vollkommensten strebte, sondern auch an die Möglichkeit seiner sofortigen Verwirklichung gegenüber einem Volke glaubte, welches seine relative Unreife von Tag zu Tag immer handgreiflicher vor Aller Augen erwies. Die leidenschaftliche Begeisterung, mit welcher er diese ideologischen Anschauungen vertrat, gab seinen die Phrasen und Schlagwörter des Tages nicht verschmähenden Reden eine wahrhaft zündende Kraft bei seinen Parteigenossen, obgleich ihm die hohe Beredsamkeit der englischen und französischen Meister der Tribüne versagt war. Wohl nicht mit Unrecht hat man auch von seinem brennenden Ehrgeize gesprochen, allein bei dem stets hervorgetretenen Adel seiner Gesinnung muß angenommen werden, daß derselbe nicht in einer persönlichen Schwäche, sondern der Stärke seiner Ueberzeugung wurzelte, daß gerade Er der Mann sei, das erstrebte Beste zu verwirklichen. Der wirkliche Verlauf der Ereignisse hat dies Selbstvertrauen nicht gerechtfertigt, sondern nur Enttäuschungen und Niederlagen ihm und seiner Partei eingebracht.“

Mit einer Stelle des Buches, welche die Vermögensverhältnisse des preußischen Königshauses betrifft, wollen wir die Mittheilungen aus dem selben schließen. Seite 37 lesen wir:

Bei der Frage der königlichen Civilliste haben die Regierungscommissare auf Erfordern der Commission eingehende Mittheilungen über die Dotationsverhältnisse unseres Königshauses gemacht, welche ich sofort skizzirte und dem Protocoll einverleibte. Meines Wissens sind aber diese Notizen nicht in die Handbücher unseres Staatsrechtes übergegangen, und sie verdienen wegen ihres allgemeinen Interesses eine summarische Wiedergabe. Eine eigentliche Civilliste besteht in Preußen nicht, vielmehr werden die Bedürfnisse der Krone, einschließlich der prinzlichen Apanagen, durch den Kronfideicommißfonds gedeckt, welcher aus einer von den Domanial-Einkünften vorab zu entnehmenden Jahresrente von 2½ Millionen Thalern nebst dem Goldagio von 73,000 Thalern besteht. Hierzu kommt das durch König Friedrich Wilhelm den Ersten aus angekauften Gütern testamentarisch begründete Hausfideicommiß, sowie der aus Ersparnissen des Königs Friedrich Wilhelm des Dritten gebildete Krontresor im Capitalbetrage von 6 Millionen Thalern nebst einem demnächst erzielten, nicht näher angegebenen weiteren Betrage. Dieser Krontresor hat folgende den opferwilligen Charakter des Königs kennzeichnende Entstehungsgeschichte. Seit den Kriegsjahren von 1806 u. f. hatte der König die Ausgaben der sogenannten Privatschatulle sehr beschränkt und demnach aus den Revenuen der Staatsdomainen eine bedeutende Summe weniger, als unter diesem Titel herkömmlich, entnommen. Als nun aber in Folge des Pariser Friedens die Staatscasse aus der den Franzosen auferlegten Contribution einen namhaften Zuwachs erhielt und den Beamten die sogenannten ‚Bons‘ ausgezahlt werden konnten, hielt man auch den König für berechtigt, sich aus derselben Quelle dasjenige, was er während der Kriegsdrangsale freiwillig entbehrt hatte, ersetzen zu lassen. Derselbe ließ die ihm solchergestalt erstattete Summe, zu welcher späterhin die Ueberschüsse der vorbezeichneten Kronfideicommißrente hinzutraten, abgesondert verwalten und machte den dadurch gebildeten Fonds zum Gegenstande einer testamentarischen Verfügung, wonach der Nachfolger in der Regierung über eine Summe von 3 Millionen frei zu verfügen befugt sein, dagegen eine Summe von 3 Millionen einen sogenannten eisernen, nur in Fällen der Noth angreifbaren Bestand bilden sollte.

Der Mehrbetrag des Krontresors, aus den ferneren Ersparnissen der auf 2½ Millionen fixirten jährlichen Rente entstanden, ist durch das Testament Friedrich Wilhelm’s des Dritten zu einem Fideicommißfonds für nachgeborene königliche Prinzen mit eventuellem Rückfalle an die Krone bestimmt worden. Diese Krondotation wurde durch das Gesetz vom 30. April 1859 um 500,000 Thaler, durch das Gesetz vom 27. Januar 1868 um 1 Million Thaler, endlich durch den Staatshaushaltsetat von 1873 um 1½ Millionen Thaler vermehrt, sodaß dieselbe dermalen neben dem Hausvermögen 16,719,000 Mark beträgt.“

Peter Reichensperger’s „Erlebnisse“ werden schon als eine Bereicherung unserer nicht übereifrig gepflegten Memoiren-Literatur, insbesondere aber als die Schrift eines so bedeutenden Parteimannes eine bevorzugte Aufnahme finden. Daß man auch auf dem entgegengesetzten Standpunkte Ursache hat, diesem Werke Beachtung zu schenken, haben wir mit diesen Mittheilungen bewiesen. Man wird im Lager der liberalen Zeitgenosen nach Waffen zur Bekämpfung manchen Angriffs suchen; man wird besonders gern zu Bernstein’s Schilderung jener Tage, zu Münch’s, K. Blind’s u. A. Erinnerungen und Erlebnissen zurückgreifen, und vielleicht ist durch Reichensperger’s Vorgang der Anstoß gegeben, daß mit der gleichen tagebuchartigen Genauigkeit und Ausführlichkeit auch vom deutschfreisinnigen Standpunkte aus jene ewig denkwürdige Zeit dargestellt wird.




Im Kampf gefallen. (Abbildung Seite 769.) Bengt Nordenberg, der schwedische Genremaler, der unseren Lesern seit 1870 durch das freundliche Bild „In einer schwedischen Dorfkirche“ bekannt ist, führt uns heute in ein norwegisches Bauernhaus, in welches plötzlich Schreckniß und Jammer ihren Einzug gehalten haben. Fröhlich saßen Großeltern und Enkel um den wärmenden traulichen Herd, und die junge Gattin harrte in dem heiteren Kreise nur des Mannes, um das Abendbrod aufzutragen. Hat keine Ahnung sie beunruhigt, kein Zeichen eines nahenden Ereignisses sie aufgeschreckt? Ihr rüstiger Mann ist mit Gewehr und Hund der Waidmannslust nachgegangen; was wird er mit heimbringen zur Freude der Hausfrau und der harrenden Kinder? Wohl kehrt er heim mit allen Ehren des Siegers, aber, wie der Kämpfer der alten Heldenzeit – auf dem Schild; er hat den gefahrvollsten Kampf bestanden, aber er ist – im Kampf gefallen. Sie bringen der Gattin den todten Mann, den Kindern den todten Vater – und es trocknet keine Thräne, daß hinter dem Schlitten, der seine Leiche trägt, sein überwundener Feind gleichsam im Triumphe ihm nachgetragen wird. Dem muthigen Bärenjäger hat der Tod das Halali geblasen. Aber sein Andenken wird noch lange fortleben in seiner Gemeinde, und wenn beim Abendlicht die Heldenkämpfe erzählt werden, welche die kecken Männer der skandinavischen Berge und Wälder mit den Bären bestanden, so wird auch der Kampf mit gepriesen, der diesem jungen Helden das Leben gekostet.




Wir eröffnen hiermit eine neue Subscription auf die

dritte (letzte) Folge

von

Herman Schmid’s gesammelten Schriften.

Volks- und Familien-Ausgabe

in vierwöchentlich erscheinenden 12 bis 16 Bogen starken Bänden à 75 Pfennig.
(Die Ausgabe in Heften à 30 Pfennig besteht daneben fort.)

Herman Schmid’s Erzählungen erfreuen sich einer so allgemeinen Beliebtheit, daß wir dieselben unseren Lesern nicht besonders zu empfehlen brauchen. – Die dritte (letzte) Folge der gesammelten Schriften enthält die nachstehenden Erzählungen:

Der Bauernrebell. – Die Geschichte vom Spötterl. – Im Himmelmoos. – Mütze und Krone. – Hund und Katz’. – Concordia. – Aufg’setzt. – Ledige Kinder. – Die Türken in München.

Bestellungen auf die Bandausgabe der dritten (letzten) Folge werden von allen Buchhandlungen entgegen genommen. Der erste Band der dritten Folge (der 33. der ganzen Reihe) ist bereits erschienen und kann auf Verlangen sofort zur Ansicht geliefert werden.

Leipzig.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil

Redacteur: Dr. Ernst Ziel in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Karolin, auch Karlin genannt, war eine seit 1732, wo sie zuerst Karl Philipp von der Pfalz schlagen ließ, in Oberdeutschland allgemein gangbare Goldmünze. Ihr Werth schwankte zwischen 18 bis 20 Mark.
    D. Red.
  2. Die Indianer beim Lachsfang“. Jahrgang 1865, Nr. 48.
  3. Erlebnisse eines alten Parlamentariers im Revolutionsjahre 1848. Von Peter Reichensperger. (Berlin, Julius Springer.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Bruch ist unleserlich gedruckt, wahrscheinlich: 1/4.
  2. Vorlage: verantwortichen