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Die Gartenlaube (1883)/Heft 38

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1883
Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[609]

No. 38.   1883.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis Bogen. 0 Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.


Ueber Klippen.

Erzählung von Friedrich Friedrich.
(Fortsetzung.)

„Herr Richter, ein jeder Mensch handelt nach seinem Sinn,“ fuhr der Bauer fort. „Hier aber ist’s Brauch gewesen, daß die Kinder den Eltern gehorchen, und so soll’s hier bleiben. Fügt die Moidl sich nicht, so zerreißt sie das Band zwischen mir und ihr, nicht ich.“

„Wolltet Ihr sie deshalb enterben?“ fiel der Richter ein.

Um den Mund des Bauern zuckte es. Ueber sein ernstes, hartes Gesicht flog es wie ein spöttisches Lächeln.

„Ich braucht’ sie nicht zu enterben,“ entgegnete er, „dies Gehöft hab’ ich von meinem Vater ererbt, es ist mein Eigenthum, ich kann darüber verfügen, so lang’ ich leb’, ich kann es auch verschenken oder gegen ein Leibgeding verkaufen. Ich bin kein Rechtsgelehrter, aber ich mein’, das müßte gelten, denn es hat immer gegolten.“

Dem Richter riß die Geduld, er hatte nicht geglaubt, daß der starre Sinn des Mannes so weit gehen könne.

„Es würde nach dem Gesetze gelten,“ sprach er, „aber es giebt noch Etwas, was über dem Gesetze steht. Ein gutes Andenken würdet Ihr Euch dadurch nicht erkaufen, und wir Alle trachten darnach, daß unser Andenken auch noch über unser Grab hinaus reicht!“

„Das muß ein Jeder mit sich selbst und seinem Gewissen abmachen,“ gab der Bauer zur Antwort.

„Ihr habt Recht,“ entgegnete der Richter, indem er sich erhob. „Vergeßt das nicht und denkt auch daran, daß unser Gewissen uns täuschen kann. Ihr habt Zeit, Euch Alles reiflich zu überlegen.“

Der Bauer blieb in seiner kalten Ruhe.

„Ich brauch’ keine Zeit,“ sprach er. „Mein Entschluß steht fest. Wie das Holz der Bäume, die hier oben wachsen, fester und zäher ist, als das derjenigen, welche unten im Thal aufschießen, so ist’s auch mit den Menschen: hier geht oft ein Sturm, während es unten ruhig ist; hier ist noch Winter, wenn unten der Frühling gekommen ist – das macht fester.“

Der Richter antwortete hierauf nicht. Der Bauer hatte Recht, aber er dachte nicht daran, daß auch der Sinn und das Herz seiner Tochter sich hier oben gefestigt hatten.

„Ihr werdet nicht vergessen, daß Ihr nur ein Kind habt,“ sprach er, indem er dem Bauer die Hand reichte.

„Ich weiß es,“ gab der Oberburgsteiner ruhig zur Antwort.

Moidl sah von ihrer Kammer aus den Richter fortgehen. Sie brauchte ihn nicht zu fragen, was er ausgerichtet hätte, sein langsamer Gang verrieth es ihr. Sie war aber auch nicht enttäuscht, denn sie kannte den harten und festen Sinn ihres Vaters.




Hansel hatte nur wenige Tage bedurft, um sich von der langen Haft zu erholen. Mit voller Kraft nahm er die Arbeit wieder auf. Und die frische Bergluft war es nicht allein, die ihn stärkte. In ihm rief es laut bei Tag und Nacht: „Jetzt wissen Alle, daß die Moidl Dich liebt!“ Und er wollte zeigen, daß er sie verdiene.

Seine Mutter hatte durch den Richter erfahren, daß der Oberburgsteiner gegen ihn sei, und sie kannte den zähen Sinn des Bauern.

„Gieb die Moidl auf,“ sprach sie zu ihm, als sie allein mit ihm im Zimmer war. „Ich glaub’, daß es Deinem Herzen nicht leicht wird, aber den Sinn ihres Vaters beugst Du nimmer.“

„Mutter, er beugt aber auch mein Herz nicht,“ entgegnete Hansel. „Er ist alt und ich bin jung, da halt ich’s aus.“

„Darüber kannst Du auch alt werden,“ warf seine Mutter besorgt ein.

„Dann werd’ ich’s!“ rief Hansel. „Die Moidl hat mein Wort, das halt’ ich. Sieh’, Mutter, als ich dort unten in der Zelle saß und keine Beschäftigung hatte, um mir die Zeit zu vertreiben, als ich manche Nacht da lag, ohne schlafen zu können, da hatte ich Zeit, über Vieles nachzudenken. Wohl hundert Mal hab’ ich mir die Frage vorgelegt, was ich thun solle, wenn ich wieder frei sei, aber immer hab ich mir gesagt, daß mein Herz keiner Andern gehören könne, als der Moidl! Und ihr gehört’s.“

Am folgenden Tage, als er bei der Arbeit war, brachte ihm ein Knabe einen Brief.

„Wer hat Dir den Brief gegeben?“ fragte er.

„Die Moidl,“ erwiderte der Knabe und lächelte verschmitzt. „Es soll Niemand erfahren.“

„Die Moidl!“ rief Hansel erfreut, während ihm das Blut in die Wangen schoß. „Sollst Du ihr Antwort bringen?“

„Nein.“

„Dann nimm dies hier,“ fuhr Hansel fort, indem er dem Knaben ein Geldstück gab. „Und nun schweig’ gegen Jeden.“

[610] Der Knabe eilte beglückt fort, denn auch von Moidl hatte er ein Geschenk erhalten.

Hansel ließ sich auf einem Steine nieder. Er hielt den Brief der Geliebten in der Hand, sein Auge ruhte darauf, aber unwillkürlich zögerte er, ihn zu öffnen. Was enthielt das Schreiben?

Endlich riß er es mit leise zitternder Hand auf, es lautete:

 „Lieber Hansel!
Du weißt, wie Alles gekommen ist. Um Dir die Freiheit zu verschaffen, hab’ ich dem Bezirksrichter gesagt, wo Du in der Nacht gewesen bist, und ich hab’ ihm auch gesagt, daß ich Dir vor Gott gelobt, die Deinige zu werden. Jetzt wissen es alle Menschen, aber wir brauchen uns nicht zu schämen, denn unsere Herzen sind rein. Mein Vater ist sehr böse auf mich und gönnt mir kein freundliches Wort. Er überwacht mich Tag und Nacht und duldet nicht, daß ich den Oberburgstein verlasse, aber über mein Herz hat er keine Macht, das gehört Dir. Du kannst mich vor der Hand nicht sehen und sprechen, Du darfst nicht zu mir kommen, denn mein Vater würde es entdecken. Schreib’ mir auch nicht, denn der Brief könnte in seine Hände gelangen und würde mir trübe Stunden bereiten. Hab’ Geduld, lieber Hansel, und harre aus, wie mein Herz ausharrt. Ich steh’ hier oben ganz allein, aber ich bin doch nicht traurig, denn ich denk’ an Dich und jeden Tag geh’ ich in die kleine Capelle, um für Dich zu beten. Sei nur lustig, damit die Leut’ nicht denken, Du habest den Muth verloren. Wenn wir an unserer Lieb’ festhalten, dann kann uns Niemand trennen. Ist es möglich, daß Du zu mir kommen kannst, dann schreib’ ich Dir zuvor, bis dahin grüßt Dich in Liebe und Treue Deine Moidl.“ 

Hansel hielt den offenen Brief in der Hand, und sein Auge ruhte starr darauf. Sein Herz sehnte sich nach der Geliebten, er hatte ihr so viel zu sagen, er hatte gehofft, sie bald sehen zu können. und nun war diese Hoffnung vernichtet. Sein Muth war doch gesunken. Als er aber noch einmal die Zeilen durchflog und las: „ich bin doch nicht traurig, denn ich denk’ an Dich!“, da leuchtete es in seinen Augen auf. Sollte er zaghafter sein als die Geliebte, die dort oben ganz allein stand und doch mit festem Muthe ausharrte? Grüßend schwenke er den Brief zum Oberburgstein hinüber und rief:

„Ich bleib’ fest, Moidl, und wenn ich Dich in Jahren nicht wiedersehen sollt’!“ –

Der Frühling war hereingebrochen, die Tage waren länger geworden und Hansel arbeitete vom frühen Morgen bis zum Abend. Er war der Alte wieder und empfand keine Ermüdung. Der Richter kam öfter zu ihm, um seiner Arbeit zuzuschauen und mit ihm zu plaudern. Es schien ihm Freude zu machen, zu sehen, wie rüstig die Arbeit mit jedem Tage weiterschritt.

„Hansel,“ sprach er eines Tages, „Du hast jetzt für vier Kühe hinreichend Futter, da könntest Du Dir noch zwei kaufen, das hilft der Wirthschaft auf.“

„Es kauft sich schlecht, wenn man kein Geld hat,“ gab Hansel lachend zur Antwort. „Ein paar hundert Gulden bekäm’ ich wohl geliehen, aber es stehen bereits genug Schulden auf dem Gehöft, und ich weiß kaum, wo ich die Zinsen hernehmen soll.“

„Und wenn ich Dir nun ein Paar stattliche Kühe verschaffte, ohne daß Du sie sofort zu bezahlen brauchtest, die Du nach und nach, wie es Dir möglich wär’, abzahlen könntest?“

„Der findet sich nicht, der das thut!“

„Weißt Du das so genau?“ warf der Richter ein.

„Ich glaube ja!“ gab Hansel zur Antwort.

„Der Winkelbauer will es thun. Er hat nicht Frau noch Kinder und es geht ihm gut. Ich war gestern bei ihm und erzählt’, wie Du Dich mühest, um vorwärts zu kommen. Ich sagt’ ihm, daß es Dich weiter bringen werde, wenn Du jetzt statt zwei vier Kühe habest, denn an Futter fehle es Dir nicht, aber das Geld sei hier oben knapp. Da hat er sich selbst dazu erboten, und Du kannst ruhig sein, er wird Dir die Kühe nicht zu hoch anrechnen.“

„Herr Richter, ist das Ihr Ernst?“ fragte Hansel.

„Gewiß Du kannst das Geschäft heut’ noch abmachen, wenn es Dir paßt.“

„Ich hab’ dem Winkelbauer nie einen Dienst erwiesen, wie kommt er dazu?“

„Ich will es Dir sagen, er hat einst unter ähnlichen Verhältnissen angefangen wie Du. Als sein Vater starb, sollte das Gehöft verkauft werden, weil es über den Werth verschuldet war. Nur auf seine Bitten gewährten die Gläubiger ihm einige Frlst, und da hat er gearbeitet und gearbeitet, um sich zu halten. Es ist ihm damals sehr schwer geworden, weil ihm Niemand zur Seite stand, das hat er nicht vergessen. Sein Gehöft ist längst schuldenfrei, es geht ihm gut, und da meint er, er wollt’ Dir’s leichter machen, als es ihm geworden sei. Nimm es an, Hansel,“ rieth der Richter.

„Freilich nehm’ ich es an, wenn die Bedingungen nicht zu schwer sind,“ gab der Bursch freudig zur Antwort.

„Deinen Eltern wird es recht sein; wenn es Dir paßt, können wir sofort zum Winkelbauer gehen, ich werd’ Dich begleiten.“

Hansel warf Spaten und Hacke bei Seite und zog seine Joppe an. Seine Eltern waren nur zu gern damit einverstanden. Noch vermochte er es nicht recht zu fassen, es kam ihm das Glück zu unerwartet, aber es konnte nichts Trügerisches dahinter stecken, da der Richter mit ihm ging, und der wollte ihm wohl.

Zwei Stunden später trieb er zwei stattliche Kühe durch das Dorf hin, und er blickte so freudig und stolz um sich, als ob er der reichste Bauer im ganzen Thale wäre. Er mußte die Thiere an dem Hause des Krämers, der ihm nie wohlgewollt, weil er nicht bei ihm kaufte, vorüber treiben.

„Nun, wohin geht denn die Reise mit den Kühen?“ fragte der Krämer, der vor der Thür stand und behaglich seine lange Pfeife rauchte.

„Direct in meinen Stall,“ gab Hansel zur Antwort.

„Haft Du sie gekauft?“ forschte der Krämer neugierig weiter.

„Freilich! Wenn ich sie gefunden hätt’, müßt’ ich sie wohl abliefern.“

„Nun, da scheint das Geld bei Dir nicht knapp zu sein,“ bemerkte der Krämer mit halb spöttischem Lächeln.

„Es langt, und da muß ich zufrieden sein,“ gab Hansel lachend zur Antwort und trieb die Thiere weiter.

In gleich heiterer Weise antwortete er Allen, die ihm begegneten, und als er auf dem Gehöfte seines Vaters anlangte und die Thiere in den Stall getrieben, blickte er lustig hinüber zu dem Oberburgsteine, als ob er dem stolzen Bauer dort oben zurufen wolle: „Gieb nur Acht! So weit wie Du bring’ ich es auch!“

Und es war, als ob auf Hansel’s Hand Glück und Segen ruhe. –

Der Sommer schwand langsam unter fortgesetzter Arbeit. Hansel hatte die Geliebte kein einziges Mal gesehen, und die Sehnsucht ward bei ihm oft so stark, daß er Alles vergessend zu ihr eilen wollte. Zur rechten Zeit erhielt er jedesmal von Moidl einige Zeilen, in denen sie ihn bat, auszuharren und den Muth nicht zu verlieren.

„Ich bleib’ fest und denk’ stündlich an Dich, Hansel!“ fügte sie hinzu.

Diese Worte richteten ihn jedesmal wieder auf. Er würde indessen nicht so geduldig ausgeharrt haben, wenn er gewußt hätte, wie es dem armen Mädchen erging. Sie hatte wenig frohe Stunden.

Ihr Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, daß er nur durch Strenge eine Wandlung in ihr hervorrufen könne, und sein starrer Sinn hielt daran fest.

„Wenn sie ihn nicht sieht und nichts von ihm hört, dann wird sie ihn vergessen,“ sagte er sich. Tagelang sprach er nicht ein einziges Wort mit ihr und doch beobachtete er jede ihrer Mienen. Wie eine Gefangene hielt er sie und schlief sogar dicht neben ihrer Kammer, damit sie dieselbe Nachts nicht verlassen könne. Er selbst verschloß jeden Abend das Haus und steckte den Schlüssel zu sich.

Wenn die Knechte oben im Walde arbeiteten, war er fast täglich zu ihnen gegangen, um zu sehen, wie die Arbeit fortschritt, jetzt kümmerte er sich um sie nicht mehr, weil er das Gehöft nicht verlassen wollte. Der Gedanke, daß Hansel in seiner Abwesenheit kommen könne, verließ ihn nicht und peinigte ihn. Oft stand er sogar des Nachts auf und umging das Gehöft.

Die Ernte war eingebracht, sie war eine gesegnete gewesen.

Der Oberburgsteiner hatte schon vor mehreren Jahren ein [611] Stück Wald, welches unterhalb seines Gehöftes lag, ausroden lassen und zu Acker gemacht. Man hatte ihm gerathen, dies nicht zu thun, weil der Wald einen Schutz für sein Gehöft gewähre.

Lachend hatte er erwidert, der Wind werde sein Haus nicht forttragen, dazu sei es zu fest gebaut.

Andere hatten prophezeit, der Acker werde sich nicht bewähren, weil er zu abschüssig sei und durch den Regen zu sehr leiden werde, der das Erdreich fortspüle. Drei Jahre hatte er sich bewährt und in diesem Jahre das beste Korn getragen.

Mit Stolz blickte der Oberburgsteiner gerade auf dieses Stück Feld, denn es gab ihm den Beweis, daß er klüger sei als Andere.

„Ich bin stets meinem Kopfe gefolgt und gut dabei gefahren,“ sprach er mit Befriedigung, „Wär’ ich klüger gewesen, so hätt’ ich schon vor zwanzig Jahren den Wald gerodet.“

Der Spätherbst war gekommen.

Es hatte schon mehrere Tage lang unablässig geregnet und von den Bergen stürzte das Wasser in wilden, rauschenden Bächen. Es brauste des Nachts fast wie am Strande des Meeres, wenn die Fluth steigt. Der Oberburgstein war fast die ganze Zeit über in dichte Wolken gehüllt, doch das war im Herbste nichts Ungewohntes. Die Holzknechte konnten im Walde nicht mehr arbeiten.

Aus dem Thale kamen schlimme Nachrichten. Der Fluß war hochgeschwollen und hatte bereits mehrere Aecker überschwemmt. An einigen steilen Abhängen hatten Felsenstürze stattgefunden, mehrere Thalbewohner waren arg dadurch geschädigt.

„Weshalb bauen die Thoren sich dort unten an!“ rief der Oberburgsteiner in seinem kalten Hochmuthe und dem Gefühle der Sicherheit. „Schon einmal ist vor langen Jahren fast das ganze Dorf durch ein Hochwasser zu Grunde gerichtet – die Menschen werden nie klug.“

Der Regen währte fort. In der nahen Schlucht toste das niederstürzende Wasser, daß die Luft fast erzitterte, es klang oft wie ein fernes Donnern.

Moidl dachte mit Bangen an Haidacher’s Gehöft. Wenn der Acker, den Hansel mit so unsagbarer Arbeit von dem Steingeröll befreit hatte, nun wieder überschüttet wurde!

Da erwachte sie eines Nachts durch ein lautes, donnerähnliches Geräusch. Bestürzt fuhr sie empor, und es war ihr, als ob das Bett schwanke und das Gebälk des Hauses zusammenbreche.

Sie sprang aus dem Bett.

Sie konnte nicht geträumt haben, denn im Nebenzimmer rief ihr Vater ihren Namen.

Nach wenigen Minuten waren sie beisammen in der Stube. Das Gesicht des Bauern war bleich.

„Was ist geschehen, Vater?“ rief Moidl erschreckt.

„Ich weiß es nicht,“ gab der Bauer mit bebender Stimme zur Antwort. „Ein Windstoß muß das Haus erfaßt haben.“

„Es schwankte.“

„Du hast Dich getäuscht, das Haus steht fest,“ entgegnete der Oberburgsteiner, aber er selbst schien seiner Versicherung nicht zu glauben.

Da wurde von außen heftig an die Hausthür gepocht. Der Bauer öffnete und einer seiner Knechte, der im Stalle bei den Kühen geschlafen hatte, stürzte mit bleichem Gesichte herein.

„Der Acker – der neue Acker!“ rief er, mehr vermochte er nicht hervorzubringen.

„Was ist mit ihm?“ fragte der Oberburgsteiner.

„Er ist hinabgestürzt – ein Bergsturz!“

Das Gesicht des Bauern schien zu erstarren. Mit der Rechten griff er nach einem Schemel, um sich aufrecht zu halten. Dann raffte er sich zusammen und stürzte fort aus dem Hause. Er brauchte nicht weit zu gehen. Es regnete noch immer heftig, aber es war hell genug, daß der Erschreckte sich von der Wahrheit der Worte, die sein Knecht ihm zugerufen, überzeugen konnte. Der Acker, auf den er so stolz gewesen, war verschwunden, eine glatte Felsmasse starrte ihm entgegen.

Er griff mit der Hand an die Stirn, denn noch konnte er das Geschehene nicht fassen. Mehr als der Verlust kränkte ihn der Gedanke: „Die haben doch Recht gehabt, die Dich gewarnt!“ Er hatte über sie gelacht und gespottet, seinem Kopfe allein hatte er getraut und nun mußte er dies schwer büßen.

Aber eine weit schwerere Sorge verdrängte diese Gedanken. Daß auch das Haus geschwankt hatte, konnte keine Täuschung gewesen sein – wenn der Boden, auf dem es stand, dem Acker nachstürzte! Dann war Alles – Alles verloren!

Ihn schwindelte und er trat zurück. Noch konnte er es nicht mit Bestimmtheit wahrnehmen. Fest preßte er die Lippen auf einander.

„Ist Gefahr vorhanden?“ fragte Moidl, die zu ihm getreten war.

Er schüttelte mit dem Kopfe.

„Ich glaub’ nicht,“ sprach er dann, aber diese Worte kamen aus einer schwerbedrängten Brust.

Unruhig schritt er auf dem Gehöft umher. So lange er sich sicher gefühlt, hatte ihn das Rauschen des Wassers in der Schlucht wenig gekümmert, denn ihm konnte es keinen Schaden thun; jetzt klang es ihm unheimlich.

Sobald der Morgen graute, untersuchte er seine Besitzung. Es war ihm, als ob die Lage seines Hauses sich etwas geändert habe – er konnte irren. Er schritt über die Wiesen oberhalb des Gehöftes bis zum steil aufsteigenden Walde, da fuhr er bestürzt zurück. Bis zu einer Mannshöhe waren die ganzen Wiesen sammt dem Gehöft abgestürzt. Hier konnte er es deutlich sehen, die Wurzeln der nahe stehenden Bäume ragten von dem Erdreich entblößt in die Luft.

Wie erstarrt stand er da, sein großer Körper zitterte. Nun wußte er, weshalb das Haus geschwankt hatte. Ein schwerer, banger Seufzer rang sich aus seiner Brust.

Er suchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß das abschüssige Erdreich sich wieder gesetzt habe. So konnte es vielleicht Jahrhunderte bleiben, aber ebenso gut konnte es in der nächsten Minute hinabstürzen und Alles mit sich reißen.

Der Boden schien ihm unter den Füßen zu schwanken. Was sollte er thun? Er wußte es nicht. Der Regen strömte noch immer nieder und erhöhte die Gefahr. Er hatte es mit einer Kraft zu thun, der sein Kopf nicht gewachsen war.

Endlich raffte er sich zusammen und kehrte mit schwankenden Schritten zum Hause zurück. Was er wahrgenommen, wollte er nicht sagen, um die Angst nicht zu erhöhen. Es war genug, wenn er sie allein trug. Vielleicht war sie unbegründet.

Bleich und zitternd betrat er das Haus, auf dessen Flur sich seine Tochter, die Knechte und die Magd versammelt hatten. In demselben Augenblicke begann das Haus auf’s Neue zu schwanken, die Balken krachten, von dem Dache fielen schwere Steine. Er selbst wankte und hielt sich am Thürpfosten.

„Jesus Maria!“ schrie Moidl erschreckt auf.

„Rettet Euch – rettet das Vieh – das Vieh – nach dem Gehölz – nach der Capelle!“ rief der Oberburgsteiner und stürzte nach dem Stalle.

Oberhalb des neuen Ackers war ein neuer Theil des Erdreichs hinabgestürzt. Wie eine graue, steinige Straße zog es sich den Berg hinab.

Auf’s Neue war das Gehöft zum Stehen gekommen, sonst würden Alle verloren gewesen sein. Die Kühe wurden in größter Hast von den Ketten befreit und eilig nach dem Walde getrieben, in das Haus zurückzukehren wagte Niemand, selbst der Oberburgsteiner nicht.

Moidl war voran geeilt und hatte sich in der Capelle niedergeworfen, sie betete laut zur Mutter Gottes. Ihr Vater folgte ihr, aber er konnte nicht beten; starr, hülfesuchend fuhr sein Auge umher. Er glaubte auch hier keinen Schutz mehr zu finden.

„Fort – fort – treibt das Vieh durch den Wald zum Unterburgstein!“ rief er.

Er wollte den Knechten, die seinen Befehl, durch die Angst gedrängt, in wilder Hast ausführten, folgen, seine Kräfte ließen es nicht zu. Schon nach wenigen Schritten mußte er sich an einen Baum lehnen, um sich aufrecht zu halten.

„Flieh – flieh!“ rief er seiner Tochter zu, die neben ihm war.

„Ich bleibe bei Dir!“ entgegnete Moidl. „Ich verlasse Dich nicht!“

Der Bauer hörte ihre Worte kaum.

[612] Nicht an sie dachte er, sondern an sein Gehöft, an seine Besitzung, seinen Stolz. Angstvoll wandte er den Blick zurück zu seinem Hause.

„Es steht noch!“ rief er und schien zurückkehren zu wollen.

„Vater, komm – komm!“ rief Moidl; sie erfaßte seinen Arm und zog ihn mit sich.

Und er folgte. Es war, als ob er keinen Willen mehr habe, als ob seine Kraft und sein Muth ausgelöscht seien.

Der Weg, auf dem sie niederstiegen, war durch den Regen in einen Gießbach verwandelt. Sie achteten nicht darauf, zu gewaltig zitterte die Gefahr, der sie mit Noth entgangen waren, in ihnen nach.

So langten sie im Dorfe an und traten in das Haus des ihnen befreundeten Sägemüllers.

Der Oberburgstein stand noch, das Gebäude schimmerte durch den Regen, der etwas nachgelassen hatte, hindurch.

Der Oberburgsteiner brach kraftlos auf einem Schemel zusammen.

Im Dorfe hatte man den Bergsturz unterhalb des Oberburgsteins, der den neuen Acker mit fortgerissen, wohl wahrgenommen, aber Alle waren durch die Gefahr, die ihnen der hochgeschwollene Fluß bereitete, so bestürzt und in Sorge, daß sie an Andere wenig dachten.

Dem Sägemüller war durch das Hochwasser bereits viel Holz fortgerissen, und er suchte mit seinem Sohne und von einigen Nachbarn unterstützt zu retten, was noch zu retten war. Andere suchten durch Dämme ihre Häuser zu schützen.

Da fiel der Fluß ganz plötzlich, sein Wasser schien mit einem Male versiecht zu sein.

Manche athmeten erleichtert auf, Andere waren um so besorgter, denn die Erscheinung war eine auffallende und hatte etwas Unheimliches und Geheimnißvolles. Die Ursache blieb nicht lange unbekannt. Es kam die Kunde, daß weiter hinauf im Thale ein mächtiger Bergsturz stattgefunden habe, der das enge Thal hoch mit Schutt und Steinen angefüllt. Dahinter staute sich das Wasser des Flusses.

(Schluß folgt.)




Vom alten Richter.

Von Ferdinand Avenarius.

Am 28. September dieses Jahres feiert Ludwig Richter, der Volksschilderer mit dem Bleistift, seinen achtzigsten Geburtstag.

Ich kann mir’s nicht denken, daß irgend Einer, zu dem Richter’s Kunst jemals vernehmlich gesprochen, den Tag ohne Antheil vorüberziehen läßt. Man wird ihm Liebe und Ehre in reichem Maße erweisen – vielleicht sogar mehr, als es dem alten Herrn in seiner bescheidenen Schlichtheit lieb ist. Wir aber, denen es nicht vergönnt ist, ihn an seinem Ehrentage von Angesicht zu Angesicht zu sehen, wollen uns dadurch die Geburtstagsfreude nicht verderben lassen – wir wollen, wenn auch nicht mit seiner Person, doch mit dem Geist des Meisters ein wenig verkehren, mit seinem Geist, wie er uns aus seiner Kunst warm gleich dem Schlag seines Herzens entgegengrüßt.

Freilich: nicht der Keim allein macht den Baum – Regen und Sonnenschein und der Boden, in dem das Pflänzchen wurzelt, haben auch dabei zu thun, wenn sich’s zu Blatt und Blüthe gerade so und nicht anders gestaltet. Auch manches Blättlein der Richter’schen Kunst werden wir erst recht verstehen, beachten wir ein wenig, wo und wie es sich nährte, und welches die Sonne war, die ihm leuchtete. Und darum wollen wir uns zunächst an dies und das aus dem Lebensgange unseres Künstlers erinnern.

Am 28. September 1803 ward Adrian Ludwig Richter zu Dresden geboren.

So fallen die Jahre der ersten geistigen Regungen des Knaben in jene Zeit, in der die bildende Kunst fast überall im deutschen Vaterlande schier trostlos darniederlag. Selbst jenes Streben nach der Antike, das die altgewordene Rococokunst in höhere Sphären emporheben sollte, war wieder ermattet: im Grunde hatte sich wohl selbst ihr Ikarus, der gefeierte Raphael Mengs, nicht mit dem angeborenen Fittich des Genius zu seinem Fluge emporgehoben, sondern mit dem gutgemachten Wachsflügel, den auch die ehrlichste Arbeit im Schweiße des Angesichts eben doch nur äußerlich ankleben konnte. Nun kroch die Kunst wieder am Boden umher, besann sich da und dort auf bessere Zeiten und reckte sich ein wenig aufwärts, ward aber bald wieder schläfrig, und fand’s am Ende bequemer, auf der Erde zu bleiben und sich redlich zu nähren.

Freilich, auch das war schon schwer genug. Die schwere Noth, die in Gestalt von Napoleon’s Heeren über Deutschlands Gaue gezogen war, hatte im Volke – von den materiellen Kräften ganz zu schweigen – Lust und Liebe zur Pflege der Kunst niedergedrückt. Dort aber, wo ihr der heimische Boden in der Volksliebe fehlt, wo sie wie eine exotische Blume nur hier und da von einem Liebhaber im Topfe gezogen wird, wird die Kunst statt einer kraftvollen Pflanze ein bekünsteltes Ziergewächs. Nur die Kleinkunst, die mit der Literatur den Weg gemeinsam finden konnte, gedieh gesund.

Dazu kam das Elend der damaligen Akademien, die als eine Art von Kunstbureaukratie von allen Ueberbleibseln der guten alten Zeit vielleicht den dicksten Zopf im Nacken hatten. Da wurde Alles fein dressirt, in spanische Stiefel eingeschnürt – manch leuchtender Name strahlt am Kunsthimmel, der wegen Eigenwilligkeit seines Trägers in jener Zeit aus den Akademikerlisten gestrichen wurde; wer aber kennt heute die „guten Schüler“ von dazumal?

Und in der That war’s vielleicht kein Unglück, daß unser junger Adrian Ludwig nicht viel in die Akademiesäle kam. Sein Vater, der Kupferstecher Karl August Richter, hatte unter der Ungunst der Zeit so schwer gelitten, daß er und sein Sohn zu jeder Arbeit greifen mußten, die sich eben bot. Der Schweizer Adrian Zingg, auch unseres Adrian Ludwig Pathe, dessen manieristische Land- und Seestücke damals dem Modegeschmack entsprachen, lebte als Professor der Kupferstecherei in Dresden und hatte, um der großen Nachfrage nach seinen Blättern zu genügen, schließlich eine ordentliche Kupferstichfabrik angelegt, als deren Director er unter jedes Blatt frisch ein „feci“ schrieb, auch wenn es ein Anderer gemacht hatte. Die meisten Blätter jener spätern Zeit stammen von Richter’s Vater. Der Sohn half ihm dabei, der dunkle Drang des guten Menschen aber scheint den Letzteren schon früh auf andern Weg aus all dem Modewerk hinausgewiesen zu haben: Chodowiecki’s Radirungen fesselten ihn – der hatte die Welt des täglichen Lebens vielleicht mit nüchternen Philisteraugen, aber doch ohne akademische Brille gesehen.

Der Vater hatte den heranwachsenden Knaben im Landschaftszeichnen unterrichtet, allmählich kam andere Schulung hinzu. Ein alter Professor sollte unserem Ludwig das Oelmalen beibringen – der griff die Sache so an, wie es ihm „gewissenhaft“ erschien. Da wurden Bilder in Sepia und wieder Bilder copirt – „ach wenn ich doch erst an einen Claude Lorrain dürfte!“ seufzte der Schüler; „da müssen wir erst noch einige Dutzend anderer Bilder vornehmen,“ entgegnete sein Meister. Ebenso „gründlich“ ging es mit der Anatomie: alle Knochen wurden in natürlicher Größe mit Stift und Kreide abgemalt und auf’s Sorgfältigste schraffirt; und als der Mensch zu Ende war, kam das Pferd daran, bei dem denn unser armer Richter oft keine Ahnung davon hatte, wo die betreffenden Knochen im Thiere eigentlich saßen – denn zum Zeichnen des Ganzen kam es nicht! Der Unterricht im eigentlichen Malen bestand darin, daß all die festgenagelten Regeln der Zeit unserem Schüler vor den Kopf genagelt werden sollten, daß er z. B. lernte, wie man über zusammengefaltetem Papier den „Baumschlag“ tupfe, wie man mit dem Fischpinsel so herumfahren müsse, daß es wie Blätter, so, daß es wie Gras aussah etc. Daran, frisch die Natur anzusehen und dann zu probiren, bis man es „heraus hatte“, dachte auch wirklich Keiner. Unser Richter selbst erzählt, er sei einmal mit seinem Vater an einem Mühlbach gegangen, da habe das Gras ihm gar so saftig in’s Auge gelacht. „Ach,“ habe er ausgerufen, „daß man das doch gar nie so machen kann!“

Gewiß, es war dem jungen Manne, dem es auch an anderen

[613]

Der Morgen kühl,
Der Mittag schwül;
Viel Unruh bei dem Feste,
Der Abend ist das Beste.

Ludwig Richter in Loschwitz.
Für die „Gartenlaube“ gezeichnet von E. Limmer.

[614] Anregungen fehlte, nöthig genug, hinauszukommen und zu sehen, daß die Welt doch noch größer sei, als die Elbestadt.

Und dazu bot sich ihm eine Gelegenheit. Fürst Narischkin, ein Kammerherr und nebenbei ein echter Russe, reiste mit Arzt, Secretär, Kammerdiener und – Maler in der Welt herum. 1820 kam er nach Dresden, von wo er den jungen Richter mitnahm. Es ging nach Südfrankreich, dann nach Paris – dort führte unser fürstlicher Leibmaler seine Landschaftsskizzen in Sepia aus, auf daß sie sein Herr und Gebieter als schön gebundenes Album der Kaiserin aller Reußen zu Füßen legen könne. Für Richter war’s immerhin eine gute Schule – er lernte Neues sehen und schnell wiedergeben, vielleicht auch aus dem mitgebrachten Manierismus Zingg’s schon jetzt herauszukommen.

Bei seiner Rückkehr – 1821 – fand er die Dresdener Zustände äußerlich kaum merklich verändert. Ein wenig hatte sich’s aber doch schon geregt. Der Maler C. D. Friedrich, den der Franzose David den „Tragöden der Landschaft“ nannte, suchte die Natur oft wunderlich, „jedoch auf seine Weise“ zu beseelen, der Norweger Dahl strebte kühn dem Realismus zu. Die Zöpfe der alten Herren schüttelten sich darüber, und manche geistige Perrücke sträubte sich sogar vor Entsetzen – den jungen aber gingen die beiden Ketzer im Kopfe herum: „sie sagten doch etwas“.

Um jene Zeit aber ging durch die Künstlerkreise der deutschen Jugend eine seltsame Mär – drüben, über den Bergen, im fernen Rom, rege sich’s mitten unter den Welschen gar wunderbar von deutschem Geiste: ein Schwarm begeisterter Jünger schaare sich dort um ein neues Glaubenszeichen der Kunst, der aber, der es mit glühender Seele emporhalte, sei ein „wegen offenbaren Mangels an Talent“ von der Düsseldorfer Akademie weggemaßregelter Feuerkopf und heiße Cornelius. Unser Ludwig Richter, der sich als Zeichner und Colorirer bescheiden von den vornehmen Herren Malern zurückhielt, hatte anfangs nur leise da und dort ein Wort davon gehört. Bald aber brauste der Jubelruf von der wiedererstandenen Kunst so mächtig durch alle jugendlichen Herzen, daß ihn hören mußte, wer ihn nur hören wollte – da schwoll auch unseres Ludwig Brust von Freude und Sehnen und dem Losungsworte: nach Rom!

Gar zu lange sollt’ er auch nicht schmachten. Ein Kunst- und Menschenfreund, der Buchhändler Arnold, stellte ihm vierhundert Thaler jährlich zur Verfügung – und im Jahre 1823 zog Ludwig Richter in der heiligen Roma ein.

Uns Jüngern, die wir nur dem Hinwelken der Schule zuschauten, die in jener Zeit aufblühte, ist es schwer, eine Vorstellung von der feurigen Hingabe zu gewinnen, die das Keimchen damals so schnell zur vollen Entfaltung reigte. „Leben, Geist, Wahrheit, Ernst, Tiefe und Innigkeit der Empfindung,“ sagte Schnorr von Carolsfeld einmal, „nicht weniger als Alles war abhanden gekommen. Kalte Nachahmung antiker Formen oder gemeine Modellwahrheit sammt dem leeren Schlendrian der Kunstschulen mußte niedergeworfen werden, um zum Leben durchzubringen. So stark war die Empfindung, daß nur von dem Standpunkte wiedergewonnener Pietät allein eine Wiederherstellung der Kunst möglich sei, daß die Führer vor Allem in der Veredelnug ihres innern Menschen die Bürgschaft für den Segen im Berufe erkannten.“

Den Philistern in Kunst und Leben galt der Kampf.

„Was thut’s, wenn wir fallen,“ hatte Cornelius ausgerufen, „es mag gut und klug sein, im Hinterhalte zu harren, am Ende aber thut’s Noth, dem Feinde die blanke Schwertspitze unter die Nase zu halten.“

Als Richter in die „römische Schaar“ trat, hatte sie freilich ihr „Hauptmann“ Cornelius bereits verlassen. Aber noch immer ging’s hoch her, und in der Chiavica, der Künstlerkneipe des Kreises, der den jungen Richter jetzt als Nesthäkchen aufgenommen hatte, wurden noch mit alter Wärme die Neulinge eingeweiht, die Scheidenden zu tapferem Apostelthume vermahnt, die neuen Pläne und Gedanken und die Dinge, die sonst Einer auf dem Herzen hatte, besprochen. Ward auch mitunter ein Hälmchen Stroh gedroschen, manch gutes Saatkorn fiel dennoch in die Herzen. Besonders an Julius Schnorr von Carolsfeld und an Koch schloß sich der junge Genosse an. Des Letztern Umgang war auch von sichtlichem Einflusse auf seine Landschaftsmalerei, die, von wackern Naturstudien unterstützt, sich bald zu jenen goldigen Bildern emporschwang, die heute noch viel genannt sind und noch bekannter wären, wenn nicht die Verbreitung von Richter’s späteren Zeichnungen die anderen Schöpfungen des Künstlers zurückgedrängt hätte. Durch die römische Anregung aber ward in Richter, wie er selbst erzählt, auch noch eine Ader seines Schaffens gekräftigt, die durch sein ganzes Leben mächtig pulsiren sollte: seine künstlerische Religiosität.

Drei Jahre währte seine Abwesenheit vom Vaterlande, zurückgekehrt gründete sich Richter sein eigenes Heim. An der Seite seiner jungen Frau ging er 1826 nach Meißen, wo er eine Stellung als Zeichenlehrer an der Porcellanfabrik übernahm. Er hatte trotz all seiner Liebe für Italien so recht gefühlt, daß seine Kunst deutsch sei – nun dachte er sich’s schön, in dem romantischen alten Bergstädtchen Land und Leute der Heimath behaglich zu belauschen. Doch der Verkehr mit den Meißner Pfeifenkopfmalern bildete zu dem im römischen Kunstkreise deutscher Nation einen gar zu kläglichen Contrast, und Richter war froh, als sich ihm 1828 die Gelegenheit bot, fortan an der Dresdener Akademie zu wirken.

In jene Zeit aber fällt die Wende in Richter’s künstlerischem Leben. Was schon seit Jahren dunkel in seiner Seele gelegen hatte, das führte ihm die Bekanntschaft mit einem kleinen Buche klar vor das Bewußtsein, mit des Grafen Pocci Festkalender. Die anspruchslose edle Herzlichkeit, der reine ungetrübte Künstlersinn, welcher trotz vielfacher Schwächen im Einzelnen die Bilder des Grafen durchweht, weckte in der Brust unseres Meisters wohl am kräftigsten die verwandten Klänge. Blätter zu allerhand Geschichten hatte er schon mehrmals zum Broderwerb nebenbei gezeichnet, aber er hatte dabei wohl nie an viel anderes gedacht, als eben an das Einzelne, das er gerade zu illustriren hatte. Jetzt aber wuchs klar vor seinem Geiste ein großes Ganzes heraus, dessen einzelne Theile, ob immer getrennt, doch kein ganz selbstständiges Leben hatten. Und dieses große Ganze war: das Herzensleben seines Volkes. Als Mittel seiner Kunst aber, die, wie sie das Volk schilderte, auch möglichst weiten Kreisen des Volkes zugänglich sein sollte, faßte der Meister den Holzschnitt in’s Auge – eine Technik, die damals wieder aufzublühen begann und unserem Richter für ihre Weiterentwickelung viel verdanken sollte. –

Wir sind dort angelangt, wo wir von den äußeren Lebensverhältnissen unseres Künstlers schweigen können – wollten wir doch keine Schilderung derselben, sondern einen Abriß der innern Entwicklung Richter’s geben. Dieser aber hatte nun den Weg gefunden, auf dem er fortan gerade vorwärts schritt. Er wirkte noch lange segensreich, geliebt und vielfach geehrt an der wiedergeborenen Dresdener Akademie, den Sommer über auf dem Lande, zumeist im nahen Loschwitz, umgeben von Gestalten, wie er sie am liebsten auf seinen Blättern wiedergab. Seine künstlerische Schöpferkraft aber concentrirte er auf jene Zeichnungen, deren reichem Schatz wir nun einige Worte widmen wollen.

Zunächst glaubte Richter seiner Natur noch genügen zu können, wenn er nur die poetische Grundlage seiner Illustrationen so wählte, daß sie ihm die Möglichkeit der Volksschilderung gewährten – und herrliche Bilder zu Märchen und Dichtungen entstanden zu jener Zeit. Dennoch zeigen sie Richter’s höchstes Können noch nicht. Ein Geist, der so lebendig wie der seine mit eigenem Herzen fühlte, mit eigenem Kopfe dachte, spiegelt nur jene Dichtungen voll wieder, die ihm selbst ganz und gar verwandt sind. Bei den Richter-Bildern zu den Volksliedern und Volksmärchen sehen wir auf den ersten Blick, daß dem so war – uns ist’s, als hätte das dichtende Volk, wär’s ein malendes Volk gewesen, das, was es zu sagen hätte, nicht anders sagen können, als es hier geschehen.

Doch schon bei den Bildern zum hohen Liede des Menschenlebens, zu Schiller’s „Glocke“, wird’s uns, so Wundervollem wir begegnen, in dieser oder jener Einzelnheit vielleicht schwer, den schwungvoll pathetischen Stil Schiller’s mit der schlicht gemüthvollen Gestaltung Richter’s zusammenzustimmen. Und in andern Bilderwerken zu unsern Classikern stört uns das Bewußtsein, daß sie Illustrationen bieten wollen, vielleicht eher im Genuß, als es diesen fördert. Macht Richter die Bilder zu den Versen, so ist’s eben oft gerade umgekehrt, als wenn er die Verse zu den Bildern wählt; im letztern Falle treffen sie den Nagel stets so gerade auf den Kopf, daß man die Zeichnungen nicht glücklicher charakterisiren [615] kann, als eben durch die beigeschriebenen Worte des Zeichners selbst. Das alles ist nur ein Beweis von Richter’s Originalität. Der Meister selbst aber scheint Aehnliches gefühlt zu haben, denn immer entschlossener wandte er sich dem Leben selbst zu – bald griff er ohne Vermittelung eines Poeten mitten hinein, und wo er’s faßte, ward’s interessant. Auch von den mittelalterlichen Bräuchen und Trachten, denen er zunächst wohl unter dem Einfluß der romantischen Zeitströmung mit Vorliebe gehuldigt harte, wandte er sich immer mehr ab und dem warmen Leben der Gegenwart zu.

Nun wär’s freilich ein Ding der Unmöglichkeit, das gewaltige Stoffgebiet, das uns Richter in Tausenden von kleinen Offenbarungen erschloß, mit einem Wort für all seine Einzelschönheiten durchwandern zu wollen. Aber da und dort müssen wir unserem Zauberer doch über die Schulter sehen, wie er, was das Volk und er mit dem Volk fühlt, denkt und erlebt, vor sich auf die Blätter bannt.

Das ganze Menschenleben ist’s.

Wir sehen das Kind, wie es kaum die Welt begrüßte, wir folgen ihm auf seinem ersten Weg, wenn es bei Orgelton und Glockenklang von Eltern und Freunden zur Taufe geleitet wird. Wir sehen der Eltern „rechte Augenweide“, wie sich die Beiden vor dem Schlafengehen noch einmal so recht satt daran sehen:

„Der Alles segnet, segn’ Euch Beide,
Ihr liebes Schlafgesindel, Euch!“

Und wir belauschen des jungen Weltbürgers erste Schritte, seine ersten täppischen Spielereien – sieh, da kommt der Storch wieder: ich glaub’, er kennt dich nicht mehr –

„’s macht’s, wil d’ so groß und sufer bisch,
Und ’s Löckli chrüser worden isch:
Fern hesch vo so ne Jüppli g’ha,
Jetz hesch scho g’streifti Hösli a!“

Wie der Junge wächst! Jetzt kann er schon mit den Anderen mittanzen, jetzt läuft er gar mit ihnen in den Wald und braucht sich nicht mehr vom Schwesterlein füttern zu lassen – „beiß ’mal ab, Hänschen“ – oh, der sammelt schon selber Beeren – „eins in’s Töpfchen, zwei in’s Kröpfchen“. Und nun klettert er gar schon mit fernen kleinen Sündergenossen auf den Baum und maust Kirschen – gieb dir nicht so viel Mühe, du guter Holzsoldat da oben, der du so grimmig an deiner Klapper drehst: die Spatzen jagst du nicht weg! Und nun ist er schon so gescheidt geworden, daß er gern Großmamas „gruslichen Geschichten“ lauscht – prr, da spukt ein Geist – ach nein, der Apfel auf dem Ofen war’s, der ist geplatzt! Wenn er nur in der Schule mehr taugte, der Bursche – aber da kommt er gerade klagend heraus und bezeichnet mit der einen Hand so deutlich den Ort seiner Schmerzen, daß es des mahnenden Magisters mit dem Rohrstock zur Aufklärung der Situation eigentlich gar nicht bedürfte. Und nun hat er wieder sein Geburtstagsgedicht nicht gelernt! Und wie furchtbar groß sind die Buchstaben auf dem Gratulationspapier! Und doch guckt der Junge einen dabei so verlegen an und zugleich so verschmitzt – na, komm her, wir wollen’s diesmal nicht so genau nehmen, dies eine einzige Mal will ich dir auch noch die schlechte Censur verzeihen! …

Goldene Kinderzeit, er hat dich wunderlieb geschildert, unser Richter – er hat dich freilich wohl nimmer anders angesehen, als wir die Kinder auf jenem tiefsinnigen Bilde „für’s Haus“ ansehen: du pflückst die Blumen von den Gräbern der Todten, du tanzest mit leichten Füßen über ihre Gruft und singst ihnen die Kunde hinab, daß das alte Menschengeschlecht noch immer in duftigen Blumen weiterblüht!

Der Knabe wird zum Jüngling, das Mägdlein zum Mädchen an der Hand unseres Seelenführers belauschen wir sie, wie sich erster Ernst in ihre Kinderspiele mischt. Wir sehen sie wachsen, wir fühlen’s, wie ihre Blicke die Welt, die sie umgiebt, tiefer in sich saugen, wir fühlen’s mit, wie ihnen endlich Mensch und Natur anders zu sprechen scheinen, als bisher, bis eine nette wonnigliche Welt in ihrem Innern der Welt dort draußen entgegenblüht. Wir sehen der Liebe Keimen und Gedeihen, bis wir das Paar auf blumenbestreutem Pfad an der Schwelle des eigenen Hauses finden:

„Gott mit mir,
Mein junges Herz mit dir,
Gott mit uns Beiden
In Trübsal und Freuden!“

Und was der Tag der Ehe bringt, vom Erwachen am Morgen, durch Arbeit zum behaglichen Frieden des Mittagsmahls im traulichen Kreise und wieder von des Tages Arbeit zu des Abends Gästen, und was die Jahre der Ehe bringen, Entbehrung und Besitz, Schmerz und Freude, Geburt und Tod – wer hat uns das Alles so liebevoll gezeigt, wie Richter? Und wie wir altern, bis uns die Haare ergrauen und dünner werden, bis uns zuletzt das Enkelchen mit dem Kamm neckend über die Glatze fährt, und wir ihm doch darum nicht böse sind, denn der Kleine ist ja auch ein Stückchen des Gedeihens um uns her, dem warmen Herzens zuzuschauen nun unsere einzige Freude ist – wer hat das Alles mit dem Stifte so innig nachgefühlt, als Vater Richter? Freilich, er zeigt uns auch des Alters Verlassenheit – es ist ein trübes Gedicht, der Alte dort am Ofen, dem aus dem Pfeifenqualm das Bild eines jungen liebenden Pärchens aufsteigt, des „Sonst“!

Aber Richter’s Welt ist größer, als diese eigentlichste Wiedergabe des Menschenschicksals. Ich sagte: sie umfaßt das ganze Herzensleben seines Volks. Und zu diesem gehört auch die Natur, wie sie sich im deutschen Gemüthe zeichnet: die Landschaft. Fachmänner haben oft genug hervorgehoben, wie ernste Studien, wie tüchtiges Können in Richter’s Landschaften steckt, auch wenn sie nur mit ein paar Linien als Hintergrund in seine Bilder gucken. Nie aber giebt sie uns Richter nur um ihrer selbst willen: sie sind ihm nur der Grundaccord zu dem gemalten Liede, das die Menschen, die sie beleben, singen. Freilich verherrlicht dieses Lied oft seinerseits die Natur. Wir folgen ihr in ihrem ganzen Kreislauf. Wie herzig ist dieser „Frühlings Einzug“, auf dem der kleine Karl mit der Posaune wie aus der Pistole geschossen den Engelsgeschwisterchen voranfliegt – er kann’s ja der Welt nicht schnell genug verkünden:

„Wach auf, wach auf zum Lichte, du nachtumhüllte Saat,
Sproßt aus in tausend Halmen, die Zeit des Maien naht!“

Und mit Blumen und Pfeifen und Liedern jubeln die geflügelten Cameraden hinter ihm her, daß drunten die Rehe die Ohren spitzen und die Vögel aus den Verstecken und die Blumen aus den Knospen lugen. Wie ernst sinnig ist dann wieder jenes Bild, das uns den blinden Bettler zeigt, dem der Lenz seine Blüthen in den Hut spielt. Und dann der Sommer und der Herbst! Seht nur auf Richter’s Bild zu dem köstlichen Psalm: „Du krönest das Jahr mit deiner Güte, und deine Steige triefen von Fett, es triefen die Anger der Weide, und deine Hügel schmücken sich mit Luft. Die Triften bekleiden sich mit Schafen und die Auen hüllen sich in Korn – sie jauchzen und singen.“ Wahrlich, wir jauchzen und singen mit, sehen wir den Jubel in diesen Sommerbildern! Und mit Richter in seinen Bildern begrüßen wir die Winterzeit als Zeit innerer Erhebung und inneren Ausbaues, bis uns die Sonnwend mit der Kunde vom Längerwerden der Tage naht, bis uns das echte rechte Wahrzeichen seines höchsten Festes für jeden Deutschen, der Weihnachtsbaum, entgegenstrahlt. Die Freude, die er beleuchtet, zu schildern, hat sich Richter in einer Reihe von Compositionen, die seinen allervollendetsten angehören, nicht genug thun können. Hier traf ja auch einmal Alles zusammen, was ihm das Heiligste war: Deutschthum, Familie, Poesie und Religion.

Religion – hier muß ein Vorzug bewundernd erwähnt werden, den Richter mit sehr, sehr wenigen der „frommen Maler“ aller Zeiten theilt: seine Auffassung der Religion rein als Sache des Gemüths. Nie, aber auch in keinem einzigen seiner Bilder stört uns etwas, wie Dogmenkram, oder dessen nothwendige Folge: Intoleranz, obgleich – und das ist das Merkwürdigste dabei – an rein confessionellen Zeichen und Symbolen kein Mangel ist. Wir sehen da der katholischen Priester in Meßgewändern, der Weihrauchfässer, Crurifixe, Rosenkränze genug, und doch – gilt Richter bei Tausenden seiner Verehrer, wohl nur, weil er im protestantischen Dresden lebt, für einen Protestanten. Das ist nur dadurch erklärlich, daß auch durch die religiösen Bilder Richter’s ein stärkerer Hauch ruhiger gesunder Menschlichkeit weht, als wir ihn bei streng-confessionellen Malern zu finden gewohnt sind.

Und eben das ist’s, was auch diese seiner Bilder selbst dem, der mit jedem Dogma längst gebrochen hat, warm in’s Herz reden läßt. Die innig frommen Menschen Richter’s sind eben doch Menschen – nicht asketische Abstractionen in Menschengestalt. „Aller Augen warten auf dich“ läßt er beten, aber ihm fällt’s nicht ein, darin, daß dies ein kleiner Kerl zunächst auf den Eßtopf bezieht, etwas Gottloses zu sehen.

[616] In frommer Sammlung schreitet die Gemeinde zur Kirche – aber von den Kleinen hat doch die Eine mehr Gedanken für ihren duftenden Blumenstrauß und der Andere mehr für ein Vögelchen, das rechts im Laub zwitschert, als für die Predigt, die ihrer harrt. Wir aber, die wir diese kleinen „Schwächen“ bemerken, glauben nun denen, die ernst und fromm erscheinen, viel eher – ja, wir haben jetzt erst daran unsere volle Freude, denn wir wissen: der Mann, der sie so geschildert, ist wahr.

Ganz und gar aus dem deutschen Volksherzen herausgewachsen ist auch Ludwig Richter’ s Humor. Ich kann auch auf ihn, der fast in Alles leise hineinklingt, nicht im Einzelnen hinweisen – an Einiges möcht’ ich doch erinnern – nicht an das Derb-Komische, das ja auch dem flüchtigsten Blicke sofort auffällt! Kann es aber eine liebenswürdigere Schalkheit geben, als auf jenem merkwürdig seelenvollen und in’s Feinste durchgeistigten Bilde vom „Kleinhandel“ der Contrast zwischen der sorgsam abwägenden Käsefrau im Vordergrunde und der halbdunklen Brunnenfigur im Hintergrunde, die mit verbundenen Augen als Justiz die Wage der Gerechtigkeit emporhebt? Und wer möchte nicht über den Hund dort lächeln, der dem naschenden Spatzen auf seinem Futternapf behaglich zuguckt, indeß ein drohendes „Ich beiße“ auf seiner Hütte steht? Oder über den ehrlichen Nachtwächter auf dem „Johannisfest“, diese Verkörperung des Philisteriums, auf dessen urnüchterner Filzmütze ein paar riesenmäßige Rosen duften? Das sind so feinempfundene Züge, daß der größte Poet sich ihrer nicht zu schämen brauchte.

Da aber, wo sie sich finden, verleihen sie unmittelbarste Lebenswahrheit. Und noch kommt hinzu, um diese letztere zu bilden, daß wir bei Richter niemals etwas Gestelltes oder Arrangirtes wahrnehmen, niemals ein Modell. Er hat in der That auch keine anderen gebraucht, als jene, die er nach dem redlichen Lernen seiner Werdezeit im Kopfe, und zwar so gut im Kopfe hatte, daß sie nicht blos darin, wie einst in seinen Augen, standen, daß sie in seinem Kopfe auch lebten, lachten und sprachen, wie’s ihr Meister wollte. „Hatte ich ein Bürschchen unter dem Bleistift,“ sagte Richter einmal zu mir, „so verstand sich’s für mich ganz von selbst, daß es eben nur so einen Kittel und gerade so eine Hose anhaben mußte, und keine andere.“ Und an dieser Kraft der inneren Anschauung liegt’s eben auch, daß in unseren Bildern stets Alles bei der Sache ist. Dies geht bis auf’s Ornament, das bei Richter nie ein todter Rahmen ist. Es redet immer mit in die Geschichte hinein und macht sozusagen seine Randbemerkungen dazu.

Es ist wahr, der moderne Mensch, der in der Geisterschlacht unserer Zeit vorn in erster Linie mitkämpft, wird sein volles Leben in Richter’s Bildern nicht finden. Die Darstellung jenes höchsten Seelenringens, das, immer nur auf Wenige beschränkt, darum nicht minder ein Anrecht auf künstlerische Gestaltung hat, das eines GoetheFaust“, eines Kaulbach Wandgemälde zur Weltgeschichte durchgeistigte, ward von Richter nicht erstrebt – er wollte zeigen, „was Jeder einmal erlebte“. Es wäre trotzdem von Grund aus irrig, deshalb seine mächtige Bedeutung schmälern zu wollen. Ein Goethe war auch darin groß, daß er denen, die über der Mehrheit ihres Volkes standen, das Liebenswürdige und Schöne dort zeigte, wo sie es vielleicht sonst wenig beachtet hätten. Und darin ist auch Richter groß. Für immer werden ihm auch die „obersten Zehntausend“ dafür Dank schulden, daß er ihnen mit beredtem Stift das Gute und Schöne zeigte, das ihre verwöhnten Augen sonst vielleicht unter dem „Staub der Alltäglichkeit“ nicht gesucht und gefunden hätten.

Unserem Volke aber – dem großen ganzen Volke – wurden Richter’s Bilder zum Zauberspiegel, der ihm sein eigenes Bild verklärt zurückstrahlte. Es erkannte sich selbst, doch an seinem Besten erkannte es sich. Und dieses Beste ward gekräftigt, indem es stärker und stärker bewußt ward. Das ist Richter’s Bedeutung als Volkserzieher. Indem er schlicht seine eigene reine Menschlichkeit gab – sie, die in all ihrer Tüchtigkeit als die Verkörperung seines besten Theils aus dem Volke selbst herausgeboren ward – lehrte er sich und in sich eben jenen besten Theil dessen lieben, was in Allen war. Dem Lehrer aber danken wir am meisten, der uns nicht fühlen läßt, daß er lehrt, der das Gute in uns zu wecken, der dem Erwachten, wenn es gekräftigt, die rechten Wege vor’s Auge zu führen weiß, ohne sich mit gewichtiger Miene als Schulmeister zu präsentiren. Das ist der Grund von Richter’s beispielloser Popularität.

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Wir sind am Schlusse. Möchten meine Worte auch ihrerseits ein wenig dazu beitragen, daß unseres Volkes Liebe zu seinem Künstler nicht erkaltet! Möchte Richter’s Kunst auch dort immer wärmere Aufnahme finden, wo sie bisher nur wenig ihrer friedenbringenden Blätter ausgestreut, möchte insbesondere ihre Perle, die köstliche Sammlung „Für’s Haus“, bald auch in jedem Hause des Vaterlandes zum Familienschatze werden! –

Du aber, lieber Meister, der du, wie du’s einmal niederschriebst, „halbtaub, halbblind, aber in Gott zufrieden“ deine Tage nun in ruhiger Feierabendstille dahinlebst, sieh keine Anmaßung darin, wenn Einer der Jüngeren hier, wo eine Million Deutscher ihn hört, in ihrem Namen dir danken zu dürfen glaubt. Du hast unser Volk wie Wenige geliebt – möge es dein Greisenalter verschönen, daß es dich liebt, wie Wenige. Wenn aber dereinst auch jene, die jetzt dir am nächsten stehen, dir nicht mehr in’s Auge schauen dürfen: dein Geist wird in deiner Kunst fortleben und fortwirken, so lange wir seiner werth sind!




Das National-Denkmal auf dem Niederwald.

Von Ferdinand Hey’l.
1.00Anregung und Vorbedingungen.

Die Freiheit sei der Stern!
Die Losung sei der Rhein!
Wir wollen ihm auf’s Neue schwören;
Wir müssen ihm, er uns gehören;
Vom Felsen kommt er frei und hehr,
Er fließe frei in Gottes Meer!
Max von Schenkendorf.

Noch war der Jubel des letzten nationalen Krieges über die glücklichen Erfolge nicht verhallt, nach drangen die Trauerkunden schmerzlicher Verluste in die Familien, in Dorf und Stadt der Heimath, als sich auch schon aller Orten das Bestreben regte, den gefallenen Helden jenes aufgenöthigten Kampfes ein sichtbares Denkmal der Erinnerung zu weihen. Jedes Dörflein schickte sich an, das Angedenken an seine Gefallenen in einem Denksteine zu ehren, und Kunde dessen sind heute die zahlreichen Monumente, welche rings im deutschen Vaterlande für lange Zeit hinaus von den Thaten unserer Söhne in Waffen erzählen.

Noch bevölkerten die französischen Gefangenen die Lager in den Festungen, auf dem Lechfelde und in unseren offenen Städten, und in Frankreich wütheten die selbstmörderischen Kämpfe der Commune, während wir – erstarkt in dem Gedanken der endlichen Einigung der deutschen Stämme – nach einem sichtbaren Ausdrucke, nach einem Wahrzeichen suchten, das unauslöschlich nicht allein unseren Sieg im Kampfe feiern, sondern zumeist die „Wiederaufrichtung des deutschen Reiches“ den kommenden Geschlechtern eindringlich kund thun sollte.

Nur schüchtern wagten sich die ersten Vorschläge an das Tageslicht. Jetzt, in den Tagen der Enthüllung des nach zwölfjähriger Thätigkeit endlich vollendeten Denkmals, ist es ein wohlbegründetes Recht der „Gartenlaube“, eine kurz gedrängte Geschichte der Entstehung des Denkmals ihrem zahlreichen Leserkreise vorzuführen; war es die „Gartenlaube“ doch zunächst, welche einem größeren Theile des deutschen Volkes den Gedanken der Errichtung eines gemeinsamen Denkmals durch Wort und Bild nahelegte. –

In Münster im Westfalenlande wurde bei Gelegenheit der Feier des Geburtstages des Kaiser-Königs Wilhelm am 22. März 1871 der Gedanke zuerst ausgesprochen, einen Denkstein zur Erinnerung an die Erhebung des deutschen Volkes zu schaffen. Fast gleichzeitig traten in ähnlicher Bestrebung Bewohner von Bonn [617] zusammen und richteten ihr Augenmerk auf die Erpeler Ley am Rhein – Remagen gegenüber – während die Patrioten in der Pfalz einer Höhe in den Vogesen, jene in Münster dem Drachenfels im Siebengebirge den Vorzug gaben. Im Allgemeinen brachte man indessen nur eine sogenannte Siegessäule, ähnlich jener droben auf dem Drachenfels, welche den Landwehrkämpfern von 1813 und 1814 gewidmet ist, in Vorschlag. Auch der Gedanke an den Niederwald und seine rebengeschmückte Höhe hat manchem Verehrer des Rheines offenbar nicht ferngelegen.

Am ersten Ostermorgen, im Monat April 1871, schrieb der Verfasser Dieses – damals mit der Pflege der zahlreichen Verwundeten in Wiesbaden und der Verwaltung des freiwilligen Depots für die zweite Armee beschäftigt – für den „Rheinischen Courier“ in Wiesbaden (Nr. 87) die erste öffentliche Anregung und Aufforderung: den Niederwald als Standpunkt für das „Erinnerungsdenkmal an den letzten französischen Krieg“ zu wählen. Jenem Aufrufe entnehmen wir einige Stellen, umsomehr als sie heute wörtlich zur Geltung gekommen sind:

„Die Bewohner des Rheines haben alle Ursache, dem Gefühle des Dankes für die von den Stromufern ferngehaltenen Gräuel des Krieges einen sichtbaren Ausdruck zu geben. Im patriotischen Sinne sollte und müßte der Rhein dem gesammten deutschen Volke, seinen Helden-Feldherren und dem sieggekrönten Heere wohl eine Erinnerungsstätte bereiten, spätere Zeiten und Generationen daran gemahnend, was unsere Brüder in Waffen zu des Vaterlandes Ehre und Wohlfahrt in dem letzten heißen Kampfe gegen Frankreich errungen. Gehört doch jetzt und erst jetzt durch die Erfolge unserer heldenmüthigen Krieger der Rhein ganz und ungetheilt dem deutschen Vaterlande, sind doch erst jetzt seine Ufer sicher vor fremdländischen Drohungen, geschützt vor einem frevelnden Uebergriffe des streitsüchtigen Nachbarvolkes …

Hier, umrahmt von der Buschwaldung, etwa über der Ruine Ehrenfels, neben der Rossel, weithin sichtbar, fände eine Germania als Wacht am Rhein den geeignetsten Platz. Gegenüber dem Eisenbahnknotenpunkte Bingerbrück, über den sich der Strom unseres siegreichen Heeres nach Frankreich ergoß, auf dem rückkehrende verwundete Krieger, die aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen und die lorbeergeschmückten Sieger auf ihrem Heimwege den einigenden Mittelpunkt fanden, sollte jenes Denkmal füglich sich erheben. Hier, wo (im Saargebiete), dem Laufe der Nahe folgend, der erste Angriff auf eine deutsche Stadt (Saarbrücken) und auf unser deutsches Heer geschah, hier, wo in der Ferne die neuen Landesgrenzen sich durch die blauen Linien ihrer Berge kennzeichnen, hier, wo bis vor Kurzem drei deutsche Länder ihre Grenzsteine errichtet hatten, die jetzt geeinigt unserem Volke seine Wiedergeburt künden – hier erhebe sich die zu errichtende ‚Wacht am Rhein‘ umrahmt von den lebendigen Thyrsusstäben unserer rheinischen Edeltraube.

Wie drunten die Stromschnellen des Bingerlochs durch das jugendlich frische Ringen und Schäumen des schönsten deutschen Stromes sinnbildlich das Streben des deutschen Volkes nach nationaler Einigung veranschaulichen, so würde ein Standbild gerade an dieser Stelle, am eigentlichen Mittelpunkte des ganzen Stromes, sicher den entsprechendsten Platz finden. Winkt doch von drüben, von Ingelheim herüber als Zeuge früherer Reichsherrlichkeit der Lieblingsaufenthalt unseres großen Kaisers Karl, entquillt doch hier die edelste Gabe des Rheinstromes – der echte deutsche Feuertrank aus rheinischer Rebe. Feiert doch hier der Ober-, Mittel- und Niederrhein seine gemeinschaftlichen Frühlingsfeste in den Pfingsttagen. Hier, im Dufte der Rebenblüthen während des Frühsommers, im reichen Glanze unserer poetischen Weingärten während des Herbstes, wandert der Strom aller Rheinfahrer vorüber, sei es auf den Fluthen des Rheines selbst, sei es über seine aussichtsreichen Stromhügel hinweg. Reichen sich doch hier, bei dem Durchbruche unseres rheinischen Schiefergebirges, die Bewohner von Ober- und Niederrhein die Bruderhand.


Die Aussendung der vier apokalyptischen Reiter. Von Peter von Cornelius.
Nach einem Kupferstich im Verlage von Georg Wigand.

[618] Mag eine Verwirklichung des angeregten Planes auch erst späteren Tagen vorbehalten sein, der Unterzeichnete glaubt die Aufmerksamkeit auf jene Stelle lenken zu sollen, von der schon Geibel singt:

‚Und an den Hügeln wandelt ein hoher Schatten her,
Mit Schwert und Purpurtmantel, die Krone von Golde schwer.
Das ist der Karl, der Kaiser, der mit gewalt’ger Hand
Vor vielen hundert Jahren geherrscht im deutschen Land!‘

welches herrliche Lied schließt:

‚Wir aber füllen die Römer und trinken in gold’nem Saft
Uns deutsches Heldenfeuer, uns deutsche Heldenkraft!‘“

In diesem Aufrufe und des Verfassers späterem Aufsatz in der „Gartenlaube“ sind alle Punkte enthalten, welche in der Folge von der gesammten Presse als die für den Niederwald ausschlaggebenden anerkannt und weiter ausgeführt worden sind.

Indessen ist anzunehmen, daß jener Aufruf, wenn schon von den Bewohnern des Mtttelrheins freudig begrüßt, ohne alle Folgen verhallt wäre, hätte ihn nicht ein Mann aufgegriffen, dessen Name und Energie alle Bürgschaft in sich trugen, den Gedanken auch zum endlichen Ziele zu führen. Es gebührt sich, dieses Mannes am heutigen Tage in hervorragender Weise zu gedenken. Es ist Graf Botho zu Eulenburg, damals Präsident des Regierungsbezirks Wiesbaden, Landes-Delegirter für die freiwillige Verwundetenpflege daselbst, welcher dem Verfasser seine Uebereinstimmung mit dem Projecte schon nächsten Tages nach Erscheinen des Aufrufs kundgab und dem ganz allein der heutige Erfolg zu danken ist. Wenn er auch später als Oberpräsident nach Lothringen und Hannover und dann in das königliche Staatsministerium berufen wurde - die Sorgfalt und Mühe, das Interesse für die endliche Lösung der Aufgabe ist dem trefflichen Manne stets nahe geblieben. Ohne ihn stände heute die Germania nicht hoch da droben, „ragend in des Aethers Blau“, ohne ihn wäre das Meisterwerk Schillings muthmaßlich nicht geschaffen.

Schon im Monat Mai 1871 waren Graf zu Eulenburg I, der damalige Minister und Onkel des jüngeren, sowie der Reichskanzler Fürst Bismarck bei Gelegenheit des Frankfurter Friedenscongresses für die Idee erwärmt, und während Graf Botho zu Eulenburg mit allem Eifer die parlementarischen Kreise in Bewegung setzte und in das Interesse für die Sache zog, führte an Ort und Stelle der jetzige Landesdirector Sartorius, damals Regierungsrath in Wiesbaden, die localen Geschäfte mit Aufbietung aller Kräfte fort.

Aber auch am Rheine regte es sich. Schon in den Pfingstfeiertagen 1871 pflanzte der Verschönerungsverein zu Rüdesheim an den drei zumeist hervortretenden Punkten des Rüdesheimer Berges am Abhange des Niederwaldes, auf Voglers-Ruhe, dem Leingipfel und der Rossel, Signalflaggen auf, um das Urtheil des Publicums festzustellen, welcher dieser Punkte für das Denkmal am geeignetsten erschien. In Geisenheim arrangirte man – allerdings in kleinen Verhältnissen – unter Anregung des Generalconsuls E. von Lade – der als Dritter im Bunde der thatsächlich eingreifenden Förderer genannt werden muß – Concerte, um die ersten Baarmittel zu schaffen. Bescheiden waren freilich diese Einnahmen, aber sie waren doch das erste wirkliche Vorgehen zur That.

Am 28. August 1871 fand das erste „Germania-Concert“ im Rathhaussaale zu Geisenheim statt. Schon damals wünschte der leider zu früh verstorbene Dichter Bernhard Scholz die „Gartenlaube“ in das Interesse zu ziehen, indem er den Verfasser Dieses aufforderte, Freund Ernst Keil’s Beihülfe anzugehen. Die Dinge hatten aber noch nicht genügende greifbare Gestalt gewonnen.

Am 22. September des genannten Jahres berief Graf zu Eulenburg auf den 29. desselben Monats Nachmittags 31/2 Uhr in den großen Sitzungssaal des Regierungsgebäudes zu Wiesbaden die erste Versammlung zur Besprechung der Ausführung des Denkmals, nachdem er vorher die Anwohner der Rheinortschaften, besonders jene von Rüdesheim, für die Idee gewonnen.

Im November 1871 lud durch Rundschreiben ein für den beregten Zweck zusammengetretenes provisorisches Comité, bestehend aus den Herren Graf zu Eulenburg, Regierungspräsident in Wiesbaden, von Heemskerck, Präsident in Biebrich, Hehner, Oberappellationsgerichtsrath in Wiesbaden, Generalconsul von Lade in Geisenheim, Geheimer Commerzienrath Lauteren in Mainz, Dr. Mumm, Oberbürgermeister in Frankfurt am Main – eine Anzahl der ersten und bedeutendsten Männer des deutschen Vaterlandes – nach Berlin und zwar auf Donnerstag den 16. November 1871 Nachmittags 6 Uhr in das Gebäude des deutschen Reichstages, Abtheilungszimmer Nr. 5, um im Auftrage jener Wiesbadener Versammlung die Bildung eines definitiven Comités und die Berathung der erforderlichen Schritte für die Herstellung des Denkmals vorzunehmen.

Fast gleichzeitig erhoben sich indessen auch in der Presse die abfälligsten Urtheile über die ganze Angelegenheit. Der Verfasser der ersten Anregung wurde des „patriotischen Taumels“ geziehen. Man sagte, „es sei ihm des Vaterlandes Ruhm zu Kopfe gestiegen und die solchergestalt erzeugten Gehirnaffectionen seien als patriotische Vorschläge in die Oeffentlichkeit gedrungen“. In abfälligster Weise wurde der Vorschlag der Aufrichtung einer Germania-Statue vom „Kunststandpunkte“ verurtheilt. Eine rheinische Zeitung widmete dieser Auslassung mehrere Spalten und schloß dieselbe mit den Worten: „Darum ein Protest im Namen der deutschen Kunst und des gesunden deutschen Sinnes gegen die Germania auf dem Niederwald.“

Es konnte auch nicht fehlen, daß am linken Rheinufer sich Stimmen laut werden ließen, welche für die Aufstellung linksseitig das Wort ergriffen, ja ein Vorschlag ging dahin, gegenüber Mainz, mitten im Strom, auf einem 50 Fuß hohen Unterbau ein Denkmal zu errichten, dasselbe mit den Ufern durch Brücken zu verbinden (die Zeichnung war im Reichstagsgebäude schon ausgestellt), und, umgeben von den Reitergestalten des Kaisers, des Kronprinzen und der Heerführer, sollte den Unterbau ein 191 Fuß hoher Säulenschaft und diesen ein 58 Fuß hohes Standbild des „Erzengels Michael“ krönen. Und dies in nächster Nähe der Festung Mainz! Andere wollten ein Invalidenhaus auf die Höhe des Niederwaldes gesetzt wissen – kurz, es konnte kaum Wunder nehmen, daß einer unserer bekanntesten Parlamentarier die ganze Angelegenheit als „eine verkrachte Gründung“ bezeichnete.

Unter diesem Für und Wider war es ein den Verhältnissen sehr entsprechender Gedanke des Grafen zu Eulenburg, die Presse, insbesondere die großen Weltblätter, für die Sache zu erwärmen. Die Anschauungen mußten sich auf diese Weise am schnellsten klären. Im December 1871 wurden denn auch Seitens des Comités die entsprechenden Anschreiben an die Redactionen erlassen, und wie Graf zu Eulenburg mittheilte, war ein solches auch direct an Ernst Keil abgegangen, eine Nachricht, die von der Bemerkung an den Verfasser begleitet war, „daß es sehr erwünscht sei, wenn er einige Zeilen dorthin richten wollte, um die Aufnahme des Aufrufes und die Befürwortung des Unternehmens zu sichern“.

Diesen Aufruf an die Presse hatten außer den oben bereits Genannten weiter gezeichnet: die Herren Dr. Stephani, Vicebürgermeister in Leipzig, Freiherr Franz von Stauffenberg, Landrath Fonck in Rüdesheim, Regierungsrath Sartorius in Wiesbaden, Dr. Hans Köster in Cottbus, von Dachröden, Schloßhauptmann in Berlin, Buzzi, Kaufmann in Frankfurt am Main, als Schatzmeister, und Dr. Ebner, Advocat in Frankfurt am Main. Diese Herren bildeten im Verein mit dem vormals provisorischen Comité von da ab den geschäftsführenden Ausschuß für das Niederwalddenkmal, während ein größeres Comité aus etwa 144 Mitgliedern bestehend und zusammengesetzt aus Männern aller Berufssphären und aller Landestheile Alldeutschlands, die Vertretung der Sache in weiteren Kreisen übernahm.

Umgehend antwortete Ernst Keil dem Verfasser, daß er selbst schon an die Publicirung der Angelegenheit in einer dem Sinne und Geiste der „Gartenlaube“ entsprechenden Form gedacht habe, und forderte zugleich zur Anfertigung von Zeichnungen auf, „die er gerne mit einem Texte begleitet wünschte, der an geeigneter Stelle die Theilnahme des deutschen Volkes für das Unternehmen anregen sollte“.

Schnell war nun der Maler E. Reichmann aus Wiesbaden gewonnen und mit Unterstützung des Comités eine Ansicht des ganzen Rüdesheimer Berges mit dem denselben krönenden Niederwald entworfen und ausgeführt, die zur Wahl gestellten Punkte waren darauf mit Flaggenstangen gekennzeichnet, und der Aufsatz erschien aus der Feder des Verfassers Dieses, wesentlich durch ein treffliches Poem von Emil Rittershaus gehoben und gefördert, in Nr. 19, Jahrgang 1872 der „Gartenlaube“. Hier trat zum [619] ersten Male die gesammte Idee dem größeren Publicum vor Augen, und von diesem Augenblicke an dürfte auch die allgemeinere Theilnahme des deutschen Volkes für die Angelegenheit zu rechnen sein.

Fast gleichzeitig erschien (im Februar 1872) ein Concurrenzausschreiben, gerichtet an die Künstler Deutschlands, „welches ihrer Wahl die Bestimmung des künstlerischen Charakters des Entwurfs, Plastik oder Architektur oder eine Verbindung beider“, frei überließ. Um die Uebernahme des Preisrichteramtes waren die Professoren Drake und Eggers in Berlin, Hähnel in Dresden, Lübke in Stuttgart, Oberbaurath Professor Schmidt in Wien, Oberhofbaurath Professor Strack in Berlin und Professor Zumbusch in München gebeten worden. Als Termin für die Einsendung der Modelle oder Zeichnungen wurde der 1. September 1872 festgestellt. Die Preise waren nicht eben hoch und beliefen sich für den besten Entwurf auf 3000 Thaler, beziehungsweise auf die Ausführung des Denkmals „innerhalb der durch die verfügbaren Mittel gezogenen Grenzen“, der zweite und dritte Preis waren auf 1000 und 500 Thaler bestimmt.

Indessen die Mittel flossen für den vaterländischen Zweck nicht allzu reichlich. Köln brachte zwar in einer ersten Versammlung nahe 3000 Thaler auf, Krupp in Essen, von Kramer-Klett in Nürnberg gingen mit gutem Beispiele voran, die Darmstädter Bank, die Aachen-Münchener-Feuer-Versicherungsgesellschaft, die Hessische Ludwigsbahn, die Rheinische Eisenbahn und die Taunusbahn, die deutschen Landsleute in St. Petersburg waren unter den ersten Stiftern, das Comité aber sah sich genöthigt, um die Angelegenheit mehr in Fluß zu bringen, im ganzen deutschen Vaterlande Localcomités zu bilden und 1638 Vertrauensmänner zu erwählen, die in allen Provinzen und Städten der Heimath sich der Sammlung liebevoll annahmen. Aber auch in dem Auslande regte sich deutscher Sinn für die gemeinsame Aufgabe.

Mittlerweile waren die Entwürfe (26 architektonische und 11 plastische) in Berlin eingeliefert, von denen jene der Architekten A. Pieper und H. Eggert und des Bildhauers Johannes Schilling den Preis davon trugen. Aber – sie überstiegen den ausgesetzten Kostenbetrag! Eine neue Concurrenz unter den Auserwählten entsprach ebenfalls den Vorbedingungen nicht, und endlich wurde Meister Schilling mit einem endgültigen Entwurf beauftragt, der nach Vollendung allseitig den Anschauungen entsprach, und der nunmehr tatsächlich zur Ausführung gekommen ist.

„Das gewaltige Schwert des streitbaren Weibes ist zur Ruhe gestellt, nicht geschwungen, den von ihm erkämpften Frieden andeutend; die ganze Gestalt athmet Adel, Milde, während aus dem edlen Antlitz hohe Begeisterung aufleuchtet. In der erhobenen Rechten ruht die mit Lorbeer umwundene Reichskrone, das glorreichste Resultat des heißerfochtenen Sieges, die Wiedererrichtung eines deutschen Kaiserreiches symbolisirend!“

Dies der Grundgedanke, welcher den Meister bei seinem Entwurfe leitete.




Die Belagerungsübung bei Graudenz im August 1883.

Die Manöverübungen unserer Armee werden von dem größten Theile des Volkes mit dem regsten Interesse verfolgt; hängt doch von unserer Kriegsbereitschaft die Freiheit des Landes ab und rücken doch Hunderttausende wackerer Bürger jahraus jahrein in’s Feld, um sich im kriegerischen Dienste zu üben. Trotzdem wirken die Beschreibungen der gewöhnlichen Feldübungen, der sich regelmäßig wiederholenden Kaiser- und Corpsmanöver auf die große Masse der Leser ermüdend. In unserem heutigen Artikel aber soll Allen insofern etwas Neues geboten werden, als sich die im August abgehaltene Belagerungsübung vor Graudenz auch auf einen völlig durchgeführten Minenkrieg erstreckte, wie ein solcher seit der Belagerung von Sebastopol in der Kriegsgeschichte sämmtlicher Völker unserer Erde nicht mehr vorgekommen ist.

Die auf dem rechten Ufer der Weichsel gelegene Festung Graudenz, seit Jahren das Uebungsobject der deutschen Pionniere, ist ein Werk des großen Königs Friedrich, welcher im Jahre 1776 den Bau des Platzes an Ort und Stelle persönlich anordnete und auch die ersten Entwürfe hierfür mit eigener Hand ausstellte und zeichnete. Die formidable Festigkeit des Platzes überstand, unterstützt von der bewundernswerthen Energie des Commandanten, General L’homme de Courbière, die Stürme der Jahre 1806 und 1807, und die Mauern, die Wälle tragen noch heute ihr stolzes Haupt hoch aufgerichtet in dem Bewußtsein, einst den ihnen gestellten Anforderungen in jeder Weise genügt zu haben.

Nach kaum hundert Jahren mußte jedoch die Bedeutung der Festung Graudenz den Ansprüchen moderner Kriegführung weichen, sodaß der Platz seit dem Jahre 1873 nicht mehr zu den deutschen Festungen zählt, sondern dem Verfalle überlassen nur noch als ein Uebungsobject für die Artillerie, den Sappeur und Mineur dient. Jedoch nur ein Wink unseres deutschen greisen Heldenkaisers ist erforderlich, und die von Friedrich dem Großen den todten Mauern eingehauchte Kraft wird sich von Neuem entfalten, und in Verbindung mit moderner Kriegskunst aus dem alten Graudenz einen Waffenplatz hervorzaubern, der sich den Festungen Königsberg und Thorn würdig an die Seite stellen und unsern Gegnern ein zweites Plewna werden wird.

Verrathen wir deshalb von den Festungsbauten nicht mehr, als zum Verständnisse unserer weiteren Darstellung erforderlich ist. Die uns Deutschen innewohnende militärische Phantasie dürfte wohl bei allen Lesern im Stande sein, die beigegebene Skizze soweit zu vervollständigen, um das zuvor Angedeutete zum vollen Bilde ergänzen zu können. Es sei nur noch gesagt, daß die Festung Graudenz auf einem die Weichsel um achtzig bis hundert Meter überhöhenden Plateau liegt, von dem sich eine Aussicht genießen läßt, welche der von dem Ufer des Rheins aus erblickten in keiner Weise nachsteht, und daß es sich unter der Pflege und Fürsorge der schönen Frauen der Provinz Preußen ebenso gut leben läßt, wie unter der Obhut der liebenswürdigen Anwohnerinnen unseres andern Grenzstroms im Westen, des Vater Rheins. Alldeutschlands Frauen sind in der Sorge für die Vaterlandsvertheidiger überall von dem gleichen Sinne beseelt. –

Nachdem schon ein kleines Vorcommando in den letzten Wochen des Juli in Graudenz von Danzig her eingetroffen war, um die erforderlichen Vorarbeiten für die Durchführung der Belagerungsübung vorzunehmen, namentlich die Depots zu formiren, die Minengänge der Festung in Holz weiter auszubauen und zu vervollständigen, fanden sich am 30. und 31. Juli auch die weiteren für die Uebung bestimmten Truppen ein. Am 1. August Morgens fand – leider bei strömendem Regen – eine Parade dieser zehn Pionnier-Compagnien statt, welcher sich bereits Mittags, und zwar bis zum 8. August, alle diejenigen pionniertechnischen Arbeiten anschlossen, die einer Belagerung sowohl seitens des Angreifers wie der Verteidigung voranzugehen pflegen.

Gleichzeitig mit diesen Arbeiten, welche namentlich in der Anfertigung von Sappenkörben, Faschinen von Seiten des Belagerers, in der Armirung der Festung – Anlage von Palissiadirungen und sonstigen Hindernißmitteln, Aufstellen von Blockhäusern etc. – von Seiten des Verteidigers bestanden, wurden die ersten Stadien der Belagerung von einem Theil der hierzu commandirten Infanterie-, Artillerie- und Ingenieurofficiere theoretisch, das heißt auf eine applicatorische Weise, durchgeführt, indem die einzelnen Momente, wie z. B. Berennung und Einschließung, Anlage der Batterien, im Terrain besprochen und hierbei aufstoßende Fragen derartig schriftlich bearbeitet wurden, daß das Ergebniß der angestellten Betrachtungen in Form eines Befehls gebracht werden mußte, wie dergleichen von den einzelnen Ressorts für den Ernstfall zu geben sein würden, um den Erfolg der beabsichtigten Unternehmungen bis in das kleinste Detail zu sichern.

Es läßt sich ohne weitere Specialkenntniß der militärischen Verhältnisse schließen, daß eine derartige Uebung höchst lehrreich und von großer Bedeutung für die Ausbildung derjenigen Officiere sein muß, welche vielleicht einst berufen sein können, vor oder in einer Festung zu stehen, um diese entweder in Besitz zu nehmen oder unserem Reiche zu erhalten.

Die applicatorische Uebung schloß mit der Durchführung der engeren Einschließung des Kernwerkes des Platzes und mit dem Festsetzen des Angreifers auf dem Festungsplateau, unter gleichzeitiger Annahme aller artilleristischen Maßregeln, welche für die [620] Durchführung des Geschützkampfes auf beiden Seiten für nothwendig erachtet worden waren.

Der praktische Theil der Uebung fand dann am Abend des 10. August in der Herstellung der ersten Parallele seinen Anfang. – Das Terrain vor der Nordfront der Festung gegen das Dorf Prosken hin ist trefflich dazu geeignet, diesen schwierigen Act bei der Belagerung einer Festung zur lehrreichsten Anschauung zu bringen. Gedeckte, von der Festung her nicht zu sehende, aber wohl mit Wurffeuer zu erreichende Anmarschwege – tief eingeschnittene Schluchten – gestatten es, die für den Bau der Parallele erforderlichen Arbeiter und die Truppen zum Schutz derselben gegen Ausfälle ungesehen bis auf 1000 Meter von den Festungswerken entfernt heranzuziehen. Ebenso ließ sich der Anmarsch an die Arbeitsstelle – das heißt die Parallele – selbst völlig gedeckt ausführen. Ein häufigeres Beleuchten des Vorterrains mittelst Raketen von der Festung aus gestattete jedoch dem Vertheidiger die emsig arbeitenden Pionniere und Infanteristen zu entdecken. Ein in Folge dessen unternommener Ausfall gegen die Arbeiter scheiterte an der Wachsamkeit der die Arbeiter deckenden Infanterie, sodaß die Ausfalltruppen unverrichteter Sache in die Festung zurückkehren mußten. Am nächsten Morgen war daher die Basis für den Nahangriff auf die Festung gewonnen, und schritt man bereits am nächsten Abend zur Erbauung der zweiten Parallele. Auch dieses Unternehmen gelang, sodaß bereits am Montag Abend von dieser zweiten, gegen die Festung vorgeschobenen Position der Sturm auf die Lünetten[1] unternommen werden konnte.

Wer dieses kriegerische Bild zu schauen Gelegenheit hatte, wird den herrlichen Eindruck niemals vergessen, welchen die Sturmcolonnen darboten, als sie in den magischen Lichtkreis traten, den die Leuchtfackeln hervorbrachten, welche von dem durch seine Vorposten alarmirten Verteidiger der Lünetten entzündet worden waren, um ein wohlgezieltes Feuer auf den heraneilenden Gegner richten zu können. Pionniere mit Sturmgeräth eröffneten den Reigen, begleitet von Schützen, welche ebenfalls ein heftiges Feuer auf die Schanzenbesatzung richteten. Sehr bald hatten die gewandten Pionniere alle die Lünetten umgebenden Hindernisse beseitigt und unschädlich gemacht. In Sturmeslauf nahten nun die Infanteriecolonnen, um sich in den Graben hinab, den Wall hinauf zu stürzen. Der Vertheidiger mußte dem jähen Anprall weichen, und die Lünetten fielen in des Angreifers Hand, welcher diese Werke nun seinerseits als einen festen Posten für sich selbst einrichtete. Am nächsten Abend wurde dann diese dritte Position nach beiden Flügeln weiter ausgedehnt, wodurch die dritte Parallele entstand, welche unsere Abbildung (S. 621) veranschaulicht.

Wir sehen auf derselben hinter der (im Vordergrunde abgebildeten) eingenommenen feindlichen Lünette und vor der Festung die Laufgräben der dritten Parallele, welche mit denen der zweiten durch die in Zickzackform laufenden „Approchen“ verbunden sind. Jeder Zickzack (Schlag) endet in eine bogenförmige Erweiterung, den sogenannten „Haken“, in welchen Infanterie oder leichtes Geschütz zur Vertheidigung der Laufgräben aufgestellt werden. Links vor der letzten Parallele ist die später erfolgte Sprengung einer Mine angedeutet.

Von dem Moment der Errichtung der dritten Parallele an sollte der bisherige unaufhaltsame Siegeslauf stocken. Die Nähe der Kernfestung forderte nunmehr ein langsames Tempo. Tage und Nächte mußte geschantzt werden, um nach und nach durch die Sappeure das Terrain überschreitbar zu machen, welches zwischen den Lünetten und dem Glacis der Festung liegt.

Frisch gewagt ist halb gewonnen! Diesem den tapferen Soldaten so häufig zu kühnen Unternehmungen drängenden Wahlspruche folgend, faßte jedoch der Angreifer in der Nacht vom 17. zum 18. August den Entschluß, sich auf überraschende Weise eine vierte Position, die vierte Parallele, am Fuß des Glacis zu erbauen.

Es gelang! Trotzdem von Neuem ein gebieterisches Halt! Wußte man doch, daß die Festung mit einem ausgedehnten Minensystem versehen war, und daß es dem Vertheidiger leicht werden würde, von hier aus durch unterirdische Sprengungen das weitere Vorschreiten der Angriffsarbeiten auf dem Glacis zu verhindern oder wenigstens in hohem Maße aufzuhalten. Jetzt galt es daher, den Kampf mit dem unterirdischen Gegner aufzunehmen, die Minengänge desselben zu zerstören und durch Sprengen von stark geladenen Trichterminen Logements[2] zu schaffen, von welchen aus nicht nur das nächste Vorterrain der Festung beherrscht werden konnte, sondern die auch dazu dienen sollten, mit neuen Angriffsminen dem unter der Erde wühlenden Feind immer mehr und mehr auf den Hals zu rücken.

Man hatte beliebt, den Minenkrieg gleichzeitig in zwei Angriffsverfahren, auf dem rechten Flügel mit Schlachtminen, auf dem rechten Flügel in förmlicher Weise, durchzuführen. Für letzteren Zweck wurde vor die vierte Parallele wiederum eine neue Position, das Minenlogement, vorgeschoben, um von hier aus Minengänge vorzutreiben, die, wenn weit genug, das heißt bis auf etwa fünfzehn bis zwanzig Meter, vorgearbeitet, mit Trichterminen geladen werden sollten. Das Logement kam bereits in der nächsten Nacht zu Stande; Tags daraus ausgebaut, erhielt dasselbe fünf fallende Gallerien, welche mit aller Macht vorgetrieben wurden.

Zum Zweck des Angriffs mittelst Schlachtminen gingen in der Nacht vom 20. zum 21. August die Sappeure vor die vierte Parallele vor, hoben daselbst ein Logement aus, in welchem bald darauf die Mineure einige Schächte ansetzten und schnell in die Tiefe hinabtrieben, die, in Summa mit achtzig Centner Pulver geladen, am nächsten Morgen gemeinsam gezündet wurden. Leider war der Himmel dem zu erwartenden großartigen Schauspiel der Explosion dieser mächtigen Ladung nicht günstig. Ein dichter Nebel verschleierte das Angriffsfeld. Die Spannung der Zuschauer erhielt hierdurch eine unheimliche, noch größere Steigerung. Um zehn Uhr Vormittags ertönte das Signal zum Zünden. Ein mächtiger Knall durchzitterte die Luft, die Erde erbebte, und mit furchtbarem, geisterhaftem Gepolter stürzten die in den Aether geschleuderten, dem Auge völlig unsichtbaren Erdschollen zur Mutter Erde zurück. Wir eilten alsbald an die Sprengstelle; ein sieben Meter tiefer, vierzig bis fünfzig Meter langer und etwa zwanzig Meter breiter Schlund gähnte die Beschauer in seiner großartigen Nacktheit an. Ein imposantes Bild der Zerstörung, ein schlagender Beweis für die Gewalt der aus den achtzig Centnern Pulver entwickelten Gase. Schnell waren Truppen zur Stelle, um diesen der Festungsbesatzung abgerungenen Minengraben zur Verteidigung einzurichten und zu besetzen.

So leicht und glücklich wie der Schachtminenangriff sollte dagegen der förmliche Minenangriff auf dem linken Flügel nicht verlaufen. Das Vortreiben der Angriffsgallerien konnte nur langsam gefördert werden, der schwere Lettenboden ließ sich nur mühsam durchbrechen. Außerdem wartete hier auch ein aufmerksamer Gegner und nur zu bald sollte der Angreifer verspüren, was ihm die kleinen Quetschladungen des Vertheidigers für Schaden zuzufügen im Stande waren.

Als endlich nach mehreren Tagen und Nächten und nach mühevoller anstrengender Arbeit zwei Pulverkammern zum Laden fertig gestellt worden waren, zündete der Vertheidiger hiergegen Quetschminen an, welche die Kammern arg beschädigten und das Fertigstellen der Trichterminen wieder auf längere Zeit hinausschoben. Jedoch die Gefechtspause benutzend, welche der Vertheidiger wegen der in seinen Gallerien befindlichen Pulvergase, die erst wieder vor weiterer Arbeit durch Ventilatoren entfernt werden mußten, zu halten gezwungen war, gelang es dem Angriffsmineur dennoch, in der nächsten Nacht die beabsichtigten zwei Trichterminen zu vollenden und am Morgen des 24. August zur Zündung zu bringen. Auch dieses Mal schleuderten wieder einige achtzig Centner Pulver die Erde gegen den Himmel; eine brodelnde Dampfwolke wälzte sich über die Festung hin, und ehe dieselbe sich noch aufgelöst, waren die Trichter schon von dem Angreifer besetzt, welcher sofort neue Gallerien auf der Sohle der sieben Meter tiefen kraterartigen Gebilde, deren obere Breite einige zwanzig Meter Durchmesser zeigte, ansetzte.

„Bis hierher und nicht weiter“, galt nunmehr das Losungswort des Vertheidigers. Alle Versuche, die neuen Gallerien aus den Trichtern weiter vorzutreiben, scheiterten an der Energie des Festungsmineurs.

Aber welch ein beschwerlicher Dienst, welche Aufopferung der Officiere und Mannschaften gehörten dazu, dem Losungswort nicht untreu zu werden!

Acht Meter und mehr unter der Oberfläche der Erde, bis zu

[621]

Uebungen im Minenkriege vor Graudenz im August 1883.
Nach einer Skizze unseres Militär-Berichterstatters.

[622] 140 Meter Länge unter dem Glacis vorgreifend, liegen die Galerien des Vertheidigers, vielfach verzweigt und jede directe Verbindung mit der Außenwelt verbietend. Hier an der Spitze der den Katakomben gleichenden Minengänge sitzen die Pionniere bei dürftig leuchtenden Sicherheitslampen und lauschen auf die Arbeiten des Angreifers, um aus den erhörten Geräuschen und deren Richtung die Absichten des unsichtbaren Gegners zu ergründen und denselben entgegenzutreten. Welch ein aufregender, ermüdender, die geistigen und körperlichen Kräfte völlig in Anspruch nehmender Dienst!

Wie schrecklich aber ist der Ernstfall, wenn der Tod durch eine feindliche Sprengung, durch das hierdurch herbeigeführte Zusammenbrechen der Minengänge, durch das Gift der Pulvergase in jeder Minute droht! Am fürchterlichsten aber ist ein lebend Begrabenwerden, wenn hinter dem Mineur durch einen Schuß des Gegners die Gallerie zusammenstürzt. Das „Wieder vor“ geht dann nur durch die Leichen der Cameraden.

Beharrlichkeit führt aber endlich zum heiß ersehnten Ziel. Von den verschiedensten Punkten aus ist festgestellt worden, daß der Angreifer dem Vertheidigungssystem bis auf einige Meter nahe gekommen ist. Schleunig wird eine Ladung von vier bis sechs Centner Pulver in die Gallerie gebracht und hinter derselben eine lange Verdämmung angelegt, das heißt Klobenholz und Rasen dahinter gepackt, um zu verhüten, daß sich die Wirkung des Sprengstoffes auch auf die eigenen Minengänge äußere. Acht Stunden harter Arbeit, zu welcher vierzig und mehr Pionniere erforderlich gewesen, haben endlich den Minenquetschofen fertig stellen lassen.

Die Zündung und deren Wirkung belohnt die aufgewandte Mühe reichlich. Die Erde in den Trichtern hebt sich in die Höhe, aufsteigender Qualm, vielleicht ein leiser Knall lassen erkennen, daß die Arbeiten des Angriffsmineurs zerstört worden sind. Das Spiel wiederholt sich noch öfter, und der Vertheidiger schwelgt in dem Gefühl, seinem Feind dauernden Schaden zufügen zu können.

Endlich findet aber auch dieses Treiben seine Grenzen. Das Minensystem der Festung füllt sich schließlich voller Pulverdampf, und der Aufenthalt in den Minengängen ist nur noch mit Lebensgefahr verknüpft. Was hilft es aber, der zähe Widerstand soll und darf nicht erlahmen. Vorwärts, heißt es, niemals zurück! Stundenlanges, durch mächtiges Gebläse erzeugtes Ventiliren hat endlich die Luft so weit gereinigt, daß es möglich wird, die Gallerien wieder zu betreten. Aus Vorsicht werden jedoch zuerst einzelne mit einem Athmungsapparat – wie solche in der Hygiene-Ausstellung zu sehen sind – ausgerüstete Leute in die Gänge des Minensystems geschickt, welche ein Thier, vielleicht ein Täubchen, mit hineinnehmen und dies einige Zeit darin stehen lasten. Wird das Thier später noch lebend herausgebracht, so ist die Luft auch für den Menschen rein und unschädlich, andernfalls muß noch weiter ventilirt werden.

Haben nun auch die Arbeiten in den Gallerien wieder aufgenommen werden können, so kommen dennoch sehr häufig Erkrankungsfälle bei den Mannschaften vor, welche sich als sogenannte Minenkrankheit äußern, das heißt als eine Krankheit, welche sich als Blutvergiftung durch Einathmen von mit Pulverdampf geschwängerter Luft bezeichnen läßt. – Selbst die kräftigsten Körper erliegen diesem heimtückischen Feinde. Ein plötzliches Erlahmen aller Lebensgeister, welches mit Krampferscheinungen wechselt, Athemnoth sind die Kennzeichen der Minenkrankheit. Wehe dem Mineur, der, erkrankt, nicht schnell genug aus der Gallerie entfernt werden kann; in derartigen Fällen hat der Tod schon öfter sein Opfer zu finden gewußt. Ueberall Gefahren mit sich führend, kommt daher ein Friedensminenkrieg von allen militärischen Kriegsspielen der Wirklichkeit am nächsten.

Dies Alles kann uns nicht zurückschrecken. Uebung muß den Meister machen. Die Friedensübungen sind die Vorbereitungen für den Krieg; je ernster und nachdrücklicher dieselben gehandhabt werden, desto mehr werden sie in ihren Folgen nutzbringend für den Ernstfall werden. – Die Vorsehung verhüte, daß jemals vor einer deutschen Festung ein Minenkrieg geführt werden muß; sollte es dennoch einmal dazu kommen, so werden sich auch die Mineure finden, die diesen Krieg bis auf das Messer durchzufechten verstehen werden.

Dies Wort ist für den Kampf unter der Erde keine leere Phrase; kann es doch nur zu leicht vorkommen, daß eine feindliche Gallerie auf einen der Minengänge der Festung trifft, und daß sich dann die Mineure Aug’ in Aug’ gegenüberstehen, um mit dem Dolch, dem Revolver in der Hand den Weg in die Festung zu erzwingen oder, wie Löwen, den eigenen Bau zu vertheidigen.

Trotzdem es nun auch während der Graudenzer Belagerungsübung viele minenkranke Mineure unter der Festungsbesatzung gab, hielten die in ihrem Fache wohl ausgebildeten Pionniere dennoch lange Zeit Stand. Zwölf Mal und öfter wurden die Angriffstrichter eingeworfen, und die daselbst vorgetriebenen Gallerien zerstört, ehe es dem Angreifer gelang, einen weiteren, den dritten, Trichter zu sprengen, und acht Tage mußten vergehen, ehe der Belagerer zum Sprengen seiner zweiten Trichterreihe schreiten konnte.

Während dieser Zeit war aber auch der Sappeur nicht unthätig gewesen. Derselbe hatte nicht nur seine Laufgräben aus dem Schlachtminenlogement vorzutreiben verstanden, sondern dieselben auch längs der Glaciskante anzulegen gewußt. Von hier aus wurde denn schließlich der Grabenniedergang hergestellt und am Sonnabend den 1. September Mittags die Contre-Escarpe[3] mittelst Schießwolle eingeworfen.

So war der Weg in die Festung geöffnet, welchen der Angreifer am Morgen des 8. September dazu benutzte, die Wälle im Sturm zu nehmen und sich aus denselben festzusetzen.

Mit diesem Gewaltact endete die Belagerungsübung. Möge der freundliche Leser aus der kurzen Schilderung derselben ein Bild gewonnen haben, wie sich der Dienst der Pionniere vor und in einer belagerten Festung gestaltet.

F.




„Sie geht zur Bühne“.

Ein zeitgemäßer Warnungsruf.00Von Paul von Schönthan.

Es hat einmal eine Zeit gegegen, da begrub man die Komödianten außerhalb der Kirchhofsmauer, man unterschied nicht zwischen den Helden der Bretter und den Jahrmarktsgauklern, und vorsichtige Hausmütter holten die Trockenwäsche aus dem Garten, wenn sich die Kunde verbreitete, daß Schauspieler im Anzug seien.

Diese Vorurtheile sind überwunden. Die „Komödianten“ werden geadelt, hohe Orden schmücken ihre Brust, die Aristokratie zieht sie in ihre geselligen Kreise; Fürsten, Herzöge, Prinzen wählen ihre Lebensgefährtinnen hinter den Coulissen, und als es vor einiger Zeit ein im Umgang mit Bühnenkünstlern wohlerfahrener Pariser Journalist wagte, den Schauspieler in eine sociale Ausnahmestellung zurückzuweisen, nahmen sich auch die Unbeteiligten der „Geschmähten“ an, und ein Pariser Schauspieler „forderte“ den Verfasser jenes Artikels nach ritterlicher Sitte. –

Der Schauspieler gilt heute – wenn er sonst die Formen eines erzogenen und anständigen Menschen besitzt ebenso viel wie irgend ein anderer Künstler, auch in kleinbürgerlichen Vorurtheilen erzogene Leute söhnen sich mit dem Begriff „Schauspieler“ aus, und da die amüsanten, gesellschaftlich gewandten Leute bei der Bühne nicht selten sind, findet man heutzutage in allen Gesellschaften Bühnenangehörige.

In Folge dieser veränderten Auffassung hat der Entschluß eines jungen Mannes, sich der Bühne zu widmen, aufgehört, die übrige Familie mit Kummer und Verzweiflung zu erfüllen. Unsere jungen Kunstcandidaten verlassen das Elternhaus nicht mehr „bei Nacht und Nebel“, wie es zwei Drittel unserer genialen Schauspieler zu ihrer Zeit gethan haben: da auch in mittleren Städten schon Theaterschulen bestehen, ist der einzuschlagende Weg vorgezeichnet, und die angehenden Künstler ersparen sich sogar die „Schmiere“.

[623] Ich weiß, daß in früherer Zeit – und meine Erinnerung reicht gar nicht so weit zurück – der Entschluß eines Mädchens, Schauspielerin zu werden, von den Angehörigen als etwas Unerhörtes, Verwerfliches aufgefaßt wurde; eine Familie glaubte sich dadurch für alle Zeiten der Verachtung des Tanten- und Basenkreises preisgegeben. Heute ist es nichts weniger als auffallend, wenn man von Müttern aus strengbürgerlichen, bureaukratischen oder militärischen Kreisen hört, daß ihre Töchter zur Bühne ausgebildet werde. Leider hört man es zu häufig. Die hohen Gagen berühmter Heroinen, die glänzenden Heirathen einiger Theaterdamen, die Reputation, deren sich anständige Schauspielerinnen heutzutage erfreuen, werden in’s Treffen geführt, um die vielleicht noch vorhandenen Bedenken besorgter Eltern zu verscheuchen, und am Ende gelangt man zu dem Schluß, daß der Schauspielerstand mindestens ebenso geachtet ist, wie ein anderer; überdies winken zwei Chancen: künstlerische Triumphe (hohe Gage) oder reiche Heirath.

Der Sprung aus der bürgerlichen Sphäre ist rasch gethan, leider giebt es erfahrungsgemäß kein Zurück. Es existirt ein Sprüchwort, daß Jeder, der ein Paar Schuhe auf den Brettern zerrissen habe, dem Theaterteufel verfallen sei. Das klingt ganz hübsch, aber unsere Jugend ist vom Theaterteufel überhaupt nicht besessen und der angebliche „dämonische Zwang“ besteht wohl hauptsächlich in dem Behagen an einem ungebundenen, abwechselungsreichen und häufig mühelosen Leben, ebenso wie sich die „geniale Begier“ nach Applaus nur auf die gewöhnliche menschliche Eitelkeit zurückführen läßt. Durchaus genielosen Dilettanten, die nur am Sonntag den Künstlerberuf ausüben, thut der Applaus gerade so wohl.

„Sie geht zur Bühne“ — der Entschluß wäre ja sehr erfreulich, wenn man ihn von Damen hören würde, die durch unwiderstehliche Lust und entschiedene Anlagen, vielleicht noch unterstützt durch Organ und Erscheinung, auf diese Bahn gelenk werden; nimmer aber ist es zu billigen, wenn — und das ist der häufigere Fall — einfach der Bühnenberuf gewählt wird, weil er äußerlich mehr verspricht, als der einer Lehrerin, Comtptoiristin, Gouvernante etc.

Eine Befähigung zur Schauspielerin ist — oberflächlich genommen bei den meisten weiblichen Geschöpfen vorhanden, gewöhnlich auch eine Singstimme, die in den Ohren der Angehörigen zur Primadonna befähigt; die Operncarrière ist vielleicht noch verlockender, und gewissenlose oder unverständige Berather, die solche Mädchen gewerbsmäßigen „Lehrern“ zuführen, geben gewöhnlich den Ausschlag. Nach einer flüchtigen Prüfung ist die Thatsache besiegelt: Sie geht zur Bühne. Leider scheint es in jenen Kreisen nicht hinreichend bekannt zu sein, welcher Ueberfluß an Schauspielerinnen und Sängerinnen zu constatiren ist, von männlichen Bühnenkünstlern gar nicht zu sprechen.

Der letzte Grund ist in der Uebervölkerungscalamität zu suchen, die eine Ueberfüllung aller Fächer herbeigeführt hat. Das mercantilische, das Baufach, Alles ist längst „besetzt“, doppelt und mehrfach besetzt, aber der Kaufmann, der Ingenieur kann im Orient, in Japan, in Amerika eine Existenz finden; der Schauspieler ist an das zwischen Rhein und Wolga liegende geographische Gebiet gebunden, außerhalb desselben sind die Bedingungen seiner Existenz nicht mehr vorhanden.

Das Handwerk könnte noch einen Zufluß an Menschenmaterial vertragen, es ist zu verwundern, daß es nicht in auffälliger Weise an Kräften gebricht; geht doch der Ehrgeiz dieser Stände dahin, die Kinder „was Besseres“ lernen zu lassen; die allein seligmachende Gymnasialbildung scheint auch den dem Handwerkerstand angehörigen Vätern als Bedingung für das Fortkommen ihrer Söhne zu gelten.

Aber es soll ja hier nur von den weiblichen Kunstbeflissenen die Rede sein. Also: ein Bedarf an mittelmäßigen, nicht einmal an „verwendbaren“ Schauspielerinnen besteht gegenwärtig keineswegs, wenigstens nicht im Verhältniß zu dem massenhaften Nachwuchs. In der Praxis erweisen sich die goldenen Aussichten als trügerisch, zumal für Mädchen, die nicht aus purem Leichtsinn, aus Liederlichkeit sich dem freieren Künstlerleben zugewendet haben. Von diesen soll hier erst gar nicht die Rede sein, wiewohl ihr Einfluß auf die Verhältnisse des Theaters ein sehr wichtiger ist. Zunächst erschweren sie jenen Colleginnen die Existenz, welche wirklich die Absicht haben, durch ihre künstlerischen Leistungen ihren Unterhalt zu erwerben. Es giebt an den meisten Bühnen weibliche Mitglieder, die es „Gott sei Dank nicht nöthig haben“, die Contracte zu unterzeichnen, in welchen von Gage kaum die Rede ist. Der von großmüthigen Kunstfreunden und Beschützern bestrittene Toilettenluxus, den solche Damen entfalten, wird vom Publicum und vom Director gern gesehen, die moralischen Verhältnisse der betreffenden Künstlerin sind beiden Parteien gleichgültig. Jedenfalls sind solche uneigenützige Mitglieder erwünschtere Acquisitionen als die vorwurfsfreie, von einer ihre kleine Pension verzehrenden Mutter begleitete und dürftiger ausgestattete Künstlerin aus „gutem Hause“.

Das ist die praktische Seite, von den Nebenumständen einer solchen Rivalität ganz zu schweigen. Man sollte meinen, daß sie ein wohlerzogenes Mädchen sofort bestimmen müßten, umzukehren und ihre Schwärmerei – wenn eine solche vorhanden war – aufzugeben.

Den Allerwenigsten gelingt es in den ersten zwei bis drei Jahren, und das ist die wichtigste, nicht wiederkehrende Epoche, also als hübsche junge „Anfängerin“ das Interesse eines Directors oder Intendanten zu erwecken, welches sie zu fördern vermöchte. Nach langem Antichambriren vor der Höhle eines dramatischen Seelenverkäufers – wie der Ausdruck für die Species „Theateragent“ lautet – erhält eine solche Künstlerin ein sechs Monate währendes Provinz-Engagement, Notabene wenn sie sich bereits als recht tüchtig erwiesen hat und wenn der Agent sie durch sein persönliches Wohlwollen auszuzeichnen wünscht – was man sich natürlich nicht verbitten kann, so sehr es am Platze wäre.

Nur die vom Glücke Begünstigten werden regelmäßig mit Sommer- und Wintercontracten bedacht, wie Viele sehen sich zu einer unfreiwilligen Sommer- oder Winterruhe veranlaßt!

Die prinzlichen und gräflichen Freier, die den Damen vorgeschwebt haben, bleiben gewöhnlich aus, und schließlich spielt sich ein liebenswürdiger Theaterbonviant in die Gunst der Collegin ein, das Ende ist eine Theaterheirath, die temporäre oder gänzliche Unmöglichkeit, die Kunst auszuüben, Verlust der Stimme etc. – im günstigeren Falle.

Die andere ungünstigere Eventualität brauche ich nicht auszumalen; wer beim Theater Umschau hält, der begegnet verfehlten oder beklagenswerthen und – verlorenen Existenzen in allen Stadien. Leider ist der Rückzugsweg schwer zu finden, selten wird er ausgesucht. – Also: Wer Talent und Drang zum Theater besitzt und die urkräftigen Aeußerungen desselben in sich verspürt, wer einen ernsten und nicht immer ehrlichen Kampf bestehen zu können glaubt, wer sich mit Unempfindlichkeit und Energie auszurüsten vermag, der folge seinem Sterne, besonders wenn er im bürgerlichen Leben auf kein Glück verzichtet; – das „Zum Theater gehen“, weil die Heirathsaussichten „flau“ sind, weil einem die Häuslichkeit zu eng und die mütterliche Ueberwachung lästig wird, ohne mehr als das gewöhnliche Talent zum Declamiren zu besitzen, ohne zuverlässige Anzeichen für seinen Künstlerberuf entdeckt zu haben, das führt von Enttäuschung zu Enttäuschung, bis zur Misère.




Blätter und Blüthen.

Zum hundertsten Geburtstage von Peter von Cornelius. (Mit Illustration auf Seite 617.) „Wenn die Freiheit, die jetzt gewiß und wahrhaft errungen werden wird, würdig soll genossen und den künftigen Zeiten gesichert werden, so muß der Genius der Nation durchdringen in allen Dingen bis zum untersten Glied. Denn nicht große Armeen sind der Schutz eines Volkes, sondern sein Glaube, seine Gesinnung. Daß beinahe Alles in unserem Vaterlande anders werden muß, wenn es der Zeit und dem Sinne des Volkes gemäß sein soll, begreift und fühlt ein Jeder. Nicht Jeder kann die Quelle des Uebels aufspüren, in meiner Kunst kann ich’s, ich sehe deutlich, wo es hier fehlt“

Diese Worte schrieb, als der Sturm des Jahres 1813. losbrach, Peter Cornelius in Rom nieder. Was er damals versprach, das hat er in seinem späteren Leben gehalten; denn wie die Krieger im Felde die politischen Ketten mit Gewalt sprengten, so wußte er auf dem Gebiete der nationalen Kunst erfolgreich, wie kaum Jemand vor ihm, gegen die geistige Fremdherrschaft anzukämpfen. Darum lebt auch sein Andenken [624] in späteren Geschlechtern fort, und darum feiert auch die deutsche Nation überall den herannahenden hundertsten Geburtstag ihres großen Meisters.

Die „Gartenlaube“ hat schon früher öfters der Verdienste dieses Mannes gedacht, sie hat (Jahrgang 1867, Nr. 17) seinen Charakter ausführlich geschildert und erst vor wenigen Jahren (1879, Nr. 29 und 30) seinen Lebenslauf erzählt.

So ist denn Peter Cornelius für die Gemeinde unserer Leser kein Fremder, und wenn wir heute zur Ehre des Gedenktages eine seiner großartigsten Compositionen unseren Freunden vorführen, so brauchen wir dabei nur kurz Einiges aus seinem Leben hervorzuheben.

In dem kunstfrohen Düsseldorf erblickte der Reformator der deutschen Kunst das Licht der Welt. Der Tag seiner Geburt wird bald als der 17., bald als der 23. September des Jahres 1783 bezeichnet. – Sein Vater war kurfürstlicher Gallerie-Inspector und Lehrer an der Düsseldorfer Akademie. Kein Wunder also, daß die künstlerische Neigung des Knaben sowohl in den reichen Sammlungen seiner Vaterstadt wie im elterlichen Hause reichliche Nahrung fand und daß sich ihn, bald Gelegenheit bot, unter tüchtiger Leitung den Zeichnerstift zu führen. Aber der Junge wollte von Anfang seiner Studien an eigene Bahnen wandeln, und das gefiel nicht seinem Lehrer, dem Director Langer, welcher nach dem Tode des Vaters der mittellosen Mutter rieth, den Jungen ein Handwerk lernen zu lassen. Glücklicher Weise wurde dieser Rath nicht befolgt, und der Junge schlug sich durch das Leben, so gut es eben ging, indem er für Buchhändler zeichnete, Kirchenfahnen malte und so seiner Kunst nach Möglichkeit treu blieb.

Der Druck der napoleonischen Thyrannei, welcher damals schwer über Deutschland lastete, rief in ihm einen förmlichen Haß gegen alles Fremde wach, und indem er sich den alten Meistern deutscher Kunst zuwandte, suchte er auch für seine neuesten Schöpfungen deutsche Vorwürfe: Illustrationen zu Goethe’sFaust“ und zu den „Nibelungen“ waren die ersten größeren Werke, mit welchen er vor die Oeffentlichkeit trat.

Im Jahre 1811 sehen wir Cornelius zu Fuß auf der Wanderung nach Rom begriffen. Was er hier leistete, wie er auf dem fremden classischen Boden dazu beitrug, eine deutsche Malerschule zu gründen, das ist in dieser Nummer an einer andern Stelle ausführlich und treffend geschildert worden. An den Schülern erkennt man den Werth des Lehrers, und so könnte das Verdienst Cornelius’ nicht besser hervorgehoben werden, als gerade durch die Erzählung der Jugendstudien Ludwig Richten’s, welche uns heute (vergl. S. 612) Ferdinand Avenarius in so herzgewinnender Weise vorführt.

Von Rom wurde Cornelius durch den König Ludwig von Baiern nach München berufen, um dort seine berühmten Bilder in der Glyptothek zu malen.

Sein Ruhm war begründet, und bald hieraus erfolgte seine Ernennung zum Director der Akademie in Düsseldorf, derselben Kunstschule, von der er früher wegen Unfähigkeit weggemaßregelt worden war.

Wie es aber damals um die Kunst in Deutschland bestellt war, wie Cornelius für seine Compositionen in der Glyptothek nur ein Honorar von 10,000 Gulden erhielt, während man für die Seidentapeten derselben Säle 80,000 Gulden bezahlte, das und Anderes mögen unsere Leser in dem oben erwähnten Artikel der „Gartenlaube“ (Jahrgang 1879) nachlesen, insofern sie am heutigen Tage für das Ringen des Meisters besonderes Interesse empfinden.

Von Düsseldorf ging er als Akademiedirector nach München und von dort im Jahre 1810 in Folge eines Rufes des Königs Friedrich Wilhelm des Vierten in gleicher Eigenschaft nach Berlin. In München schuf er noch vorher seine hochbedeutenden Bilder, die „Erschaffung der Welt und das „Letzte Gericht“, welche die Ludwigs-Kirche schmücken. In München heftete auch König Ludwig dem Meister am letzten Tage des Jahres 1825 im Angesicht seines Bildes der „Zerstörung Trojas“ den Civilverdienstorden auf die Brust mit den Worten: „Man pflegt Helden auf dem Schauplatze ihrer Thaten zu Rittern zu schlagen.“

Im Jahre 1813 erhielt Cornelius den Auftrag, einen christlichen Gemäldecyclus für den Campo santo, den Vorhof zur Begräbnißstätte der preußischen Königsfamilie neben dem Dom zu Berlin, auszuführen. Er ging in demselben Jahre nach Rom, um dort in aller Ruhe diese Aufgabe zu lösen. Diese großartigen Compositionen sind als Gemälde nicht aufgeführt worden. Wohl aber hat sie der Meister durch den Stich veröffentlichen lassen, und auch das unsere heutige Nummer schmückende Bild (S. 617) ist nach dieser im Verlag der Firma G. Wigand erschienenen Sammlung auf Holz übertragen. Es war bestimmt als Hauptbild eine der Wände des Campo santo zu schmücken, und stellt die Aussendung der vier apokalyptischen Reiter: der Pest, des Hungers, des Krieges und des Todes, dar.

Wir lassen hier als die beste Erklärung der großartigen Composition, der gewaltigsten vielleicht, welche die Neuzeit aufzuweisen hat, den Text der Apokalypse („Offenbarung Johannis“, Cap. 6) folgen: „Und ich sahe,“ sagt dort der Apostel, „daß das Lamm der Siegel eines aufthat. Und ich hörete der vier Thiere eines sagen, als mit einer Donnerstimme: ‚Komm und siehe zu!‘

Und ich sahe ein weißes Pferd, und der darauf saß, hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus zu überwinden, und daß er siegete.

Und da es das andere Siegel aufthat, hörete ich das andere Thier sagen: ‚Komm und siehe zu!‘

Und es ging heraus ein ander Pferd, das war roth; und dem, der drauf saß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde, und daß sie sich unter einander erwürgeten: und ihm ward ein groß Schwert gegeben.

Und da es das dritte Siegel aufthat, hörete ich das dritte Thier sagen: ‚Komm und siehe zu!‘

Und ich sahe, und siehe, ein schwarz Pferd, und der drauf saß, hatte eine Wage in seiner Hand.

Und ich hörete eine Stimme unter den vier Thieren sagen: ‚Ein Maß Weizen um einen Groschen, und drei Maß Gerste um einen Groschen, und dem Oele und Wein thu kein Leid.‘

Und da es das vierte Siegel aufthat, hörete ich die Stimme des vierten Thieres sagen: ‚Komm und siehe zu!‘

Und ich sahe, und siehe, ein fahl Pferd, und der drauf saß, deß Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben zu tödten das vierte Theil auf der Erde, mit dem Schwert und Hunger, und mit dem Tod, und durch die Thiere auf Erden.“

So lautet die Stelle, welche den Meister zur Composition seines berühmten Bildes begeisterte, und so stürmen denn die vier wilden Reiter über die dahinsinkende Menschheit hinweg. Sie schwingen erbarmungslos ihre schrecklichen Zeichen: Die Pest schnellt die vergifteten Pfeile von ihrem Bogen ab, der hagere Hunger hält die Wage, das Zeichen der Theuerung, empor, der Krieg führt selbst gegen Wehrlose den vernichtenden Schwertstreich, und unaufhaltsam jagt der düstere Tod mit der unerbittlichen Sense dahin.

Cornelius schloß am 6. März 1867 für immer seine müden Augen. Aber sein Geist lebt für und für und wirkt noch heute belebend in der deutschen Kunst.




Ein künstliches Nordlicht zu erzeugen, ist, wie die Leser der „Gartenlaube“ schon früher aus Zeitungsnachrichten entnommen haben werden, dem Leiter der finnländischen Polarexpedition, Professor Lemmström aus Helsingfors, im letzten Winter gelungen. Sein in vielen Tagesblättern falsch dargestelltes Verfahren bestand einfach darin, daß er in Nordfinnland einen Berg von achthundert bis tausend Meter Höhe am Gipfel mit einem System isolirter Metallspitzen bedeckte, denen die Erdelektricität vom Fuße des Berges mittelst eines Metalldrahtes zugeführt wurde, der in einer im Grundwasser versenkten Zinkplatte endigte. Aus den einzelnen Metallspitzen, welche den Berggipfel wie die Stacheln einer geschlossenen Distelknospe umgaben, brachen sodann in der Polarnacht Lichtstrahlen hervor, welche in einem Falle die Länge von hundertundzwanzig Metern erreichten, und im Ansehen sowohl wie bei der spectroskopischen Untersuchung die Eigenthümlichkeiten der Nordlichtstrahlen darboten. Weder Professor Lemmström noch andere Physiker halten mit diesem wiederholt gelungenen Versuche, wie dies hier und da behauptet wurde, das bisher dunkle Problem der Entstehung des Nordlichtes für endgültig gelöst, aber es läßt sich nicht leugnen, daß nunmehr eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Annahme gegeben ist, es handle sich bei der Nordlichterscheinung nicht, wie man in der Humboldt’schen Zeit annahm, um ein „magnetisches Gewitter“, sondern vielmehr um eine stille Ausgleichung der Erdelektricität mit der des Lichtkreises, indem die freie Erdelektricität in die trockene Luft jener Breiten sichtbar ausströmt. Das Nordlicht wäre dann nichts anderes, als ein Sanct-Elmsfeuer im Großen, das heißt jenen höchstens meterhohen Flammen vergleichbar, die wir bei gewitterhafter Luft nicht selten auf Kirchthurmspitzen gewahren, die aber in manchen Fällen alle hervorragenden Spitzen der Gebäude, Bäume etc. ja selbst die Häupter der Menschen umspielen.
C. St.



Inhalt: Ueber Klippen. Von Friedrich Friedrich (Fortsetzung). S. 609. – Vom alten Richter. Von Ferdinand Avenarius. S. 612. Mit Illustration von E. Limmer. S. 613. – Das National-Denkmal auf dem Niederwald. Von Ferdinand Hey’l. 1. Anregung und Vorbereitungen. S. 616. – Die Belagerungsübung bei Graudenz im August 1883. S. 619. Mit Illustration. S. 621. – „Sie geht zur Bühne“. Ein zeitgemäßer Warnungsruf. Von Paul von Schönthan. S. 622. – Blätter und Blüthen: Zum hundertsten Geburtstag von Peter von Cornelius. S. 623. Mit Illustration auf S. 617. – Ein künstliches Nordlicht. S. 624.


Für die Redaction bestimmte Sendungen sind nur zu adressiren: „An die Redaction der Gartenlaube, Verlagsbuchhandlung Ernst Keil in Leipzig“.

Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs ausgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.
Die Verlagshandlung.



Unter Verantwortlichkeit von Dr. Friedrich Hofmann in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Offene, vorgeschobene Festungswerke.
  2. Leichte Verbauungen und Deckungen von kleinerem Umfang für Infanterie oder Geschütze.
  3. Ecarpe heißt die von dem Feinde gesehene Wand des Festungsgrabens, Contre-Escarpe die ihr gegenüberliegende Grabenwand.