Die Gartenlaube (1885)/Heft 39

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1885
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[629]

No. 39.   1885.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Unterm Birnbaum.

von Th. Fontane.
(Fortsetzung.)


14.

Aengstigungen und Aergernisse wie die vorgeschilderten kamen dann und wann vor, aber im Ganzen, um es zu wiederholen, war die Bauzeit eine glückliche Zeit für unsern Hradscheck gewesen. Der Laden war nie leer, die Kundschaft wuchs, und das dem Grundstück zugehörige, draußen an der Neu-Lewiner-Straße gelegene Stück Ackerland gab in diesem Sommer einen besonders guten Ertrag. Dasselbe galt auch von dem Garten hinterm Haus; alles gedieh darin, der Spargel prachtvoll, dicke Stangen mit gelbweißen Köpfen, und die Pastinak- und Dill-Beete standen hoch in Dolden. Am meisten aber that der alte Birnbaum, der sich mehr als seit Jahren anstrengte. „Dat ’s de Franzos,“ sagten die Knechte Sonntags im Krug, „de deiht wat för em,“ und als die Pflückenszeit gekommen, rief Kunicke, der sich gerade zum Kegeln eingefunden hatte: „Hör, Hradscheck, Du könntest uns mal ein paar von Deinen Franzosenbirnen bringen.“ Franzosenbirnen! Das Wort wurde sehr bewundert, lief rasch von Mund zu Mund, und ehe drei Tage vergangen waren, sprach kein Mensch mehr von Hradscheck’s „Malvasieren“, sondern bloß noch von den „Franzosenbirnen“. Hradscheck selbst aber freute sich des Wortes, weil er daran erkannte, daß man, trotz aller Stichelreden der alten Jeschke, mehr und mehr anfing, die Vorkommnisse des letzten Winters von der scherzhaften Seite zu nehmen.

Ja, die Sommer- und Baumonate brachten lichtvolle Tage für Hradscheck, und sie hätten noch mehr Licht und noch weniger Schatten gehabt, wenn nicht Ursel gewesen wäre. Die füllte, während alles andre glatt und gut ging, seine Seele mit Mitleid und Sorge, mit Mitleid, weil er sie liebte (wenigstens auf seine Weise), mit Sorge, weil sie dann und wann ganz wunderliche Dinge redete. Zum Glück hatte sie nicht das Bedürfniß Umgang zu pflegen und Menschen zu sehn, lebte vielmehr eingezogener denn je und begnügte sich damit, Sonntags in die Kirche zu gehn. Ihre sonst tiefliegenden Augen sprangen dann aus dem Kopf, so begierig folgte sie jedem Wort, das von der Kanzel her laut wurde, das Wort aber, auf das sie wartete, das kam nicht. In ihrer Sehnsucht ging sie dann, nach der Predigt, zu dem guten, ihr immer gleichmäßig geneigt bleibenden Eccelius hinüber, um, so weit es ging, Herz und Seele vor ihm auszuschütten und etwas von Befreiung oder Erlösung zu hören, aber Seelsorge war nicht seine starke Seite, noch weniger seine Passion, und wenn sie sich der Sünde geziehn und in Selbstanklagen erschöpft hatte, nahm er lächelnd ihre Hand und sagte: „Liebe Frau Hradscheck, wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen. Sie haben eine Neigung. sich zu peinigen, was ich mißbillige. Sich ewig anklagen ist oft Dünkel und Eitelkeit.

Sofie.
Nach dem Oelgemälde von Hermann Kaulbach.

[630] Wir haben Christum und seinen Wandel als Vorbild, dem wir im Gefühl unsrer Schwäche demüthig nachstreben sollen. Aber wahren wir uns vor Selbstgerechtigkeit, vor allem vor der, die sich in Zerknirschung äußert. Das ist die Hauptsache.“ Wenn er das trocken-geschäftsmäßig, ohne Pathos und selbst ohne jede Spur von Salbung gesagt hatte, ließ er die Sache sofort wieder fallen und fragte, zu natürlicheren und ihm wichtiger dünkenden Dingen übergehend, „wie weit der Bau sei?“ Denn er wolle nächstes Frühjahr auch bauen. Und wenn dann die Hradscheck, um ihm zu Willen zu sein, von allen möglichen Kleinigkeiten, am liebsten und eingehendsten aber von den Meinungsverschiedenheiten zwischen ihrem Mann und Zimmermeister Buggenhagen geplaudert hatte, rieb er sich schmunzelnd und vor sich hinnickend die Hand und sagte rasch und in augenscheinlicher Furcht, das Seelengespräch wieder aufgenommen zu sehn: „Und nun, liebe Frau Hradscheck, muß ich Ihnen meine Nelken zeigen.“

*           *
*

Um Johanni wußte ganz Tschechin, daß die Hradscheck es nicht lange mehr machen werde. Keinem entging es. Nur sie selber sah es so schlimm nicht an und wollte von keinem Doktor hören. „Sie wissen ja doch nichts. Und dann der Wagen und das viele Geld.“ Auf das Letztere, das „viele Geld“, kam sie jetzt überhaupt mit Vorliebe zu sprechen, fand alles unnöthig oder zu theuer, und während sie noch das Jahr vorher für ein Polysander-Fortepiano gewesen war, um es, wenn nicht der Amtsräthin in Friedrichsau, so doch wenigstens der Domänenpächterin auf Schloß Solikant gleich zu thun, war sie jetzt sparsam bis zum Geiz. Hradscheck ließ sie gewähren, und nur einmal, als sie gerade beim Schotenpalen war, nahm er sich ein Herz und sagte: „Was ist das nur jetzt, Ursel? Du ringst Dir ja jeden Dreier von der Seele.“ Sie schwieg, drehte die Schüssel hin und her und palte weiter. Als er aber stehen blieb und auf Antwort zu warten schien, sagte sie, während sie die Schüssel rasch und heftig bei Seite setzte: „Soll es alles umsonst gewesen sein? Oder willst Du …“ Weiter kam sie nicht. Ein Herzkrampf, daran sie jetzt häufiger litt, überfiel sie wieder, und Hradscheck sprang zu, um ihr zu helfen.

Ihre Wirthschaft besorgte sie pünktlich, und alles ging am Schnürchen, wie vordem. Aber Interesse hatte sie nur für eins, und das Eine war der Bau. Sie wollt’ ihn, darin Hradscheck’s Eifer noch übertreffend, in möglichster Schnelle beendet sehn, und so sparsam sie sonst geworden war, so war sie doch gegen keine Mehrausgabe, die Beschleunigung und rascheres Zustandekommen versprach. Einmal sagte sie: „Wenn ich nur erst oben bin. Oben werd’ ich auch wieder Schlaf haben. Und wenn ich erst wieder schlafe, werd’ ich auch wieder gesund werden.“ Er wollte sie beruhigen und strich ihr mit der Hand über Stirn und Haar. Aber sie wich seiner Zärtlichkeit aus und kam in ein heftiges Zittern. Ueberhaupt war es jetzt öfter so, wie wenn sie sich vor ihm fürchte. ’Mal sagte sie leise: „Wenn er nur nicht so glatt und glau wär’. Er ist so munter und spricht so viel und kann alles. Ihn ficht nichts an … Und die drüben in Neu-Lewin war auch mit einem Male weg.“ Solche Stimmungen kamen ihr von Zeit zu Zeit, aber sie waren flüchtig und vergingen wieder.

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*

Und nun waren die letzten Augusttage.

„Morgen, Ursel, ist alles fertig.“

Und wirklich, als der andre Tag da war, bot ihr Hradscheck mit einer gewissen freundlichen Feierlichkeit den Arm, um sie treppauf in eine der neuen Stuben zu führen. Es war die, die nach der Kegelbahn hinauslag, jetzt die hübscheste, hellblau tapezirt und an der Decke gemalt: ein Kranz von Blüthen und Früchten, um den Tauben flogen und pickten. Auch das Bett war schon heraufgeschafft und stand an der Mittelwand, genau da, wo früher die Bettwand der alten Giebel- und Logirstube gewesen war.

Hradscheck erwartete Dank und gute Worte zu hören. Aber die Kranke sagte nur: „Hier? Hier, Abel?“

„Es sind neue Steine,“ stotterte Hradscheck.

Ursel indeß war schon von der Thürschwelle wieder zurückgetreten und ging den Gang entlang, nach der andern Giebelseite hinüber, wo sich ein gleich großes, auf den Hof hinaussehendes Zimmer befand. Sie trat an das Fenster und öffnete. Küchenrauch, mehr anheimelnd als störend, kam ihr von der Seite her entgegen und eine Henne mit ihren Küchelchen zog unten vorüber; Jakob aber, der holzsägend in Front einer offnen Remise stand, neckte sich mit Male, die beim Brunnen Wäsche spülte.

Hier will ich bleiben.“

Und Hradscheck, der durch den Auftritt mehr erschüttert als verdrossen war, war einverstanden und ließ alles, was sich von Einrichtungsgegenständen in der hellblau tapezirten und für Ursel bestimmten Stube befand, nach der andern Seite hinüberbringen.

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*

Und siehe da, Frau Hradscheck erholte sich wirklich und sogar rascher, als sie selbst zu hoffen gewagt hatte. Schlaf kam, der scharfe Zug um ihren Mund wich, und als die schon erwähnten Manövertage mit ihrer Dragoner-Einquartierung kamen, hatte sich ihr Aussehn und ihre Stimmung derart verbessert, daß sie gelegentlich die Wirthin machen und mit den Officieren plaudern konnte. Das Hagere, Hektische gab ihr, bei der guten Toilette, die sie zu machen verstand, etwas Distinguirtes, und ein alter Eskadronchef, der sie mit erstaunlicher Ritterlichkeit umkourte, sagte, wenn er ihr beim Frühstück nachsah und mit beiden Händen den langen blonden Schnurrbart drehte: „Famoses Weib. Auf Ehre. Wie die nur hierher kommt?“ Und dann gab er seiner Bewunderung auch Hradscheck gegenüber Ausdruck, worauf dieser nicht wenig geschmeichelt antwortete: „Ja, Herr Rittmeister, Glück muß der Mensch haben! Mancher kriegt’s im Schlaf.“

Und dann lachte der Eskadronchef und stieß mit ihm an.

*           *
*

Das alles war Mitte September.

Aber das Wohlbefinden, so rasch es gekommen, so rasch ging es auch wieder, und ehe noch das Erntefest heran war, waren die Kräfte schon so geschwunden, daß die Kranke die Treppe kaum noch hinunter konnte. Sie blieb deßhalb oben, sah auf den Hof und machte sich, um doch etwas zu thun, mit der Neu-Einrichtung sämmtlicher Oberzimmer zu schaffen. Nur die Giebelstube, nach der Kegelbahn hin, vermied sie.

Hradscheck, der immer noch an die Möglichkeit einer Wiederherstellung gedacht hatte, sah jetzt auch, wie’s stand, und als der heimlich zu Rathe gezogene Doktor Oelze von Abzehrung und Nervenschwindsucht gesprochen, machte sich Hradscheck auf ihr Hinscheiden gefaßt. Daß er darauf gewartet hätte, konnte nicht wohl gesagt werden; im Gegentheil, er blieb seiner alten Neigung treu, war überaus rücksichtsvoll und klagte nie, daß ihm die Frau fehle. Er wollt’ auch von keiner andern Hilfe wissen und ordnete selber alles an, was in der Wirthschaft zu thun nöthig war. Vieles that er selbst. „Is doch ein Mordskerl,“ sagte Kunicke. „Was er will, kann er. Ich glaub, er kann auch einen Hasen abziehn und Sülze kochen.“

An dem Abend, wo Kunicke so gesprochen, hatte die Sitzung in der Weinstube wieder ziemlich lange gedauert, und Hradscheck war noch keine halbe Stunde zu Bett, als Male, die jetzt oben bei der Kranken schlief, treppab kam und an seine Thür klopfte.

„Herr Hradscheck, steihn’s upp. De Fru schickt mi. Se sülln ruppkoamen.“

Und nun saß er oben an ihrem Bett und sagte: „Soll ich nach Küstrin schicken, Ursel? Soll Oelze kommen? Der Weg ist gut. In drei Stunden ist er hier.“

„In drei Stunden …“

„Oder soll Eccelius kommen?“

„Nein,“ sagte sie, während sie sich mühvoll aufrichtete, „es geht nicht. Wenn ich es nehme, so sag’ ich es.“

Er schüttelte verdrießlich den Kopf.

„Und sag’ ich es nicht, so ess’ ich mir selber das Gericht.“

„Ach, laß doch das, Ursel. Was soll das? Daran denkt ja keiner. Und ich am wenigsten. Er soll bloß kommen und mit Dir sprechen. Er meint es gut mit Dir und kann Dir einen Spruch sagen.“

Es war, als ob sie sich’s überlege. Mit einem Mal aber sagte sie: „Selig sind die Friedfertigen; selig sind die reines Herzens sind; selig sind die Sanftmüthigen. All die kommen in Abraham’s Schoß. Aber wohin kommen wir?“

[631] „Ich bitte Dich, Ursel, sprich nicht so. Frage nicht so. Und wozu? Du bist noch nicht soweit, noch lange nicht. Es geht alles wieder vorüber. Du lebst und wirst wieder eine gesunde Frau werden.“

Es klang aber alles nur an ihr hin, und Gedanken nachhängend, die schon über den Tod hinausgingen, sagte sie: „Verschlossen … Und was aufschließt, das ist der Glaube. Den hab ich nicht … Aber is noch ein Andres, das aufschließt, das sind die guten Werke … Hörst Du. Du mußt ohne Namen nach Krakau schreiben, an den Bischof oder an seinen Vikar. Und mußt bitten, daß sie Seelenmessen lesen lassen … Nicht für mich. Aber Du weißt schon … Und laß den Brief in Frankfurt aufgeben. Hier geht es nicht und auch nicht in Küstrin. Ich habe mir’s abgespart dies letzte halbe Jahr, und Du findest es eingewickelt in meinem Wäschschrank unter dem Damast-Tischtuch. Ja, Hradscheck, das war es, wenn Du dachtest, ich sei geizig geworden. Willst Du?“

„Freilich will ich. Aber es wird Nachfrage geben.“

„Nein. Das verstehst Du nicht. Das ist Geheimniß. Und sie gönnen einer armen Seele die Ruh!“

„Ach, Ursel, Du sprichst soviel von Ruh’ und bangst Dich und ängstigst Dich, ob Du sie finden wirst. Weißt Du, was ich denke?“

„Nein.“

„Ich denke, leben ist leben, und todt ist todt. Und wir sind Erde, und Erde wird wieder Erde. Das Andre haben sich die Pfaffen ausgedacht. Spiegelfechterei, sag’ ich, weiter nichts. Glaube mir, die Todten haben Ruhe.“

„Weißt Du das so gewiß, Abel?“

Er nickte.

„Nun, ich sage Dir, die Todten stehen wieder auf …“

„Am jüngsten Tag.“

„Aber es giebt ihrer auch, die warten nicht so lange.“

Hradscheck erschrak heftig und drang in sie, mehr zu sagen. Aber sie war schon in die Kissen zurückgesunken und ihre Hand, der seinigen sich entziehend, griff nur noch krampfhaft in das Deckbett. Dann wurde sie ruhiger, legte die Hand aufs Herz und murmelte Worte, die Hradscheck nicht verstand.

„Ursel“, rief er, „Ursel!“

Aber sie hörte nicht mehr.



15.

Das war in der Nacht von Sonnabend auf Sonntag gewesen, den letzten Tag im September. Als am andern Morgen zur Kirche geläutet wurde, standen die Fenster in der Stube weit offen, die weißen Gardinen bewegten sich hin und her, und alle, die vorüberkamen, sahen nach der Giebelstube hinauf und wußten nun, daß die Hradscheck gestorben sei. Schulze Woytasch fuhr vor, aussprechend, was er sich bei gleichen Veranlassungen zu sagen gewöhnt hatte, „daß ihr nun wohl sei“ und „daß sie vor ihnen allen einen guten Schritt voraushabe.“ Danach trank er, wie jeden Sonntag vor der Predigt, ein kleines Glas Madeira zur Stärkung und machte dann die kurze Strecke bis zur Kirche hin zu Fuß. Auch Kunicke kam und drückte Hradscheck verständnißvoll die Hand, das Auge gerade verschwommen genug, um die Vorstellung einer Thräne zu wecken. Desgleichen sprachen auch der Oelmüller und gleich nach ihm Bauer Mietzel vor, welch letztrer sich bei Todesfällen immer der „Vorzüge seiner Kränklichkeit von Jugend auf“ zu berühmen pflegte. Das that er auch heute wieder. „Ja, Hradscheck, der Mensch denkt und Gott lenkt. Ich piepe nun schon so lang; aber es geht immer noch.“

Auch noch Andre kamen und sagten ein Wort. Die meisten indessen gingen ohne Theilnahmsbezeigung vorüber und stellten Betrachtungen an, die sich mit der Todten in nur wenig freundlicher Weise beschäftigten.

„Ick weet nich,“ sagte der Eine, „wat Hradscheck an ehr hebben deih. Man blot, dat se’n beten scheel wihr.“

„Joa,“ lachte der Andre. „Dat wihr se. Un am Enn’, so wat künn he hier ook hebb’n.“

„Un dat hannüversche Geld. Ihrst schmeet se’t weg, un mit eens fung se to knusern an.“

In dieser Weise ging das Gespräch einiger ältrer Leute, das junge Weiberzeug aber beschränkte sich auf die eine Frage: „Weck’ een he nu woll frigen deiht?“

Auf Mittwoch 4 Uhr war das Begräbniß angesetzt und viel Neugierige standen schon vorher in einem weiten Halbkreis um das Trauerhaus herum. Es waren meist Mägde, die schwatzten und kicherten, und nur einige waren ernst, darunter die Zwillings-Enkelinnen einer armen alten Wittwe, welche letztre, wenn Wäsche bei den Hradschecks war, allemal mitwusch. Diese Zwillinge waren in ihren schwarzen, von der Frau Hradscheck herrührenden Einsegnungskleidern erschienen und weinten furchtbar, was sich noch steigerte, als sie bemerkten, daß sie durch ihr Geheul und Geschluchze der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit wurden. Dabei gingen jetzt die Glocken in einem fort, und alles drängte dichter zusammen und wollte sehn. Als es nun aber zum dritten Mal ausgeläutet hatte, kam Leben in die drin und draußen Versammelten, und der Zug setzte sich in Bewegung. Vorn die von Kantor Graumann geführte Schuljugend, die, wie herkömmlich, den Choral „Jesus meine Zuversicht“ sang; nach ihr erschien der von sechs Trägern getragene Sarg; dann Eccelius und Hradscheck; dahinter die Bauernschaft in schwarzen Ueberröcken und hohen schwarzen Hüten, und endlich all die Neugierigen, die bis dahin das Haus umstanden hatten. Es war ein wunderschöner Tag, frische Herbstluft bei klarblauem Himmel. Aber die würdevoll vor sich hinblickende Dorfhonoratiorenschaft achtete des blauen Himmels nicht, und nur Bauer Mietzel, der noch Heu draußen hatte, das er am andern Tag einfahren wollte, schielte mit halbem Auge hinauf. Da sah er, wie von der andern Oderseite her ein Weih über den Strom kam und auf den Tschechiner Kirchthurm zuflog. Und er stieß den neben ihm gehenden Oelmüller an und sagte: „Süh, Quaas, doa is he wedder.“

„Wihr denn?“

„De Weih. Weetst noch?“

„Nei.“

„Dunn, as dat mit Szulski wihr. Ick segg’ Di, de Weih, de weet wat.“

Als sie so sprachen, bog die Spitze des Zuges auf den Kirchhof ein, an dessen höchster Stelle, dicht neben dem Thurm das Grab gegraben war. Hier setzte man den Sarg auf darüber gelegte Balken, und als sich der Kreis gleich danach geschlossen hatte, trat Eccelius vor, um die Grabrede zu halten. Er rühmte von der Todten, daß sie, den ihr anerzogenen Aberglauben abschüttelnd, nach freier Wahl und eignem Entschluß den Weg des Lichtes gegangen sei, was nur der wissen und bezeugen könne, der ihr so nah gestanden habe wie er. Und wie sie das Licht und die reine Lehre geliebt habe, so habe sie nicht minder das Recht geliebt, was sich zu keiner Zeit schöner und glänzender gezeigt, als in jenen schweren Tagen, die der selig Entschlafenen nach dem Rathschlusse Gottes auferlegt worden seien. Damals, als er ihr nicht ohne Mühe das Zugeständniß erwirkt habe, den, an dem ihr Herz und ihre Seele hing, wiedersehn zu dürfen, wenn auch freilich nur vor Zeugen und auf eine kurze halbe Stunde, da habe sie die wohl jedem hier in der Erinnerung gebliebenen Worte gesprochen: „Nein, nicht jetzt; es ist besser, daß ich warte. Wenn er unschuldig ist, so werd’ ich ihn wiedersehen, früher oder später; wenn er aber schuldig ist, so will ich ihn nicht wiedersehn.“ Er freue sich, daß er diese Worte, hier am Grabe der Heimgegangenen, ihr zu Ruhm und Ehre, wiederholen könne. Ja, sie habe sich allezeit bewährt in ihrem Glauben und ihrem Rechtsgefühl. Aber vor allem auch in ihrer Liebe. Mit Bangen habe sie die Stunden gezählt, in schlaflosen Nächten ihre Kräfte verzehrend, und als endlich die Stunde der Befreiung gekommen sei, da sei sie zusammengebrochen. Sie sei das Opfer arger, damals herrschender Mißverständnisse, das sei zweifellos, und alle die, die diese Mißverständnisse geschürt und genährt hätten, anstatt sie zu beseitigen, die hätten eine schwere Verantwortung auf ihre Seele geladen. Ja, dieser frühe Tod, er müsse das wiederholen, sei das Werk derer, die das Gebot unbeachtet gelassen hätten: „Du sollst nicht falsch Zeugniß reden wider Deinen Nächsten.“

Und als er dieses sagte, sah er scharf nach einem entblätterten Hagebuttenstrauch hinüber, unter dessen rothen Früchten die Jeschke stand und dem Vorgange, wie schon damals in der Kirche, mehr neugierig als verlegen folgte.

Gleich danach aber schloß Eccelius seine Rede, gab einen Wink, den Sarg hinab zu lassen, und sprach dann den Segen. Dann kamen die drei Hände voll Erde, mit sich anschließendem [632] Schmerzblick und Händeschütteln, und ehe noch der am Horizont schwebende Sonnenball völlig unter war, war das Grab geschlossen und mit Asterkränzen überdeckt.

Eine halbe Stunde später, es dämmerte schon, war Eccelius wieder in seiner Studierstube, das Sammetkäpsel auf dem Kopf, das ihm Frau Hradscheck vor gerade Jahresfrist gestickt hatte. Die Bauern aber saßen in der Weinstube, Hradscheck zwischen ihnen, und faßten alles, was sie an Trost zu spenden hatten, in die Worte zusammen: „Immer Kourage, Hradscheck! Der alte Gott lebt noch“ – welchen Trost- und Weisheitssprüchen sich allerlei Wiederverheirathungsgeschichten beinah unmittelbar anschlossen. Eine davon, die beste, handelte von einem alten Hauptmann v. Rohr, der vier Frauen gehabt und beim Hinscheiden jeder Einzelnen mit einer gewissen trotzigen Entschlossenheit gesagt hatte: „Nimmt Gott, so nehm’ ich wieder.“ Hradscheck hörte dem allem ruhig und kopfnickend zu, war aber doch froh, die Tafelrunde heute früher als sonst aufbrechen zu sehn. Er begleitete Kunicke bis an die Ladenthür und stieg dann, er wußte selbst nicht warum, in die Stube hinauf, in der Ursel gestorben war. Hier nahm er Platz an ihrem Bett und starrte vor sich hin, während allerlei Schatten an Wand und Decke vorüberzogen.

Als er eine Viertelstunde so gesessen, verließ er das Zimmer wieder und sah, im Vorübergehen, daß die nach rechts hin gelegene Giebelstube halb offenstand, dieselbe Stube, drin die Verstorbene nach vollendetem Umbau zu wohnen und zu schlafen so bestimmt verweigert hatte.

„Was machst Du hier, Male?“ fragte Hradscheck.

„Wat ick moak? Ick treck em sien Bett öwer.“

„Wem?“

„Is joa wihr ankoamen. Wedder een mit’n Pelz.“

„So, so,“ sagte Hradscheck und stieg die Treppe langsam hinunter.

„Wedder een … wedder een … Immer noch nicht vergessen.“

(Fortsetzung folgt.)

Die Wirbelstürme oder Cyklonen der tropischen Meere.

Eine Seefahrt ist heutzutage eine ganz gewöhnliche Sache. Wie die Postwagen auf einer Landstraße, so fährt der heutige eiserne Dampfer über den Ocean, ununterbrochen, Tag und Nacht arbeitet die gewaltige Maschine und zwingt den Koloß durch Wogen und Wind seinem Ziele entgegen, so daß am Tage, wo er „fällig“, der „Steamer“ auch regelmäßig in Sicht ist. Fast wörtlich gilt dies für die meist befahrenen Routen zwischen Nordamerika und Europa. Von den „Schrecknissen“ des Meeres, die er sich drinnen im Binnenlande so grauenvoll ausgemalt, merkt der Reisende auf unseren transatlantischen Dampfern eigentlich nichts, und selbst wenn es heißt, daß Sturm aufgekommen ist und das Schiff ungewöhnlich stark stampft und rollt, sieht sich das Ganze doch nicht so gefährlich an, wie man daheim geglaubt hat. Auch die Officiere des Schiffes legen auf solchen Sturm wenig Gewicht und erklären auf Befragen wohl dem neugierigen Reisenden, daß nicht sowohl Sturm als vielmehr Nebel ihnen Sorge mache. Nebel und „unsichtiges“ Wetter verlangen weit mehr Opfer an Menschenleben und Schiffen, als die Stürme, das kann so ziemlich Jeder hören, der einmal von Europa nach Nordamerika oder umgekehrt fährt. Wer jedoch hieraus schließen wollte, daß überhaupt die Stürme des Oceans der modernen Schifffahrt nicht eben sehr gefährlich seien, der würde sich sehr irren. Es giebt nämlich Meerestheile, in welchen Orkane von solch zerstörender Gewalt auftreten, daß daneben unsere nordatlantischen Stürme meist sehr harmlos erscheinen.

Glücklicher Weise sind jedoch diese Meerestheile verhältnißmäßig nicht allzu ausgedehnt, und auch das Auftreten jener Orkane ist ein relativ seltenes. Kämen sie so häufig vor wie etwa die Stürme des nordatlantischen Oceans, so wäre ein geordneter Schiffsverkehr in jenen Meerestheilen überhaupt nicht möglich.

Hauptsächlich sind es drei Regionen auf unserer Erde, wo Orkane mit größter Heftigkeit aufzutreten pflegen, nämlich Westindien, der Indische Ocean und die Chinesische See. In Westindien nennt man diese Stürme Hurricane, im Chinesischen Meere Teifune, im südlichen Theile des Indischen Oceans auch bisweilen Mauritius-Orkane nach der gleichnamigen Insel, die häufig von ihnen heimgesucht wird. Von großer Heftigkeit sind ferner die Drehstürme der Bai von Bengalen, doch erscheinen sie dort glücklicher Weise seltener als in der Chinesischen See. Auch das Arabische Meer wird nur bisweilen von ihnen heimgesucht. Nach einer statistischen Zusammenstellung von Blanford sind in den letzten 139 Jahren im Bengalischen Meerbusen 115 Wirbelorkane aufgetreten; in manchen Jahren fehlen sie vollständig, in anderen treten sie häufig auf. Die meisten ereignen sich dort in den Monaten Mai und Oktober. Nach Kapitän A. Schück entfallen von 214 Orkanen, die während 85 Jahren in der Chinesischen See beobachtet wurden, 40 auf den August und 58 auf den September. Auch in Westindien sind diese beiden Monate die bei Weitem sturmreichsten, während im südindischen Ocean die meisten Stürme in den Monaten Januar und Februar eintreten.

All diese Stürme zeigen die charakteristische Eigenthümlichkeit, daß bei ihnen der Wind von allen Seiten her um ein Centrum weht, in welchem das Barometer am tiefsten steht. Früher glaubte man, die Bewegung des Windes um dieses Sturmcentrum sei kreisförmig, und man bezeichnete deßhalb alle diese Orkane mit dem Namen Cyklonen oder Kreiselstürme. Neuere Forschungen haben jedoch gezeigt, daß der Wind in spiralförmigen Bahnen gegen das Sturmcentrum hinweht, und daß dort die herbeiströmende Luft emporsteigt. Je näher man dem Centrum einer Cyklone kommt, um so mehr fällt das Barometer. Unter normalen Verhältnissen beträgt der Luftdruck am Meeresspiegel ungefähr 760 Millimeter, im Centrum der tropischen Orkane sinkt er dagegen bisweilen auf 700 Millimeter. Von einem solchen Sturmcentrum aus steigt nun der Luftdruck nach allen Seiten, in einzelnen Fällen selbst bis zu vier Millimeter pro Meile. Je stärker aber die Luftdruckunterschiede pro Meile sind, um so heftiger weht der Wind, und bei einem Druckunterschiede von vier Millimetern wird er zum Orkane, dem fast nichts zu widerstehen vermag. Die Richtung, in welcher der Wind um das Sturmcentrum läuft, ist auf jeder Erdhalbkugel unveränderlich dieselbe. Man prägt sie sich am besten auf folgende Weise ein. Denkt man sich auf den Punkt, der das Sturmcentrum bezeichnet, eine Uhr gelegt, so läuft der Wind auf der nördlichen Erdhalbkugel um diesen Punkt in einer Richtung, welche der Bewegung des Uhrzeigers entgegengesetzt ist; auf der südlichen Erdhälfte dreht sich dagegen der Wind in der gleichen Richtung wie der Zeiger der Uhr. Das Centrum dieser Sturmbewegung liegt jedoch nicht still, sondern bewegt sich mit dem ganzen Sturmfelde gewöhnlich nach Westen, wobei es sich vom Aequator entfernt und dem nächsten Wendekreise zustrebt. Auf unserer Erdhälfte geht dann der weitere Zug des Sturmes zunächst nach Norden und hierauf nach Nordosten, auf der südlichen nach Süden und später nach Südosten. Zur Verdeutlichung des Gesagten folgen hier zwei nach Müller reproducirte Kärtchen. Fig. 1 stellt die Bahn eines Hurricanes dar, welcher im August 1837 die Bahama-Inseln und einen Theil der südatlantischen Staaten der Union traf. Der große Pfeil bezeichnet den Weg, welchen das Centrum des Sturmes nahm, die kleinen, successive größer werdenden Kreise zeigen durch die Pfeilspitzen an, in welcher Richtung der Wind um das Centrum wehte. Fig. 2 zeigt in ähnlicher Weise die Laufbahn eines Mauritius-Sturmes, der im März 1809 sich ereignete. Man erkennt an dem eingezeichneten Pfeile der drei kleinen Kreise, daß hier die Drehung des Windes um das Centrum umgekehrt ist wie im obigen Falle, weil nämlich der Sturm auf der südlichen Erdhälfte eintrat. In beiden Fällen sieht man aber auch, wie die Kreise des Orkans mit dem Fortschreiten desselben sich allmählich erweitern, also immer ausgedehntere Strecken der Atmosphäre in die wirbelnde Bewegung hineingezogen werden. Gleichzeitig wird indessen auch die Gewalt des Orkans geringer, bis er zuletzt völlig erlischt.

Nachdem wir jetzt flüchtig die allgemeinen Bewegungen der Cyklonen kennen gelernt haben, drängt sich naturgemäß die Frage auf: Woran kann der Seefahrer erkennen, daß ein Wirbelsturm im Herannahen begriffen ist? Ein wichtiges Merkmal haben wir

[633]

Ophelia.
Nach dem Oelgemälde von James Bertrand.

[634] bereits hervorgehoben, nämlich die Abnahme des Luftdruckes. Jedesmal, wenn das Barometer rasch fällt, kann sich der Schiffer auf unruhiges Wetter gefaßt machen und deßhalb ist, besonders in denjenigen Meeren, die von Cyklonen heimgesucht werden, die sorgfältige Beobachtung des Luftdruckes von größter Wichtigkeit. Bisweilen aber kommen die Warnungen des Barometers zu spät, das heißt der Luftdruck fällt plötzlich sehr rasch und der Orkan ist fast unmittelbar da. Dies gilt besonders von den tückischen Teifunen der Chinasee, die bisweilen so plötzlich hereinbrechen, daß der Seefahrer keine Zeit hat Vorkehrungen zu treffen und sein Schiff völlig hilflos ist.

Der erfahrene Seefahrer achtet deßhalb auch auf eine Reihe anderer atmosphärischer Anzeichen. Nach Kapitän Wagner kündigen sich die Teifune der Chinesischen See meist schon einige Zeit vor ihrem Ausbruche durch abnorme Lufterscheinungen an. „Besonders schönes Wetter mit sehr klarer Luft, anhaltende Windstille bei übergroßer Hitze und ein ungewöhnlich hoher Barometerstand bei südwestlichem Wind sind in der Regel sichere Anzeichen eines herannahenden Teifun. Ebenso sind ein auffallend rothgefärbter Himmel, eine in Nordost oder Südost ansteigende dicke Wolkenbank, schnell vorüberfliegende Wolken aus einer von der Windrichtung abweichenden Richtung, ungewöhnliche Bewegung der See, deren Ursachen nicht erklärlich sind, Vorboten der Teifune. Gewöhnlich fängt der Wind dann zwischen Nordwest und Nordost an zu spielen, bis er sich in derjenigen Richtung festsetzt, aus welcher der Orkan losbrechen will. Selten dauert ein Teifun länger als 8 bis 12 Stunden, die meisten sind von kürzerer Dauer.“

Von der zerstörenden Gewalt dieser Teifune weiß besonders die Insel Luzon mit ihrer Hauptstadt Manila zu erzählen, vor allem steht der 20. Oktober 1882 dort in schreckensvoller Erinnerung. Wohl erkannte man auf dem Observatorium, daß der Zerstörer herannahe, und ungesäumt ergingen telegraphische Weisungen nach den hauptsächlichsten Orten der Insel, aber Hilfe konnte dadurch nicht gebracht werden. In wenig Stunden war der Orkan da, als Avantgarde zog ihm eine düstere Staubwolke vorauf, Donner und Blitz, in Begleitung von eiskaltem Regen, folgten. Heulend stürzte die entfesselte Luft auf alles, was ihr im Wege stand. Hunderte von Häusern wurden augenblicklich fortgeblasen, hohe Kirchtürme umgestürzt, alle Vororte Manilas in Schutthaufen verwandelt. In Paranague, einer Stadt von 10 000 Einwohnern, blieb kein Haus verschont, in der Stadt Narotas stürzte die Gendarmeriekaserne zusammen und die Straßen waren später nur an den Trümmern der Häuser erkennbar. Aehnlich war die Verwüstung in vielen andern Städten. In der Provinz Laguna wurde die Hälfte der Kaffee- und Zuckerplantagen vernichtet, der Jammer und das Elend der Bevölkerung spotteten jeder Schilderung.

Zu den furchtbarsten Wirbelstürmen gehört die Cyklone, welche in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November 1876 das Mündungsgebiet des Ganges verheerte und eine Sturmwelle erzeugte, welche jene flachen Regionen vollständig überfluthete und 100 000 Menschen das Leben kostete. Für die Bewohner jener Gegend ging kaum ein Anzeichen dem schrecklichen Ereignisse vorauf, obgleich schon einige Tage vorher im südlichen Theile des Bengalischen Meerbusens unruhiges Wetter mit Regenböen sich eingestellt hatte. Am Mittag des 30. Oktober lag das Centrum des Sturmfeldes unter 14° nördlicher Breite und bewegte sich langsam nordwärts; am 1. November 3 Uhr früh erreichte es die Inseln des Megna, welches der Unterlauf des Brahmaputra und der mit ihm vereinigten Gangesarme ist. Am Abend des 31. Oktober begab sich die Bevölkerung jener flachen Gegend ahnungslos zur Ruhe, aber um 11 Uhr kamen heftige Windstöße auf und um Mitternacht ertönte der Schreckensruf: „Das Wasser ist da!“ Drei hohe Wogen hinter einander brachen über das Land herein und in wenig Augenblicken war das Schreckliche geschehen. Wären nicht die leichten aus Zweigen und Matten errichteten Wohnungen meist von einem Walle hoher und dicht stehender Bäume umgeben, so hätte die gesammte Bevölkerung in den Fluthen ihren Untergang gefunden, so aber wurden zahllose Menschen vom Wasser in die Wipfel der Bäume getragen, wo sie sich aufhielten, bis die Wogen wieder zurücktraten. Der Orkan selbst war von furchtbarer Wuth, besonders im nördlichen Theil der Bai von Bengalen. Himmel und Meer schienen in einander zu verschwimmen, nicht Regentropfen, sondern völlige Wasserströme stürzten aus den Wolken herab und vermischten sich mit den wüthenden Wogen der See, dazwischen heulte der Wind in tausend schreckensvollen Tönen. Nachdem die Cyklone auf das Festland übergetreten war, verminderte sich ihre Geschwindigkeit und nordwärts fortschreitend wurde sie am Abend des 1. November von den Tipperah-Hügeln vollständig zerstreut und aufgelöst. Die Luftsäule, welche den furchtbaren Wirbel bildete, scheint also nicht über 3000 Fuß Höhe gehabt zu haben. Auch bei andern Wirbelstürmen hat sich herausgestellt, daß dieselben sich lediglich auf die unteren Schichten der Atmosphäre beschränken, die hohen Regionen der Luft dagegen gar nicht von ihnen berührt werden.

Wenden wir uns jetzt nach Westindien, so finden wir, daß dort die Hurricane in ihren verheerenden Wirkungen den Teifunen nicht nachstehen. Am 10. Oktober 1780 vernichtete ein solcher Orkan sogar die unter Sir Rodney’s Befehl segelnde englische Flotte vollständig. Auf der Insel Martinique kamen 9000 Menschen um, auf Santa Lucia 6000, die stärksten Gebäude wurden bis auf die Fundamente zerstört und die Kanonen von den Wällen geschleudert.

Eine Schilderung des Orkans vom 10. und 11. August 1831, welcher die Insel Barbados verwüstete, hat Reid gegeben. Hiernach war an jenem Abend um sieben Uhr ruhiges, heiteres Wetter. Gegen neun Uhr erhob sich ein Nordwind, eine halbe Stunde später sah man Blitze, um Mitternacht wurden diese furchtbar und der Wind wehte mit stürmischer Gewalt aus Nord und Nordost. Um ein Uhr Morgens wuchs die Gewalt des Sturmes, und sein Heulen wurde derart, daß es keine Sprache zu beschreiben vermag. Oberstlieutenant Nicles, Befehlshaber des 36. Regiments, hatte unter einem Fensterbogen des untern Stockwerkes straßenwärts Schutz gesucht und hörte wegen des Sturmes nicht das Einstürzen des Daches und des oberen Stockwerkes. Um drei Uhr nahm der Wind ab und sein Brüllen sank zu einem majestätischen Gemurmel herab. Bald aber brach der Orkan von Westen aufs Neue mit unbeschreiblicher Gewalt hervor. „Die festesten Gebäude erbebten in ihren Grundmauern, ja die Erde selbst zitterte, als der Zerstörer über sie hinwegschritt. Kein Donner war zu hören, denn das gräßliche Geheul des Windes, das Brausen des Oceans, das Gerassel der Ziegel, das Zusammenstürzen der Dächer und Mauern und die Vereinigung von tausend andern Tönen bildeten ein Entsetzen erregendes Geräusch.“ Gegen fünf Uhr ließ der Sturm nach und um neun Uhr war schönes Wetter. Aber auf welches Bild des Grausens schien die Sonne herab! „Vom Thurme der Kathedrale,“ sagt der Berichterstatter, „hatte man den Anblick einer Wüste. Keine Spur mehr von Vegetation. Der Boden sah aus, als wenn Feuer durch das Land gegangen wäre. Die zahlreichen Landsitze in der Umgebung, früher von dichten Gebüschen beschattet, lagen nun frei in Trümmern.“ Was mag sich in dieser Schreckensnacht auf der offenen See, auf den Schiffen, deren Unstern sie in die Fänge des Orkans geführt, ereignet haben! Niemand weiß es, der Ocean ist ein unermeßliches, stummes Grab. Nach den Beobachtungen von Viñes gilt auch für Westindien die Thatsache, daß ein ungewöhnliches Steigen des Barometers bei anhaltend klarem Himmel und merkwürdig durchsichtiger Luft das früheste Merkmal ist, welches andeutet, daß in der Ferne ein Orkan vorhanden. Rückt derselbe näher, so beginnt das Barometer zu fallen, und der bis dahin heitere Himmel überzieht sich mit einem zarten Schleier, der allmählich dichter wird und Ringe um Sonne und Mond erzeugt. Bei Auf- und Untergang der Sonne färbt sich der Himmel dunkel feuerroth und violett, die Dämmerung wird verlängert und sobald der Wolkenschleier dichter geworden, scheint das ganze Firmament in Flammen zu stehen. Diese bald der dunklen Rothgluth eines Metalls, bald der Ziegel- oder Kupferfarbe verglichenen Beleuchtungen sollen einen so eigenartigen Charakter haben, daß sie von Keinem, der sie einmal gesehen hat, übersehen oder mit gewöhnlichem Abendroth verwechselt werden können. Dann treten leichte Federwolken auf, die Trübung nimmt zu, und die Luft wird nunmehr feuchtschwül. Der Schweiß verdunstet nicht, und eine allgemeine Ermattung befällt den Menschen. Von ferne erblickt man das herankommende Gebiet des Orkans als Wolkenwand, die, vom Meere gesehen, zuerst den Eindruck einer fernen Küste macht. Sie hebt sich mehr und mehr über den Horizont, ohne sich jedoch von diesem zu trennen.

Unter gewissen Umständen kann man die Wolkenbank eines in der Ferne vorbeiziehenden Orkans längere Zeit hindurch verfolgen. So sah der Beobachter von Trinidad auf Cuba die Wolkenmasse [635] des Orkans vom Oktober 1876 volle fünf Tage lang, wie sie sich von Süden durch Westen nach Norden längs des Horizonts vorschob, während sonst der Himmel meist heiter war. Steigt nun die Wolkenbank mit Annäherung des Orkans höher, so löst sich ihr bis dahin scheinbar kompakter Rand in einzelne Regenwolken auf, die rasch über den Scheitelpunkt hinwegeilen und dabei Sprühregen, Schauer und Böen bringen. Im äußeren Theile des Orkans, sagt Niñes, regnet es oft stundenlang fein und dicht, dann kommen häufiger starke Schauer mit zunehmend heftigen Böen, die Wolken werden finsterer und hängen tiefer herab, und nahe beim Centrum des Orkans stürzt der Regen zuletzt fast in zusammenhängenden Massen herab, die oft Ueberschwemmungen erzeugen. Geht das Centrum selbst über den Beobachtungsort hinweg, so zeigt die dicke Wolkenmasse eine Oeffnung, durch die in der Nacht Sterne sichtbar sind. Bei allen Wirbelstürmen herrscht im Centrum fast Windstille, aber nachdem es weitergeschritten, bricht der Orkan aus entgegengesetzter Richtung mit erneuerter Wuth hervor, bis sich seine Kreise von dem Beobachtungsorte entfernen.

Fig. 1.0 Die Bahn eines Hurricans.

Betrachten wir jetzt nochmals unsere Fig. 1. Wir sehen hier das Centrum des Orkans in der Richtung des großen Pfeiles einen Bogen beschreiben, während gleichzeitig die Luft als Sturm in der durch die Pfeilspitzen der vier kleinen Kreise angezeigten Richtung rotirt. Nehmen wir nun an, ein Schiff befinde sich im Bereiche dieser Kreise, so genügt eine kurze Ueberlegung, um einzusehen, daß die Gefahr für dieses Schiff in den einzelnen Theilen des Orkans eine sehr ungleiche ist. Am gefährlichsten ist die Lage auf der Vorderseite des Wirbels am inneren Theile der Krümmung der Sturmbahn, ungefähr da, wo in den kleinen Kreisen die Pfeilspitzen gezeichnet sind. Dasselbe gilt auch für die Orkane der südlichen Erdhälfte, wovon Fig. 2 ein Beispiel vorführt.

Fig. 2.0 Die Bahn eines Mauritiussturmes.

Man sieht nämlich leicht, daß ein Schiff dort sich mehr und mehr dem Sturmcentrum nähern muß. Es bleibt also nicht nur länger in den Kreisen des Orkans, sondern wird auch den heftigsten Windstößen ausgesetzt, im Centrum selbst aber ein Spielball der Wogen sein, die dort aus allen Richtungen durch einander rollen. Der erfahrene Seemann muß deßhalb unter allen Umständen versuchen, vom Centrum des Orkans abzukommen, überhaupt den sogenannten „gefährlichen Halbkreis“ an der innern Seite der Sturmbahn zu vermeiden. Um dies thun zu können, ist vor allen Dingen erforderlich, daß der Seefahrer weiß, in welcher Richtung das Sturmcentrum liegt. Wenn wir voraussetzen, daß der Wind in Kreisen um dieses Centrum weht, so ist es nicht schwer, dessen Lage zu erkennen, man braucht nur dem Winde den Rücken zu drehen, so liegt auf unserer Erdhälfte der Mittelpunkt der Cyklone genau links vom Beobachter, auf der südlichen rechts. Auch über die Annäherung oder Entfernung des Centrums kann sich der Schiffer orientiren. Je näher dasselbe herankommt, um so mehr fällt das Barometer, und gleichzeitig dreht auf der rechten Seite des Wirbels der Wind von Südost durch Süd gegen Südwest, auf der linken Seite von Nordost durch Nord nach Nordwest.

Nehmen wir jetzt, unsere Figur 2 zu Grunde legend, an, ein Schiff befinde sich östlich von der Insel Madagaskar und wolle den Indischen Ocean durchqueren. Das Fallen des Barometers verbunden mit dem Aussehen des Himmels lassen den Führer erkennen, daß eine Cyklone herannaht. Er beachtet nun sehr sorgfältig den Wind und bemerkt, daß derselbe in starken Böen aus Südost einsetzt und mit fallendem Barometer allmählich gegen Süd dreht. Unter diesen Umständen kann kein Zweifel mehr sein, daß das Sturmcentrum dem Schiff näher kommt, aber noch östlich von ihm liegt. Würde daher der Führer des Schiffs versuchen seinen östlichen Kurs fortzusetzen, so würde er geradezu dem Sturme in den Rachen laufen und aus dem sogenannten „handlichen“ in den gefährlichen Halbkreis des Orkans gerathen. Seine Position ist dagegen selbst eine relativ günstige, indem er bequem nach Nord und Nordwest ausweichen kann.

Befände sich das Schiff dagegen östlich von der Sturmbahn auf der Route nach der Südspitze von Madagaskar, so wäre seine Lage eine viel schlimmere. Dem Kapitän bliebe dann wenig anderes übrig, als den Versuch zu wagen, zu „lenzen“, das heißt vor dem Winde zu laufen, um die Bahn der Cyklone zu passiren, ehe das Centrum herankommt, oder auf Backbordhalsen beizudrehen, das heißt den Sturm auszuhalten, wobei der Wind von links her über das Schiff weht. Unter der obigen Voraussetzung einer genau kreisformigen Bahn der wirbelnden Luft um das Orkancentrum hat man schon vor einem Vierteljahrhundert specielle Tabellen für den praktischen Seemann aufgestellt, nach denen er bei jeder möglichen Lage eines Wirbelsturmes zu manövriren hat. Diese speciellen Tabellen sind jedoch verwerflich, denn wie wir heute wissen, weht der Wind durchaus nicht in kreisförmiger Bahn um das Centrum, sondern die Luft strömt in Spiralen diesem entgegen, ja in mehreren Fällen wehte der Sturm geradezu in das Centrum hinein. Natürlich ist es dem Schiffsführer ganz unmöglich darüber klar zu werden, wie groß in einem gegebenen Falle die Abweichung der wahren Bahn des Windes um das Centrum von der kreisförmigen ist, er wird sich daher der oben bezeichneten Bequemlichkeitstabellen nicht bedienen dürfen. Ueberhaupt kann man nicht nachdrücklich genug betonen, daß es nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft nicht erlaubt ist, specielle Vorschriften für die Navigirung in Cyklonen aufzustellen. Nur allgemeine, auf dem durchschnittlichen Charakter der Luftbewegung und der Bahn dieser Stürme beruhende Ausführungen, nach Art derjenigen, welche im Vorhergehenden gegeben wurden, können die Grundlage bilden, auf der sich das Urtheil des Kapitäns aufbaut, wie er im gegebenen Fall zu steuern hat.

Auch über die Entstehungsweise der Cyklone ist die Wissenschaft noch nicht zu festen Ergebnissen gelangt. Sicher ist, daß im Centrum dieser Orkane eine lebhaft aufsteigende Luftströmung stattfindet; ist diese einmal eingeleitet, so wird die rings herumlagernde Luft gewissermaßen eingeschlürft, sie steigt empor und ihre Feuchtigkeit stürzt in Gestalt von Regen herab. Daß der Vorgang nicht so bald ein Ende findet, dafür sorgt die Umdrehung der Erde, denn sie ist es, welche die Wirbelbewegung verursacht.

Wie wir gesehen haben, sind manche Erscheinungen, welche die Stürme darbieten, noch unklar, ja wichtige Fragen kaum erst erörtert. Dennoch darf man im Rückblick auf das schon Gewonnene sagen, daß die Wissenschaft von heute auch bereits das Dunkel der Sturmnächte erhellt und dem Schiffer im Kampfe mit Wind und Wellen ein wichtiger Führer geworden ist.[1] Dr. Klein.     


  1. Eine Anfangs Juni im Golf von Aden aufgetretene Cyklone ist es wohl auch gewesen, welche das bis jetzt vermißte deutsche Kriegsschiff „Augusta“ heimgesucht hat. Nach einem in der Weserzeitung erschienenen Berichte des deutschen Frachtdampfers „Donar“, welcher der Bahn des Orkans in größerm Abstand vom Centrum nahe kam, scheint es, daß die „Augusta“ wahrscheinlich 100 Seemeilen östlich von Perim, von dem Wirbelsturme ereilt wurde. Ob das Kriegsschiff darin seinen Untergang fand oder nicht, entzieht sich Mitte September, wo wir diese Zeilen niederschreiben, jeder Beurtheilung; vielleicht hat das Schiff nur an der Maschine schwere Havarie erlitten und der Kommandant den Versuch gemacht, die Reise unter Segel fortzusetzen; doch ist die Wahrscheinlichkeit dieser Annahme, offen gesagt, nur gering.

[636]

Friedrich Friesen.

Ein Gedenkblatt zu seinem hundertsten Geburtstag.
Von Prof. Dr. C. Euler.

Die gewaltigen Ereignisse der letzten Jahrzehnte, welche Deutschland eine so ruhmvolle Stellung unter den europäischen Staaten gegeben haben, dürfen doch nicht die Jahre vergessen lassen, in denen die Deutschen sich von dem Joche, das ihnen ein übermächtiger und übermüthiger Eroberer auferlegt hatte, mit unsäglichen Opfern wieder befreiten. So ist jede Gelegenheit willkommen zu heißen, welche jene Zeit wieder in Erinnerung bringt. Eine solche bietet der 27. September. Er ist der hundertste Geburtstag einer lichten Erscheinung, die noch in unsere Tage herüberleuchtet, der von Karl Friedrich Friesen. Nicht genug wissen ihn die Zeitgenossen zu loben; nicht allein die Jugend hing an ihm mit wahrhaft schwärmerischer Verehrung, auch ernste Männer schätzten ihn, die gefeiertsten Dichter der Befreiungskriege, wie E. M. Arndt und Max von Schenkendorf, haben ihn besungen. Das schönste Denkmal aber hat ihm Friedrich Ludwig Jahn in seiner „Deutschen Turnkunst“ gesetzt in jenen so oft angeführten Worten: „Friesen war ein aufblühender Mann in Jugendfülle und Jugendschöne, an Leib und Seele ohne Fehl, voll Unschuld und Weisheit, beredt wie ein Seher; eine Siegfriedgestalt, von großen Gaben und Gnaden, den Jung und Alt gleich lieb hatte; ein Meister des Schwertes auf Hieb und Stoß, kurz, rasch, fest, fein, gewaltig und nicht zu ermüden, wenn seine Hand erst das Eisen faßte; ein kühner Schwimmer, dem kein deutscher Strom zu breit und zu reißend; ein reisiger Reiter, in allen Sätteln gerecht, ein Sinner in der Turnkunst, die ihm viel verdankt.

Wie Scharnhorst unter den Alten, ist Friesen von der Jugend der Größeste aller Gebliebenen.“

Auch Max von Schenkendorf hat Friesen neben Scharnhorst gestellt; Major von Lützow hat geäußert, daß an Friesen durch seinen Tod das Vaterland in jeder Beziehung am meisten verloren habe. In Friesen's, des Freundes Armen hat Theodor Körner die letzten Seufzer ausgehaucht. Wilhelm Harnisch weiß in Friesen den seine eigenen Pfade findenden Lehrer, Alexander von Humboldt in ihm den angehenden Gelehrten, den „talentvollen Mitarbeiter“ an seinem großen Reisewerke nicht genug zu loben. Stein, Hardenberg, Scharnhorst würdigten ihn ihres Vertrauens. Noch in späteren Jahren rühmten ihn General von Hüser und Andere. Und, was nicht das Geringste, Napoleon beehrte ihn mit gleichem Haß wie Jahn und Theodor Körner.

Der Friesenhügel in der Hasenheide.
Originalzeichnung von H. Petzet.

Wir wissen nur wenig aus dem äußeren Leben Friedrich Friesen’s, es ist in den Zeitereignissen aufgegangen, ohne hervorragende äußere Thaten verflossen; er hat keine Werke hinterlassen, welche seinen Namen auf die Nachwelt bringen konnten. Am meisten wissen wir wunderbarer Weise von seinem Schicksale nach dem Tode! Eine kurze Lebensskizze möge das erweisen.[1]

In Magdeburg am 27. September 1785 geboren, verlor Friedrich Friesen in früher Jugend den Vater und zog 1805 (oder 1806) mit der Mutter nach Berlin, um das Baufach zu studiren. Fichte’s Reden an die deutsche Nation im Winter 1807 auf 1808 bewogen ihn aber, sich der Erziehung der Jugend zu widmen, er wurde Lehrer an der nach Pestalozzi’s Grundsätzen 1805 in Berlin errichteten Erziehungsanstalt des Dr. Plamann und bald deren „Hauptträger“, zugleich mit Fr. L. Jahn und W. Harnisch, die ebenfalls an jener Anstalt wirkten, einen innigen Freundschaftsbund schließend. An Jahn’s turnerischen Bestrebungen nahm er eifrigen Antheil und bildete das deutsche Hieb- und Stoßfechten selbständig aus. Sein Unterricht hielt ihn aber nicht ab von anderweitiger Thätigkeit. Allen patriotischen, die Befreiung des Vaterlandes bezweckenden Bestrebungen stand er nahe. Er stiftete mit Jahn, Harnisch und Anderen 1810 den deutschen Bund, trat in Beziehung zu Justus Gruner und Stein und wirkte auf die Begründung der deutschen Burschenschaft in Berlin ein. Als Preußen sich gegen Napoleon erhob, traten Friesen und Jahn als die Ersten in das Lützow’sche Freikorps ein und Ersterer wurde später Lützow’s Adjutant. Als solcher begleitete er denselben nach Frankreich zu Anfang des Jahres 1814 und nahm an dessen Zug in die Ardennen Theil. Am 12. März wurde das Korps des Generals Priest von Napoleon geschlagen und die Arrière-garde, bei der sich Lützow mit seinen Reitern befand, aus einander gesprengt; sie löste sich in einzelne Haufen auf. Einer dieser Haufen wurde von bewaffneten Bauern, die Napoleon aufgeboten hatte, angegriffen; Friesen, der, getrennt von seinem Chef, sich bei demselben befand, fiel in die Hände der Feinde und wurde bei La Lobbe am 15. März im Handgemenge erschossen. Ueber den Ort und die Einzelheiten des Todes sollte erst die spätere Zeit Licht verbreiten.

Friesen’s Tod, an dem nicht zu zweifeln war, erregte in allen Kreisen den größten Schmerz. Am meisten ergriffen aber war Friesen’s Waffengefährte August von Vietinghoff. Vor dem Abmarsche nach Frankreich hatten er und Friesen sich gegenseitig das „Angelöbniß“ gegeben: wenn Einer von Beiden in Frankreich fallen sollte, „seine Gebeine dem wälschen Boden zu entreißen“.

Vietinghoff bemühte sich sofort nach dem Bekanntwerden von Friesen’s Tode um die Auffindung seines Grabes. Erst 1816, als er zum vierten Mal in Frankreich bei den deutschen Okkupationstruppen im Ardennen-Departement stand, führte ihn die zufällige Auffindung des Dienstsiegels der Lützower auf die richtige Spur. Er erfuhr den Ort, wo Friesen, den nach seinem Tode die Feinde nackt hatten liegen lassen, beerdigt worden war. Es war La Lobbe, dessen Maire, von dem Tode des preußischen Officiers in Kenntniß gesetzt, den Leichnam, den er wegen seiner Schönheit für den eines vornehmen Deutschen hielt, ehrenvoll mit kirchlicher Weihe hatte bestatten lassen. Ueber alle Einzelheiten war damals auch ein genaues Protokoll aufgenommen worden. So gelangte Vietinghoff in den Besitz der Gebeine des Freundes, die er an untrüglichen Zeichen erkannte. Mit heißen Thränen benetzte er und küßte den „wahrhaft königlichen Schädel“.

Vietinghoff’s Wunsch war, daß Friesen unter einem Malhügel auf dem Turnplatz in der Hasenhaide bei Berlin bestattet werden möge. Das war auch der heiße Wunsch Jahn’s. Die Ankunft der Gebeine erwartend, ließ er den Malhügel von seinen Turnern 1817 errichten. Die Gebeine kamen aber nicht, es traten inzwischen andere Zeiten ein, nach Jahn’s Verhaftung 1819 wurde der Turnplatz geschlossen, und als er wieder eröffnet wurde, geschah es an einer andern Stelle. Der alte Platz diente militärischen Zwecken.

Sechsundzwanzig Jahre führte Vietinghoff die Gebeine des verstorbenen Freundes als seine „heiligsten Besitzthümer“ mit sich, bis ihnen endlich auf Vietinghoff’s Gesuch König Friedrich Wilhelm IV. eine „feierliche, aber stille“ Beerdigung neben Scharnhorst auf dem Invalidenkirchhof zu Berlin bewilligte. Die Gebeine wurden nun vom Stabsarzt Dr. Schotte kunstvoll zusammengesetzt, in einen Sarg gelegt; die ehemalige Gattin Lützow’s, Gräfin Elise von Ahlefeldt und andere Fraunen schmückten den Schädel mit einem Lorbeerkranz und die übrigen Gebeine mit Blumen, und so geschah die Beerdigung am 15. März 1843 im Beisein der ehemaligen Freunde und alten Waffengefährten Friesen’s. Auf dem Grabe ließ das Kriegs-Ministerium ein Eisernes Krenz mit den betreffenden Inschriften errichten.

Der Friesen–Hügel, außerhalb des jetzigen Turnplatzes in der Hasenhaide, den Jahn’s Denkmal schmückt, gelegen, ist in neuer Zeit wieder hergestellt und gepflegt worden. Die für den 27. September in Berlin geplante Feier wird zum Theil an demselben stattfinden. Die Vaterstadt Magdeburg bereitet für Friesen ebenfalls eine würdige Feier vor.


  1. Eine ausführlichere Lebensbeschreibung Friesen’s ist von dem Verfasser dieses Aufsatzes bei Karl Schmidt in Berlin erschienen.

[637]

Ein Weltereigniß.

Zu Anfang des September brachten die Tagesblätter die Nachricht, daß in dem Nebel der Andromeda eine merkwürdige Veränderung eingetreten sei. Wer den astronomischen Forschungen der neueren Zeit nicht ganz fremd geblieben ist, wußte sogleich, daß diese Veränderung in einem Nebelflecke ein überaus wichtiges himmlisches Ereigniß ist. Natürlich sind die Beobachtungen heute noch durchaus nicht abgeschlossen, ja sie haben kaum erst begonnen, doch möge bei dem allgemeinen Interesse, das der Gegenstand hat, und da in den Tagesblättern vielfach sehr irrige Ansichten laut geworden sind, hier kurz ausgeführt werden, was es mit der Erscheinung für eine Bewandtniß hat. Der Nebelfleck in der Andromeda ist dem bloßen Auge als ein mattes Sternchen oder Lichtwölkchen bemerkbar, und er war den Arabern schon vor fast 800 Jahren bekannt. Im Abendlande entdeckte ihn Simon Marius am 15. December 1612 mit Hilfe des kurz vorher erfundenen Fernrohres und beschreibt ihn als einen nebligen Stern, der ungefähr so aussehe wie ein Licht, das durch eine halb durchsichtige Hornplatte schimmert. Wer ein mäßiges Fernrohr besitzt, kann den Nebelfleck ohne Schwierigkeit aufsuchen, und er wird ihn dann als hellen, mehr oder weniger verwaschenen Schimmer erkennen. In einem großen Fernrohre zeigt sich der Nebel bei klarer Luft viel deutlicher. Die nebenstehende Abbildung giebt eine Vorstellung desselben. Man sieht in der Mitte des Nebels einen hellen Kern und schräg darunter denn neuen Stern. Mit Recht wird derselbe als neuer Stern bezeichnet, denn man hat früher niemals auch nur die Spur eines Sterns an diesen Orte gesehen. Erst im letzten Drittel des August tauchte dieses Gestirn auf und wurde nahezu gleichzeitig an mehreren Orten beobachtet. Der Stern ist nicht gar hell, mit bloßem Auge kann man ihn kaum sehen und im Fernrohre erscheint er von ruhigem, etwas gelblichem Lichte, die umgebenden Nebelpartien überstrahlend.

Um zu verstehen, was es mit diesem Sterne auf sich hat, müssen wir uns zuerst die Stellung der kosmischen Nebelflecke klar machen. Diese Nebelflecke befinden sich durchgängig in so großen Entfernungen von uns, daß ein Begreifen derselben völlig unmöglich ist. Wir wissen, daß der Lichtstrahl sich so schnell durch den Raum bewegt, daß er die Reise um den Erdball achtmal in einer Sekunde zurücklegen könnte und in etwas mehr als acht Minuten von der Sonne zur Erde gelangt. Nach Herschel’s Schätzungen würde dieser Lichtstrahl aber mehrere tausend Jahre brauchen, um von den nächsten Nebelflecken zur Erde zu gelangen. Ein sinnliches Erfassen dieser ungeheuren Entfernungen ist natürlich völlig unmöglich. Andrerseits aber wird es einleuchtend, daß jene Nebelflecke, die aus so unermeßlichen Fernen zu uns herüberschimmern, in ihrer Heimath ganz ungeheure Gebilde sein müssen, die an Größe, das heißt an Ausdehnung, nicht nur unsere Erde oder die Sonne, sondern vielmehr unser ganzes Sonnensystem bedeutend übertreffen.

Der Nebelfleck in der Andromeda mit dem neuen Stern,
gesehen in einem sehr großen Fernglase.

Würde unsere Erde in die Entfernung des Andromedanebels gerückt, so könnte sie auch mit den stärksten Teleskopen gar nicht mehr gesehen werden und die Sonne würde aus dieser Entfernung sich nur als ein schwaches Lichtpünktchen präsentiren, wie Tausend ähnliche um jenen Nebelfleck herumstehen. Wir haben also in den Nebelflecken Weltkörper von ganz anderer Art und Beschaffenheit vor uns, als die Sonne oder unsere Erde. Der große Himmelsbeobachter Fr. Wilh. Herschel hat es zuerst unternommen, die Natur und Weltstellung der Nebelflecke zu studiren, und seine Schlüsse haben sich in den späteren Forschungen mittels des Spektroskop wunderbar bewährt. Herschel erkannte die Nebelflecken theils als Haufen zahlloser Sonnen, die selbst im Fernrohr einzeln nicht mehr wahrgenomnnen werden können, theils als leuchtenden Weltdunst, als die Keime neuer Welten. Er kam zu diesen Ergebnissen durch sorgfältige Vergleichungen der Gestaltung vieler tausend Nebelflecke, die er am Himmel auffand, und konnte auf diese Weise eine Reihe von Uebergängen aufweisen vom unkondensirten, matten Dunste im Weltraume bis zu den leuchtenden Fixsternen, die noch eine Spur von nebliger Atmosphäre um sich haben. Natürlich können wir Menschen nicht hoffen, diesen Vorgang der einzelnen Bildungen an einem und demselben Nebel in allen Phasen zu verfolgen, weil eben jeder solcher Nebel ein Weltkörper ist, der zu seiner Entwickelung Zeiträume gebraucht, neben denen die Dauer unserer Erde vielleicht nur verschwindend kurz erscheint. Hier stehen wir geradezu vor dem Unermeßlichen in Zeit und Raum, und nur die Wissenschaft ist im Stande, den Blick vorwärts und rückwärts zu lenken in Zeiten, da die Erde noch nicht war, und auf zukünftige Tage, wo sie nicht mehr sein wird.

Eine uns merkliche Aenderung im Aussehen eines kosmischen Nebels ist also ein Ereigniß, das an und für sich höchst selten und von größter Wichtigkeit ist. Was speziell den Nebel in der Andromeda anbelangt, so hat das Spektroskop wahrscheinlich gemacht, daß dessen centraler Theil aus einer Ansammlung von Sternen oder fixsternähnlichen Bällen besteht, die von einen ungeheuren flachen Ringe sehr feinen kosmischen Nebels umhüllt sind. Diesen Ring sehen wir schräg von der Seite, weßhalb er sich für uns spindelförmig darstellt. Wenn nun in dem centralen Theile dieses Nebels plötzlich ein heller Stern auftaucht, wie es jetzt geschehen ist, so giebt es dafür nur zwei Deutungen: entweder hat sich der Nebel an einer Stelle plötzlich verdichtet und dadurch ein sternartiges Aussehen angenommen, oder es sind mehrere sternartige Bälle zusammengetroffen und durch die ungeheure Wucht des Anpralls in den Zustand so hoher Gluth gerathen, daß sie weit hinaus durch den Weltraum sichtbar wird. Ein Mittel, zwischen diesen Möglichkeiten zu entscheiden, bietet das Spektroskop.

Dasselbe zeigt nämlich, daß das Licht der wirklichen Nebelflecke aus einigen hellen Linien besteht, welche meist auf glühenden Stick- und Wasserstoff hindeuten. Das Licht der gewöhnlichen Fixsterne zeigt dagegen im Spektroskop ein farbiges Band wie dasjenige unserer Sonne. Die spektroskopische Untersuchung des neuen Sterns in der Andromeda hat aber erst begonnen, denn sie ist mit sehr großen Schwierigkeiten verknüpft. Die bisherigen Beobachtungen ergeben, daß das Spektrum sich als farbiges Band darstellt, doch ist dasselbe sehr schwach und die Deutung schwierig. Bestätigt sich dies in der Folge, so haben wir in dem neuen Stern einen wirklichen Fixstern oder auch eine Vereinignung mehrerer zu einem größeren, hellleuchtenden Körper vor uns, oder mit anderen Worten, es hat sich dort oben ein Vorgang abgespielt, der in Wahrheit eine Weltkatastrophe ist. Und nun zum Schluß noch eine Bemerkung. Es wurde hervorgehoben, daß das Licht von den Nebelflecken Tausende von Jahren gebraucht, ehe es den Weg bis zur Erde zurücklegt. Daraus folgt sogleich, daß das Ereigniß, welches wir seit August am Himmel wahrnehmen, nicht erst heute vor sich ging, sondern Jahrtausende früher, vielleicht zur Zeit der Gründung Roms oder der Perserkriege. Der Bote jenes Ereignisses, nämlich das Licht, obgleich es mit der Schnelligkeit des elektrischen Telegraphen zur Erde niedersaust, ist aber erst heute angelangt und bringt uns die Kunde von der in grauer Vorzeit eingetretenen Weltkatastrophe in dem Andromedanebel! ***      


Zacharula.

Von N. A. Guthmann.

So oft ich durch eine besonders kinderreiche Straße der Hauptstadt gehe, fällt mir immer Gallipoli ein; in meinem ganzen Leben habe ich nirgends so viele kleine Kinder gesehen, als in dieser am Hellespont gelegenen kleinen und betriebsamen Stadt, deren Einwohnerschaft zum größten Theile aus Griechen besteht. Unter den Frauen der letzteren findet man viele schöne Gestalten, manche, der man nicht glauben würde, wenn sie berichten wollte, daß sie die Mutter einer ganzen Schar kleiner Menschen ist. Eine der schönsten Frauen, die ich dort kennen lernte, stellte mir stolz zwölf lebende Töchter vor und setzte bedauernd hinzu: „Drei sind leider gestorben.“ Und sie selbst, diese Mutter, glich in ihrem Aussehen einer ältesten Schwester ihrer Töchter.

An dieses schöne Weib erinnert mich der anmuthige Mädchenkopf, der mich aus dem bekränzten Rahmen über meinem Schreibtische anlächelt, meine Gedanken führen mich in die sonnigen Stunden von damals, und es überkommt mich der unwiderstehliche Trieb, meine Akten bei Seite zu werfen und von ihr zu erzählen. Willst Du mir zuhören, anmuthige Leserin?

Damals gehörte ich dem diplomatischen Dienste an; Schwierigkeiten, die sich zwischen unserem Konsul in Gallipoli und dem dortigen Kaimakam erhoben hatten, veranlaßten meinen Chef, mich aus der türkischen Hauptstadt zur Untersuchung und Ordnung der Angelegenheit zu entsenden. Die Umstände, unter denen das geschah, ließen es nicht als zweckmäßig erscheinen, daß ich im Hause des Konsuls meine Wohnung nähme und so quartierte ich mich bei einer griechischen Wittwe ein, die sich mit dem Färben bunter Kopftücher ihren bescheidenen Lebensunterhalt erwarb. Eine Anzahl junger Mädchen war Tags über bei ihr beschäftigt, theils um die einfache Manipulation zu erlernen, theils zur Aushilfe; so oft ich freie Zeit hatte und gut aufgelegt war, setzte ich mich zu dem munteren Völkchen und amüsirte sie und mich mit dem Versuche, von ihnen Neugriechisch, oder wie sie es nannten: [638] Nomäisch zu erlernen. Welch herzliches Gelächter, welche andauernde Heiterkeit erregten meine oft mit Absicht ungeschickten Versuche, die mir vorgesprochenen Worte zu Sätzen umzubilden, wie glücklich funkelten die Augen über harmlose Schmeicheleien, die ich den Naiven sagte, wie unbändig konnten sie über kleine Scherze lachen, und wie flink und graziös sprangen sie bei ihrer Arbeit hin und her, daß ihnen die schwarzen Zöpfe nur so um die Schultern tanzten!

Eines Tages kam ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft zu Besuch; ein reizendes Geschöpf, mit schüchternen braunen Augen, Grübchen in Kinn und Wangen, einem Munde, roth wie die Koralle, und einer Haut, weiß wie Perlmutter; durchsichtig zart, blaß, und doch nicht krankhaft bleich. Natürlich war ich sofort bis über beide Ohren in sie verliebt.

Man sagte mir, sie heiße Zacharula, Und ich frug begierig, was dieser Name bedeute.

Da ich die eifrigen, durch unzählige anmuthige Gesten erläuterten Erklärungen meiner Freundinnen, die mir unter vielsagendem Augenzwinkern und mit lachendem Munde gegeben wurden, schlechterdings nicht begriff, so hüpfte die Eine endlich davon und brachte ein Stückchen Zucker herbei; man machte mir nun in ausgelassener Lust begreiflich, Zacharula bedeute Zuckerstückchen, Zuckerplätzchen; die lustigen Mädchen legten dabei die kleinen Hände auf ihre fröhlich klopfenden Herzen, schnalzten mit den frischen Lippen und gaben sich Mühe, mir neckend klar zu machen, wie gut der eben genannte Gegenstand doch schmecke. Zuckerplätzchen …

„Ah,“ rief ich auf deutsch, „welch passender Name für ein so süßes Geschöpf!“

Der Ausdruck meiner Worte und der Blick, den ich dabei auf die Kleine warf, mußten den Sinn deutlich gemacht haben, denn das allerliebste kleine Ding wurde roth wie Scharlach. Die andern kicherten, und die Uebermüthigste von ihnen, ein schwarzbraunes, lustiges, graziöses Mädchen, begann verschmitzt: „Wie heiß Du bist, Zacharula! Nimm doch dein Kopftuch ab!“

Damit löste sie ihr hilfreich den kunstvoll verschlungenen Knoten, welcher das ihr Haar bedeckende Tuch festhielt, und enthüllte dabei so wundervolles, dichtes, in schwere Flechten gefesseltes Haar, daß ich einen Ausruf des Entzückens nicht unterdrücken konnte. Das feine Köpfchen der kleinen Griechin schien sich unter der Last dieses herrlichen Naturschmuckes zu beugen.

„Kein Mädchen in Gallipoli besitzt solches Haar!“ stimmte meine Wirthin lächelnd bei, und nun begab sich etwas, was die anmuthige Europäerin, welche diese Zeilen liest, für unmöglich halten wird, weil ihr eine so uneigennützige, stolze Freude an den körperlichen Vorzügen einer Anderen, und die naive Unschuld der Betreffenden selbst, einfach unglaublich vorkommen dürfte.

Um mir nämlich einen vollen Begriff von der Fülle dieses Frauenhaares zu geben, lösten plötzlich die geschäftigen Finger der jungen Mädchen die dunklen Flechten ihrer Genossin mit fabelhafter Geschwindigkeit auf, und wie ein glänzender, blauschwarzer Mantel fiel es über die Schultern der kleinen Griechin und verhüllte urplötzlich ihre ganze feingegliederte Gestalt.

Dieses wunderbar schöne Frauenhaar – ob es etwas Entzückenderes geben konnte? O doch, die kleine Besitzerin; etwas Reizenderes, als das feine, blasse Gesichtchen unter dieser verhüllenden Herrlichkeit, wie es verschämt und doch in unverhohlener Freude über meine bewundernden Blicke da vor mir zu sehen war – habe ich nie wieder im Leben erblickt.

Die halbe Nacht lag ich wach und träumte mit offenen Augen von Zacharula und ihrem Haare. Dabei versuchte ich vergebens, ein sonderbares Gefühl zu überwinden, das sich immer wieder in meine Liebesträume hineinschlich und mir meine reizende Bekanntschaft als das verwandelte Abbild eines anderen weiblichen Wesens erscheinen ließ, das ich schon irgendwo im Leben gesehen – anders allerdings – und doch auch wieder ähnlich. Der Gedanke ließ sich nicht verscheuchen und peinigte mich zuletzt. Ich entrollte die Gedächtnißliste über alle meine weiblichen Bekanntschaften – sie war nicht klein – aber ich fand die Eine nicht, die meiner Göttin ähnelte… ich sann und sann – endlich doch – Virginie … Warum ich so spät an sie dachte? Alle Leserinnen unter sechszehn Jahren mögen mir verzeihen – ich gedachte ihrer nicht als einer jungen Dame. Sie war ja ein halbes Kind noch, die Kleine – halb Backfisch, halb Schulmädchen – als ich sie zu meinen Bekanntschaften zählte, aber sie hatte mir viel Amüsement bereitet. So grundverschieden ihre ganze Art sich zu geben und zu „haben“ von der Weise der kleinen Griechin war, so auffallend war die Aehnlichkeit der Gesichtszüge. Selbst die zarte Farbe der Haut stimmte, nur daß sie bei Virginie, meiner kleinen Feindin, in krankhafte Blässe ausartete. Jetzt, da ich die Trägerin jener Aehnlichkeit gefunden, gewährte es mir Vergnügen, die beiden jungen Mädchen mit einander zu vergleichen. Virginie war mir von Konstantinopel bekannt, wo ihre Mutter, die noch immer schöne Gräfin Ferréol, zu meiner Zeit als Gattin des ersten Sekretärs bei der Botschaft einer Großmacht, da der Botschafter selbst unvermählt war, die Honneurs im Gesandtschaftshôtel machte. Sie hatte mir stets großes Wohlwollen bewiesen, weil, wie sie einst meinem gestrengen Chef in ihrer liebenswürdigen Weise gesagt, mein urwüchsig-unverdorbenes Wesen inmitten der französisch-levantischen Sittenfäulniß so angenehm auffalle.

Bei einem meiner Besuche in ihrem reizenden Salon hatte sie mit einer leichten Handbewegung nach einer halbdunklen Ecke lächelnd hingeworfen: „Meine Tochter Virginie.“ Ich hatte mich pflichtschuldigst erhoben und einen flüchtigen Blick nach jener Ecke geworfen. Auch dort erhob sich ein lang aufgeschossenes Mädchen, auf der Grenze zwischen Kindes- und Backfischalter stehend, schritt langsam näher und stand endlich, dicht neben der Mutter, mir gegenüber. Unsere Unterhaltung – die erste – begann und wurde von meiner Seite heiter neckend angefangen, aber auf diesen Ton ging Virginie nicht ein. Er erschien ihr jedenfalls respektwidrig – sie blieb ernst, und eine gewisse Abneigung gegen diesen von mir angeschlagenen Ton übertrug die kleine Komtesse sehr bald auf meine Person. Ich glaube, sie haßte mich, und das machte mir Spaß. Wir standen immer auf Kriegsfuß. Die kleine Virginie, von Allen verwöhnt und von ihren Eltern wegen ihrer äußerst reizbaren Gesundheit wie ein Augapfel behütet, wurde meine kleine Feindin, und so jung sie war, war sie doch ein Gegner, den man nicht unterschätzen durfte. Sie war weit über ihre Jahre klug, ernst, und es steckte überhaupt Rasse in ihr. Ich kapricirte mich darauf, sie zu reizen, wo ich nur immer konnte, und sie vergalt mir meine Bemühungen mit ehrlicher Rache. Unser ganzes Verhältniß bestand darin, daß wir einander alles nur erdenklich Unangenehme anthaten, und Virginie war im Ersinnen immer neuer Quälereien von einer Findigkeit, die mir Anerkennung abnöthigte und mich zu eifriger Nachahmung anspornte. Doch zog ich meist den Kürzeren, denn ihre Rache war jederzeit raffinirter als meine Beleidigung.

Ihre Uebersiedlnng in eine französische Pension machte endlich unseren Feindseligkeiten ein Ende, und ich hatte das schöne Kind bereits vergessen, als die Begegnung mit der jungen Griechin und der klassische Schnitt ihrer Gesichtszüge die Erinnerung an jene Zeit des Kampfes wieder in mir auffrischte und mir für einen Moment ein flüchtiges Lächeln abnöthigte. Merkwürdig! Wie ähnlich waren die beiden jungen Mädchen einander, und doch wie grundverschieden wurden sie durch den Ausdruck ihrer Gesichtszüge! Nie in meinem Leben war es mir so klar geworden, daß die Individualität des Charakters dem Aeußeren erst das Gepräge aufdrückt. Denn so sehr Virginie und Zacharula sich ähnelten, neben einander gestellt, würde sie gewiß Keiner mit einander verwechselt haben. Bei diesem Gedanken schlief ich endlich doch ein, aber obgleich ich mich zuletzt mit Virginie beschäftigt hatte, so war es doch Zacharula, welche mir in meine Träume folgte, und als der Morgen kam, wies mein Zustand die unverkennbarsten Symptome einer gründlichen und rettungslosen Verliebtheit auf.

Und gleich darauf machte ich eine Entdeckung, die mich noch mehr in der Ueberzeugung bestärkte, daß meine diplomatische Mission durchaus nicht in so kurzer Zeit erledigt werden könne, wie mein Chef das für möglich gehalten hatte.

Mein Fenster ging auf ein Zipfelchen Gartenland hinaus, und in diesem Garten befand sich eine Laube. … Das wußte ich freilich schon lange – aber daß Garten und Laube unserem Nachbar Sidheridi gehörten und daß Zacharula dieses Mannes Töchterlein sei, das erfuhr ich erst an diesem Morgen. Ich hörte nämlich meine Kokona hinunterrufen: „Guten Morgen, Zacharula!“ und wie der Wind war ich am Fenster, hinter dessen Gardinen ich mich wie ein verliebter Schüler verbarg, um verstohlen hinunter zu blicken. …

[639] Ja, sie war es, und während sie mit meiner Wirthin redete, schienen ihre feuchtglänzenden Gluthaugen ein nicht vorhandenes Etwas zu suchen. … Natürlich sagte mir mein eitles Herz, daß ich dieses Etwas sei, aber ich zeigte mich nicht, weil ich das wundersüße Kind zu verscheuchen fürchtete, und erst, als ich keine Zeit mehr zu verlieren hatte, wenn ich einen „Guten Morgen“ überhaupt anbringen wollte, rief ich meinen Gruß, strahlend vor Glück und Liebe, hinunter und trat dabei dicht an mein geöffnetes Fenster.

Zacharula erröthete bis an die Haarwurzeln und ließ vor Verwirrung den Rechen fallen, mit dem sie im Garten herum hantirt hatte. Wir wechselten einige flüchtige Reden, dann aber rief mich meine Pflicht in den Konak des Kaimakams.

Der türkische Würdenträger hatte alle Ursache mit mir zufrieden zu sein; denn als er nach Art seiner Landsleute heute einen Nebenpunkt, an den bis dahin Niemand gedacht hatte, hervorholte und, um die Sache in die Länge zu ziehen, dessen gründliche Untersuchung und Aufklärung verlangte, stimmte ich ihm unverzüglich bei und ging auf seine Verschleppungschicanen mit einer Bereitwilligkeit ein, daß der Moslem über seine Schlauheit und über den dummen Ungläubigen sich in die Brust gelacht haben mag. Ach, ich war nicht dumm – nie war ich das – aber ich war verliebt. Cyniker behaupten zwar, daß beides ein und dasselbe sei, aber sie irren.

Für den Nachmittag hatte ich mit dem englischen Konsul Mr. Abbott einen Ritt über Land verabredet, als ich aber kam, um ihn abzuholen, eröffnete er mir mit einiger Verlegenheit, ein guter Bekannter von ihm, der vor der Stadt ein Gütchen besitze, habe ihn für den Nachmittag zur Nußernte eingeladen. Nun wußte ich, daß der gute Abbott auf den Verkehr mit den Eingeborenen sonst nicht gerade viel gab, weil er als echter Engländer alles, was den heimischen Sitten widersprach, mit souveräner Verachtung zu behandeln pflegte.

„Was Sie sagen, mein Lieber!“ begann ich daher leichthin. „Wenn Sie aber wollen, daß Ihnen volle Entschuldigung für den begangenen Treubruch werde, so müssen Sie mir gestehen, welcher Magnet mit der Nußernte verbunden ist. Denn etwas derartiges verbirgt sich dahinter, sonst würden Sie doch lieber mit mir reiten, als da mit dem langweiligen Griechen Nüsse pflücken.“

Mr. Abbott erröthete ein wenig, und das stad seinem hübschen, frischen Gesicht viel besser als der Zug von insularem Hochmuth, der dasselbe für gewöhnlich entstellte. „Wissen Sie was, mein Freund?“ erklärte er sich zögernd, „kommen Sie mit mir, und Sie werden einsehen, wie Jone – ein entzückender Name, nicht so? – wohl verdient, daß man ihretwegen altbewährten Grundsätzen einmal untreu wird.“

Die Aussicht, mich da hinausschleppen zu lassen, um anzusehen, wie der lange Abbott einer kleinen Griechin den Hof machte, hatte für mich wenig Verlockendes; ich entgegnete daher trocken: „Sie sind außerordentlich gütig, aber ich muß doch danken. Ungeladener Gast zu sein, behagt mir nicht.“

„Ah bah!“ warf er ein. „Sie müssen da nicht mit den schwerfälligen europäischen Begriffen kommen. Ich stehe Ihnen dafür ein, daß Sie den liebenswürdigsten Empfang finden werden, wenn ich Sie bei Sidheridi’s einführe!“

Ja, das war ein Wort! Die Leute hießen Sidheridi! – Das änderte freilich die Sache! Aber waren es auch dieselben, meine Sidheridi’s? … Doch ich war nicht umsonst Diplomat, und vorsichtig tastete ich weiter: „Ja lieber Kollege, da will ich Ihnen denn schon den Gefallen thun und mitkommen. Aber – ich bringe Ihnen wirklich ein großes Opfer. Es ist wenig erfreulich zu fasten, wo andere an voller Tafel sitzen.“

„O, was das betrifft,“ rief er lachend, „da seien Sie ohne Sorgen! Die Sidheridi’s haben noch eine ganze Schar großer und kleiner Mädchen – drollige Menschen! Zwölf Kinder und lauter Töchter – und die nächstälteste, die nach Jone kommt – sie hat einen niederträchtigen Namen, den ein vernünftig organisirter Mensch schlechterdings nicht behalten kann – so was von Zucker, wenn ich nicht irre – würde ganz reizend sein, wenn sie nicht so sehr von Jone verdunkelt würde!“

„Das werden wir ja sehen,“ dachte ich ungläubig. „Diese Engländer haben meistens einfältigen Geschmack, erst recht wenn sie verliebt sind; immer bilden sie sich ein, daß ihre Mädchen die schönsten sind.“ Darin war ich freilich ganz anders geartet. Das war ja einfach lächerlich! Ich würde es sofort nicht nur eingesehen, sondern auch offen eingestanden haben, wenn eine Schönere neben Zacharula gestanden hätte; aber daran war natürlich gar nicht zu denken; das war eben einfach unmöglich.

Wir ritten also hinaus, und unvergeßlich wird mir der liebliche Anblick sein, den die noch immer sehr schöne Frau Sidheridi inmitten des Kranzes ihrer blühenden Töchter gewährte. Der Empfang war ein so herzlich liebenswürdiger, daß wir keinen Augenblick darüber in Zweifel sein konnten, wie hochwillkommen wir waren, und trotz der umständlichen und schwierigen Sprachverhältnisse fühlten wir uns im Nu heimisch. Meine kleine Göttin war, als sie meiner ansichtig wurde, roth geworden wie eine Päonie, that aber, als sähe sie mich zum ersten Male. Ich hätte sie dafür todtküssen mögen, weil ich darin ein günstiges Zeichen für mich erblickte. Aber wie bodenlos verliebt mußte doch dieser Abbott sein! Es war denn doch zum Lachen! Gewiß, Jone war ein recht leidlich hübsches Mädchen, nur mußte man Zacharula nicht neben ihr sehen. Das war denn doch wie Tag und Nacht!

Abbott und ich wurden, als die erste Schüchternheit schnell überwunden war, von dem allerliebsten Völkchen umringt, das lachend, plaudernd und scherzend mit uns durch den Garten zog.

Welchen heillosen Unfug wir da den ganzen Nachmittag getrieben haben, ist mir kaum erinnerlich – Zacharula nahm zu sehr alle meine Gedanken in Anspruch – aber wir waren alle so harmlos glücklich wie im Paradiese. Bisweilen sonderten wir uns in Gruppen und vertheilten uns zwanglos in den gründämmernden Gängen des Gartens, bisweilen auch blieb eins oder das Andere zurück und mußte dann mit vieler Mühe wieder aufgefunden werden. Oder wir bildeten, den alten redseligen, ziemlich gut deutsch sprechenden Wirth an der Spitze, eine lange Polonaise, und es gab viel herzliches Lachen, wenn er im Eifer des Gespräches mit seiner Dame stehen blieb und gestikulirend durch die Luft focht; der ganze Zug mußte in Folge dessen gleichfalls stehen bleiben, weil der schmale Weg kein Vorüberschlüpfen duldete, bis der alte Herr, endlich aufmerksam werdend, mit einer griechischen Verwünschung weiter schritt.

Plötzlich, ich hatte soeben eine ziemlich weitschweifige, durch allerlei Gesten nur unklar verdolmetschte Auseinandersetzung eines Nachbars der Sidheridi’s glücklich aus dem Felde geschlagen – vermißte ich Zacharula, und was war da natürlicher, als daß nun auch ich schleunigst verloren ging, um das kleine herzige Geschöpf mit dem süßen Namen zu suchen wie eine Stecknadel. Ach, und die Situation, in der ich sie fand, war eine reizende. Sie saß dicht an dem kleinen spiegelklaren Weiher, der seitwärts den Garten begrenzte, auf einem Steine, hatte beide Hände um die Kniee geschlungen und schaute mit dem Ausdruck harmloser Freude in dem ideal-schönen Gesichtchen in das Wasser. Neugierig bei der Frage, was sie wohl dort so fesseln möge, schlich ich mich leise näher, und da bemerkte ich denn, daß sie die kleinen silbernen Fische beobachtete, die hier an einer ziemlich seichten Stelle, zwischen den durch das Wasser schimmernden Kieseln hin- und herhuschten und vor Lust und Freude über den goldenen Sonnenschein bisweilen hoch emporschnellten. Die Freude über dies kleine Stück Naturleben strahlte wie ein Licht aus den glänzenden Augen des Mädchens, als es mit der schlanken Hand ins Wasser deutete und in seiner Heimathsprache nur wenige Worte hinwarf, die ich nicht verstand und doch begriff. „Ist das nicht reizend?“ Diese Frage lag in dem unschuldigen Auge, und ich las sie ab von dem dunkeln, feuchten Grunde. Ja, sie war ein Kind, dem Körper nach halb, der Seele nach ganz, aber sie war ein vielversprechendes Kind, eine Knospe, die sich einst zur Wunderblume erschließen mußte. Als ich so vor ihr stand und ihr entzückendes Bild sich im Weiher spiegelte, von fern das melodische, gedämpfte Lachen glücklicher Menschen und das Rufen der Nüsse sammelnden Arbeiter und Dirnen schallte, da meinte ich wirklich im Paradiese zu sein und frug mich, ob ich nicht träume …

Und als wir dann zur Gesellschaft zurückkehrten, vermißte man Abbott und Jone, und wir huschten wieder davon, um sie zu suchen. Als ich der kleinen Griechin auf dieser Mission unter den rauschenden Nußbäumen leise in deutscher Sprache süße Liebesworte zuflüsterte, da ging es ihr wie mir vorhin am Weiher; sie verstand mich nicht, aber sie begriff mich sehr gut. Dann und wann fiel ein reifes Nüßchen warnend auf unsere Köpfe und [640] Schultern und brachte uns in die Wirklichkeit zurück, wenn wir einander gar zu tief in die Augen guckten und darin ein Wunderland voller seliger Zustände erblickten. Ja, unsere Augen sprachen, während der Mund stumm blieb … Du lachst, holde Leserin … Du warst wohl noch nie verlieht? … Wie schade! … Dann bist Du auch noch nie glücklich gewesen … Und dann fanden wir auch Abbott und Jone. Wir geriethen auf eine Anhöhe, von der man einen weiten Blick über die vorliegenden, mit Wein- und Melonenpflanzungen bedeckten Gelände bis an den fernen Silberstreif des am Ufer brandenden Marmara-Meeres hatte. Dort saßen, wie wir in die Ferne blickend, Hand in Hand Jone und Abbott; Zacharula wollte sie rufen, aber ich wehrte ihr, faßte sie bei der Hand und sagte ihr – ich weiß nicht zum wievielten Male an diesem Tage – daß ich sie mehr liebe als mein Leben; in den weichsten Tönen, deren mein biegsames Sprachorgan fähig war, sagte ich ihr das – und sie senkte das Köpfchen und entgegnete etwas, das ich wieder nicht verstand, wenn ich auch den Sinn aus ihren flammenden Wangen und dem leisen Drucke ihrer Hand errathen konnte. Wir blickten uns abermals tief, tief in die Augen, dann hörten wir den Ruf: „Jone! Jone!“ wir stimmten mit ein, und der schönste Augenblick dieses köstlich sonnigen Tages war vorüber. – –

Mr. Abbott und ich waren ein Paar sehr langweilige Gesellschafter, als wir an jenem denkwürdigen Abend heimritten; ein jeder von uns hing seinen verliebten Gedanken nach, und als wir uns trennten, zeigte doch der verständnißinnige Händedruck, den wir tauschten, daß wir trotzdem uns ganz vortrefflich unterhalten zu haben glaubten.

Die nächste Zeit sah ich mein herziges Kind jeden Tag; ich sprach entweder in ihrem elterlichen Hause vor oder sie kam auf ein Viertelstündchen zu meiner Kokona heraufgesprungen. Die munteren Tuchfärberinnen hatten unser Geheimniß natürlich bald errathen, aber über diesen Kreis drang es nicht hinaus, und die kleinen Anspielungen, die wir darüber zu hören bekamen, waren so harmlos und liebenswürdig, daß ich in späteren Jahren oft und immer wieder in den Kreisen fein gebildeter Europäerinnen sehnsüchtig an jene armen, unwissenden Naturkinder und ihre neidlose Treuherzigkeit zurückdenken mußte.

So verlief noch eine Woche. Da kam eines Tages Zacharula ganz athemlos herüber, um eine Neuigkeit anzukündigen. Der englische Konsul war nach Paris versetzt und Jone seine Braut geworden. Sie würde bald heirathen und als seine Frau ihm dorthin folgen, berichtete die Kleine, aufs Lebhafteste interessirt.

Natürlich mußte ich da gratuliren, und zwar sogleich. Ich nahm Hut und Stock, um Zacharula nach ihrem Heim zu begleiten. Langsam schritten wir die alte knarrende Holzstiegc hinab. Es herrschte selbst am hellen Tage in dem alten Treppenhause eine dichte Dämmerung, nur durch eine der Dachluken fiel ein breiter Streifen Sonnengold und umwob meinen Liebling mit einem flimmernden Glorienscheine. Das dunkle Köpfchen hob sich von dem lichten Sonnenstreifen, der in der dämmernden Umgebung doppelt reizvoll wirkte, wie eins der auf Goldgrund gemalten Bilder der alten Meister ab. Mit leidenschaftlicher Bewunderung hing mein Auge an meiner lieblichen Begleiterin … ich legte leicht meinen Arm um ihre schlanke Gestalt und bat mit bebenden Lippen: „Kleine, süße Göttin meines Herzens, und wenn die Verdammniß über das Grab hinaus darauf stünde, ich muß Dich –“ aber ach – das griechische Wort für „küssen“ fiel mir leider nicht ein, und die kleine Eva wandte lachend ihr Köpfchen in dem schimmernden Sonnenstaube von mir ab, und frug spöttisch: „Ja, was denn?“

Anfangs schämte ich mich wie ein Schulbube, aber bald erkannte ich, daß ihre Frage Heuchelei und ihr Sträuben nicht ernst gemeint war, und als wir auf die helle Straße hinaus traten, wußten wir Beide, was die ersten heißen Küsse leidenschaftlicher Liebe zu bedeuten haben.

Was Wunder, daß es mir schwer wurde, mich gleich wieder in der öden Wirklichkeit zurecht zu finden? Und daß ich die mir vom Telegraphenboten, den wir beim Hinausstürmen fast umrannten, überbrachte Botschaft erst eine Weile mit unweisem Lächeln anstarrte, bevor ich sie begriff? Sie war, wie der Engel mit dem feurigen Schwert, gekommen, um mich aus meinem eben errungenen Paradiese zu vertreiben. In derselben hatte mein Vorgesetzter seine Verwunderung über die schleppende Erledigung der mir anvertrauten Frage in sehr ungnädiger und dem Wunsche, daß ich in drei Tagen damit zu Ende kommen möge, in so entschiedener Weise Ausdruck gegeben, daß ich wohl oder übel meinen Aufenthalt über diesen äußersten Termin hinaus nicht verlängern durfte. Ich konnte dem trauten Kreise, in den ich jetzt hinein trat, die schlimme Nachricht nicht verbergen. Jone sah Zacharula an, und die kleine Dunkelhaarige erbleichte, und ihre Lippen zuckten in so vielsagender Weise, daß dieser schlagende Beweis ihrer Gesinnung mir gegenüber ein Tropfen Trost in meinem Trübsalsmeer war. Sie ging hinaus, meine Kleine, um die Thränen zu verbergen, die das an Selbstbeherrschung nicht gewöhnte Naturkind zurückzuhalten unfähig war.

Als mein kleiner Liebling am letzten Tage schluchzend an meinem Halse hing, versprach sie mir, nie einem Andern anzugehören und meine kleine Frau zu werden, so bald ich sie zu holen käme. Bis dahin aber sollte ich sie im Bilde haben; und ich erhielt dieses Bild, mit dem aufgelösten Haar noch dazu, wie ich sie zum ersten Male gesehen und liebgewonnen hatte, das herzige Ding.

Es hängt heute noch über meinem Schreibtische, das kleine, verblichene Bild, und ich kann es nicht ansehen, ohne einen stechenden Schmerz im Herzen zu empfinden.

Zwei Jahre vergingen. Meine Zacharula schrieb fleißig, und jeder ihrer Briefe hatte in meinen Händen das Schicksal, welches diese zarten Liebesboten von Thoren meiner Art zu erleiden pflegen. Ihre Orthographie war schlechter als ihre Gesinnung, aber sie machte mir nach und nach doch Kummer, diese Orthographie.

Daß ich meine kleine Göttin noch ebenso zärtlich liebte, als da ich die Idylle ihrer Heimath mit ihr theilte, unterlag keinem Zweifel, und wenn es mir vergönnt gewesen wäre, mein ganzes Leben lang unter den Nußbäumen ihres väterlichen Gartens, ein glücklicher Adam, mit ihr als Eva, in einer Hütte von Baumrinde zu leben, ich würde dieses Loos nicht um alle Kronen der Welt ausgetauscht haben, ich würde nichts an dem herzigen Kinde vermißt, und die Orthographie ihrer Briefe würde mir ebenso wenig Kummer gemacht haben, wie der etwas absonderliche Stil und die naiven Ansichten über Welt und Menschen, die mein Herzensliebling bisweilen aussprach. Aber leider lebte ich in einer Welt, die für die Reize einer Zacharula absolut kein Verständniß hatte und sehr viel auf den äüßern Schein, auf feinen Schliff und Umgangsformen gab. Wenn ich mir vorstellte, daß meine Kleine auf einer Soirée der Gräfin Baldrück erscheinen oder an einem Zauberfeste der X.’schen „Gesandtin“, der Diamantenkönigin, theilnehmen sollte, dann überlief es mich heiß und kalt. Ich sagte mir mit grausamer Ehrlichkeit, daß diese Damen und alles, was zu ihnen gehörte, für die Heldin einer Rosegger’schen Novelle sich zwar begeistern, dasselbe Naturkind aber, wenn es in Wirklichkeit aus den Blättern einer Dorfgeschichte heraussteigen und sich in das schillernde Leben der „Gesellschaft“ mischen wollte, leicht – auslachen könnten. Bei diesem Gedanken angekommen, der sich mir mit merkwürdiger Zähigkeit besonders dann aufdrängte, wenn ich selbst in steifer Hoftoilette mitten in dem bunten Treiben der großen Welt steckte, zog ich stets mein Taschentuch und begann mir den Schweiß von der Stirn zu trocknen.

Ich war so stolz auf meinen kleinen Liebling, ich würdigte gewiß alle ihre Vorzüge, die mir tausend Mal mehr galten als die leeren Formen der „Gesellschaft“, in die ich sie einführen mußte; aber ich sagte mir auch, daß ich nicht gegen den Strom schwimmen könne; ich unterschätzte die tausend Nadelstiche nicht, die meiner warteten, ich überschätzte auch mich nicht; ich wußte leider, daß ich einen tüchtigen Hieb und Stoß geschickt pariren, aber an diesen Nadelstichen zu Grunde gehen würde. Dafür sorgte schon meine Eitelkeit.

Ach, ich wäre so sehrgern in jeder Hinsicht stolz auf mein Weibchen gewesen. …

Ich beschloß denn, sie mir zu „ziehen“, und begann in meinen Briefen nach und nach einen belehrenden Ton anzuschlagen, so gleichsam brieflich Unterricht zu ertheilen – aber da kam ich schön an! Sie lachte mich einfach aus; frug, warum ich plötzlich so langweilig schreibe, bald wie ein alter Schulmeister, bald ernst und feierlich wie ein Richter. Die früheren lustigen Briefe seien ihr lieber gewesen. Wo doch die tausend Liebesworte von sonst blieben? Sie seien mir wohl in der Feder stecken geblieben oder

[641] 

Wildbad Gastein.
Originalzeichnung von Richard Püttner.
Aus dem Prachtwerke „Wanderungen im Bayerischen Gebirge und Salzkammergut“.

[642] in die Tinte getrocknet? Jetzt wisse sie oft nicht, was sie hier oder dort antworten solle, sie sei keine Gelehrte und verbitte sich derartige Katechesen. Ich sei in dieser Rolle des Mentors nichts weniger als verführerisch – sie bitte um die alten Themata.

„Liebe sei der Inbegriff – auf das And’re – – pfeif’ ich“ – sagt ein deutscher Dichter, und meine kleine Herzensflamme empfand, wie ich verdrießlich und gezwungen lachend erkannte, auf griechisch das Gleiche. Ja, was war da zu thun? Oft saß ich mit der Feder in der Hand und starrte wie ein Unglücksmensch auf das grüne Tuch meiner Schreibunterlage, auf welcher der Brief lag, den ich an „sie“ absenden wollte, und kein Weiser der Erde, selbst wenn er mit dem auserlesensten Scharfsinn begabt gewesen wäre, würde in mir einen der Gottbegnadeten gesucht haben, der eben im Begriffe steht einen Liebesbrief zu schreiben. Meine Physiognomie ließ eher auf die Unterzeichnung eines Todesurtheils schließen, und während ich bemüht war, echt pädagogisch zu handeln und meine Belehrungen in das Gewand einer harmlosen Plauderei zu kleiden, summte mir beständig das kleine neckische Lied in den Ohren, dessen ich oben schon einmal gedachte:

„Als ich jüngst von ungefähr – durch den Wald spazierte,
 Kam ein kleiner Vogel her – sang und trillerirte.
 Was der kleine Vogel pfiff – fühl’ ich und begreif’ ich –
 Liebe war der Inbegriff – auf das And’re – – pfeif ich!“

Der T ..... mochte wissen, wer es gedichtet hatte, aber mir erschien es wie ein Hohn auf meinen Zustand, und wenn ich den Verfasser gleich da gehabt hätte …

Endlich that ich das Aeußerste – das Letzte. Ich schrieb Zacharula in der schonendsten Weise meine Besorgnisse und legte ihr überzeugend klar, daß die Welt, in der ich zu leben gezwungen sei, andere Ansprüche an ein Weib stelle, als die Welt, die sie geboren habe. Ich bat sie, ihren Kenntnissen noch etwas nachzuhelfen, sich die nöthigsten gesellschaftlichen Umgangsformen anzueignen und zu diesem Zwecke ein Jahr zu ihrer Schwester Jone nach Paris zu gehen, die ja auch aus Liebe zu Abbott noch als Frau ein renommirtes Pensionat besucht habe und heute noch die theuersten Lehrer bezahle, um zu lernen – aber Zacharula wollte davon nichts hören. Sie könne ihre Mutter, die schon durch die Trennung von Jone schwer leide und vor Sehnsucht nach dieser fast vergehe, jetzt nicht auch schon verlassen – im Uebrigen begreife sie mich nicht. Sie sei noch die gleiche Zacharula wie sonst und mir ja früher als solche gut genug gewesen. Sie sehe in diesen ewig sich wiederholenden Aussetzungen an ihrer Person, in diesen fortgesetzten Belehrungen und Forderungen mehr als ich vielleicht ahne, und fühle sehr wohl heraus, daß ich bereue, dieses Verhältniß mit ihr, dem armen, kleinen Landmädchen, überhaupt angeknüpft zu haben. Das könne sie nun freilich nicht ändern ... Sie sei nun einmal so ... Sie wolle sich auch nicht aufdrängen; wenn ich der Meinung sei, daß sie mir nicht genügen könne, so solle ich das nur offen sagen. Dieser Brief verdroß mich furchtbar. Ich beantwortete ihn mit bärbeißiger Unliebenswürdigkeit und – – sie schrieb nie wieder.

So war nach zwei Jahren mein Traum zerronnen, aber die schöne Griechin zu vergessen, wollte mir durchaus nicht gelingen, und wenn es mir auch in den darauffolgenden Jahren an verheißungsvollen Blicken aus manchem hellen Augenpaar nicht gefehlt hat, ich wurde meiner alten Liebe nur vorübergehend untreu. Sie thronte noch immer in meinem Herzen: Zacharula.

*  *  *

Hier brach das Manuskript ab, das ich, wie von einem inneren Drange getrieben, in einem Zuge niedergeschrieben hatte, um damit die Schuld abzutragen, welche ich durch den unbedachtsam herbeigeführten Verlust eines Vielliebchens auf mein Haupt geladen hatte. Die darin berichteten Vorfälle sind wahr, denn das war eine der Bedingungen, zu deren Innehaltung ich mich der schönen und eleganten Mademoiselle Virginie de Ferréol durch Handschlag so fest und noch fester verpflichtet hatte, als wenn ich dies Versprechen durch Schwur und Ehrenwort besiegelt hätte.

Der Leser erräth, daß ich eine alte Bekanntschaft erneuert hatte.

(Schluß folgt.)

Die Karolinen.

Von Dr. O. Finsch.

Unsre Zeit ist dem Studium der Erdkunde in ganz besondrem Maße förderlich. Täglich tauchen Namen auf von Ländern und Orten, von denen wir in der Schule kaum vorübergehend hörten und die wir mit so vielen andren seitdem längst gern vergaßen. Wer unter uns kümmerte sich bis vor kurzem viel um den entlegenen Archipel der Karolinen, wie viele hatten jemals von einer Insel Yap gehört? Und heute ist sie gar wichtig geworden, zwei Völker streiten um ihren Besitz.

Die Inselgruppe der Karolinen ist über einen gewaltigen Meeresraum verstreut, sie erstreckt sich durch 32 Längen- und 4 Breitengrade, ganz Nordfrankreich, Holland und Belgien nebst Norddeutschland ließen sich in ihm unterbringen, aber dieser Raum wird zum bei weitem größten Theile von Wasser eingenommen, nur ein verschwindend kleiner Theil kommt auf eine Anzahl von meist ganz winzigen Landbrocken, die, zum kompakten Ganzen zusammengeschweißt, das Herzogthum Sachsen-Altenburg an Größe kaum übertreffen dürften. Und von diesem Areal entfällt noch mindestens ein Drittel auf öde und unbewohnbare Korallenriffe, deren nackte, rauhe Oberfläche nur hier und dort eine Gruppe grünender Kokospalmen verschönt.

Der staunenswerthen Thätigkeit jener unermüdlichen Baumeister der Südsee, der Korallenthierchen, verdankt eine ganze Reihe der Karolinen ihre Existenz. Langsam, aber dauerhaft bauen Milliarden jener kleinen Lebwesen ihre mächtigen, dem Ungestüm des Oceans trotzenden Steinwälle von Grund des Meeres bis zu seinem Spiegel auf; da aber erlahmt ihre Thätigkeit, denn aus dem Seewasser ziehen sie ihr Baumaterial, den Madreporenkalk, und außerhalb des Meeres endet ihr Dasein. Aber der Gott der Tiefe hilft nach. Aus den Flanken der aufstrebenden Riesenmauern reißt er gewaltige Blöcke und schleudert sie auf das Riff. Da sammeln sie sich an, bis die Fläche sicher über die brandende Fluth emporragt. Nun entsendet die Tropensonne ihre glühenden Strahlen, die mächtigen Blöcke zerbersten und lösen sich endlich in weißen schimmernden Korallengries auf. Noch rollt die Fluth die Stämme herbei, welche sie anderen Gestaden entrissen, vermodernd mischen sie sich mit dem zerfallenden Gestein, und bald sprießen aus dem geschaffenen Humus die Saaten, Geschenke der Winde und Wellen, zu anmuthigen Hainen auf.

So sind Hunderte dieser kleinen Inseln entstanden, die aber dennoch in ihrer Gesammtheit nur einen kleinen Theil des ganzen Areals ausmachen, von welchem volle zwei Drittel auf fünf größere Inseln entfallen, die, durch vulkanische Thätigkeit vermuthlich bereits unter dem Meeresspiegel entstanden, ihre abgerundeten, dichtbewaldeten Kuppen jetzt hoch über die blaue Fluth erheben.

Der Anblick dieser fünf Inseln: Kuschaie, Ponape, Ruk, Yap und Palau, ist von unvergleichlicher Lieblichkeit. Eigentlich sind es nicht Inseln, vielmehr Inselgruppen, verbunden durch niedrige Korallendämme, über welche die Fluth oft hoch genug hinwegfegt. Und es ist nicht die Mannigfaltigkeit und Eigenart der Vegetation, vielmehr ihre wunderbare Mischung und Gruppirung, welche diese Inselwelt mit einem Reiz umkleiden, wie wir ihn anderswo selten antreffen.

Eine der anmuthigsten Inseln der Gruppe ist das jetzt vielgenannte Yap, bei dessen Besetzung das deutsche Schiff dem spanischen Konkurrenten zuvorkam, ein Eiland von etwa vier Quadratmeilen Umfang oder vielmehr eine durch einen schmalen Isthmus verbundene Doppelinsel, auf welcher die ursprünglichen Urwälder durch schöne Haine von Fruchtbäumen und Palmen ersetzt werden, während die über 400 Meter aufsteigenden vulkanischen Kuppen nur mit Gesträuch, Farrenkräutern und Gras bedeckt sind. Die circa 200 Quadratkilometer große Insel zählt etwa 2500 Einwohner in nicht weniger als 67 von einander unabhängigen Ortschaften, und fast immer stehen einige der kleinen Potentaten einander feindlich gegenüber. Freilich sind die Verluste durch solche Kämpfe nicht groß, vorsichtig wirft man Erdwälle auf, um aus deren sicherer Deckung die gezähnten Speere hervorzuschleudern, auch [643] verknallt man wohl, ohne viel Schaden zu thun, aus alten Schiffskanonen und rostigen Musketen viel mittelmäßiges Pulver.

Ja, selbst Mitrailleusen, und zwar die früher in der bayerischen Armee gebräuchlichen, sind durch unternehnmende Kaufleute eingeführt worden und haben unter den Königen Käufer gefunden, jedoch deren Macht und Ansehen nicht zu kräftigen vermocht.

Wochenlang dauert zuweilen die Fehde, bis der besiegte Theil, der vielleicht kaum ein halbes Dutzend Todte zu beklagen hat, sich zur Zahlung einer Kriegsentschädignng bereit erklärt. Die Zahlung wird geleistet in einem großen gelblichen Steine, bei schweren Fällen wohl auch in mehreren, die man stets als Paradestücke vor den Häusern der Häuptlinge stehen sieht. Die kleinsten Stücke dieses Steingeldes sind von der Größe eines Tellers und von Armsdicke, ihr Werth stellt schon ein kleines Vermögen dar, von dem wohl eine ganze Familie der Eingeborenen längere Zeit leben kann, während die größten, unseren Mühlsteinen vergleichbar, denn sie sind auch in der Mitte durchbohrt, einen kaum schätzbaren Werth für diese Insulaner haben. Muß man doch dies Geld aus dem 200 Meilen weiten Palau holen, wo es nach erlangter Erlaubniß des dortigen Königs aus dem Fels gehauen wird, um auf gebrechlichem Kanoe zur Heimath geführt zu werden, sobald nach Ablauf mehrerer Monate der Wechsel des Monsuns den Antritt der Rückreise gestattet. Wie mancher mühsam erarbeitete Stein verschwand aber schon mit dem Kanoe in der Tiefe! Der zunehmende Verkehr mit den Europäern und das Annehmen ihrer Sitten wird dieses Geld freilich bald verdrängen, ist es doch den amerikanischen Missionären auf Kuschaie schon gelungen, die hübschen, aber knappen Grasröckchen der dortigen Bewohner durch europäische Kleidungsstücke zu ersetzen. Die Einwohner von Kuschaie werden civilisirt; ihre bunten Tänze hören auf, dafür lernen sie viel Oberflächliches in Kirche und Schule. Stolz konnte ein fleißiger brauner Schulbesucher als Resultat seiner Studien uns versichern, daß er Merika, Jesus Christ, Million, alles wüßte! Für solche Unterweisung und Sorge für ihre Seelen läßt man die gutmüthigen Insulaner hohe Abgaben zahlen, Kalender und Traktätchen kaufen und treibt mit den Ergebnissen der Kirchensteuern einen einträglichen Handel.

Freilich wird es solchen Verbreitern des Christenthums wohl nicht mehr allzu lange vergönnt sein, ihr einträgliches Geschäft zu betreiben, denn auch diese Rasse schmilzt dahin, wie der Schnee vor der Frühlingssonne. Welche auch immer die Ursachen sein mögen, die Thatsache steht fest, daß die Bevölkerung der Inselgruppe stetig abnimmt. Man schätzt sie jetzt auf nur 22 000 Seelen. So besitzt das schöne Kuschaie, das noch zur Zeit der Blüthe des Walfischfanges in den 50er und 60er Jahren von zahlreichen Schiffen angelaufen wurde und heute vollständig christianisirt ist, kaum mehr als ein paar hundert Bewohner, während das viel größere Ponape noch etwas über 2000 besitzen mag. Auch hier haben, wie allenthalben in der Südsee, durch Weiße eingeführte Epidemien (Blattern, Masern) große Verheerungen angerichtet. Und es ist schade um dies körperlich wohlgestaltete und heitere Völkchen, das immer, wo es nicht durch Eingriffe in seine Rechte aufgereizt wurde, sich als sanft und freundlich und zutraulich gegen die Europäer bewiesen hat. Die Karolinier zählen mit zu den schönsten Stämmen des westlichen Stillen Oceans, unterscheiden sich aber als Rasse in keiner Weise von ihren östlichen Nachbarn, den Bewohnern der Marschalls- und Gilberts-Inseln. Dagegen sollen die Eingebornen Palaus sich durch dunklere Hautfärbung mehr der melanesischen Rasse nähern.

Die Karolinier sind von nicht geringer geistiger Begabung, aber sie standen ehemals unzweifelhaft auf einer höheren Stufe der Gesittung, von welcher sie im Laufe der Zeit herabgesunken sind. Schwer entschließt man sich zu dem Glauben, daß die mächtigen Steinbauten von Kuschaie, Ponape und Palau Werke eines Volkes sein können, das fortdauernd angestrengter Thätigkeit so abhold ist, wie diese Insulaner. In Kuschaie schützen hohe Mauern die Ufer gegen den Anprall der Wellen, in Ponape sehen wir großartige Ruinen, cyklopische Bauten aus mächtigen Basaltsäulen, und in Palau muß man staunen über die hohen Wälle, Straßen und Steintreppen, die langen und breiten Steindämme, mit denen man künstliche Häfen bildete. Wie man die ungeheuren Basaltblöcke von ihrem Fundorte zu dem oft weit entfernten Bauplatze quer durch den Urwald fortschaffte, bleibt ein Räthsel. Jetzt bedecken Moos und prächtige Blattpflanzen die dunklen Riesenmauern, die nach allen Richtungen laufen. Meist umschließen sie unregelmäßige Vierecke, zu welchen große, mit Geröll halb verschüttete Oeffnungnen führen. Der innere Raum ist mit gewaltigen Bäumen bestanden und der Boden häufig mit flachen Steinen gepflastert. Ohne Zweifel wurden diese Riesenbauten zu Vertheidigungszwecken angelegt, aber wir sind da nur auf Vermuthungen angewiesen, denn bei der jetzigen Generation ist alle Erinnerung an den Bau dieser Werke verschwunden, nicht einmal eine vage Tradition kann uns über ihren Zweck belehren. Doch haben die Ausgrabungen, welche der Reisende Kubary in den sogenannten Königsgräbern von Nautauatsch auf Ponape anstellte, den unzweifelhaften Nachweis geliefert, daß die Erbauer dieser Riesenbauten mit den Resten der heutigen Bevölkerung identisch waren.

Aber noch immer entwickeln die Karolinier eine bemerkenswerthe Geschicklichkeit, verbunden mit Nettigkeit und Geschmack im Bau ihrer Häuser und Boote, in der Anfertigung von allerlei Geräth und Zeugen. Charakteristisch für diese Insulaner ist die Kenntniß einer primitiven Webekunst, welche ohne eigentlichen Webestuhl doch sehr hübsche Stoffe aus der haltbaren, fast seidenähnlichen Faser der Banane liefert. Darunter die buntgemusterten Toll oder Gürtel von Kuschaie und Ponape und die breiteren Stoffe von Ruk und den Mortloks, welche leider mehr und mehr durch europäische Fabrikate verdrängt werden. Denn schon hat sich ein reger Tauschverkehr mit europäischen Schiffen entwickelt. Die Insulauer liefern Kopra und Trepang in nicht erheblicher Menge gegen Zeuge, Beile etc. Die deutsche Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee hat auf neun Inseln Faktoreien errichtet, darunter auch auf jenem Yap, und die Firma Hernsheim besitzt auf der großen Insel Ponape zwei Faktoreien auf eigenem Grund und Boden und eine Faktorei auf den nahen Ants-Inseln. Auch Engländer treiben Handel mit dieser Gruppe.

Vergeblich aber forschen wir nach einer Thätigkeit Spaniens. Seitdem im Anfange des 18. Jahrhunderts spanische Jesuiten den Versuch, hier das Christenthum zu pfanzen, endgültig aufgaben, hat Spanien hier weder seine Flagge entfaltet, noch haben seine Angehörigen irgend ein Interesse an dieser Gruppe bekundet. Die Missionsthätigkeit wird seit mehr als 25 Jahren durch die amerikanische Missions-Gesellschaft von Honolulu aus mittelst hawaiischer Lehrer betrieben, hat aber im Ganzen keine großen Erfolge gehabt. Diese Missionsgesellschaft besitzt ein eigenes Schiff, den „Morgenstern“, der alljährlich die verschiedenen Inseln der Karolinen besucht. Der Handel ist, wie bereits erwähnt, wie aber noch besonders hervorzuheben ist, fast ausschließlich und schon seit vielen Jahren in Händen von Deutschen. Jetzt aber, da der Boden vorbereitet ist und die unter Mühen gestreute Saat ihre Ernte bringt, möchte Spanien die Frucht fremden Fleißes einheimsen. Möge es unserer Regierung gelingen, das, was Deutsche erworben, denselben auch zu erhalten! Für die Eingeborenen jener Inseln wäre eine Vertauschung deutscher mit spanischer Herrschaft ein wahres Unglück, das zeigen uns die ehemals blühenden, jetzt ins tiefste Elend versunkenen benachbarten Marianen.


Orientalische Sprüche.

Wohl kennt man ein Mittel, das überaus bewegliche Quecksilber zu binden, aber kein Mittel, ein Weiberherz zu fesseln. Indisch. 


  Wenn auch Dein Mund nie das Geheimniß bricht,
  Zweihundert Schleier hüllen Liebe nicht.  Persisch. 

Liebe und Haß sind Schleier vor den Augen: der eine läßt nur das Gute sehen, der andere nur das Schlimme. Arabisch. 


Wo Männer beisammen sind, hören sie einander, wo Frauen und Mädchen, sehen sie einander an. Chinesisch. 


  Jedwedes Ding mit Deinem Weib besprich,
  Und ist sie klein, so bücke Dich.  Hebräisch. 

Der Bauch des Armen ist der Trog Gottes, und wer ihn füllt, ist Gottes Freund. Persisch. 

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Blätter und Blüthen.

Ophelia. (Mit Illustration auf S. 633.) Fast zahllos sind die Kunstschöpfungen, welche diese Gestalt, eine der schönsten, die Shakespeare’s Genius geschaffen, hervorgerufen hat. Die meisten dieser Kunstwerke zeigen uns Ophelia, wie sie umnachteten Geistes von ihrer unglücklichen Liebe zu Hamlet singt, den Tod ihres Vaters beweint oder auf dem Weidenbaume über’m Bach „phantastisch Kränze windet, bis ein falscher Zweig zerbricht und die rankenden Trophäen mit ihr selbst ins weinende Gewässer niederfallen“, auf welchem ihre Kleider sie „sirenengleich noch ein Weilchen emporheben, indeß sie Stellen alter Weisen singt, als ob sie nicht die eigne Noth begriffe“. J. Bertrand, der Künstler unserer Illustration, wählte den nicht minder ergreifenden Moment zu seiner Darstellung, in welchem die Leiche des unglücklichen Mädchens aus dem Wasser gezogen wird, auch im Tode noch ein Bild lieblichster Schönheit und rührendster Anmuth.


Die Selbsthilfe im deutschen Eisenbahndienste. Wie segensreich gut geleitete fachliche Genossenschaften auf allen Gebieten des Erwerbslebens zu wirken vermögen, darüber dürfte heute nur eine Meinung herrschen. Bis herab zu den einfachsten Berufsklassen ist die Erkenntniß davon gedrungen, und wir sehen alle sich rühren und regen. Nur der ausgedehnte Stand der deutschen Eisenbahnbeamten steht noch ziemlich abseits. Abgesehen von den Lokomotivführern, scheinen die übrigen Eisenbahnbeamten noch nicht hinreichend Mittel und Wege gefunden zu haben, sich in größerem Umfange der Segnungen gemeinsamen Strebens nach wirthschaftlicher Hebung und fachlicher Fortbildung theilhaftig zu mach. Daß gerade die Lokomotivführer hierin weiter vor sind, lag in den zwingenden Verhältnissen. Ihr gefahrvoller Dienst und die damit zusammenhängende hohe Verantwortlichkeit, sowie ihre frühere dürftige Besoldung und nicht zum mindesten ihre gleichartigere Dienstleistung führten sie bald zu größeren Vereinigungen, von denen der „Verein deutscher Lokomotivführer“ gegenwärtig über 7000 Mitglieder zählt. Die Einnahmen des Vereins dienten zur Bestreitung der Kosten für Rechtsschutz, für Unterhaltung der Vereinsbibliothek, für den Besuch von Versammlungen und für den Versand der „Zeitschrift für Lokomotivführer“. Namentlich dieser vor zwanzig Jahren von C. D. Maaß begründeten und von ihm mit gutem Geschick bis heute fortgeführten Zeitschrift hat der Verein, welcher durch seine nebenbei bestehende Unterstützungskasse bereits 700 000 Mark an Pensionäre und Hinterlassene von Mitgliedern auszahlte, sein großes Ansehen zu danken.

Läßt sich nun auch von den übrigen deutschen Eisenbahnbeamten nicht Gleiches berichten, so beginnt sich doch erfreulicher Weise auch bei diesen, nachdem durch die Verstaatlichung eine größere Einheitlichkeit herbeigeführt worden, das genossenschaftliche Streben zu regen. Bereits seit Anfang dieses Jahres erscheint im Verlage von Eduard Strauch in Leipzig die „Algemeine Deutsche Eisenbahn-Zeitung“, welche sich neben der Popularisirung der Eisenbahnwissenschaft im Sinne des geistvollen Förderers des Eisenbahnwesens, Max Maria von Weber’s, die Vertretung der Interessen des gesammten deutschen Eisenbahnbedienstetenstandes zur Aufgabe gestellt hat. In ihrem Bestreben, den Beamten auf der kleinen Station vor Vereinsamung, sowie den im aufreibenden Getriebe der großen Station befindlichen vor Abstumpfung bewahren und durch praktische Vorschläge aus der Mitte der Beamten selbst Vereinfachung und Erleichterung des so komplicirten Eisenbahnbetriebes herbeiführen zu helfen, wird diese Zeitung gar manches Gute zu leisten im Stande sein. Der vor Kurzem entstandene „Verein preußischer Betriebsbeamter“ ernannte dieselbe zu seinem Organ und ergreift damit das zweckmäßigste Mittel, sich die nämlichen Vortheile wie der „Verein deutscher Lokomotivführer“ zu verschaffen, besonders wenn er die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen sollte, sich über kurz oder lang zu einem Deutschen Eisenbahnbeamtenverein zu erweitern.


Wildbad Gastein. (Mit Illustration auf S. 641.) Station Lend! Also noch nicht Gastein. Aber es ist nicht mehr weit bis zu dem weltberühmten Bade, alljährlich das Ziel von Tausenden Heilbedürftiger oder Reiselustiger. Das ländlich idyllische „Dorf- Gastein“ wird passirt, auch durch das belebte „Hof-Gastein“ führt der Weg, dann kommt der eigentliche Hort der Quellen, „Wildbad Gastein“. Das modernste Leben und die wildeste Naturkraft berühren sich in diesem Bade „mit den vornehmsten Gästen aus aller Welt“, und diesem Flecken, „zwischen dessen Gebäuden sich der brausende Bergbach mitten hindurchdrängt, unbekümmert, welch erlauchtes Wort seine tosenden Wasserfälle verschlingen.“

Erst in Nr. 31 des Jahrgangs 1880 brachte die „Gartenlaube“ aus der Feder Heinrich Noë’s eine fesselnde Schilderung von Wildbad Gastein, und Robert Aßmus schmückte dieselbe Nummer mit einem ansprechenden Bilde. Unsere heutige Illustration entnehmen wir dem Prachtwerke „Wanderungen im Bayerischen Gebirge und Salzkammergut“, geschildert von den allen Lesern der „Gartenlaube“ bekannten Dichtern Herman von Schmid und Karl Stieler und echt künstlerisch illustrirt von G. Cloß, Wilh. Diez, Alois Gabl, Richard Püttner, Ramberg, C. Raupp, J. G. Steffan und Anderen. Wird sie weniger Anklang finden, als die erstere? Wir glauben nicht. Die heilbringende Stätte, zu welcher noch jüngst unzählige Herzen unseren Kaiser begleiteten und an der alljährlich so viele Männer der That neue Kräfte suchen, ist geweiht. D. Th.     


Edwin Bormann’s „Poetische Postgrüße“. So lautet der Titel der neuesten Gedichtsammlung des humorvollen Leipziger Poeten, die in einer ungewöhnlichen Ausstattung soeben im Verlag der Papierhandlung F. G. Mylius in Leipzig erschienen ist. Die kleinen vierzeiligen Strophen sind nicht dazu bestimmt, dauernd in unserer Bibliothek zu verweilen, sie sollen nur flüchtige Gäste des Hauses sein, die bald als lose Blätter auf Nimmerwiedersehen in die weite Welt hinausflattern, denn Briefbogen und Postkarten sind es, die Bormann diesmal mit seinen Reimen schmückte. Für die Damenwelt, die sich so gern mit Vignetten und Sprüchlein verzierten Papiers bedient, sind die „Schwalben-Briefe“ und „Schwalben-Postkarten“ ein allerliebstes Geschenk, und die Bormann’schen Mottos können oft dem Briefempfänger sagen, was man selbst zu schreiben weder Zeit noch Lust hat.

Eine Postkarte wird sicher Niemand verletzen, wenn an ihrer Spitze als Entschuldigung gedruckt steht:

„Gelt, altes Haus, Du nimmst es mir nicht schief,
Daß dies kein gallasteifer Schreibebrief?
Wenn ich zum Freund auf fünf Minuten geh’,
Braucht’s dann erst Frack, Cylinder und Glacé?“


Ein eigenartiges Denkmal darf wohl das Kolschitzki-Denkmal in Wien genannt werden. Kolschitzki war kein Feldherr, Dichter oder Mann der Wissenschaft, sondern ein einfacher Privatmann, der sich aber während der Belagerung Wiens durch die Türken bemerkenswerthe Verdienste erwarb und später das erste Wiener Kaffeehaus gründete. Namentlich in Rücksicht auf letztere Thatsache hat ihm nun der Kafetier Karl Zwirina ein Denkmal errichtet, welches am 12. September in Wien enthüllt wurde und dem wohl kaum ein zweites gleich eigenartiges an die Seite gestellt werden kann. Das mehr als sieben Fuß hohe Standbild, welches in bronzirtem Metallguß ausgeführt ist, zeigt Kolschitzki in türkischer Tracht, in welcher Verkleidung er sich zweimal durch das feindliche Lager gewagt hat, um dem Herzog von Lothringen Botschaft aus der hartbedrängten Stadt zu bringen; um aber an seine spätere Thätigkeit als erster Wiener Kafetier zu erinnern, hält er in der Linken eine Tasse, in die er mit der Rechten aus einer Kanne einschänkt. Zu seinen Füßen befindet sich, inmitten türkischer Waffen und Trophäen, sein Antheil an der Beute – ein Sack mit Kaffee. – th.     


Eine neue, praktische Postmarke erhalten vom 1. Oktober d. J. ab die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Dieselbe ist eine Marke im Werthe von 10 Cents, welche, wenn sie zu der gesetzmäßigen Postgebühr hinzugefügt wird, in Orten von mehr als 4000 Einwohnern unmittelbare Ablieferung eines Briefes durch besondern Boten sichert, also den Eilvermerk auf einfachste Weise ersetzt. Die neue Marke wird von der Post genau so behandelt wie andere Werthzeichen, kann aber, abweichend von diesen, zur Frankirung von Briefen nicht benutzt werden. – th.     



Inhalt: [ zu diesem Heft, hier nicht transkribiert. ]



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen General Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

manicula Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.

Die Verlagshandlung.     

Verantwortlicher Herausgeber Adolf Kröner in Stuttgart. Redacteur Dr. Fr. Hofmann, Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger, Druck von A. Wiede, sämmtlich in Leipzig.