Die Gartenlaube (1885)/Heft 36

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[581]

No. 36.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Unterm Birnbaum.

von Th. Fontane.
(Fortsetzung.)


7.

Um vier Uhr stieg der Knecht die Stiege hinauf, um Szulski zu wecken. Er fand aber die Stube verschlossen, weshalb er sich begnügte zu klopfen und durch das Schlüsselloch hineinzurufen: „is vier, Herr Szulski; steihn’s upp.“ Er horchte noch eine Weile hinein und als alles ruhig blieb, riß er an der klapprigen Thürklinke hin und her und wiederholte: „steihn’s upp, Herr Szulski, is Tied; ick spann nu an.“ Und danach ging er wieder treppab und durch den Laden in die Küche, wo die Hradscheck’sche Magd, eine gutmüthige Person mit krausem Haar und vielen Sommersprossen, noch halb verschlafen am Herde stand und Feuer machte.

„Na, Maleken, ook all rut? Wat seggst Du dato? Klock vieren. Is doch Menschenschinnerei. Worümm nich um söss? Um söss wihr ook noch Tied. Na, nu koch’ uns man en beten wat mit.“

Und damit wollt’ er von der Küche her in den Hof hinaus. Aber der Wind riß ihm die Thür aus der Hand und schlug sie mit Gekrach wieder zu.

„Jott, Jakob, ick hebb mi so verfiert. Dat künn joa ’nen Doden uppwecken.“

„Sall ook, Male. He hett joa ’nen Dodensloap. Nu wahrd he woll uppstoahn.“

Eine halbe Stunde später hielt der Einspänner vor der Hausthür, und Jakob, dem die Hände vom Leinehalten schon ganz klamm waren, sah ungeduldig in den Flur hinein, ob der Reisende noch nicht komme.

Der aber war immer noch nicht zu sehen und statt seiner erschien nur Hradscheck und sagte: „Geh hinauf, Jakob, und sieh nach, was es ist. Er ist am Ende wieder eingeschlafen. Und sag’ ihm auch, sein Kaffee würde kalt … Aber nein, laß nur; bleib. Er wird schon kommen.“

Und richtig, er kam auch und stieg, während Hradscheck so sprach, gerade die nicht allzuhohe Treppe hinunter. Diese lag noch in Dunkel,

Im Hochsommer unterwegs.

[582] aber ein Lichtschimmer vom Laden her ließ die Gestalt des Fremden doch einigermaßen deutlich erkennen. Er hielt sich am Geländer fest und ging mit besonderer Langsamkeit und Vorsicht, als ob ihm der große Pelz unbequem und beschwerlich sei. Nun aber war er unten, und Jakob, der alles neugierig verfolgte, was vorging, sah, wie Hradscheck auf ihn zuschritt und ihn mit vieler Artigkeit vom Flur her in die Wohnstube hinein komplimentirte, wo der Kaffee schon seit einer Viertelstunde wartete.

„Na, nu wahrd et joa woll wihr’n,“ tröstete sich der draußen immer ungeduldiger Werdende. „Kümmt Tied, kümmt Roath.“ Und wirklich, ehe fünf Minuten um waren, erschien das Paar wieder auf dem Flur und trat von diesem her auf die Straße, wo der verbindliche Hradscheck nunmehr rasch auf den Wagen zuschritt und den Tritt herunter ließ, während der Reisende, trotzdem ihm die Pelzmütze tief genug im Gesicht saß, auch noch den Kragen seiner Wolfsschur in die Höhe klappte.

„Das ist recht,“ sagte Hradscheck. „Besser bewahrt, als beklagt. Und nu mach flink, Jakob, und hole den Koffer.“

Dieser that auch wie befohlen, und als er mit dem Mantelsack wieder unten war, saß der Reisende schon und hatte den von ihm als Trinkgeld bestimmten Gulden vor sich auf das Spritzleder gelegt. Ohne was zu sagen, wies er blos darauf hin und nickte nur, als Jakob sich bedankte. Dann nahm er die Leine ziemlich ungeschickt in die Hand, woran wohl die großen Pelzhandschuhe schuld sein mochten, und fuhr auf das Orth’sche Gehöft und die schattenhaft am Dorfausgange stehende Mühle zu. Diese ging nicht, der Wind wehte zu heftig.

Hradscheck sah dem auf dem schlechten Wege langsam sich fortbewegenden Fuhrwerk eine Weile nach, sein Kopf war unbedeckt und sein spärlich blondes Haar flog ihm um die Stirn. Es war aber, als ob die Kühlung ihn erquicke. Als er wieder in den Flur trat, fand er Jakob, der sich das Guldenstück ansah.

„Gefällt Dir wohl? Einen Gulden giebt nicht jeder. Ein feiner Herr!“

„Dat sall woll sien. Awers worümm he man so still wihr? He seggte joa keen Wuhrt nich.“

„Nein, er hatte wohl noch nicht ausgeschlafen,“ lachte Hradscheck. „Is ja erst fünf.“

„Versteiht sich. Klock feiv red’ ick ook nich veel.“


8.

Der Wind hielt an, aber der Himmel klärte sich, und bei hellem Sonnenschein fuhr um Mittag ein Jagdwagen vor dem Tschechiner Gasthause vor. Es war der Friedrichsauer Amtsrath; Trakehner Rapphengste, der Kutscher in Livrée. Hradscheck erschien in der Ladenthür und grüßte respektvoll, fast devot.

„Tag, lieber Hradscheck; bringen Sie mir einen ‚Luft‘ oder lieber gleich zwei; mein Kutscher wird auch nichts dagegen haben. Nicht wahr, Johann? Eine wahre Hundekälte. Und dabei diese Sonne.“

Hradscheck verbeugte sich und rief in den Laden hinein: „Zwei Pfefferminz, Ede; rasch!“ und wandte sich dann mit der Frage zurück, womit er sonst noch dienen könne?

Mir mit nichts, lieber Hradscheck, aber andren Leuten. Oder wenigstens der Obrigkeit. Da liegt ein Fuhrwerk unten in der Oder, wahrscheinlich fehlgefahren und in der Dunkelheit vom Damm gestürzt.“

„Wo, Herr Amtsrath?“

„Hier gleich. Keine tausend Schritt hinter Orth’s Mühle.“

„Gott im Himmel, ist es möglich! Aber wollen der Herr Amtsrath nicht bei Schulze Woytasch mit vorfahren?“

„Kann nicht, Hradscheck; ist mir zu sehr aus der Richt. Der Reitweiner Graf erwartet mich und habe mich schon verspätet. Und zu helfen ist ohnehin nicht mehr, soviel hab’ ich gesehn. Aber alles muß doch seinen Schick haben, auch Tod und Unglück. Adieu … Vorwärts!“ Und damit gab er dem Kutscher einen Tipp auf die Schulter, der seine Trakehner wieder antrieb und wenigstens einen Versuch machte, trotz der grundlosen Wege das Versäumte nach Möglichkeit wieder einzubringen.

*  *  *

Hradscheck machte gleich Lärm und schickte Jakob zu Schulze Woytasch, während er selbst zu Kunicke hinüber ging, der eben seinen Mittagsschlaf hielt.

„Stör’ Dich nicht gern um diese Zeit, Kunicke; Schlaf ist mir allemal heilig, und nun gar Deiner! Aber es hilft nichts, wir müssen hinaus. Der Friedrichsauer Amtsrath war eben da und sagte mir, daß ein Fuhrwerk in der Oder liege. Mein Gott, wenn es Szulski wäre!“

„Wird wohl,“ gähnte Kunicke, dem der Schlaf noch in allen Gliedern steckte, „wird wohl … Aber er wollte ja nicht hören, als ich ihm gestern abend sagte: ‚nicht so früh, Szulski, nicht so früh …‘ Denke doch blos voriges Jahr, wie die Post ’runter fiel und der arme Kerl von Postillon gleich mausetodt. Und der kannte doch unsern Damm! Und nu solch Pohlscher, solch Bruder Krakauer. Na, wir werden ja sehn.“

Inzwischen hatte sich Kunicke zurecht gemacht und war erst in hohe Bruchstiefel und dann in einen dicken graugrünen Flausrock hineingefahren. Und nun nahm er seine Mütze vom Riegel und einen Pikenstock aus der Ecke.

„Komm!“

Damit traten er und Hradscheck vom Flur her auf die Treppenrampe hinaus.

Der Wind blies immer stärker, und als Beide, so gut es ging, von oben her sich umsahen, sahen sie, daß Schulze Woytasch, der schon anderweitig von dem Unglück gehört haben mußte, die Dorfstraße herunter kam. Er hatte seine Ponies, brillante kleine Traber, einspannen lassen und fuhr, aller Polizeiregel zum Trotz, über den aufgeschütteten Gangweg hin, was er sich als Dorfobrigkeit schon erlauben konnte. Zudem durft’ er sich mit Dringlichkeit entschuldigen. Als er dicht an Kunicke’s Rampe heran war, hielt er und rief Beiden zu: „Wollt auch hinaus? Natürlich. Immer aufsteigen. Aber rasch.“ Und im nächsten Augenblicke ging es auf dem aufgeschütteten Wege in vollem Trabe weiter, auf Orth’s Gehöft und die Mühle zu. Hradscheck saß vorn neben dem Kutscher, Kunicke neben dem Schulzen. Das war so Regel und Ordnung, denn ein Bauerngut geht vor Gasthaus und Kramladen.

Gleich hinter der Mühle begann die langsam und allmählich zum Damm ansteigende Schrägung. Oben war der Weg etwas besser, aber immer noch schlecht genug, so daß es sich empfahl, dicht am Dammrand entlangzufahren, wo, wegen des weniger aufgeweichten Bodens, die Räder auch weniger tief einschnitten.

„Paß Achtung,“ sagte Woytasch, „sonst liegen wir auch unten.“

Und der Kutscher, dem selber ängstlich sein mochte, lenkte sofort auf die Mitte des Damms hinüber, trotzdem er hier langsamer fahren mußte.

Sah man von der Fährlichkeit der Situation ab, so war es eine wundervolle Fahrt, ja das sich weithin darbietende Bild von einer gewissen Großartigkeit. Rechtshin grüne Wintersaat, so weit das Auge reichte, nur mit einzelnen Tümpeln, Häusern und Pappelweiden dazwischen, zur Linken aber die von Regengüssen hoch angeschwollene Oder, mehr ein Haff jetzt als ein Strom. Wüthend kam der Südost vom jenseitigen Ufer herüber und trieb die graugelben Wellen mit solcher Gewalt an den Damm, daß es wie eine Brandung war. Und in eben dieser Brandung standen gekröpfte Weiden, nur noch den häßlichen Kopf über dem Wasser, während, auf der neumärkischen Seite, der blauschwarze Strich einer Kiefernwaldung in grellem, unheimlichem Sonnenscheine dalag.

Bis dahin war außer des Schulzen Anruf an den Kutscher kein Wort laut geworden, jetzt aber sagte Hradscheck, indem er sich zu den beiden hinter ihm Sitzenden umdrehte: „Der Wind wird ihn runter geweht haben.“

„Unsinn!“ lachte Woytasch, „Ihr müßt doch sehn, Hradscheck, der Wind kommt ja von da, von drüben. Wenn der schuld wäre, läg’ er hier rechts vom Damm und nicht nach links hin in der Oder … Aber seht nur, da wanken ja schon welche herum und halten sich die Hüte fest. Fahr’ zu, daß wir nicht die Letzten sind.“

Und eine Minute drauf hielten sie gerad an der Stelle, wo das Unglück sich zugetragen hatte. Wirklich, Orth war schon da, mit ihm ein paar seiner Mühlknechte, desgleichen Mietzel und Quaas, deren ausgebaute Gehöfte ganz in der Nähe lagen. Alles begrüßte sich und kletterte dann gemeinschaftlich den Damm hinunter, um unten genau zu sehen, wie’s stünde. Die Böschung war glatt, aber man hielt sich an dem Werft und Weidengestrüpp, das überall stand. Unten angekommen, sah man bestätigt, was von Anfang an niemand bezweifelt hatte: Szulski’s Einspänner lag wie gekentert im Wasser, das Verdeck nach unten, die Räder [583] nach oben; von dem Pferde sah man nur dann und wann ein von den Wellen überschäumtes Stück Hintertheil, während die Scheere, darin es eingespannt gewesen, wie ein Wahrzeichen aus dem Strom aufragte. Den Mantelsack hatten die Wellen an den Damm gespült, und nur von Szulski selbst ließ sich nichts entdecken.

„Er ist nach Kienitz hin weggeschwemmt,“ sagte Schulze Woytasch. „Aber weit weg kann er nicht sein; die Brandung geht ja schräg gegen den Damm.“

Und dabei marschirte man truppweise weiter, von Gestrüpp zu Gestrüpp, und durchsuchte jede Stelle.

„Der Pelz muß doch obenauf schwimmen.“

„Ja, der Pelz,“ lachte Kunicke. „Wenn’s blos der Pelz wär’. Aber der Pohlsche steckt ja drin.“

Es war der Kunickesche Trupp, der so plauderte, ganz wie bei Dachsgraben und Hühnerjagd, während der den andern Trupp führende Hradscheck mit einem Male rief: „Ah, da ist ja seine Mütze!“

Wirklich, Szulski’s Pelzmütze hing an dem kurzen Geäst einer Kropfweide.

„Nun, haben wir die,“ fuhr Hradscheck fort, „so werden wir ihn auch selber bald haben.“

„Wenn wir nur ein Boot hätten. Aber es kann hier nicht tief sein, und wir müssen immer peilen und Grund suchen.“

Und so geschah’s auch. Aber alles Messen und Peilen half nichts und es blieb bei der Mütze, die der eine der beiden Müllerknechte mittlerweile mit einem Haken herangeholt hatte. Zugleich wurde der Wind immer schneidender und kälter, so daß Kunicke, der noch von Möckern und Montmirail her einen Rheumatismus hatte, keine Lust mehr zur Fortsetzung verspürte. Schulze Woytasch auch nicht.

„Ich werde Gensdarm Geelhaar nach Kienitz und Güstebiese schicken,“ sagte dieser. „Irgendwo muß er doch antreiben. Und dann wollen wir ihm ein ordentliches Begräbniß machen. Nicht wahr, Hradscheck? Die Hälfte kann die Gemeinde geben.“

„Und die andre Hälfte geben wir,“ setzte Kunicke hinzu. „Denn wir sind doch eigentlich ein bischen schuld. Oder eigentlich ganz gehörig. Er war gestern Abend verdammt fißlig und man bloß noch so so. War er denn wohl kattolsch?“

„Natürlich war er,“ sagte Woytasch. „Wenn einer Szulski heißt und aus Krakau kommt, ist er kattolsch. Aber das schad’t nichts. Ich bin für Aufklärung. Der alte Fritze war auch für Aufklärung. Jeder nach seiner Façon …“

„Versteht sich,“ sagte Kunicke. „Versteht sich. Und dann am Ende, wir wissen auch nicht, das heißt, ich meine, so ganz bestimmt wissen wir nicht, ob er ein Kattolscher war oder nich. Un was man nich weiß, macht einen nich heiß. Nicht wahr, Quaas?“

„Nein, nein. Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Und Quaasen auch nicht.“

Alle lachten und selbst Hradscheck, der bis dahin eine würdige Zurückhaltung gezeigt hatte, stimmte mit ein.


9.

Der Todte fand sich nicht, der Wagen aber, den man mühevoll aus dem Wasser heraufgeholt hatte, wurde nach dem Dorf geschafft und in Kunicke’s große Scheune gestellt. Da stand er nun schon zwei Wochen, um entweder abgeholt oder auf Antrag der Krakauer Firma versteigert zu werden.

Im Dorfe gab es inzwischen viel Gerede, das aller Orten darauf hinauslief: „es sei was passirt und es stimme nicht mit den Hradschecks. Hradscheck sei freilich ein feiner Vogel und Spaßmacher und könne Witzchen und Geschichten erzählen, aber er hab’ es hinter den Ohren, und was die Frau Hradscheck angehe, die vor Vornehmheit nicht sprechen könne, so wisse jeder, stille Wasser seien tief. Kurzum es sei Beiden nicht recht zu traun und der Pohlsche werde wohl ganz wo anders liegen als in der Oder.“ Zum Ueberfluß griff auch noch unser Freund, der Kantorssohn, der sich jedes Skandals mit Vorliebe bemächtigte, in die Saiten seiner Leier und allabendlich, wenn die Knechte, mit denen er auf Du und Du stand, vom Kruge her durchs Dorf zogen, sangen sie nach bekannter Melodie:

Morgenroth!
Abel schlug den Kain todt.
Gestern noch bei vollen Flaschen,
Morgens ausgeleerte Taschen
Und ein kühles, kühles Gra-ab.

All dies kam zuletzt auch dem Küstriner Gericht zu Ohren, und wiewohl es nicht viel besser als Klatsch war, dem alles Beweiskräftige fehlte, so sah sich der Vorsitzende des Gerichts, Justizrath Vowinkel, doch veranlaßt, an seinen Dutz- und Logenbruder Eccelius einige Fragen zu richten und dabei Erkundigungen über das Vorleben der Hradschecks einzuziehen.

Das war am 7. Dezember, und noch am selben Tage schrieb Eccelius zurück:

„Lieber Bruder. Es ist mir sehr willkommen, in dieser Sache das Wort nehmen und Zeugniß zu Gunsten der beiden Hradschecks ablegen zu können. Man verleumdet sie, weil man sie beneidet, besonders die Frau. Du kennst unsere Brücher; sie sind hochfahrend und steigern ihren Dünkel bis zum Haß gegen alles, was sich ihnen gleich oder wohl gar überlegen glaubt. Aber ad rem. Er, Hradscheck, ist kleiner Leute Kind aus Neu-Lewin und, wie sein Name bezeugt, von böhmischer Extraktion. Du weißt, daß Neu-Lewin in den 80er Jahren mit böhmischen Kolonisten besetzt wurde. Doch dies beiläufig. Unsres Hradscheck Vater war Zimmermann, der, nach Art solcher Leute, den Sohn für dasselbe Handwerk bestimmte. Und unser Hradscheck soll denn auch wirklich als Zimmermann gewandert und in Berlin beschäftigt gewesen sein. Aber es mißfiel ihm und so fing er, als er vor etwa 15 Jahren nach Neu-Lewin zurückkehrte, mit einem Kramgeschäft an, das ihm auch glückte, bis er, um eines ihm unbequem werdenden ‚Verhältnisses‘ willen, den Laden aufgab und den Entschluß faßte nach Amerika zu gehen. Und zwar über Holland. Er kam aber nur bis ins Hannöversche, wo er, in der Nähe von Hildesheim, also katholische Gegend, in einer großen gasthausartigen Dorfherberge Quartier nahm. Hier traf es sich, daß an demselben Tage die seit Jahr und Tag in der Welt umhergezogene Tochter des Hauses, krank und elend von ihren Fahrten und Abenteuern – sie war muthmaßlich Schauspielerin gewesen – zurückkam und eine furchtbare Scene mit ihrem Vater hatte, der ihr nicht nur die bösesten Namen gab, sondern ihr auch Zuflucht und Aufnahme verweigerte. Hradscheck, von dem Unglück und wahrscheinlich mehr noch von dem eigenartigen und gewinnenden Wesen der jungen Frau gerührt, ergriff Partei für sie, hielt um ihre Hand an, was dem Vater wie der ganzen Familie nur gelegen kam, und heirathete sie, nachdem er seinen Auswanderungsplan aufgegeben hatte. Bald danach, um Martini herum übersiedelten Beide hierher, nach Tschechin, und schon am ersten Advents-Sonntage kam die junge Frau zu mir und sagte, daß sie sich zur Landeskirche halten und evangelisch getraut sein wolle. Was denn auch geschah und damals (es geht jetzt ins zehnte Jahr) einen großen Eindruck auf die Bauern machte. Daß der kleine Gott mit dem Bogen und Pfeil in dem Leben Beider eine Rolle gespielt hat, ist mir unzweifelhaft, ebenso daß Beide seinen Versuchungen unterlegen sind. Auch sonst noch, wie nicht bestritten werden soll, bleiben einige dunkle Punkte, trotzdem es an anscheinend offenen Bekenntnissen nie gefehlt hat. Aber wie dem auch sein möge, mir liegt es pflichtmäßig ob zu bezeugen, daß es wohlanständige Leute sind, die, so lang ich sie kenne, sich gut gehalten und allzeit in einer christlichen Ehe gelebt haben. Einzelnes, was ihm, nach der entgegengesetzten Seite hin, vor längrer oder kürzrer Zeit nachgesagt wurde, mag auf sich beruhn, um so mehr, als mir Sittenstolz und Tugendrichterei von Grund aus verhaßt sind. Die Frau hat meine besondere Sympathie. Daß sie den alten Aberglauben abgeschworen, hat sie mir, wie Du begreifen wirst, von Anfang an lieb und werth gemacht.“

Die Wirkung dieses Eccelius’schen Briefes war, daß das Küstriner Gericht die Sache vorläufig fallen ließ; als demselben aber zur Kenntniß kam, „daß Nachtwächter Mewissen, nach neuerdings vor Schulze Woytasch gemachten Aussagen, an jenem Tage, wo das Unglück sich ereignete, so zwischen fünf und sechs (um die Zeit also, wo das Wetter am tollsten gewesen) die Frau Hradscheck zwischen den Pappeln an der Mühle gesehn haben wollte, ganz so wie wenn sie halb verbiestert vom Damm her käme,“ – da waren die Verdachtsgründe gegen Hradscheck und seine Frau doch wieder so gewachsen, daß das Gericht einzuschreiten beschloß. Aber freilich auch jetzt noch unter Vermeidung jedes Eklats, weshalb Vowinkel an Eccelius, dem er ohnehin noch einen Dankesbrief schuldete, die folgenden Zeilen richtete:

„Habe Dank, lieber Bruder, für Deinen ausführlichen Brief vom 7. d. M., dem ich, soweit er ein Urtheil abgibt, in meinem [584] Herzen zustimme. Hradscheck ist ein durchaus netter Kerl, weit über seinen Stand hinaus, und Du wirst Dich entsinnen, daß er letzten Winter sogar in Vorschlag war und zwar auf meinen speciellen Antrag. Das alles steht fest. Aber zu meinem Bedauern will die Geschichte mit dem Polen nicht aus der Welt, ja, die Verdachtsgründe haben sich gemehrt, seit neuerdings auch euer Mewissen gesprochen hat. Andrerseits freilich ist immer noch zu wenig Substanz da, um ohne Weiteres eine Verhaftung eintreten zu lassen, weshalb ich vorhabe, die Hradscheck’schen Dienstleute, die doch schließlich alles am besten wissen müssen, zu vernehmen und von ihrer Aussage mein weiteres Thun oder Nichtthun abhängig zu machen. Unter allen Umständen aber wollen wir alles, was Aufsehn machen könnte, nach Möglichkeit vermeiden. Ich treffe morgen gegen 2 in Tschechin ein, fahre gleich bei Dir vor und bitte Dich Sorge zu tragen, daß ich den Knecht Jakob sammt den beiden andern Personen, deren Namen ich vergessen, in Deinem Hause vorfinde.“

*  *  *

So des Justizraths Brief. Er selbst hielt zu festgesetzter Zeit vor dem Pfarrhaus und trat in den Flur, auf dem die drei vorgeforderten Dienstleute schon standen. Vowinkel grüßte sie, sprach, in der Absicht ihnen Muth zu machen, ein paar freundliche Worte zu jedem und ging dann, nachdem er sich aus seinem Mantel herausgewickelt, auf Eccelius’ Studierstube zu, darin nicht nur der große schwarze Kachelofen, sondern auch der wohlarrangirte Kaffeetisch jeden Eintretenden überaus anheimelnd berühren mußte. Dies war denn auch bei Vowinkel der Fall. Er wies lachend darauf hin und sagte: „Vortrefflich, Freund. Höchst einladend. Aber ich denke, wir lassen das bis nachher. Erst das Geschäftliche. Das Beste wird sein, Du stellst die Fragen und ich begnüge mich mit der Beisitzer-Rolle. Sie werden Dir unbefangener antworten als mir.“ Dabei nahm er in einem neben dem Ofen stehenden hohen Lehnstuhle Platz, während Eccelius, auf den Flur hinaus, nach Ede rief und sich’s nun erst, nach Erledigung aller Präliminarien, an seinem mächtigen Schreibtische bequem machte, dessen großes, zwischen einem Sand- und einem Tintenfaß stehendes Alabasterkreuz ihn von hinten her überragte.

Der Gerufene war inzwischen eingetreten und blieb an der Thür stehn. Er hatte sichtlich sein Bestes gethan, um einen manierlichen Menschen aus sich zu machen, aber nur mit schwachem Erfolg. Sein braunrothes Haar lag großentheils blank an den Schläfen, während ihm das Wenige, was ihm sonst noch verblieben war, nach Art einer Spitzflamme zu Häupten stand. Am schlimmsten aber waren seine winterlichen Hände, die, wie eine Welt für sich, aus dem überall zu kurz gewordenen Einsegnungsrock hervorsahen.

„Ede,“ sagte der Pastor freundlich, „Du sollst über Hradscheck und den Polen aussagen, was Du weißt.“

Der Junge schwieg und zitterte.

„Warum sagst Du nichts? warum zitterst Du?“

„Ick jrul’ mi so.“

„Vor wem? Vor uns?“

Ede schüttelte mit dem Kopf.

„Nun, vor wem denn?“

„Vor Hradschecken …“

Eccelius, der alles zu Gunsten der Hradschecks gewendet zu sehen wünschte, war mit dieser Aussage wenig zufrieden, nahm sich aber zusammen und sagte: „Vor Hradscheck. Warum vor Hradscheck? Was ist mit ihm? Behandelt er Dich schlecht?“

„Nei.“

„Nu wie denn?“

„Ick weet nich … He is so anners.“

„Nu gut. Anders. Aber das ist nicht genug, Ede. Du mußt uns mehr sagen. Worin ist er anders? Was thut er? Trinkt er? Oder flucht er? Oder ist er in Angst?“

„Nei.“

„Nu wie denn? Was denn?“

„Ick weet nich … He is so anners.“

Es war ersichtlich, daß aus dem eingeschüchterten Jungen nichts weiter herauszubringen sein würde, weshalb Vowinkel dem Freunde zublinkte, die Sache fallen zu lassen. Dieser brach denn auch wirklich ab und sagte: „Nun, es ist gut, Ede. Geh. Und schicke die Male herein.“

Diese kam und war in ihrem Kopf- und Brusttuch, das sie heute wie sonntäglich angelegt hatte, kaum wieder zu erkennen. Sie sah klar aus den Augen, war unbefangen und erklärte, nachdem Eccelius seine Frage gestellt hatte, daß sie nichts wisse. Sie habe Szulski garnicht gesehn, „un ihrst um Klocker vier oder noch en beten danoah“ wäre Hradscheck an ihre Kammerthür gekommen und hätte gesagt, daß sie rasch aufstehn und Kaffee kochen solle. Das habe sie denn auch gethan, und grad als sie den Kien gespalten, sei Jakob gekommen und hab’ ihr so im Vorübergehn gesagt, „daß er den Pohlschen geweckt habe; der Pohlsche hab’ aber ’nen Dodenschlaf gehabt und habe gar nich geantwortet. Und da hab’ er an die Dhür gebullert.“

All das erzählte Male hintereinander fort, und als der Pastor zum Schlusse frug, ob sie nicht noch weiter was wisse, sagte sie: „nein, weiter wisse sie nichts, oder man blos noch das eine, daß die Kanne, wie sie das Kaffeegeschirr herausgeholt habe, beinah noch ganz voll gewesen sei. Und sei doch ein gräuliches Wetter gewesen und kalt und naß. Und wenn sonst einer des Morgens abreise, so tränk’ er mehrstens oder eigentlich immer die Kanne leer, un von Zucker übrig lassen wär’ gar keine Rede nich. Und manche nähmen ihn auch mit. Aber der Pohlsche hätte keine drei Schluck getrunken, und sei eigentlich alles noch so gewesen, wie sie’s reingebracht habe. Weiter wisse sie nichts.“

Danach ging sie, und der Dritte, der nun kam, war Jakob.

„Nun, Jakob, wie war es?“ fragte Eccelius; „Du weißt, um was es sich handelt. Was Du Malen und mir schon vorher gesagt hast, brauchst Du nicht zu wiederholen. Du hast ihn geweckt und er hat nicht geantwortet. Dann ist er die Treppe herunter gekommen und Du hast gesehn, daß er sich an dem Geländer festhielt, als ob ihm das Gehen in dem Pelz schwer würde. Nicht wahr, so war es?“

„Joa, Herr Pastor.“

„Und weiter nichts?“

„Nei, wider nix. Un wihr man blot noch, dat he so’n beten lütt utsoah, un …“

„Und was?“

„Un dat he so still wihr un seggte keen Wuhrd nich. Un as ick to em seggen deih: ‚Na Adjes, Herr Szulski,‘ doa wihr he wedder so bummsstill un nickte man blot so.“

Nach dieser Aussage trat auch Jakob ab und die Pfarrköchin brachte den Kaffee. Vowinkel nahm eine der Tassen und sagte, während er sich an das Fensterbrett lehnte: „Ja, Freund, die Sache steht doch schlimmer, als Du wahr haben möchtest, und fast auch schlimmer, als ich erwartete.“

„Mag sein,“ erwiderte der Pastor. „Nach meinem Gefühl indeß, das ich selbstverständlich Deiner bessren Erfahrung unterordne, bedeuten all diese Dinge garnichts oder herzlich wenig. Der Junge, wie Du gesehn hast, konnte vor Angst kaum sprechen, und aus der Köchin Aussage war doch eigentlich nur das Eine festzustellen, daß es Menschen giebt, die viel, und andre, die wenig Kaffee trinken.“

„Aber Jakob!“

Eccelius lachte. „Ja, Jakob. ‚He wihr en beten to lütt‘, das war das eine, ‚un he wihr en beten to still‘, das war das andre. Willst Du daraus einen Strick für die Hradschecks drehn?“

„Ich will es nicht, aber ich fürchte, daß ich es muß. Jedenfalls haben sich die Verdachtsgründe durch das, was ich eben gehört habe, mehr gemehrt als gemindert, und ein Verfahren gegen den so mannigfach Belasteten kann nicht länger mehr hinausgeschoben werden. Er muß in Haft, wär’ es auch nur, um einer Verdunklung des Thatbestandes vorzubeugen.“

„Und die Frau?“

„Kann bleiben. Ueberhaupt werd’ ich mich auf das Nöthigste beschränken, und um auch jetzt noch alles Aufsehen zu vermeiden, hab’ ich vor, ihn auf meinem Wagen, als ob es sich um eine Spazierfahrt handle, mit nach Küstrin zu nehmen.“

„Und wenn er nun schuldig ist, wie Du beinah glaubst oder wenigstens für möglich hältst? Ist Dir eine solche Nachbarschaft nicht einigermaßen ängstlich?“

Vowinkel lachte. „Man sieht, Eccelius, daß Du kein Kriminalist bist. Schuld und Muth vertragen sich schlecht zusammen. Alle Schuld lähmt.“

„Nicht immer.“

„Nein, nicht immer. Aber doch meist. Und allemal da, wo das Gesetz schon über ihr ist.“

(Fortsetzung folgt.)

[585]

Allerlei Hochzeitsgebräuche.[1]

IV.0Bauernhochzeiten im Hansjochenwinkel.
Von W. Meyer-Markau. 0 Mit Illustrationen von H. Dietrichs.


Dorf und Bauernhaus im Hansjochenwinkel.

Gleichsam als ein Stücklein Vergangenheit, das die rastlos forthastende Zeit abseits vom Wege mitzunehmen verabsäumt hat, liegt der Hansjochenwinkel im nordwestlichen Theile des Kreises Salzwedel. Dort gedeiht jener kernige Bauernschlag wendisch-germanischer Abkunft, der schon einmal (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1882, S. 313) den Gegenstand unserer Schilderung bildete. – Die Natur hat die Gegend ziemlich karg ausgestattet; nur der am Horizont sichtbare dunkle Saum ausgedehnter Nadelwaldungen und vereinzelt im Felde stehende knorrige Eichen bilden den natürlichen Schmuck der weiten Ebene. Aber die schwielige Hand des fleißigen Bauern wußte die sandige Scholle in fruchtbares Land zu verwandeln, und dicht aneinander gedrängt leuchten aus dem frischen Grün der Obstgärten wohlhabende Dörfer hervor, mit dem wohlbekannten Giebel des niedersächsischen Hauses, zumeist nach wendischer Sitte in Hufeisenform gebaut. Am eigenartigsten von allen daselbst herrschenden Gebräuchen ist unbestritten die Art und Weise, in der die dortigen Bauern in die Ehe treten. In Folge althergebrachter Sitte herrschen noch heute bei den Hochzeiten im Hansjochenwinkel jener farbige Prunk und jene laute Freude, die in alter Zeit das Volksleben verschönerten. Auch ein wenig urwüchsige Poesie tritt uns hier bei solchen Anlässen entgegen, obwohl die Gründe für die Eheschließung eines Paares fast durchweg sehr wenig idealer Natur sind und zumeist der krasseste Realismus sich breitspurig als Ehevermittler hinstellt. Wenn sich die „Alten“ auf ihrem Bauerngute abgearbeitet haben und demselben nicht mehr vorstehen können, so wird „eingefreit“. Da gilt’s denn vor Allem, eine „passende Partie“ zu finden. Passend ist aber eine solche nur dann, wenn der andere Theil mit seinem Gelde den Hof „heben“ kann, das heißt, wenn er Mitgift genug bietet, um alle Mitbewerber siegreich aus dem Felde zu schlagen. Nun aber sucht sich der Bauernbursch nicht etwa selber die Braut unter den Töchtern des Landes, das besorgen die lebenserfahrenen Alten. In der Regel wird von diesen einer zuverlässigen „Frauensperson“, der „Freiwerberschen“, vertraulicher Auftrag ertheilt, für den Hof die Bäuerin „ausfindig zu machen“. Solcher Liebe Müh’ ist nicht etwa umsonst, nein, dafür bekommt die „Freiwerbersche“ ihr „Freiwerberhemd“ und freie „Köst“ – so nennt man nämlich die Hochzeit.

Ist unter den zur Auswahl gestellten „Bauerndirnen“ der Eltern Wahl auf eine bestimmte gefallen, so kommt die Braut mit den Ihrigen „zum Besehen gefahren“. Dabei wird dann nicht nur Alles, was in Feld und Wald, in Hof und Stallung zu schauen, „durchmustert“, sondern es werden auch Boden und Keller, Kisten und Kasten „in Observanz genommen“. So nebenbei sieht sich bei dieser Gelegenheit das zukünftige Paar oft zum ersten Mal mit prüfendem Blicke an. Wohl der Braut, wenn sie [586] einen kräftigen Körperbau hat, er ist mehr Fürsprache für sie als die größte Schönheit; denn „das glatte (schöne) Gesicht kann man nicht essen“, und ein „spillerig Ding“ (schwächlich gebautes Mädchen) kann nicht arbeiten, wie es einer Bäuerin geziemt.

Ist das „Besehen“ zur Befriedigung des interessirten Theiles ausgefallen, so wird „die Sach’ gleich ’wiß gemacht“ und zu diesem Behufe die „Löfft“ (Verlobung) verabredet. Dieselbe findet stets auf dem Hofe statt, von dem Braut oder Bräutigam weg heirathen, während die Köst dagegen immer auf dem anderen Hofe abgehalten wird.

Auch bei diesem Feste tritt der praktische Sinn des Hansjochenwinklers zum Vorschein. Wohl zieht das Jungvolk des Dorfes am „Löfftabend“ vor die Hausthür und zerwirft dort Scherben und schießt hinter den Fenstern, wofür es von Braut und Bräutigam auf dem Hofe mit einem „Pöttchen“ (Topf) voll Grog und mit Butterkuchen bewirthet wird; wohl werden zum ersten Male silberne oder goldene Ringe gewechselt und Liebesgaben zwischen den Neuverlobten ausgetauscht, aber schon diese Brautgeschenke haben einen praktischen Werth, denn sie bestehen zumeist aus „Erbthalern“ und „Doppelpistolen“ (Friedrichsd’or). Das ist das „Verlobungsgeld“, welches die späteren Eheleute ihr ganzes Leben lang sorgfältig aufbewahren, „weil dann das Vieh gut gedeiht“. In erster Linie aber wird auf der Löfft „Alles beschnackt“, das heißt das Nähere über die Bedingungen der Uebergabe des Hofes an das „jung Volk“ verabredet, was allerdings später noch durch eine gerichtliche „Beschreibung“ bekräftigt wird.

Bis dahin sollte eigentlich alles geheim gehalten werden, und erst nach der „Löfft“ haben sich die Verlobten öffentlich zu zeigen und fahren deßhalb gemeinsam „zu Markt“, zumeist zum Dionysius-Markt in Salzwedel. Dort werden „goldene“ Gesangbücher, „Halsgeschirr“, Uhrketten etc. gekauft. Für einige Distrikte muß dieser Dionysius-Markt auch wohl die Gelegenheit für die „Brautschau" abgeben, also für das erste Bekanntwerden des jungen Paares.

Anhalten des Brautwagens.

Wenn man die inneren Vorbereitungen zum Einfreien nach allen Seiten hin getroffen hat, so denkt man auch an die äußeren. Diese werden im Wesentlichen auf dem Hofe des Brautvaters vorgenommen. Dort arbeiten Tischler für den „Kistenwagen“ die Möbel, Schneider die Kleidungsstücke, „Neisterinnen“ (Näherinnen) aus „selbstgemachtem“ Linnen die Wäsche. Endlich ist der Hochzeitstag nahe gerückt, der bei erstmaligen Heirathen in der Regel ein Dienstag, bei Heirathen solcher Personen aber, von denen „ein Part verwittwet“ war, ein Freitag sein muß. Am Donnerstag vor der Köstwoche" werden vom Hofe des Brautvaters Mastochsen, Schweine, Hammel, Gänse, „Kiepen voll Hühner“, „Moller“ (Säcke mit Mehl zu Kuchen und Brot), Grütze, Butter, Eier, gebackene Pflaumen, Bohnen, ja selbst Salz und was dergl. m. auf den Hof des Bräutigams gebracht. Am Freitag wird dort geschlachtet, am Sonnabend und Montag gebacken. Ganze Berge von zubereiteten Backwaaren, von Fässern mit Braunbier und „Schluck“ (Branntwein) werden aufgestapelt, denn die Zahl der Gäste beträgt manchmal mehr als ein halbes Tausend. Endlich ist der Sonntag vor der „Köst“ gekommen, und der interessanteste Theil der Hochzeit nimmt seinen Anfang: es werden Braut- und Kistenwagen gefahren. Der Brautwagen von früher unterschied sich wesentlich von dem von heute; denn während man zu demselben jetzt eine Kalesche oder Kutsche mit zwei Pferden davor nimmt, verwendete man dazu in früheren Zeiten einen großen Erntewagen mit Sprossenleitern, den man mit Tannenreisig und Blumengewinden bekränzte. Derselbe wurde auch erst am Hochzeitstage gefahren; sechs Pferde zogen ihn.

Auf dem „nasken“ (linken) Vorderpferde saß der nächste Verwandte der Braut, also gewöhnlich ihr Bruder, auf dem „hotten“ (rechten) Deichselpferd derselbe Verwandte des Bräutigams. Im Falle ein Bräutigam in einen Hof „freite“, war dies Alles just umgekehrt. Dem Hinterfuhrmann steckte man auf jeder Schulter ein großes buntes Frauentuch fest, dem Vorderfuhrmann ein solches nur auf der rechten Schulter. Jedem Pferde war auf dem Kopfe ein künstlicher Blumenstrauß mit schmalen, rothen Seidenbändchen befestigt. Auf dem Wagen saßen vorn die Musikanten, hinter diesen die jungen „Kerle“, welche zur Köst „genöthigt“ waren. In der Mitte des Wagens auf dem geschnitzten und gedrechselten „Brautstuhle“ saß die Braut. Um sie herum standen die jungen „Dirnen“ so dicht, daß dieselbe von den Zuschauern bei Leibe nicht gesehen werden konnte, denn wenn man die Braut von unten sah, so war der Wagen nicht voll, die [587] Köst also nicht vornehm genug, weil zu wenig Gäste geladen waren. Hinter der Braut standen die Brautjungfern, nächste Verwandte von Braut und Bräutigam, mit zwei Brautlichtern.

Brautjungfer mit Brautlicht.

Diese Brautlichter waren damals Tännchen, aufgeputzt mit breiten, sehr langen rothen und grünen Seidenbändern, mit künstlichen Blumensträußen und recht vielem „Knittergold“, das „tüchtig knittern mußte, so als der Wind ging.“ Auf den Aesten des Tannenbäumchens steckten Christbaumlichter, und der Stiel war mit Buchsbaum umwunden. Neuerdings hat auch hierin die Kunst über die Natur obgesiegt, mit Rosmarin oder gar mit künstlichen Blumen umwundene Gestelle haben den Christbaum vom Brautwagen verdrängt.

Ganz hinten auf demselben saßen die „Korbmütter“, zwei Frauen nächster Verwandtschaft, die einen großen Korb vor sich stehen hatten, aus welchem sie den Zuschauern Kuchen, „Kubel“-(Weißbrot-) Schnitte, Aepfel und Pfeffernüsse zuwarfen. Dem Brautwagen folgten die älteren Hochzeitsgäste als „Nachfolger“. Je mehr solcher Wagen, desto „großartiger“ die Köst. Auf dem allerletzten derselben fuhren Vater und Mutter der Braut, bei denen Pferde und Wagen ungeschmückt bleiben mußten. Wenn der stattliche Zug langsam durch die Fluren dahin fuhr, hörte man schon aus weiter Ferne die schmetternde Musik, das Juchzen der Burschen, das Kreischen der Mädchen und das Schießen vom Brautwagen herunter.

Auf der „Grenzmarke“ des Dorfes, das die neue Heimath der Braut werden sollte, hielt der Zug an. Der Hinterfuhrmann stieg vom Pferde, trat an den Wagen neben die Braut und fragte:

„Jungfer Braut, willst Du lieber rückwärts oder vorwärts?“

„Man vorwärts!“ war deren Antwort, und dabei reichte sie dem Frager ein Taschentuch, in das ein Geldgeschenk von einem halben bis zu zwei Thalern gebunden war. Und der Brautzug ging wieder vorwärts. Sobald derselbe ins Dorf einbog, standen die Gemeindehirten an der Dorfstraße und jedem derselben warf die Braut einen Apfel mit einem hineingesteckten „Viergroschenstück“ zu.

Auf dem Hofe des Hochzeitsgutes hatten Braut und der auf sie wartende Bräutigam zum Schluß der Fahrt noch ein Kunststück auszuführen. Die Braut mußte nämlich, bevor der Wagen still stand, sich über die Leiterbäume hinweg ihrem zukünftigen Herrn und Gebieter in die Arme werfen, wofür er seine Zukünftige regelrecht zu „fangen“ und ins Haus bis hinter den Feuerherd zu tragen hatte. Für die übrigen Fahrgenossen stellte man zum bequemen Herabsteigen eine Leiter hin. Allein diese machten von derselben nicht früher Gebrauch, als bis man ihnen Grog und „Butterkuchen“ nach oben gereicht. Die geleerten Gläser zurückzugeben, wäre recht unschicklich gewesen, nein, die wurden vom Wagen aus „in tausend Stücke kaput geschmissen“. Für das junge Paar stand indessen im Hause eine Suppe fertig, in welche – gesegnete Mahlzeit! – „von Allem, was in der Wirthschaft vorkommt“ (soll heißen: Stückchen von der Pferde-, Kuh- und Schafkrippe) hinein gemischt sein mußte. Wenn die Suppe gut mundet – ich darf jetzt in der Gegenwart reden, da diese Sitte und der damit verknüpfte Aberglaube bis auf den Tag besteht – so gedeiht die künftige Wirthschaft gut; im entgegengesetzten Fall sieht’s damit schlecht aus.

Tanz im Zelte.

Der Brautwagen von heute sieht nüchterner, prosaischer aus. Derselbe fährt bereits am Sonntag vor der Köst. Daß dazu eine Kalesche oder auch eine Kutsche genommen wird, ist schon berichtet. Der Kutscher ist der Bruder des Bräutigams, die Auswerfefrau, die neben diesem sitzt, ist stets eine verheirathete Person aus allernächster Verwandtschaft desselben. Im zweiten Stuhle sitzen die Brautleute, denn heutzutage holt sich der junge Bauer seine Bäuerin selber. Zwischen dem ersten und zweiten Stuhle stehen oder sitzen die Brautjungfern mit den Brautlichtern, wofern diese auf dem Wagen nicht gänzlich fehlen. Vor dem Wagen reiten sämmtliche „jung’ Kerls“ von den eingeladenen Hochzeitsgästen als Vorreiter. Sie alle sind wie der Brautfuhrmann bunt bebändert und haben künstliche Blumensträuße an den Mützen. Selbst die Pferde sind in entsprechender Weise geschmückt. Den Brautzug eröffnen hoch zu Roß spielende Musikanten. In allerjüngster Zeit fahren auch wieder Hochzeitswagen hinier dem Brautwagen her, was dem langen Zuge von Reitern und vielen Wagen ein recht stattliches Ansehen verleiht.

Zwei „nächste Verwandte“ der Brautleute jagen in vollem Galopp vorweg in das Haus des Bräutigams und fragen „Vater und Mutter“, ob sie die Braut als Schwiegertochter aufnehmen wollen. Die bejahende Antwort wird schleunig zurückgebracht, und auf der Grenze erfolgt dann die Brautfrage in hergebrachter Weise, ebenso wird auch jetzt noch beim Brautzuge geschossen, nur nicht mehr vom Wagen hinunter, sondern hinter ihm drein. Unterwegs sperren oft Bursche und Kinder die Straße für den Brautwagen mit Leinen und Ketten oder auch wohl mit Guirlanden ab, und der Bräutigam muß sich mit Geld, Branntwein und Kuchen freien Weg erkaufen. Im Uebrigen verläuft die Einkehr der Braut in ihr neues Heim wie seit Alters her.

An demselben Sonntag vor der „Köst“ fahren jetzt auch die „Kisten- oder Schabb- (Schrank-) Wagen“, deren bis zu drei, [588] ja vier da zu sein pflegen. Alle nur erdenklichen Möbel, wie sie in eine Bauernwirthschaft passen, sind auf den Wagen zu finden, worunter vor Allem das buntbebänderte Spinnrad mit einem feinen Wocken nicht fehlen darf. Mit besonderem Kunstgriff sind an vielen Orten die Betten in schneeweiße Laken gebunden; es muß nämlich von jedem Bettstücke ein Zipfel vorstehen, „damit man nachzählen kann, wieviel die Braut an Betten hat.“ Auf dem vordersten Kistenwagen sitzen wiederum zwei „Korbmütter" mit ihren Gaben für Jung und Alt.

Die heutige Köst dauert in der Regel nur noch zwei Tage, früher dagegen wurde sie drei, vier, selbst acht Tage gefeiert. Die Einladung dazu erfolgt durch den Schenken vierzehn Tage vorher in formgerechter Weise mit Grüßen von den Brautleuten und denjenigen Alten, welche die Köst „ausrichten“. Am Hochzeitsmorgen kommen die Gäste zum Hochzeitshause gefahren. Sobald ein „Köstenwagen“ in den Hof einfährt, begrüßen ihn die Musikanten mit einem Tusch. Darauf treten Braut und Bräutigam an ihn heran, geben jedem darauf Sitzenden eine „Klapphand“ und „nöthigen“ alle gemeinsam ins Haus. Dort wird den Ankömmlingen Kaffee mit Kuchen und sofort hinterdrein Frühstück verabreicht, bei welch letzterem der „Tiegelbraten“, ein recht wohl schmeckendes Essen aus Kaldaunen, eine bedeutende Rolle spielt. Dabei kreisen Schnapsglas und Bierkrug.

Das Fahren der Schabbwagen.

Um zwei Uhr Nachmittags findet die Trauung statt. Der Zug zur Kirche, oder in Filialdörfern ohne eine solche wohl auch in die Scheune des betreffenden Gehöftes, setzt sich nach einer ganz bestimmten Rangordnung zusammen, bei der die Brautlicht tragenden Brautjungfern vorauf gehen. Unmittelbar darauf folgen die Brautleute. In der Kirche stellen sich die Brautjungfern mit den brennenden Brautlichtern hinter das Brautpaar. Bei dem Trauakte lenkt leider der Aberglaube die beiden zunächst Betheiligten von ihrer Andacht oftmals gänzlich ab. Da bemüht sich zunächst die Braut, zwar so unmerklich wie möglich, aber doch aus allen Kräften, dem Bräutigam auf den Fuß zu treten. Glückt ihr dieses, so ist ihr für die Ehe die Herrschaft im Hause sicher. Doch auch dann ist sie dessen gewiß, wenn sie beim Ringewechsel die Hand oben bekommt. Selbstredend sucht der Bräutigam beides nach Kräften zu verhindern. Ferner müssen Braut und Bräutigam „von Allem, was gesäet wird,“ einige Körner in Stiefeln und Schuhen tragen, weil das die Fruchtbarkeit ihrer Felder erhöht, „denn so kriegt das Korn ja den Segen mit.“ Auch zerknickt die Braut ein im Taschentuch verborgenes Stöckchen in möglichst kurze Enden, „damit ihr Mann sie später nicht schlagen kann.“ Endlich steckt man der Braut ein „Viergroschenstück“ in die Haare, damit sie ihr ganzes Leben hindurch viel Geld hat, und was dergleichen Gebräuche mehr sind.

Inzwischen sind die Speisetafeln zu der nun folgenden Hauptmahlzeit in Stuben und Kammern, auf der „Diele" des sächsischen Wohnhauses, auf den Tennen der Scheune und je nach Bedarf auch noch in Zelten angerichtet. Da dampft die unerläßliche Hühnersuppe und der Gänsebraten neben dem dicken Reis, Gelbsauer, Bohnen und Pflaumen, die besonders zugerichtet sind. Mit Grog und Hochzeitskuchen werden die von der Kirche heimkehrenden jungen Eheleute und Trauzeugen an der Hausthür empfangen, und nun vertheilen sich an einzelne Tische die Hochzeitsgäste, die vorsorglich ihre „Köstenmesser und Gabeln“ mitgebracht haben, in der löblichen Absicht, ihnen wenig Ruhe in der gemeinschaftlichen Scheide zu gönnen. An der Ehrentafel sitzen bei den Brautleuten die allernächsten Familienglieder außer den Vätern und Müttern, die mit „aufzuwarten“ haben, ferner „Priester und Kantor oder Küster“. Selbstverständlich fehlt die Tafelmusik nicht, für welche die Musikanten sofort auf einem Holzteller mit darauf gestecktem, halb zusammen geklapptem Taschenmesser ihre „Gaben“ von den Gästen heischen. Nach den Musikanten „sammeln“ der Koch auf einem fast meterlangen Abschaumlöffel von Messing, der Schenke in einem zerbrochenen Schnapsglase mit Branntwein darin, die Schüsselwäscherin auf einer Scherbe, worauf ein Bündelchen Stroh über Scheuersand liegen muß.

Nach der Hauptmahlzeit setzen sich die Alten wieder um die abgeräumten Tische, um ihren „Schafskopf“ oder ihr „Wendisch“, „Drei-Kart’“, ihr „Solo“ und ihren Skat „abzuklopfen“. Die Jugend tanzt. Und wie!

Da kommen zunächst die „Ehren- oder Brauttänze“ an die Reihe. Dieselben werden sämmtlich nur von zwei Paaren getanzt und zwar weiblicherseits von der Braut und abwechselnd von einer der beiden Braut- oder „Kranzjungfern“. Die Braut und die Kranzjungfer tragen dabei in hochgeschwungener Rechten die angezündeten Brautlichter, die bei jedem einzelnen Tanze „ausgetanzt“ werden müssen, was wegen des Luftzuges nicht allzu lange zu währen pflegt. Der Braut ist die Reihenfolge ihrer Tänzer ganz genau vorgeschrieben: auf den „Hinterführmann“ vom Brautwagen folgt der „Vorderführmann“ und sodann immer so weiter in derselben Abwechselung zwischen beiden Verwandtschaften nach dem Grade derselben in absteigender Linie. Den Beschluß bei den Brauttänzen bilden die Dorfinsassen, welche sämmtlich zur Hochzeit geladen werden, denn

„Nachbar vor der Thür
Geht aller ‚Freundschaft‘ (Verwandtschaft) für."

[589] Die Zahl der Tänze mit der Braut ist auf drei für jeden der Tanzberechtigten festgesetzt. Obwohl allerdings nur Ehemänner, oder in deren Vertretung und besonderem Auftrage deren Söhne, das Vorrecht der Ehrentänze genießen, gehört doch eine körperliche Ausdauer der Braut zur Erfüllung dieser ihrer Pflicht, die geradezu in Erstaunen setzen muß. Man bedenke nur, daß mitunter bis zu 200 Personen auf die Ehre ihrer drei Tänze warten. Meines Wissens ist trotzdem noch nie eine solche Braut auch nur unwohl geworden. Wahrlich, im Hansjochenwinkel bedarf’s keines Vereines für Körperpflege.

Spät in die Nacht dauern diese Tänze, und wenn der zweite Hochzeitsmorgen anbricht, so wird derjenige von den jungen Leuten, der sich verschläft, mit Musik auf einer Achse vom Ackerwagen ins Hochzeitshaus gefahren und muß dort seinen Kaffee aus einem schwarzen Topfe trinken.

Rückkehr von der Trauung.

Am letzten Mittag wurde früher allgemein, jetzt nur noch vereinzelt, „Brauthahn getragen“ oder „gesessen“. Während desselben sitzen sämmtliche Familienvorstände unter den Gästen beim leckersten Köstenschmause. Hinter ihnen stehen ihre Frauen. Oben auf der Tafel sieht man eine tiefe Zinnschüssel, verdeckt mit einem flachen Teller aus derselben Masse. Rechts vom „Brauthahn“, so nennt man nämlich jene verdeckte Schüssel, sitzen der Bräutigam und dessen Trauleiter, links die Braut und deren Trauleiter. Der Bräutigam nimmt alsdann einen Teller, legt darauf zwei Aepfel und reicht ihn der Braut, die Butterkuchen und Weißbrotstückchen dazu legt. So wird der Teller dem nächsten Tischgenossen zugeschoben, der seine „Gabe“ in Baar darauf „wirft“. Damit wandert der Teller zurück, und die Gabe wird in die verdeckte Schüssel gethan. Darnach wird der Teller dem folgenden Gaste zugeschickt, von diesem wandert er mit neuer Gabe wieder zurück, und alsdann immer und immer wieder von Hand zu Hand in derselben Weise hin und her, bis er vor dem zu unterst sitzenden Gaste gestanden hat. Die Gaben betragen bei den nächsten Verwandten nicht unter zehn Thalern, bei den entferntesten und bei den Dorfleuten mindestens so viel, daß für jeden Hochzeitstag ein halber Thaler gerechnet ist. Während des Brauthahntragens stehen die Musikanten an der Thür und spielen; über diese Thür aber schreibt man: „Heute für Geld, morgen für umsonst!“ – Noch zu Anfang unseres Jahrhunderts saß der Pastor an der verdeckten Schüssel und empfing für den Bräutigam die Hochzeitsgabe; damals auch mußte der Vater der Braut (oder wenn diese einen eigenen Hof besaß, des Bräutigams Vater) zu gleicher Zeit und an gleichem Ort „einen blanken Tisch machen“, das heißt die Mitgift aufzählen. Letzteres geschieht heute nur noch unter Beisein der nächsten Angehörigen. Dabei fragt denn der Mitgift auszahlende Vater des jungen Ehepaares, ob er das vorgezeigte Geld aufzählen solle. „Vorsicht ist die Mutter der Weisheit“; und so antwortet denn der geldempfangende Vater recht diplomatisch. „Zähl auf, nicht um uns, sondern um die, die zusehen; sie möchten’s sonst nicht glauben, daß es – die ausbedungene Summe wird laut und deutlich genannt – sind!“

Wo der Hahn geschwunden ist, drücken die Gäste ihre Gaben dem Bräutigam beim Abschiede in die Hand, eine Neuerung, die den großen Kösten recht gefährlich geworden ist; denn da Niemand sieht, wie viel jeder männiglich schenkt, so knausert man nach Kräften, und in Folge dessen will nur noch selten Jemand eine große Hochzeit „ausrichten“. Mit der Abnahme der großen Hochzeiten verschwinden aber auch die schönsten Bräuche, zu deren Ausführung eine große Zahl von Theilnehmern unbedingt nöthig ist. Es wird auch im Hansjochenwinkel alles einfacher und glatter unter dem großen Hobel der modernen Kultur.


Litterarische Begegnungen.

Von Wilhelm Goldbaum.
1. Ludwig Hevesi.

Beneidenswerth vor vielen anderen sind mir immer diejenigen Schriftsteller erschienen, denen durch Geburt oder Schicksalswendung die volle Herrschaft über zwei lebendige Sprachen verliehen ist. Es kommt mir vor, als ob sie mit vier Augen durch die Welt gingen, während wir übrigen Menschenkinder uns mit einem einzigen Augenpaare begnügen müssen. Ach Gott, sterben müssen am Ende auch sie; aber sie leben ein doppeltes Leben, in zwei Vorstellungskreisen, die, koncentrisch und excentrisch zugleich, einander erweitern, obgleich sie vor einander zu fliehen scheinen. Und dieses doppelte Leben der Einzelnen ist es recht eigentlich, das den Zusammenhang der Menschheit bewirkt; denn zwei Volksseelen haben ihr ständiges Rendezvous in dem Geiste eines solchen doppelsprachigen Schriftstellers oder Dichters, sie werden einander vertraut wie Liebende, und je mehr es solcher poetischer und litterarischer Doppelmenschen giebt, desto gewisser werden die Volksseelen allesammt zu willigen Dienerinnen der großen allbeherrschenden Weltseele … Alexander von Humboldt, Adalbert von Chamisso, Heinrich Heine, Karl Hillebrand waren unwiderstehliche Vermittler dieser Art; sie verrichteten den heiligen Botendienst zwischen den Völkern, und das wird ihnen niemals [590] vergessen werden. Es ist aber nicht genug, daß nur immer über den Rhein hinüber die Brücken geschlagen werden; ost- und süd- und nordwärts wohnen auch noch Menschen. Die Franzosen haben wir Deutsche mit aller Liebe umworben; sie gaben uns wenig dafür zurück, Deutsche schrieben Französisch, jedoch von Franzosen, welche Deutsch geschrieben hätten, geht nur höchst vereinzelte Kunde. Von ost- und nordwärts aber wirbt man um uns; Russen, Dänen, Ungarn schreiben Deutsch. Und für die letzten Ziele der Menschheit ist es gleichgültig, ob der große Weltzusammenhang, die geistige Verbrüderung in der einen oder andern Sprache sich ausdrücken; der Dichter trägt, wie immer er auch rede, die Welt in seinem Herzen, er ist der wahre Kosmopolit wie Hermes, der die Botschaften der olympischen Götter durch die Lüfte trug.

An diesem Götterboten Hermes haftet, wie die Alten uns sein Bild überliefert haben, ein leiser Zug der Schalkhaftigkeit, des Humors. Gehört es zu seiner Sendung, daß er durch einander weint und lacht und mit den Augen zwinkert, als ob er immer nur Thränen zu unterdrücken oder übermüthige Fröhlichkeit zu verbeißen hätte? Ja wohl, es gehört zu seiner Sendung. Wer ein guter und ein kluger Bote sein will, darf an sich selbst nicht denken, nur an die Anderen, und wer nur an die Anderen denkt, dem wird es bald weh und bald lustig zu Muthe, und um die Traurigen nicht zu verletzen, weint er seine Lustigkeit nieder, um die Lustigen nicht zu betrüben, verlacht er sein eigenes Weh. Zwischen den Einzelnen wie zwischen den Völkern schwingen hinüber und herüber in ewigem Wechsel Haß und Liebe; sie ringen mit einander, sie beneiden einander, sie vereinigen und trennen, befreunden und entfremden sich; was sie trotz alledem zusammenhält, ist dünn wie ein Faden und doch wieder fest wie eine Eisenkette, jenes große Etwas des allgemeinen Menschenthums, das für Lachen und Weinen die nämlichen Töne hat. Und deßhalb ist der Humor die wunderbarste Offenbarung des Weltgeheimnisses, die Universalsprache des Weltgeistes, vor allem Anderen geeignet, Menschen und Völker mit einander zu verbinden. Heinrich Heine wäre ohne den Humor den Deutschen nicht sympathisch geblieben und noch weniger den Franzosen sympathisch geworden. Aber wie die Macht des Humors darin besteht, daß er nicht an eine einzige Sprache gebunden ist, so ist die Wirkung des Schriftstellers oder Dichters, der mehr als eine einzige Sprache beherrscht, eine wesentlich gesteigerte, und merkwürdig drückt sich dieses Wechselverhältniß in der Thatsache aus, daß es zumeist Humoristen sind, welche die eine Litteratur zur andern entsendet, gleichsam als Geiseln der Zusammengehörigkeit trotz aller nationalen Gegensätze und Verschiedenheiten …

Eine Geisel von dieser Art ist Ludwig Hevesi – lies: Héweschi, liebe deutsche Leserin – den das Volk der Magyaren unserem Schriftthum ausgeliefert hat, obwohl sein eigenes Schriftthum ihn längst unter seinen Zierden verzeichnet. Zwar hat Kürschner’s Litteraturkalender ihn noch bis vor kurzem nur als „Verfasser von Kinderschriften“ registrirt, aber das war eine seltsame Einseitigkeit. Kinderschriftsteller war Ludwig Hevesi als Magyar, und in jeder Hütte Ungarns, vom Rothenthurmpasse bis wo die March sich in die Donau ergießt, von der Hegyalja am Fuße der Karpathen bis zur slavonischcn Grenze liest man die „Abenteuer des Schneidergesellen Andreas Jelky“, die der magyarische Onkel Tom – so nannte sich Ludwig Hevesi als Kinderschriftsteller – der Jugend seines Volkes erzählte. Aber der ungarische „Kinderschriftsteller“ war lange schon ein angesehener deutscher Feuilletonist und Kritiker, bevor Kürschner’s Litteraturkalender noch existirte, und jetzt ist Ludwig Hevesi auch ein hervorragender deutscher Novellist, seitdem er die zwölf Erzählungen veröffentlicht hat, denen er den höchst bezeichnenden Kollektivtitel „Auf der Schneide“ gab. Auf der Schneide! Warum? Er deutet selbst diesen Titel in ein paar Widmungsversen, mit denen er einer Dame sein Büchlein dedicirte:

„Zweimal gelacht und einmal geweint,
So ist’s in diesem Buch vereint.
Wie Mancher wär’ es wohl zufrieden,
Wär’s ihm im Leben so beschieden!“

Die Lustigkeit kann der Gefahr ausgesetzt sein, sich zu überschlagen, und dann wird sie burlesk; die Traurigkeit kann zur Jämmerlichkeit entarten und dann wird sie komisch. Auf der Schneide … Menschenschicksale stehen oft auf der Schneide zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück – auf der Schneide des Rasirmessers, sagt der alte Tragiker – Stimmungen bewegen sich auf der Schneide zwischen Lust und Jammer – auf der Schneide des Galgenhumors, der als die subjektivste Form des Humors zugleich die willkürlichste und unkünstlerischeste ist. Nur der Dichter vermeidet, wenn Gott ihn mit dem gewaltigen Vermögen des Humors begnadet hat, den Sturz in den Abgrund nach links oder rechts; sein Lachen wird niemals häßlich, sein Weinen niemals widerwärtig.

Ludwig Hevesi ist 41 Jahre alt, ein blonder Mann mit dem Aeußeren und den Manieren eines Engländers. Vom Pußtensohne merkt man ihm wenig an. Seine Bewegungen sind gemessen; er spricht langsam und ohne jeglichen Stimmaufwand, mit leisem fremdländischen Accent. Im Allgemeinen scheint er, wie viele andere unserer Zeitgenossen, den Kalauer als die großartigste Erfindung des letzten Jahrzehntausends zu verehren; im Besonderen beruft er sich gern auf die griechischen und römischen Klassiker, bei denen er sich in Mußestunden mit Vorliebe erholt. In seinem siebenten Lebensjahre verstand er noch kein deutsches Wort, in seinem siebenundzwanzigsten war er bereits auf magyarischem Boden ein furchtloser Bekenner des Deutschthums. Damals – im Jahre 1870 – sympathisirte man in Pest sehr laut und sehr fanatisch mit den Franzosen; Hevesi aber besaß den Muth, gegen die allgemeine Strömung anzukämpfen, und seine satirischen Glossen über die Franzosen in einem der populärsten ungarischen Witzblätter waren ein Zeugniß politischer Gesinnungstüchtigkeit, auf das er sich berufen konnte, als nachher die meisten der magyarischen Franzosenfreunde sich anschickten, in die Bahn einzulenken, auf der er längst gewandelt war. Er hat jene kurzen, knappen, treffsicheren Satiren ins Deutsche übersetzt und in einem Büchlein mit dem Titel „Sie sollen ihn nicht haben!“ vereinigt. In Wien hatte er Medicin studirt, dann in Pest das Feuilleton des „Pester Lloyd“ redigirt, schließlich kehrte er nach Wien zurück, um für das „Fremdenblatt“ die Kunstkritik und die Burgtheaterkritik zu besorgen. Das thut er noch jetzt, und in den zehn Jahren, während welcher er das Richteramt über Kunst und Schaubühne übt, hat er sich den Ruf eines der talentvollsten, unparteiischesten und geistreichsten Wiener Kritiker erarbeitet. Das will nicht wenig besagen, denn die Kritik wird in Wien noch als eine Art Kunstbethätigung betrieben, der Kritiker erhebt und erwirbt den Anspruch, auch seinerseits dem großen Schauspieler oder Maler gegenüber, den er beurtheilt, als ein Künstler betrachtet zu werden, als ein Künstler im Erkennen und Nachempfinden und zumal als ein Künstler im Schreiben.

Die Wiener Kritik, so scharf und einseitig sie an sich sein mag, ist nicht Anhängsel, sie ist Selbstzweck, soweit dies bei dem Wesen der Kritik überhaupt der Fall sein kann, und dieser Selbstzweck ist das Schriftstellerthum. Bei Ludwig Hevesi tritt dies noch besonders zu Tage an einer Fülle von Gelehrsamkeit, die er sich daheim unter seinen Büchern, und an einer Fülle von Erfahrungen, die er sich draußen auf großen Reisen erworben hat. Jedem von uns steht durch das ganze Leben unvergessen der Strom vor Augen, den wir als Knaben die heimische Landschaft durchziehen sehen; Hevesi’s Heimathsstrom ist die Theiß. Wie diese von Zeit zu Zeit, nach Intervallen stiller, behaglicher Wanderschaft, verheerend aus ihren Ufern tritt und gewaltiges Fischzeug über die weite Fläche umherstreut, so läßt sich auch dieser stille, wortkarge Ungar bisweilen von seiner Phantasie fortreißen und dann ist es der Dichter in ihm, der wundersame Geschichten umherstreut, welche zurückbleiben und begierig aufgelesen werden, wenn die Gewässer längst sich verlaufen haben.

Der Dichter … das wird nicht schwer zu erweisen sein an den Geschichten, welche Ludwig Hevesi – Hevesi Lajos sagen die Magyaren – „auf der Schneide“ erfunden und erzählt hat. Der deutsche Dichter … auch das ist bald demonstrirt; man braucht nur darauf zu verweisen, wie er unsere Sprache handhabt. Wie knapp und heiter liest sich die Einleitung in die Reisegeschichte „Zwischen Thorbach und Seefehlen“: „Von Thorbach an wurde die Gegend interessanter. Es stiegen nämlich zwei Damen in mein Koupé, das ich bisher allein innegehabt. Die eine war alt und häßlich, die andere jung und hübsch. In die junge verliebte ich mich natürlich sofort. Ich thue das in solchen Fällen immer.“ Und wie ahnungsvoll düster dagegen beginnt die „Romanze“: „Der volle Mond stand am Himmel und die Luft [591] schlug silberne Wellen in seinem Lichte. Von den schlafenden Linden floß schwarzer Schatten nieder. Ein weiches, warmes Schweigen lag über dem Park, in einen Sommernachtstraum gehüllt stand das Schloß darin. Ein stilles Athmen rings, ein Duften und Schimmern. Ganz fern, irgend im tiefsten Busch, lachte weinend, weinte lachend die Nachtigall.“ Das ist, denke ich, so gut deutsch empfunden, geschaut und geschrieben, daß Hevesi sich erst als Ungar legitimiren müßte, wenn man nicht zufällig von seiner Abstammung Kenntniß hätte. Aber als Novellist würde er trotzdem unter der Fülle von seines Gleichen untertauchen, wenn er daneben oder vielmehr darüber hinaus nicht noch etwas Anderes wäre, nämlich ein Humorist.

Erfinden, komponiren, schreiben können heutzutage so viele, daß der Litteraturhistoriker bündelweise die Registrirung besorgen muß, während der Kritiker auf eine Art ästhetischer Kollektivterminologie angewiesen ist, die mehr oder minder auf Alle in gleicher Weise paßt. Der Humorist aber ist eine Rarität, ein Individuum für sich, und für die historische Auffassung der Litteratur ist dies der alleinige Maßstab. Bei uns hat der Humor sich nicht oft an eine künstlerische Form gebunden; Jean Paul verschmäht sie, Heine und Börne gingen ihr gern aus dem Wege, Bogumil Goltz, Saphir, Kalisch, Busch, Stettenheim, Spitzer rebelliren gegen den formalen Zwang der dichterischen Kategorien. Hevesi nur versucht es mit Erfolg, die Form der Novelle seinem Humor dienstbar zu machen, und dadurch wird er auch im litterarhistorischen Sinne zu einer schriftstellerischen Individualität, er geht über die Anderen einen Schritt hinaus. Daß manche seiner Erzählungen ein blutig ernsthaftes Ende nehmen, das hat die Kritiker von der ästhetischen Observanz irre gemacht; sie appellirten an die Parodie, die den Humor im Schauerlichen übertreibt. Aber so ist es nicht gemeint und braucht es auch nicht gemeint zu sein. Börne ist ein Humorist auch in der wunderbar ergreifenden Trauerrede auf Jean Paul. Für den Humoristen ist ja überhaupt der Vorgang, den er schildert, nicht das Wesentliche; er sieht ihn nur mit anderen Augen an als die Anderen, und das beweist er durch die Form, in welche er den Vorgang kleidet. Zum Parodiren ist dem Humoristen die Welt zu ernst; zum ohnmächtigen Jammern ist er selbst zu frei von den tausend Ketten, die andern Menschenkindern an den Füßen klirren. Unter den Armen ist er der Reiche, unter den Thoren der Weise, obgleich er sonst weder reich noch weise ist.

Auf der Schneide steht das Menschenleben in jeder Stunde, denn der Tod ist sein unabwendbarer Begleiter. Auf der Schneide steht jede unserer Handlungen, denn der Zufall ist der allezeit lauernde Feind unserer Absichten. Wie könnten wir das unsäglich Traurige dieses Bewußtseins überwinden, wenn nicht der Humor uns dabei zu Hilfe käme? Verhüten kann er die Katastrophen nicht, aber ihren Eindruck kann er mildern, durch das Licht, das er über sie ausgießt. Wer die Pußta mit Augen geschaut hat in ihrer ungeheuren Oede, die doch den Menschen, welche sie umgiebt, als das Höchste auf Erden erscheint, der begreift es, warum Ludwig Hevesi, der Ungarn, zum Humoristen geworden ist. Im Csardas wirbelt der Csikos lachend dahin, die Fiedel des Zigeuners weint dazu. Und der Humorist steht dabei, er erblickt darin das Bild des Lebens und kommt sich schier wie Odvardo vor:
     „Wer lacht da? Ich glaub’, ich war es selbst.“


Unruhige Gäste.

Ein Roman aus der Gesellschaft.
Von Wilhelm Raabe.
(Fortsetzung.)


19.

Darin hatte Doktor Hanff jedenfalls Recht, viel Unterschied, was die gute Lüftung anbetraf, gab es nicht zwischen der Berg-Köthe auf der Vierlingswiese und dem „auf den Abbruch stehenden“ Krankenhause der zum weitberufenen Badeort ausgewachsenen Dorfgemeinde im Thal. Hier am letztern Orte gab es wohl geschlossene, aus Fachwerk gezimmerte und von regelrechten Gewerksleuten aufgemauerte Wände; aber Wind, Sonne und Regen fanden doch so ziemlich überall Durchgang wie in der Waldhütte aus Stangen, Rasenstücken und Tannenrindenbehang.

„Wirklich vortrefflich!“ nickte der Landphysikus, in dem ärmlichen Raume an dem Krankenlager des Reichen, des Vornehmen, des Gelehrten stehend, den die Welt gerade so verlassen, so von sich abgeschoben hatte wie den Räkel mit seiner armen Fee. Er beugte sich über den Kranken und fand auch hier Alles den Umständen nach nicht übel. Kopfschüttelnd betrachtete er sodann die Wäsche und Toilette- und sonstigen Luxusgegenstände, die man dem Reisekoffer Veit von Bielow’s entnommen hatte und welche die wenigen schlechten Stühle und den gebrechlichen Tisch von rothbemaltem Tannenholz bedeckten.

„Da treiben sie Philosophie auf und vor Kathedern,“ brummte er, „suchen dem Dinge nach analytischer oder nach synthetischer Methode beizukommen und werden Doktoren und Professoren der Weltweisheit daraufhin. Mit dem Doktor Hanff sollten sie auf die Praxis gehen, das wäre ihnen dann und wann dienlicher zum Zwecke, wenn es wirklich ihr Zweck wäre, die Weisheit der Welt von der Quelle zu holen. Aber Philosophie zu treiben sind wir ja wohl nicht hier? Könnte ich dafür die Hand auf seinen Spitzbuben von Bedienten legen, der mit den Uebrigen das Hasenpanier ergriffen hat und polizeilich ebenfalls nicht zu zwingen ist, sich der Ansteckungsgefahr auszusetzen, so verzichtete ich mit Vergnügen auf jeden ferneren Beweis, daß wir in der besten aller Welten uns eingefunden haben. Nun, was durch Geld auszurichten ist, dazu sind die Mittel ja gottlob reichlich vorhanden, und bis sachkundige Hilfe aus der Stadt eintrifft, werden ja wohl Fräulein Dorette und mein alter getreuer Knecht und Stößer Friedrich aus der weiland Apotheke ‚Zum wilden Mann‘ ausreichen.“

Er legte die fieberheiße Hand des Kranken wieder auf die Decke nieder und trat an das offene Fenster. Draußen lag die Erde noch immer in dem milden Abendfrieden und auf der Bank dicht unter dem Fenster saßen Fräulein Dorette Kristeller und Phöbe Hahnemeyer noch immer neben einander und redeten leise zusammen. Fräulein Dorette hatte zärtlich den Arm um das junge Mädchen gelegt.

„Nun, Liebchen, sind Sie jetzt überzeugt, daß Sie hier total überflüssig sind?“ fragte der Doktor.

Die Schwester aus Halah antwortete nicht; aber für sie nahm Fräulein Dorette, sich halb nach dem Fenster wendend, das Wort.

„Nicht ganz, lieber Hanff,“ sagte sie. „Der Wärter oder Heilgehilfe aus der Stadt nimmt mit meinem Fritzen die Stube jenseit der Hausflur. Das Kind zieht zu mir in den Giebel –“

„Fräulein Kristeller!“

„Seien Sie still. Was verstehen Sie, was wissen Sie davon? Ich kenne meine Gäste, und diesen hat mir Gott wohl in seiner Güte bis zuletzt aufgehoben und ihn mir jetzt so spät am Abend zugeschickt, weil er mir sein Mitleid mit meinem alten tollen Kopf, ärgerlichen Sinn und meiner vergrillten Seele nochmal zeigen will.“

„Na, da habe ich mir die Richtige zur Hilfe angerufen!“ brummte der Doktor, und zwar durchaus nicht leise.

„Das haben Sie! darauf können Sie sich verlassen, Hanff!“ rief Fräulein Dorette, jetzt aufstehend und voll in das Zimmer hineinsprechend. „Wenn ich dieses auch um meinetwillen sage, so verzeihe mir der Himmel meine Selbstsucht und meine Sünde; aber das Kind kriegt seinen Willen einzig und allein um seinetwillen. Sie hat ganz Recht, daß sie den Spaß, den der Mann da drunten bei Ihnen da droben auf ihres Bruders Kirchhofe sich vielleicht im Leichtsinn mit ihr gemacht hat, im bitteren Ernste nimmt. Ich weiß, wie weit die Leichtherzigkeit und die leichte Hand im Erdenleben greifen können, ohne sich drum zu kümmern, was für schwere Herzen und niedergerissenes Glück sie hinter sich zurücklassen. Sei Du nur ganz ruhig, Phöbe, es soll Dich Niemand hindern, mit Deiner Unruhe und Angst hierher [592] zu mir in meinen Giebel zu ziehen. Was Du dem da in seinem jetzigen Zustande helfen kannst, weiß ich freilich nicht; aber wir Beide wollen unsere Köpfe zusammenlegen, den alten und den jungen, und es mit einander bereden, jeder aus seiner Erfahrung, wie man am leichtesten durch die lustige Welt und zu einem friedlichen Ende kommt. Der Räkel ist vielleicht nicht der schlimmste Gast in der Komödie. Den kenne ich gut genug aus seinen Jugendjahren, wo er uns Kräuter und Beeren ins Geschäft trug und auch mit meinem seligen Bruder Philipp aufs Botanisiren ging. Aber das ist Einerlei, wir werden Zeit haben, von Allem zu reden, und auch von seiner Frau, der armen Anna. Da wär’s mir auch schon recht, bei der zerquälten Seele meine letzte stille Stelle zu finden, gleichviel, wer an ihrer anderen Seite zur Ruhe kommt.“

„Lieber Herr Doktor,“ sagte jetzt Phöbe Hahnemeyer, „ich kann nicht mehr schlafen da oben im Pfarrhause, seit der Herr uns Dieses zur Strafe für unsere Verwegenheit zugeschickt hat. Nun soll er mich hier finden, was auch nach seinem Willen daraus werde, ob Leben, ob Tod für Einen von uns Zweien oder für Beide. Ich will ja nichts für mich; aber, Doktor Hanff, lieber Herr Doktor, seit dem Begräbniß der Fee bin ich zum ersten Male in dieser Stunde wieder geworden in meiner Seele, wie ich früher war, und ruhig wie bei meinen armen Kindern im Schutze des Allmächtigen zu Halah.“

„Und Das will keinen Willen haben!“ rief Doktor Hanff. „So thue, was Du nicht lassen kannst, und komm herein mit Deinem Bündel! Was soll Unsereiner weiter dagegen machen, wenn Einen das Weltall aus Augen wie den Deinigen ansieht! Was redet Fräulein Dorette da aber von Komödie? Das ist freilich bitterster Ernst! Für einen aus einem alten Landdoktor in einen jungen neumodischen Bade-Arzt verwandelten Mitkomödianten auf der nur zu realen Bühne der Welt falle ich in meiner Rolle in diesem Moment jedenfalls kläglich ab. Da sieht man aber ’mal wieder, wozu die Reminiscenzen nützen und vorzüglich solche nichtsnutzigen wie die Ihrigen, Fräulein Kristeller. Kommt herein, Beide! Euer Gast aus der Gesellschaft fängt bei sinkender Sonne ganz sachgemäß an, etwas unruhiger zu werden.“

Fräulein Dorette legte ihren Arm in den des jungen Mädchens, und so traten sie in das Haus und an das Bett des Kranken. Der lachte eben in seinem Fieber und befand sich in seinen Träumen mitten in seinen gewohnten Lebenszuständen; und nicht Wenige von Denen, die dieselben heiter, bunt und behaglich gemacht hatten, waren um ihn her und sprachen in seiner Phantasie mit.

Er war auch im Fiebertraum auf der Reise – er war mit Fräulein Valerie auf dem Wege und zwar auf dem Wege hinauf zum Krater des Vesuvs. Er lobte die muthige Begleiterin fröhlich und laut, daß sie die neue Zahnradbahn nicht hatte benutzen mögen, sondern den alten Weg und die alten Führer mit ihren Eseln und Tragsesseln der geschmacklosen, wenn auch bequemen Neuerung vorgezogen hatte. Er klomm an der Seite der schönen Freundin und half ihr empor durch die Schlacken, die Asche, die Lavablöcke des letzten steilen Kegels.

Dabei wurde er unruhiger, und seine Einbildungen wurden ängstlicher. Er richtete sich auf, wie in schwerer, vergeblicher Mühe keuchend. Er rief heftig, böse, angsthaft den Namen Valerie. Sie schien leicht weiter zu schreiten, während er immer vergeblicher und mit immer ohnmächtigeren Gliedern mit dem Wege und der Asche kämpfte. Stöhnend sank er zurück auf sein Kissen und lag leise wimmernd bewegungslos, bis wieder ein „Wandel über seinen Traum“ kam. Jetzt sprach er wieder, als ob er nun doch mit der Genossin aus der Zeitlichkeit auf dem Gipfel des alten grimmigschönen Feuerberges stehe allein mit ihr – alle Pracht und Wunder der Erde: Festland, Meer und Inseln im Sonnenglanze unter ihnen ausgebreitet, wie ein ihnen Beiden erbeigenthümlich angehöriges Reich. Er sprach jauchzend von dem dumpfen Grollen und Rollen unter ihren Füßen in der Tiefe der Erde, er freute sich, daß die „Herrin“ keine Furcht habe.

„Horch, Valerie!“ …

Der kluge Bauern- und Bade-Arzt sah nochmals, verstohlen forschend und erwartungsvoll, in das Gesicht der Idiotenlehrerin, aber vergeblich, denn das blieb wie es war, im Mitleiden ruhig und unbewegt. Phöbe wußte ja schon, wer Fräulein Valerie war; sie hatte es genau auf dem Kirchhofe ihres Dorfes an dem Grabhügel der Fee erfahren. Der Name des schönen leidenschaftlichen Mädchens aus dem Munde des Kranken war ihr jetzt nur wie ein mattes Echo von dort her. So saß sie regungslos auf dem Schemel neben dem Lager Veit Bielow’s, die Hände im Schoß zusammengelegt, gewappnet gegen jeden Blick und Ton aus jener Welt, die ihr bis jetzt nach den Worten der Schrift ein Buch mit sieben Siegeln gewesen war.

„Ja, Du bist gefeit und sitzest wahrlich im Schatten Deines Glaubens am heißesten Erdentag!“ murmelte Doktor Hanff. „Fräulein Dorette,“ sagte er dann laut, „wenn Sie also Ihre Kammer und das Uebrige hier mit diesem braven, kleinen Starrkopf theilen wollen, so weiß ich wirklich nicht, weder amtlich noch privatim, was ich Euch Beiden noch in den Weg legen könnte. Vernunft habe ich am Ende mal wieder genug vergebens gesprochen. Den letzten schäbigen Rest darf ich mir also dreist für bessere passendere Gelegenheiten aufheben, – nicht wahr, Fräulein Kristeller?“

Die alte Dame war wie außer sich. Sie streichelte der neuen jungen Hausgenossin die Wangen und die Hände, sie strich ihr über die Haare und nannte sie mit hundert zärtlichen Kosenamen und wiederholte immer von Neuem, sie, Dorette Kristeller, sei zwar eine alte, gelbsüchtige, verhuzzelte, in sich verbissene Egoistin, aber verlangen könne man auch nicht, daß sie diesmal dieses ändere und höflich sich wehre gegen den Segen oder grob danke für den Blumenstrauß, der ihr nach so viel Ekel und Verdruß im Leben zu guterletzt in hohen Alters-Tagen noch auf den Tisch gestellt werde.

Grob mochte sie sein, gröblich verfuhr sie jedenfalls gegen den braven Doktor Eberhard Hanff.

„Haben Sie sich zur Genüge Alles wieder wissenschaftlich beschnüffelt und befühlt, Hanff, so scheren Sie sich dreist wieder hin zu Ihrem Volk da draußen,“ sagte sie. „Wie weit her Ihre Kunst ist und was Sie damit ausrichten, wissen Sie ja ziemlich genau, also das braucht Sie durchaus nicht länger als nothwendig aufzuhalten. Lassen Sie mich und mein Kind; wir renommiren nicht, wie Ihr Herren, dann und wann sogar mit unserer Unzulänglichkeit. Lassen Sie uns ruhig hier allein beisammen. Ganz gut treffen wir Zwei hier bei diesem Elend in Eins, das Kind aus dem Frieden des Herrn und ich aus der Verbitterung meines Alters und aus dem Ueberdruß an Allem – an euch Allen!“

„Und ich gehe wie ein alter Narr,“ sagte Doktor Hanff, „ich schere mich zum Teufel, wie Sie mir das eben aus verjährter Ranküne so freundlich durch die Blume zu verstehen geben. Na, wir kennen uns ja freilich schon seit lange, und also darum – auf ein angenehmes Wiedersehen, morgen früh, Fräulein Dorette. Aber Du – Du, Mädchen, kannst es eigentlich nicht verantworten, einen alten Physikus und Praktikus so aus einander zu reißen und das beste Stück von ihm hier bei Dir zu behalten! Wie soll ich’s mit der schlechten Hälfte nun ausrichten da oben im Karneval? Fühle Du heute Abend mal der Frau Kommerzienräthin mit der gehörigen Visage den Puls! Lasse Du Dir mal diese Nacht so vielleicht zwischen zwei und drei Uhr von ihrer Brut die liebe Zunge aus überladenem Magen mit dem wünschenswerthen Mitgefühl zeigen!“

„Sie reiten wohl morgen auch durch unser Dorf, lieber Herr Doktor,“ lächelte Phöbe Hahnemeyer. „Da sehen Sie auch wohl meinen Bruder und sagen ihm noch einmal, wie dankbar ich ihm sei für seine Güte und die Erlaubniß, die er mir gegeben hat, und wie ich gern so bald als möglich zu ihm heimkehren würde.“

„Natürlich werde ich dem Burschen die Leviten lesen, und zwar reichlich!“ brummte der Landphysikus. „Haben Sie vielleicht auch noch an unseren sauberen Freund und Spießgesellen Spörenwagen was von dieser Art zu bestellen, Fräulein Hahnemeyer?“

„O, wenn Sie so gütig sein wollen, einen schönen Gruß.“

„Nicht zu vergessen die Tante Spörenwagen, die so trefflich unsere Stelle in der Eremitage in der Wildniß da oben vertritt? Sie soll ja nicht vergessen, dem Herrn Pastor die Offenbarung Johannis kühl vor der Nase zuzuschlagen, wenn sie ihn dreimal vergeblich zu Tisch gerufen hat und die Suppe sich nicht länger warm halten läßt.“

Damit ging er, den Hut schon im Zimmer sich aufdrückend – zaudernd – stehenbleibend – trabend, wenig in der Stimmung, auf seinem Wege ins Getümmel zurück, Grüße zu erwidern, oder sie gar selber zu bieten. Nur das brave Faktotum aus der weiland Apotheke „Zum wilden Mann“, Fräulein Dorette Kristeller’s alten

[593]

Venetianerin.
Eine Studie von F. Bodenmüller.

[594] Fritz, der ihm auch mit seinem Korbe begegnete, hielt er an, faßte ihn sogar fest am Kragen, schüttelte den Erstaunten hart und rief:

„Mensch, wo treibst Du Dich so lange herum? Auf der Stelle machst Du, daß Du nach Hause kommst, und daß Du mir da alle Deine fünf Sinne zusammennimmst, das rathe ich Dir. Ihr habt Gastbesuch aus dem blauen Himmel dort zu Hause. Ja, geh nur und sieh Dir Dein blaues Wunder daran.“

„Hat er einen zu viel oder zu wenig?“ brummte der graue getreue Knecht. „Gastbesuch? Na nur nicht zu zärtlich, das ist Alles was Unsereinem von dergleichen zu wünschen übrig gelassen ist.“

Kopfschüttelnd, allerlei Unverständliches in sich hineinmurmelnd, nahm er seinen Korb, den er abgesetzt hatte, wieder auf und trabte seinerseits weiter, nicht wenig gespannt auf das blaue Wunder, das ihn daheim erwartete:

Im holden Abendglanz, in tiefer Ruhe lag sie, die „Kabache dort“, die „auf den Abbruch gestellte“ Siechenhütte. Der Gast, der an diesem Abend gekommen war, hatte keine Unruhe, keine Angst, keinen Zank und Lärm der Welt in sie hineingetragen. Er hatte sich nur selber gebracht, und holen wollte er auch nichts für sich, und der schönen Valerie wollte er auch all das Ihrige lassen.

Schon saßen das alte und das junge Fräulein, die Eine mit ihrem Strickzeug, die Andere mit einer Häkelarbeit, wieder auf der Bank unter dem offenen Fenster der Krankenstube. Kisten und Kasten waren nicht abzuladen gewesen; sie hatten Beide wenig Eigenthum auf der Erde, die Pflegerinnen Veit von Bielow’s. Auch Fräulein Dorette Kristeller konnte wohl zu jeder Reise um die Welt, zu jedem Ein- und Auszuge binnen fünf Minuten Alles in ein Bündel zusammenpacken, wie Phöbe Hahnemeyer.

So hatten sie sich leicht in den engen Raum der Giebelkammer und verständig und gut, ohne viel unnöthig Reden in ihre Aufgaben und Arbeiten im Erdgeschoß des Hauses getheilt. So saßen sie schon eine Viertelstunde nach dem Abmarsch des Doktors Hanff, als ob sie seit Jahren so gesessen hätten; und sie unterhielten sich ruhig miteinander.

„Ich habe wohl Mehrere von der Sorte gehabt,“ sagte eben Fräulein Kristeller. „Ich meine nicht berüchtigte Professoren, Barone oder dergleichen, sondern in meiner Praxis Solche, die nicht wild wurden durch das Fieber, sondern anständig, freundlich und zufrieden blieben und sich durch Wochen durchschliefen, die Einen in das Leben, die Andern in den Tod. Das müssen wir nun abwarten und können wenig dazu und davon abthun. Guck, da kommt, bis sie uns das, was sie reguläre Hilfe nennen, geschickt haben, meines Bruders alter Friedrich aus unserer Apotheke ‚Zum wilden Mann‘. Wird der Augen machen über seinen neuen Hausgenossen! Da macht er sie schon!

„Herrgott, des Räkels und Spörenwagens Fräulein?“ stammelte das Faktotum des seligen Philipp Kristeller, seinen Korb vor der Bank niedersetzend. „Das Fräulein von der Vierlingswiese? da soll es freilich blau über Einem werden, Fräulein Dorette!“

„Unter unsern Umständen, Eins ins Andere gerechnet, lieber Alter, ist dieses freilich der merkwürdigste Besuch, der uns noch zu Theil werden konnte, seit Oberst Agonista zu Gast bei uns war,“ sagte Fräulein Dorette Kristeller.


20.

Der Sommer ist dahingegangen, der Herbst auch. Längst haben sich die eingebornen Buttervögel und die fremden Gäste aus dem Thal verloren. Die Musikanten haben ihre Instrumente zusammengepackt, die Springbrunnen haben ihr lustig Rauschen und Hüpfen für diesmal eingestellt, die überflüssigen Kellner, Köche und Stubenmädchen sind entlassen, und die ortsangesessenen Leute sind wieder in die Räume eingezogen, die sie während der „Saison“ an die Fremden vermiethet hatten. In den vornehmen Privatvillen sind die Läden geschlossen, die Vorhänge herabgelassen, die Möbel mit Ueberzügen versehen und die Spiegel und Bilder verhängt. In den Spekulationsvillen ist in den Miethgemächern dasselbe geschehen, nur haben sich die am Orte verbliebenen Spekulanten und Eigenthümer auch hier, zu eigener Behaglichkeit mit ihrem eigenen Haushalt ausgebreitet, und es gehen in manchem Salon Dinge vor, die während der fashionablen Erntezeit rein unmöglich darin waren. Die großen Hôtels stehen stumm und langweilig und beinahe etwas unheimlich unter dem gewöhnlich recht grauen Himmel. Jedermann im Bad hat längst seinen Gewinn aus dem Jahrgang zusammengezählt und ist mehr oder weniger zufrieden damit.

„Man hat sich selbst endlich wieder!“ sagen die Leute, welche aus irgend einem Grunde nicht mit zu spekuliren brauchten oder konnten. Was Jedem zu diesem seinem Selbst im Guten oder Bösen aus dem mehr oder weniger unmittelbaren Verkehre mit den fremdländischen flüchtigen Nachbarn im Sommerleben zugewachsen war, das mochte er im Stillen ebenfalls zusammenrechnen; – wir werden ihn gewiß nicht daran hindern. Jedenfalls sieht der Pfarrer im Bade nicht mehr so viele fremde Gesichter und wundervolle abenteuerliche moderne Damenhüte unter seiner Kanzel, wie im Sommer. Er redet als guter Hirt nur noch seinen eigenen Lämmern ins Gewissen. Wenn er dieselben vermahnen würde, das nächste Jahr die Schere nicht so hart anzulegen, sondern an das alte Sprichwort: Was Du nicht willst, daß man Dir thu’ und so weiter zu gedenken, so erwürbe er sich unbedingt ein Verdienst dadurch. Und wenn er noch so zart durch die Blume redete, könnte man ihn doch nur für seine Bemühungen loben.

Auch Landphysikus Doktor Hanff ist in seinen alten gewohnten Praxiskreis zurückgesunken. Seinen Gewinn aus der „Narrethei“ hat er zwar auch genau überzählt und ist recht zufrieden; aber behaglicher ist’s ihm doch unter den ihm „von Haus aus“ bekannten Klienten und Patienten, und vor allem in der regulären gewohnten Winterstammkneipe, wo Wirth und Wirthin, Tochter vom Hause und Dina die Kellnerin endlich auch einmal wieder einen Augenblick Zeit für ’nen wirklichen Menschen und ein ruhiges Wort haben. Solider Frühschoppen und gemüthliches Anwurzeln Abends hinter geschlossenen Fensterläden in warmbehaglicher Sofa-Ecke, nicht zu nah und nicht zu fern dem Ofen, sind endlich wieder zu ihrem Rechte gekommen. Item die lange Kneip-Winterpfeife, von der im „vermaledeiten Sommergelärm“ auch nicht die Rede sein konnte. Item eine erkleckliche Reihe ortsangeborener Anekdoten, die in dem „nichtsnutzigen Getöse“ dem Versinken ins „Nimmerwieder-Gewürdigtwerden“ nur zu nahe waren.

Das auch in diesem letzteren Fache im Guten wie im Bösen neu Zugewachsene ist darum ja nicht minder begehrt. Jeder hat den Sommer über Ohren und Augen offen gehalten. Jeder hat was zugelernt, und Doktor Hanff nicht das Wenigste. Die Abende sind lang, und recht schade ist’s, daß der verflossene bunte Schwarm der Fremden nicht mit zu hören bekommt, was an diesen langen Herbst- und Winterabenden die biedern Eingeborenen nachträglich über ihn im Einzelnen wie im Allgemeinen zu sagen haben. Manche, vielleicht sogar viele von den lieben Gästen würden wahrscheinlich in der nächsten Saison nicht wiederkehren, wenn sie ihr Lob vernehmen könnten. So viel hiervon.

In den Bergen oben ist um diese Jahreszeit die Witterung natürlich noch um einige Grade rauher, als drunten im mehr vor dem Winde geschützten Thale. Das Dorf des Pfarrers Prudens Hahnemeyer ist seiner jedem Wehen preisgegebenen Lage wegen sogar arg verrufen. Die Stürme treiben dort schon im Sommer manchmal schlimm genug ihr Spiel; aber um die Tag- und Nachtgleiche wird’s dann und wann fast zu schlimm.

Nur die Tannen halten nach ihrer Art ihr grünes Kleid dort oben noch fest. Den Laubbäumen ist es längst entrissen und wirbelt in Fetzen auf allen Wegen, oder hat sich in den Wäldern zu Boden gelagert, und der Fuß versinkt beim Durchschreiten tief in die weiche, raschelnde Decke; wenn er nicht gar schon im Schnee versinkt.

Das Pfarrhaus theilt nicht bloß die klimatischen, meteorologischen, atmosphärischen Verhältnisse der Planetenstelle mit den Hütten und Häusern der Gemeinde, der Berg- und Ackersleute, sondern es nimmt sogar sein gut Theil voraus; denn vor Allem liegt es „auf dem Winde“. Der Pastor hat wohl mehr denn je Grund, auf die Aussicht aus seinen Fenstern zu verzichten. Die schlechtgefaßten Scheiben klirren selbst hinter den geschlossenen Läden, und das Klappern der Ziegel auf dem Dache ist, vorzüglich bei Nacht, eine Musik für sich selber, nur nicht für einen nervösen, fröstelnden Menschen wie den jungen Pastor Prudens Hahnemeyer.

[595] Die kleine Laube an der Kirchenhecke ist kahl gezaust mit dem übrigen Garten. Es kann jetzt Niemand in ihr sitzen und im stillen, friedseligen Hinträumen, oder – beim hastigen Aufstehen vom Buche auf die Unruhe im Thurme horchen. Dem Räkel und seiner Brut, die sich weder um Wind und Wetter, noch um die Unruhe im Kirchthurme im Geringsten kümmern, geht es ausgezeichnet, und mit diesem Worte sind wir auf dem Wege zum Dorfkrug, wo wir den Räkel, den Forstwart Volkmar Fuchs, von seinem Behagen in der Welt erzählen und von manchem Andern, was seit Sommersende geschehen ist, in seinem Kreise reden hören können. Sie haben oben im Gebirge ebenso gut das Wort hinter ihren Gästen her, wie drunten im Thal; – wir aber, wir in der Zeitlichkeit, wir ändern es leider nicht, daß wir zu viel angewiesen sind auf das, was die Menschen sagen. –

Ja, dem Räkel geht es gottlob jetzt sehr gut. Seine Verhältnisse haben sich seit Herbstesanfang recht verbessert – merkwürdig verbessert. Er hat Geld, und nach der Anschauung des Dorfes sogar mächtig viel Geld, und schreibt das selbstverständlich ganz seinem eigensten Verdienste zu. Er hat seinen Aufenthalt wieder im Dorfe genommen, und Vorsteher und Gemeinderath haben ihn gern willkommen geheißen. Er stopft nicht mehr Nußblätter in die Pfeife, sondern schmaucht Portoriko. Wenn er seinen Krug trinkt, zahlt er ihn, und wenn er dabei auf den Tisch schlägt und seine Meinung kund giebt, hindert ihn Keiner mehr dran. Er zahlt auch seiner Kinder Schulgeld und behauptet, Bildung und daß man was auf sich halte und lerne, mit Leuten, und zwar hohen vornehmen Leuten umzugehen, sei doch die Hauptsache – sackerment! – Wenn er’s auf die Länge aushält, ist er geborgen; denn hohe Protektion hat er in reichlichem Maße genossen. Nicht bloß andere Leute, sondern auch er selbst hätten wohl Grund gehabt, sich darüber zu verwundern, wie die „Regierung“ dazu kam, ihm die Forstwartstelle, die er bis jetzt ja ganz passabel versieht, anzubieten und auf sein unverfroren Zugreifen, vom ersten Oktober an, anzuvertrauen. – –

(Fortsetzung folgt.) 


Blätter und Blüthen.

Seltene Kraftleistungen. Die deutschen Turner haben seit jeher ihr Bestreben mit vollem Recht darauf gerichtet, durch die Turnkunst eine gleichmäßige Pflege aller Kräfte und die harmonische Entwickelung des ganzen Körpers zu erlangen. Specialkunststücke sind bei uns nicht Mode. Dafür schwärmen Engländer und Amerikaner, bei denen neben anderem Sport auch die Athletik in Blüthe steht. Recht interessante Einblicke in die Leistungen der Sportsmänner dieser Art gewährt uns das soeben erschienene Buch des bekannten Wiener Schriftstellers Viktor Silberer: „Der Athletik-Sport“. Silberer hat in demselben die besten, durch unverdächtige Zeugen beglaubigten Leistungen der Welt auf allen einzelnen Gebieten dieses Sportes zusammengestellt, und man muß sagen, daß diese zuweilen geradezu verblüffend wirken.

Im Springen gebührt nach dieser Zusammenstellung die Palme P. Davin, der am 5. Juli 1880 189¾ Centimeter hoch sprang, natürlich ohne Sprungbrett, da bei dem sportlichen Sprung kein Sprungbrett gestattet ist. Den besten Hochsprung der Welt aus dem Stande, ohne Anlauf, leistete der Amerikaner E. A. Johnson am 20. Mai 1878, indem er 160 Centimeter rein sprang. Im Weitsprung steht der bereits genannte P. Davin mit 7,06 Meter ebenfalls unerreicht da; aus dem Stande sprang E. W. Johnson 3,377 Meter weit.

Im Schnelllauf über kurze Distanzen steht der Amerikaner G. Seward als unerreichtes Phänomen da. Er durchlief am 30. September 1844 die Strecke von 100 englischen Ellen 91,4 Meter in 9 1/4 Sekunden. Das war vor mehr als 40 Jahren, und seither haben sich alle passionirten Läufer vergeblich bemüht, ihn zu übertreffen; sie haben ihn nicht einmal erreicht. Es giebt in Amerika fünf namentlich bekannte Läufer, welche dieselbe Strecke in 10 Sekunden zurücklegen können, in England keinen einzigen! Der Läufer, die das in 10 1/5 Sekunden fertig bringen, giebt es sehr viele.

Auch im Gehen leisten die Anhänger des Athletik-Sportes Außerordentliches. W. Perkins ging acht Meilen (engl.) in der Stunde und J. Meagher dieselbe Strecke sogar in 58 Minuten 37 Sekunden. W. Perkins hat noch eine andere sensationelle Leistung aufzuweisen, er ging 22 Meilen in drei Stunden; gelaufen wurde dieselbe Strecke in 2 Stunden, 12 Minuten und 48 Sekunden von A. Dunning. Nun haben wir noch einige Geh-Leistungen zu registriren, die allerdings erstaunlich sind, aber gleichzeitig den Eindruck machen, als sei der, der sie unternimmt, nicht recht bei Troste. Kapitän Barclay machte einen Marsch von 1000 (engl.) Meilen in 1000 auf einander folgenden Stunden, und zwar in der Weise, daß er in jeder Stunde eine Meile ging und den ersparten Rest an Zeit jedesmal zu Schlaf und Erholung benützte. In derselben Zeit und unter denselben Modalitäten legte Gale 1500 Meilen, also 1½ Meile in jeder Stunde zurück. Das Tollste leistete aber derselbe Gale im Frühling des Jahres 1878. Er ging 4000 Viertelmeilen in viertausend auf einander folgenden Zeitabschnitten von je 10 Minuten. Er hat also in nahezu 28 Tagen immer nur ratenweise und immer nur wenige Minuten ruhen und schlafen können! Selbst Silberer, der sonst für den Athletik-Sport mit Eifer einzutreten sucht, nennt solche Leistungen sportliche Verirrungen. Die großartigsten Leistungen bei den sogenannten Sechs-Tage-Rennen haben George Hazael mit 600 und der Ex-Alderman Patrik Fitzgerald mit 610 Meilen in sechs Tagen zu verzeichnen. Es gehört ein eigener Geschmack zu solchen Wettkämpfen, denn sie haben eine jahrelange anstrengende Trainirung zur Voraussetzung. Ueberhaupt spielt bei diesen sportlichen Uebungen die Trainirung eine äußerst wichtige Rolle, und auch nur der Gedanke, daß Einer ohne vorhergehendes Training im Athletik-Sport erfolgreich mitthun könnte, wäre schon absurd.

Ziehklimmen aus gestrecktem Hang so hoch, daß das Kinn über die Hände hinaufragte, machte F. S. Clark in Boston am 9. December 1876 29 Mal. Das wird vielleicht mancher deutsche Turner auch können; dann sollte er aber dem Amerikaner die „Meisterschaft der Welt“ streitig machen. Schwieriger scheint uns schon die Leistung, die A. Cutter in Louisville am 18. September 1878 vollführte: Ziehklimmen mit einer Hand 12 Mal, und schier unbegreiflich eine zweite Leistung desselben Turners, die er an demselben Tage zum Besten gab: Ziehklimmen aus dem Hang am kleinen Finger einer Hand 6 Mal!

Wie weit es die menschliche Kraft zu bringen vermag, zeigt sich am deutlichsten im Gewichtheben und Hantelstemnmen. In Wien giebt es mehrere Amateurs, die fünf Centner mit einem Finger heben. Einer dieser, Herr Stühr, stemmt, das heißt hebt hoch von der Schulter aufwärts, bis der Arm vollständig gestreckt ist, eine Hantel im Gewicht von 90 Kilo. W. B. Curtis in New-York hat am 20. December 1868 eine wahre Riesenarbeit im Heben geleistet; er hob „im Geschirr“, mit Gurten, welche die Last auf den ganzen Körper vertheilten, 1469,18 Kilo. G. Robinson in San-Francisco stemmte 100 englische Pfund = 45,36 Kilo zwanzig Mal.

Wir können hier abbrechen. Die angeführten Beispiele dürften genügen, um darzuthun, wie weit durch Energie und ausdauernde Uebung menschliche Kraft entwickelt werden kann. Die Lorbeern auf diesem Gebiete werden wohl im Großen und Ganzen auch fernerhin Engländer und Amerikaner einheimsen, denn der Athletik-Sport wird die hoch entwickelte rationelle Turnkunst in Deutschland schwerlich verdrängen können. B. G.     


Das hundertjährige Jubiläum der Geographischen Anstalt von Justus Perthes in Gotha. Am 11. September feiert die weltbekannte geographische Anstalt Justus Perthes in Gotha das Fest ihres hundertjährigen Bestandes. 1785 gründete Justus Perthes aus Rudolstadt mit der Uebernahme des Hofkalenders und Almanach de Gotha, welche im Verein mit den später hinzugetretenen gräflichen und freiherrlichen Taschenbüchern noch heute einen der wichtigsten und bekanntesten Verlagsartikel der Firma bilden, ein selbständiges Verlagsgeschäft. Aber erst unter der Leitung seines Sohnes Wilhelm (1816–53) wurde die geographische und speciell die kartographische Richtung die herrschende. Vor allem erfolgreich erwies sich die Verbindung mit dem damaligen Legationssekretär Adolf Stieler in Gotha († 1836), dessen Name auch heute noch von allen, die sich mit geographischen Dingen beschäftigen, von Groß und Klein gekannt ist. Seit nahezu 70 Jahren steht sein Handatlas (1. Ausgabe 1817–31) unerreicht da, denn in beständiger Verjüngung begriffen spiegelt er alle Fortschritte der geographischen Wissenschaft auf das getreueste wieder. Wesentlich trägt dazu der Umstand bei, daß alle Karten in Kupfer gestochen sind, denn dieses Metall eignet sich am besten für Aenderungen, Verbesserungen und Zusätze. Außerdem werden noch fortwährend neue Karten gezeichnet und gestochen, so daß die Gesammtsumme aller Blätter des Handatlasses bereits 197 beträgt. Demselben Reproduktionsverfahren unterliegt Stieler’s Schulatlas, der seit 1820 sich nicht bloß in den deutschen, sondern auch in den französischen, italienischen, ungarischen, schwedischen und finnischen Schulen eingebürgert hat.

Die hervorragendsten Autoren Wilhelm Perthes’ waren neben Stieler noch Heinrich Berghaus, dessen unvollendeter Atlas von Asien und physikalischer Atlas zuerst den Weltruf der Firma begründeten, ferner Karl von Spruner, der Schöpfer des großen, aus 118 Karten bestehenden historischen Handatlasses und endlich Emil von Sydow, der in seinen Wandkarten, in seinem methodischen Handatlas und in seinem Schulatlas zum ersten Mal die orographische Gestaltung des Festlandes in markanten Zügen darzustellen wußte. So war durch vereinte und von glänzenden Erfolgen begleitete Bemühungen von Autoren und Verleger der Boden vorbereitet, auf dem Bernhardt Perthes, der im Jahre 1853 seinem Vater in der Leitung des Geschäftes folgte, durch die Heranziehung geeigneter Kräfte als fest angestellte Mitarbeiter die Verlagshandlung in eine geographische Anstalt umschaffen konnte. Von größter Bedeutung war die Uebersiedelung Petermann’s von London nach Gotha und die Begründung der seit 1855 erscheinenden „Mittheilungen“, an der Petermann und Behm fast in gleichem Maße betheiligt waren. So wurde Gotha für ein paar Jahrzehnte der Mittelpunkt aller geographischen Bestrebungen in Deutschland; die Afrika- und die Polarforschung erhielten von hier aus die mächtigsten Impulse. Leider starb Bernhardt Perthes schon 1857 im blühendsten Mannesalter, aber die umsichtige Leitung Rudolf Besser’s und Adolf Müller’s, welcher die Interessen des nachgeborenen Sohnes des Besitzers vertrat, führte die Anstalt auch über [596] diese Klippe ungefährdet hinweg. Von bedeutenderen neueren Unternehmungen sei die Neubearbeitung von Spruner’s historischem Handatlas durch Menke, Grundemann’s Missionsatlas und die periodischen Publikationen: „Das geographische Jahrbuch“ von Behm und „Die Bevölkerung der Erde“ von Behm und Prof. Wagner genannt. Hoffen wir, daß man in abermals hundert Jahren der gegenwärtigen Anstalt ebenso rühmend gedenken werde, wie wir der Vergangenheit. S.     


Ein Gedenktag der „Gartenlaube“. Vor gerade zwanzig Jahren erschien in Nr. 36 Jahrgang 1865 der „Gartenlaube“ eine kurze Erzählung „Die zwölf Apostel“, die mit großem Beifall von der deutschen Leserwelt aufgenommen wurde. Es war dies die erste Novelle der später als Romanschriftstellerin so berühmt gewordenen E. Marlitt.

Ernst Keil erkannte schon aus diesem ersten Werke der noch unbekannten Verfasserin ein Talent ersten Ranges, das Außergewöhnliches zu schaffen versprach und das er an seine im raschen Steigen begriffene „Gartenlaube“ zu fesseln beschloß. Sein Scharfblick täuschte ihn nicht, denn schon im nächsten Jahre erschien die „Goldelse“, jener tiefempfundene und von echter Poesie durchwehte Roman, welcher E. Marlitt nicht nur im Sturm die Herzen der deutschen Leser und Leserinnen eroberte, sondern ihren Ruhm sogar in fremde Länder und über das ferne Meer trug.

Seit jener Zeit ist E. Marlitt während der langen Spanne von zwanzig Jahren der „Gartenlaube“ treu geblieben und schmückte und bereicherte unser Blatt mit elf Romanen und Erzählungen, die sämmtlich trotz der großen Verbreitung durch die „Gartenlaube“ auch in Buchform einen nach Hunderttausenden zählenden Leserkreis fanden.

Wie jeder hervorragende Autor hat auch E. Marlitt ihre Gegner, aber der Kreis ihrer Verehrer und Freunde ist stets ein ungewöhnlich großer geblieben. Die letzteren, die auch zu den Freunden der „Gartenlaube“ zählen, werden mit uns gewiß gern die Freude dieses Gedenktages theilen und der ihnen so lieb gewordenen Verfasserin noch lange Jahre rüstigen und freudigen Schaffens von Herzen wünschen.


Eine Studie. (Mit Illustration S. 593.) In der That, wie glücklich ist solch ein Maler dran! Ein armer Gelehrter, der zu seinem nächsten Werke Studien zu machen hat, läuft unter erschwerenden Umständen staubige Bibliotheken ab, wälzt Leder-, Papp- und andere Bände, deren einer ihn zum nächsten schickt, bis endlich die „Excerpte“ beisammen sind. Würdige Forscher hantiren zum Schaden ihrer Nase, wenn nicht ihrer Gesundheit, ja ihres Lebens, zwischen allerlei Laboratorienkram herum; es ist möglich, daß sie diese ihre Studien für die alleramüsantesten von der Welt halten. Allein die Männer der Wissenschaft hegen im Allgemeinen einen gewissen verrätherischen Groll gegen die Künstler, und ich möchte glauben, sie neiden ihnen ein wenig ihre Art, Studien zu machen unter „des Lebens goldenem Baume“! Es ist doch wohl ein reizvolles Ding, mit schönheitsdurstiger Seele und schönheitsempfindlichem Auge zu suchen, was die kurzlebige Welt Gefälliges bietet, um die Gestaltungskraft damit zu sättigen und das Flüchtige für die Dauer künstlerisch zu fesseln. Studien machen – für den Maler ist es ein Streifen durch die Natur, ein prüfendes Blickschweifen über Menschengesichter, ein bewußtes Sichverlieren in die geheimsten Toilettengeheimnisse von Naturreizen, um sie für das Gedächtniß zu notiren, es sei mehr oder weniger ausführlich. In ein Gesichtchen wie das, welches unser Bild wiedergiebt, sich zu vertiefen, ist nur zwei Menschen vergönnt: dem Geliebten und dem Maler. Dieses Gesichtchen, dessen Reiz die klassische Toilette des venetianischen Cinquecento hebt, wird eines Tages in Wirklichkeit Runzeln und Falten haben, und seine Zauber sind doch der Vergänglichkeit entrückt – im Bilde. Und im Bilde dürfen alle schönheitsempfänglichen Augen auf ihnen ruhen und sich bezaubern lassen. Der Maler erobert die Schönheit für die Menschheit: das macht den Werth seiner Kunst, das macht auch den Werth dieser „Studie“ aus. B. B.     


Dienstboten-Ehen in Deutschland. Von Franz Grabe, der sich unter Anderem durch seine plattdeutschen Unterhaltungen und Reime „Van de Elwkant ut Hadelnland“ (Celle, 1880) bekannt gemacht hat, erhalten wir – im Anschluß an unsern Artikel über die „Dienstboten-Ehen in Rußland“ – eine interessante Zuschrift, aus welcher hervorgeht, daß auch bei den Dienstboten in Deutschland Ehe und Hausstand nicht immer zwei unzertrennliche Begriffe bilden. „Es kommt bei uns im Lande Hadeln,“ heißt es in dem Briefe, „sowie im benachbarten Wursten und Kehdingen auf den Bauernhöfen sogar häufig vor, daß sich Dienstboten verheirathen und hernach zu ihrer früheren Herrschaft zurückkehren und getrennt ihre Dienstzeit fortsetzen. Auch ist es nichts Außergewöhnliches, daß die Herrschaft der Hochzeit dieser Dienstboten beiwohnt und den Ehrenplatz bei dem Brautpaare einnimmt, ihm auch ihre Unterstützung gewährt. Gewöhnlich besucht der junge Gatte seine Ehehälfte nur des Sonntags. Wird ein solches Paar mit Kindern gesegnet, so werden auch hier die Kinder (ganz wie in Rußland) bei Tagelöhnern oder Verwandten in die Kost gegeben. Natürlich sehnen sich die meisten dieser Eheleute darnach, später ein eigenes Heim zu gründen oder auch nur mit ihren Kindern ein gemeinsames Unterkommen als Heuer- oder Miethsleute zu finden, und sie sparen, in Aussicht auf Erfüllung dieses Wunsches. Ist der Mann treu und fleißig, rückt er meistens später zum Oberknecht oder Hofmäher (erstem Vormäher) auf und bezieht dann mit seiner Frau oder Familie ein sogenanntes Meierhaus, wo der Miethzins abverdient wird und die Leute auch ihren bestimmten Antheil an Roggen und Weizen, dazu oft Weideland und Futter für eine Kuh von dem Dienstherrn zu niedrigen Preisen erhalten. Auch unsere getrennt lebenden, verheiratheten Dienstboten sind meistens zufrieden und glücklich, ergo lebt man bei uns auch nicht ‚hinter den Russen‘.“


Eine herzliche Bitte richten wir wiederum an unsere Leser, und zwar diesmal für einen Schriftsteller, der einst Vielen durch seine Arbeiten frohe Stunden bereitet hat und jetzt in seinem 72. Lebensjahre unter schweren Schicksalsschlägen leidet. „Seit sieben Jahren,“ schreibt uns der Unglückliche, „bin ich, vom Schlage getroffen, an meinen Stuhl gefesselt, keinen Menschen zur Gesellschaft, denn alle gehen dem asthmatischen Kranken so weit als möglich aus dem Wege, keine geistige Beschäftigung, keine Bücher zum Lesen, nervös wie ein Zitteraal, und bei alledem noch die Sorge um das Materielle! Keine Höllenstrafe kann niederdrückender sein, als dieses jammervolle Leben.“

Wer verschönert dem Leidenden seinen düstern Lebensabend? Auch die kleinste Gabe wird mit Dank entgegengenommen.
Die Redaktion der „Gartenlaube“. 

Dank. Die Bitte in Nr. 23 der „Gartenlaube“ für den Lehrer Arndt in Reckenthin hatte so viele offene Herzen und mildthätige Hände gefunden, daß Herr Pastor Ramdohr, welcher jene „herzliche Bitte“ für den Bedrängten aussprach, in den Stand gesetzt worden ist, demselben die von den Lesern der „Gartenlaube“ zugesandte Summe von 735 Mk. 25 Pf., sowie einige nützliche Sachen für die Familie zu übergehen.


Allerlei Kurzweil.

Schach.
Problem Nr. 4.0 Von R. Weinheimer in Wien.

SCHWARZ

WEISS

Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Zum Kopfzerbrechen.

Zwölf Geldstücke liegen in einer Reihe neben einander. Man soll ihre Lage so verändern, daß vier Gruppen gebildet werden, von denen jede aus drei auf einander liegenden Geldstücken besteht. Es dürfen jedoch nur acht Stücke von ihren Plätzen entfernt werden und zwar nur in der Weise, daß das einzelne Stück berechtigt ist, nach rechts oder links über drei hinweg auf ein viertes zu springen.


Auflösung des magischen Tableaus „Die Unzertrennlichen“ in Nr. 35: Um die Buchstaben des Ringes zu Worten verbinden und lesen zu können, beginnt man bei dem Papagei links mit dem Buchstaben P und liest, immer dabei einen Buchstaben überspringend, alle Buchstaben des Kreises nach rechts herum bis zum Papagei rechts. Jetzt beginnt man bei diesem mit dem Buchstaben P und liest wie früher von rechts nach links herum, ebenfalls immer einen Buchstaben dabei überspringend. Die Lösung heißt: Papageno, Papagena. S. Atanas. 


Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht beantwortet.)

L. W. in Wien. Das bewährte Technikum Mittweida (Sachsen) bildet junge Leute zu Maschinen-Ingenieuren und zu Werkmeistern aus. Die Schülerzahl beträgt gegenwärtig 452 aus Europa, Afrika, Amerika, Australien. Ausführliches Programm und Jahresbericht erhalten Sie von der Direktion gratis.

Treue Abonnentin in Z., G. R. in G. Schwindel. X. Y. in G. A., B. B. in L., E. S. in B., H. P. in T. Nicht geeignet.

W. D. Ihr Manuskript „Folgen“ steht zu Ihrer Verfügung. Wir bitten um Angabe der Adresse.


Inhalt: Unterm Birnbaum. Von Th. Fontane (Fortsetzung). S. 581. – Im Hochsommer. Illustration. S. 581. – Allerlei Hochzeitsgebräuche. IV. Bauernhochzeiten im Hansjochenwinkel. Von W. Meyer-Markau. S. 585. Mit Illustrationen S. 585–589. – Litterarische Begegnungen. Von Wilhelm Goldbaum. 1. Ludwig Hevesi. S. 589. – Unruhige Gäste. Ein Roman aus der Gesellschaft. Von Wilhelm Raabe (Fortsetzung). S. 591. – Blätter und Blüthen: Seltene Kraftleistungen. Von B. G. – Das hundertjährige Jubiläum der Geographischen Anstalt von Justus Perthes in Gotha. S. 595. – Ein Gedenktag der „Gartenlaube“. – Eine Studie. S. 596. Mit Illustration S. 593. – Dienstboten-Ehen in Deutschland. – Eine herzliche Bitte. – Dank. – Allerlei Kurzweil: Schach. – Zum Kopfzerbrechen. – Auflösung des magischen Tableaus „Die Unzertrennlichen“ in Nr. 35. – Kleiner Briefksten. S. 596.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.0 Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.0 Druck von A. Wiede in Leipzig.