Die Gartenlaube (1886)/Heft 47

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[821]

No. 47.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die beiden Schaumlöffel.
Eine Künstlergeschichte von Klara Biller.


In einer der Villenstraßen, die rechts und links die Briennerstraße durchkreuzen, liegt, versteckt von einer Gruppe alter Bäume, ein allerliebstes Haus, das sich ein bekannter Münchener Künstler, Paul Schaumlöffel, kürzlich erbaut hat. Vom Atelier, welches er als moderner Maler, der seine Staffelei am liebsten im Freien aufstellt, nur selten zum Arbeiten benutzt, schaut man ins Grün der Nachbargärten. Man kann sich da einbilden, daß man auf dem Lande sei und in den weitläufigen Park eines Schlosses blicke.

Wie das meist der Fall ist, hat Paul sich’s sauer genug werden lassen, ehe er Besitzer dieses hübschen Hauses wurde. Aber auch in der schwersten Zeit hat er, dank einer glücklichen Gemüthsanlage, den Kopf oben behalten. Er ist immer ein trefflicher, hilfbereiter Kamerad gewesen, besonders aber hat sein köstlicher Humor ihn überall beliebt gemacht. Wird in der Künstlergesellschaft „Allotria“ ein lustiger Schwank in Scene gesetzt, so steckt Paul sicher mit dahinter. Im Karneval führt er das große Wort, und ist ein gern gesehener Mitarbeiter der „Fliegenden Blätter“. Zuweilen kommt’s wohl vor, daß er neben den guten auch einmal einen schlechten Witz macht; ernsthaft aber hat sich noch kein Kamerad über ihn zu beklagen gehabt.

Paul hat keine regelmäßigen Züge; seine Nase erinnert durchaus nicht an die Griechen; der Mund ist etwas breit, und die Lippen sind zu voll, aber das Ensemble macht einen sehr angenehmen Eindruck. Den Rafaelschnitt der Haare verschmäht er selbstverständlich wie das Rafael’sche Ideal. Er trägt sein Haar kurz verschnitten, wie’s ihm bequem ist. Den Schnurrbart streichelt er gern, wie ein Ding, für das man eine gewisse Vorliebe hat. Sein Anzug ist tadellos, alles Auffallende daran vermieden. Wenn er an der Staffelei sitzt, zeigt die Wäsche wohl hier oder da einen Fleck, aber nie gemeine Vernachlässigung. Er hält sich seit zwei Jahren einen jungen Diener, den er selbst abgerichtet hat und auf dessen Erziehung er sich viel einbildet. Zuweilen macht der Zögling ihm auch Ehre. Schulden hat Paul nicht, wenigstens nicht mehr, als ein Künstler, der kürzlich in Mode gekommen ist und dessen Bilderpreise im Steigen sind, sich gestatten darf.

Vor der Staffelei steht er eben im Atelier, lächelt sein letztgemaltes Bild an und findet, daß das Leben doch eigentlich eine ganz herrliche Einrichtung sei. Giebt’s denn einen lustigeren Beruf, als mit Pinsel und Palettenmesser so recht in der vollen Farbe zu wirthschaften, bis ein Bild daraus wird, vor dem ein Amerikaner Augen und Brieftasche aufreißt? Fängt das Geld nicht an, ihm von allen Seiten zuzurollen? Und jetzt wird ja auch die Zeit kommen, wo’s nicht


Mein Liebling. 0Nach dem Oelgemälde von Carl Fröschl.

[822] im Rollen bleibt, sondern zum Besitz sich sammelt, . . . Jemand, den er fast ebenso gern hat wie die Malerei, wird ihn lehren sparsam sein!

Er ist kein Frauenverächter gewesen, Gott bewahre! Aber bis vor Kurzem hat weder Braun noch Blond noch Schwarz einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, daß er am nächsten Tage die Farben auf der Palette verwechselt hätte. Erst seit er die blonde Mietze kennt, ist ihm manchmal so schauerlich süß und auch wieder so gruselig und flau zu Muthe … Meint’s die Mietze denn ehrlich, wenn sie ihn so freundlich – so ganz verwirrend nett anlächelt? Da hängt sie übrigens in einem Rahmen mit altem, kostbarem Stoff bezogen, wie’s jetzt modern ist. Wie der bläuliche Ton der verblichenen Seide zu dem aschblonden Kraushaar stimmt! Himmel! – wenn sie’s wüßte, daß Paul sie aus dem Gedächtniß gemalt! . . . In ein paar Tagen muß sich’s entscheiden, wie er mit ihr dran ist. Er fährt dann nach Tutzing hinaus, wo Mietze bei der Tante zum Besuch ist. Er soll die Tante, – die Frau Banquier Delfin, inmitten ihrer japanischen Brimborien malen. Dabei muß sich die Geschichte entscheiden. Man wird ihn doch nicht hinausgelockt haben, um ihn auf die Probe zu stellen und sich an seinen Liebesseufzern zu ergötzen? Liebesseufzer? Ha – da kennt man ihn schlecht!

Auf jeden Fall aber ist’s gut, die Taschen voll Geld zu haben, wenn man auf Freiersfüßen geht. Und da liegen Fünftausend Mark, die ihm ein amerikanischer Kunsthändler eben für das kleine Bild – „Scenen aus der Auer Dult“[1] – gegeben hat. Es ist flott gemalt in kaum acht Tagen … Das Pendant wird er beginnen, wenn er von Tutzing zurückkommt. Es schwebt ihm schon eine Idee dazu vor.

Er hört die Thür gehen. Fritz, das erzogene Dienstgenie, verfällt manchmal noch in die unelegante Gewohnheit, einzutreten, ohne anzuklopfen. Aber die Gewohnheit, seinen Herrn mit einem Schlage auf die Schulter aus Träumereien zu wecken, hat er allerdings nicht.

Rasch wendet Paul sich um. Ein junger Mann von etwa achtundzwanzig Jahren steht hinter ihm. Eine Physiognomie, aus welcher ernstes Studium und Entbehrungen die Jugend verwischt haben.

Paul begegnet dem Blick des Fremden. Plötzlich fährt er sich mit der Hand über die Stirn, als suche er da etwas; dann schreit, er laut auf:

„Oskar! Alter Junge – endlich!“

Und er zieht diesen mit seinen kräftigen Armen so stürmisch an sich, daß er ihn beinahe vom Boden aufhebt.

„Das ist hübsch von Dir, Paul, daß Du mich noch erkennst!“

„Werd’ ich nicht! Wie lange ist’s her?“

„Zehn Jahre.“

„Gott! Die Zeit ... die Zeit!“

„Du hast sie gut benützt – Du bist berühmt geworden.“

„Das heißt, ich verdiene Geld – ja! Aber laß Dich ’mal ansehen, lieber Junge ...“

Und sich zwei Schritt vor ihm aufstellend, fixirt ihn der Maler, während der Andere etwas unbehilflich dasteht. Eine schmächtige Gestalt, die Arme etwas zu lang, die Schultern etwas zu hoch, das Haar für den Teint etwas zu hell und die Züge zu spitz – entscheidet der Künstler. Nur an den Augen findet, er nichts auszusetzen. Es sind große, kluge, forschende Augen; Augen, aus denen Sehnsucht spricht, eine grübelnde, unruhige, verzehrende Sehnsucht. Menschen, die einem Problem nachjagen, haben solche Augen.

„Das sind noch dieselben lieben, prächtigen Augen!“ sagt Paul endlich; er findet, daß er nach dem langen Examen doch einen Ausspruch thun muß. „Du hast doch Deinen Koffer mitgebracht?“ setzt er schnell hinzu.

„Er ist noch auf der Bahn.“

„Wird besorgt werden. Vorläufig bleibst Du hier.“

„Aber Paul ...“

„Keine Einrede. Wo kommst Du her?“

„Vom Rhein.“

„Ich frage nicht erst, was Du dort getrieben ...“

„Wenn ich Dir sage –“ unterbricht Oskar ihn erregt, daß ich das Mittel gegen die Phylloxera wirklich in der Hand habe, daß ich nach allen Seiten hin experimentirt, alle Einreden vorgesehen, und daß ein Kind zu überzeugen wäre!“

„Ja, weißt Du – wer nicht überzeugt sein will, mit dem streitet man vergeblich. Mach’ Dir’s indeß erst bequem! Wir seufzen dann gemeinschaftlich über die menschliche Thorheit.“

Aber der Andere ist noch im Zuge:

„Sie bilden sich ein, man könne die Phylloxera aufhalten wie die Straßenräuber mit Polizei; aber daß es am Boden liegt, daß unser überkultivirter Boden anämisch ist, wie der Körper eines bleichsüchtigen Mädchens, daß man diesen Boden erst widerstandsfähig machen muß – das können sie nicht begreifen! … Ach, verzeih! Da haben wir uns seit zehn Jahren nicht gesehen, und ich schwatze Dir von solchen Dingen!“

„Mach’ Deinem Herzen Luft, lieber Schatz, bis das Frühstück kommt und Dir den Mund stopft!“ ruft Paul, ergreift den Arm Oskar’s und führt ihn in sein Zimmer. An der Thür ruft er seinem Dienstgenie : „He Fritz – ein Gabelfrühstück – etwas ganz Großartiges; zeig’, was Du gelernt hast!“

Und während Fritz, der in dieser Beziehung wirklich Anlage verräth, dem Verlangen nachkommt, strecken sich die Zwei auf einem bequemen Divan und schwatzen von den vergangenen Jahren, die wie eine Unendlichkeit einst vor ihnen lagen und die im Rückblick sich so schnell durchmessen lassen. Sie hatten sich nicht oft geschrieben.

„Warum hast Du eigentlich gar nichts von Dir hören lassen, Oskar?“

„Konnte ich denn – wenn von Dir auf die ersten Briefe keine Antwort erfolgte?“

„Aber Du wußtest doch, wie’s bei mir mit dem Schreiben bestellt ist!“

Der arme Oskar, feinfühlend wie Naturen seiner Art sind, mochte nicht eingestehen, daß er seinem Wunsch, von Paul zu hören – ja ihm wenigstens selbst zu schreiben, nur deßhalb nicht nachgekommen war, damit jener nicht an seine Noth erinnert werde. Paul hatte seinen treuen Kindheits- und Jugendgefährten zuerst zwar schmerzlich vermißt, sich aber bald mit dem Egoismus des Talentes in die Trennung gefunden und damit getröstet, es gehe Oskar gut, und er bedürfe seiner nicht mehr.

Sie waren Vettern und beide Münchener Kinder. Während Paul aber eine leidenschaftliche Neigung zur Kunst trieb, war es bei Oskar nur des strengen Vaters Wille – der Vater war ein geschickter Porcellanmaler – der den Sohn beim Zeichnen festhielt. Oskar’s Sinn stand danach, zu studiren; er hatte eine angeborene Neigung für Alles, was mit den Naturwissenschaften zusammenhing. Jede freie Stunde war dieser Leidenschaft gewidmet, der er entsagen sollte. Freilich fehlte es an den nöthigen Mitteln, sie zum Beruf zu wählen; dem Knaben aber wollte das nicht einleuchten. Er hoffte immer, den Vater durch irgend einen Erfolg auf diesem Gebiet für seine Pläne zu gewinnen. Bald versuchte er Farben für ihn zu bereiten, die beim Brennen unverändert blieben; bald beschäftigte er sich mit dem Erfinden einer neuen Lasur, oder er baute Modelle. Da starb der Vater, als Oskar im achtzehnten Jahre stand. Der Wittwe, welche außer dem Sohne noch drei Töchter besaß und die ganz mittellos war, kam das Anerbieten eines nach Amerika ausgewanderten Bruders, der ihr rieth – ihm mit der Familie nachzuziehen, sehr gelegen. Für Oskar war’s ein harter Schlag. Er war nicht von der Art, die in Amerika ihr Glück macht; er hatte den grübelnden Sinn der Erfinder, die säen, was praktischere Naturen ernten. Als ob er’s ahnte, daß er in der neuen Welt nichts erreichen werde, sträubte er sich, die Mutter zu begleiten. Auch von Paul wollte er sich nicht trennen. Vielleicht war die Ungleichheit der Vettern ein Band, das sie besonders fest an einander kettete: sie ergänzten sich. Paul aber hatte damals Mühe, sich selbst über Wasser zu halten. Er versuchte wohl, seinem geliebten Oskar Schüler zu verschaffen, aber was sollte Oskar auch lehren – das Erfinden? Da er körperlich nicht kräftig war, blieb ihm schließlich nichts übrig, als die Mutter zu begleiten.

„Du hast doch damals auf der Akademie schon recht nett gezeichnet – ja es sogar mit ein paar Portraits in Stiften versucht – konntest Du denn damit drüben nichts anfangen?“ [823] fragte Paul, indem er seinem Freund die Hälfte einer Beefsteakpastete auf den Teller schob.

Oskar schüttelte den Kopf.

„Es ist mit dem Beruf, an dem man mit ganzer Seele hängt, wie mit einer starken Leidenschaft – sie macht unfähig für alles Andere,“ sagte er. „Ich habe in Amerika Zeichenstunden gegeben, ja, ich habe sogar ein paar Portraits gemalt – lache nur! Es geschah, wie Du Dir denken kannst, nur um die Mittel zu erwerben, wieder zurückzukehren.“

„Und was denkst Du hier zu thun?“

„Die Laboratorien zu besuchen, ein paar Kollegien zu hören und mich wieder in den Stil der Gelehrsamkeit hineinzufinden, ohne den man in Deutschland einmal kein Ansehen hat. Dann will ich meine Abhandlung über die Phylloxera schreiben …“

„Bravo! Dabei entgehst Du mir nicht!“

„Du mußt wissen,“ fügte Oskar hinzu, den es quälte, sein Vetter könne denken, er habe auf dessen Gastfreundschaft gerechnet, „daß ich jetzt Kapitalist bin. Ein Runkelrübenbauer hat kürzlich meine Broschüre über die Verdoppelung des Zuckergehalts der Rüben gelesen. Ich mußte ihm zur Hand gehen bei Einrichtung meiner Methode, und er zahlte gut. Ein paar Monate reicht’s noch …“

„Den Monat zu hundert Mark gerechnet – wie?“

„Noch etwas darüber,“ erwiderte Oskar ernsthaft.

Paul lachte gerade aus.

„Sieh’ mal – da liegen fünftausend Mark – weißt Du, wie weit die reichen?“

„Seit wann ist Dein Stern aufgegangen?“

„Seit ich 1883 in der Internationalen meinen ‚Sommerabend im Hofbräu‘ ausstellte.“

„Davon habe ich sogar in Amerika gehört.“

„Ja, siehst Du, wenn man das Publikum an seinen Schwächen packt, da hat man’s gleich im Sack. Ich hatte das Bild derb realistisch gefaßt. Von den Stammgästen mußten ein paar still halten – paff, saßen sie auf der Leinwand, daß die Münchener sie beim Namen riefen. Ein paar hübsche Kellnerinnen, wohlbekannt, ließ ich mit den gefüllten Halben’ hin- und herspringen. Die Bockwürstl-, Rettich- und Bretzeljungen und den ganzen Schwindel – nichts vergessen! Wer Hofbräu getrunken, dem schmeckte das Bier in der Erinnerung noch einmal vor dem Bilde. Da kannst Du Dir denken, wie alle Welt sich hinzudrängte. Mit einem Schlage war ich bekannt – an Angeboten fehlte es nicht. Ein Amerikaner war Meistbietender. Großer Spektakel, als man hörte, ich habe nach New-York verkauft. Warum denn solche Perlen nicht im Vaterlande festhalten? Wozu war denn die Pinakothek eigentlich erbaut worden? Siehst Du, so über Nacht kommt das Glück auch einmal zu Dir! Vorläufig genügt’s ja für Beide, wenn’s bei Einem einkehrt!“

Oskar drückt ihm die Hand und lächelt schmerzlich.

„Ich wüßte schon ein Mittel, Dir zu Kapital zu verhelfen …“ wirft Paul hin.

„Wenn ich einen Millionär auf der Landstraße anfiele?“

„Nein – armer Junge! Der würde Dich nur Deiner Kourage wegen loben. Aber wenn Du seiner Tochter den Hof machtest …“

„Laß mich damit zufrieden.“

„Hast Du nie daran gedacht?“

„Nie.“

„So ist es hohe Zeit, jetzt daran zu denken.“

„Ich bin nicht gemacht, Frauen zu gefallen.“

„Jeder ist dazu gemacht, er braucht nur zu wollen.“

„Nun, dann will ich auch nicht durch eine Frau reich werden. Aber wie steht’s mit Dir?“ setzte er hinzu, um das Gespräch zu wenden.

Paul, der eine mittheilsame Natur war und welchem die Liebe zur Mietze im Augenblick ganz besonders das Herz erwärmen mochte, ließ sich nicht lange bitten, seinen Vetter ins Vertrauen zu ziehen. Oskar bekam die ganze Geschichte zu hören von dem herrlichen Einfall an, den Paul hatte, als er die blonde Mietze auf einem Ausflug nach Nymphenburg kennen lernte; wie er sie bestimmte, mit ihm voraus zu laufen, um im Zuge, der eben dahin abgehen sollte, Plätze zu halten; wie die korpulente Tante mit ihrer Gesellschaft natürlich zu spät kam und den Zug abfahren sah – er mit der Mietze darin! Und wie gut er die Stunde zu benützen wußte, die er voraus hatte, ehe der nächste Zug abging! Wie das arme Kind erst so erschreckt war, als sie sich mit ihm allein fand … wie sie dann sich ergab und zutraulich wurde, und endlich so herzlich mit ihm lachte, daß sie ihm alle ihre Grübchen in dem reizenden Gesicht verrieth … „Was willst Du nur, Fritz?“ unterbrach Paul sich etwas ungeduldig. Sein Dienstgenie stand an der Thür und telegraphirte mit den Armen. Er hatte ihm eingeschärft, ein tête-à-tête nicht durch Worte zu unterbrechen.

Fritz rückte mit einer Visitenkarte vor: Mr. John Dunby, New-York.

„Natürlich annehmen!“ rief Paul aufspringend. „Amerikaner werden immer angenommen. Ins Atelier; ich komme sobald wie möglich.“

Darauf füllte er Oskar’s Glas noch einmal und trank gemüthlich selbst noch eins aus.

„Es darf durchaus nicht den Anschein haben,“ entgegnete er seinem Vetter, der ihn zur Eile mahnte, „als hätten wir Künstler weiter nichts zu thun, als auf Bilderkäufer zu warten.“

Gemüthlich wandelte er dann über den Flur nach dem Atelier.

Hier findet er einen Mann von etwa fünfzig Jahren; untersetzt, ziemlich gebräunt, mit unschönen, aber intelligenten Zügen. Er macht in seinem hellen Sommeranzuge den Eindruck eines Arbeiters im Sonntagsstaat. Mit dem wohlwollenden Lächeln, das Kapitalisten so gern aufstecken, wenn sie mit Künstlern verkehren, ergreift Mr. John Dunby des Malers Hand, die er kräftig schüttelt.

„Herr Schaumlöffel?“

Paul verbeugt sich stumm und würdevoll.

„Herr Schaumlöffel, erlauben Sie mir,“ sagt der Amerikaner mit starkem Accent und den üblichen Sprachfehlern eines des fremden Idioms nicht recht Kundigen; „Herr Schaumlöffel, erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Anerkennung ausspreche. Sie sind ein großer Mann – ein Genius!“

Abermalige stumme Verbeugung.

„Ich habe Ihren ‚Hofbräukeller‘ in Amerika gesehen – prachtvolles Bild! Ihr Vaterland kann stolz sein, auf den Hofbräukeller und auf Sie! Ich bin hierhergekommen, um ein ähnliches Meisterwerk von Ihnen zu erwerben. Meine Tochter hat mich begleitet, um bei Ihnen ein paar Lektionen zu nehmen.“

Die Bilderbestellung kommt Paul natürlich sehr gelegen, nicht so der Unterricht. Er hält, wie die meisten Maler, nicht gerade viel vom weiblichen Genie. Und ein fremdes Frauenzimmer jetzt an seiner Seite haben und mit Aufmerksamkeit behandeln, während er an die Mietze denkt – unerträglich! Dazu hat die Schilderung, die er seinem Vetter soeben von demselben blonden Mietzchen entwarf, wie Champagner auf ihn gewirkt. Der Schalk, der bei ihm nie ganz schläft, ist plötzlich sehr mobil geworden. Ein Gedanke durchblitzt ihn: Oskar hat ja auch seine Lehrjahre auf der Akademie durchgemacht! Er wird dem Amerikaner Oskar an seine Stelle pflanzen. Und ohne nur die Folgen recht zu überlegen, läßt er seinem Uebermuth auch schon die Zügel schießen.

„Sie verkennen mich,“ sagt er ernst.

„Wieso? Ich bin doch im Atelier von Herrn Schaumlöffel?“

„Ja – Sie verwechseln mich aber mit meinem Vetter, der mich gebeten hat, Sie hier zu empfangen.“

„Ihr Herr Vetter ist doch nicht krank?“

„Nur eben etwas erschöpft von einer Reise zurückgekehrt. Er ist überarbeitet und wird unter einer Woche keinen Pinsel anrühren.“

„Wenn er meine Tochter nicht zur Schülerin annimmt, ist sie außer sich! Wir bleiben ohnedies nur kurze Zeit …“

„Ich kann hier leider nicht entscheiden,“ sagt Paul und zwingt sich, seine Fassung zu wahren; „was ich thun kann, meinen Vetter zur Uebernahme des Unterrichts zu bewegen, wird geschehen. Soll ich Ihnen rathen, so sprechen Sie mit ihm im Augenblick überhaupt uicht vom Malen. Er fällt, wie alle Künstler, leicht von einem Extrem ins andere und bildet sich mitunter ein, daß er gar nichts leiste.“

„Aber bei seinen Erfolgen!“

„Trotz der Erfolge. Wenn Sie viel mit Malern verkehrten, würde Ihnen das nicht auffallen. Es sind eben wunderliche [824] Käuze. Da haben wir hier einen unserer besten Landschafter, der zugleich recht hübsch walzt. Können Sie sich vorstellen, daß ihm viel mehr daran liegt, für den flottesten Tänzer gehalten zu werden, als für den besten Landschafter?“

„Nein – unmöglich!“

„Ein Anderer lehrt jetzt seinen Affen Skat spielen und vergißt die Malerei.“

„Von so Etwas hat man bei uns doch keine Ahnung!“

„Ja – Amerikaner sind zu praktisch … bei uns ist es aber so. Mein Vetter hat keinen Affen, aber dafür eine starke Liebhaberei für die Chemie. Eben bildet er sich ein, das Mittel gegen die Phylloxera gefunden zu haben … das ist jetzt ein Steckenpferd, von dem er nicht herunter zu bringen ist. Sprechen Sie ihm von Gemälden – so wird er Phylloxera antworten und schwören, er hätte noch kein anständiges Bild zu Stande gebracht.“ Paul wendet sich ab, um sein Lachen zu verbergen.

„Es muß doch etwas Ungesundes in der Kunst stecken,“ bemerkt der Amerikaner und fixirt die Gruppen von der Auer Dult. „Und dabei dieses Talent! Charming! … Das kauf’ ich ihm sofort ab … Charming!“

„Es ist bereits verkauft.“

„Schade – schade, daß so ein Mensch sich mit Affen abgiebt …“

„Mein Vetter hat, wie ich Ihnen schon sagte, keinen Affen; er beschäftigt sich dagegen zeitweis mit chemischen Experimenten.’ (Paul findet sich äußerst witzig und amüsirt sich innerlich himmlisch über den tollen Einfall.) „Haben Sie hier Bekannte?“ fragt er der Vorsicht halber.

„Nein! Ich werde unsern Konsul aufsuchen, bei dem ich accreditirt bin, sonst Niemand. Ich bin mit meiner Frau und Tochter hier.“

„Mein Vetter muß Sie jedenfalls in München herumführen, da ich leider für einige Tage verreisen muß. Ich bin froh, wenn er einen zwingenden Grund hat, sich aus seinen Grübeleien etwas herauszureißen … Aber wenn Sie mir gestatten, so will ich doch sehen, ob er nicht selbst …“

Paul stürmt zur Thür hinaus – er kann sich nicht länger halten. Wie alle Verliebte beschäftigt ihn die Vorstellung am meisten, was die Mietze dazu sagen wird, wenn er die Geschichte in Tutzing erzählt. Paul versteht es, solche Geschichten prächtig vorzutragen. Er sieht sie im Gedanken schon lachen und wieder alle ihre Grübchen zeigen. Selbst die gelangweilte, blasirte Tante wird lachen! Wie lange die Mystifikation dauern wird? – doch sicher ein paar Tage … Schließlich – einen Proceß kann ihm der Amerikaner nicht machen. „Und meiner Künstlerehre – kann es der was schaden, die ein unsterblich Ding ist?“ fragt er wie Hamlet und entscheidet zu Gunsten des Scherzes. Fritz muß ins Geheimniß gezogen werden; was Oskar betrifft, so muß er an dessen Gutmüthigkeit appelliren.

„Denke Dir, Schatz!“ ruft er, nachdem er eine Weile vor der Thür gestanden, immer fürchtend, er werde beim Eintritt ausplatzen … „denke, ich habe eine Bestellung auf ein Pendant zum ‚Sommerabend‘! Ja, weißt Du, das sind ungefähr zwanzigtausend Mark, mein Lieber!“

„Gratulire von Herzen!“

„Schade, daß der Amerikaner nicht acht Tage später eintraf, wo ich von Tutzing zurück zu sein gedenke. Du mußt ihn mir unterdeß hübsch warm halten.“

„Ich – um Gotteswillen – verschone mich damit!“

„Im Gegentheil! Wenn er die Woche hier von einem Atelier zum andern unbewacht herumflanirt, sieht er vielleicht Etwas, was ihm besser gefällt als der ‚Sommerabend‘, und dann ist die Geschichte futsch. Ich rechne auf Deine Freundschaft.“

„Aber, Lieber – wenn die Freundschaft etwas ausrichten könnte, wärest Du sicher!“ sagt der gute Oskar mit so warmem Ton, daß der Schelm fast gerührt wird, „aber ich bin ein unbehilflicher Mensch …“

„Thut nichts. Ich habe versprochen, Du würdest Dich seiner – vielmehr ihrer etwas annehmen …“

„Zwei Amerikaner gar?“

„Nein, aber es scheint, er hat Familie mitgebracht.“

„O – du meine Güte!“

„Vielleicht ist die Sache nicht so schlimm. Denke nur immer, daß sie mir zwanzigtausend Mark einbringt.“

„Was muß ich thun?“

„Weiter nichts, als die Leute ein wenig herumführen, sie im Auge behalten. Erzähle lieber nicht, daß Du in Amerika warst und Englisch sprichst!“

„Warum?“

„Weil … weil … genug, es ist mir lieber.“

„Wie Du willst.“

„Ich habe durchblicken lassen, Du wärst auch so ein Stück von einem Maler …“

„Aber Paul!“

„Es ist ja die Wahrheit, und Du kannst es vielleicht verwerthen.“

„Nimmermehr!“

„So – jetzt schnell hinüber: in einer Stunde muß ich auf und davon sein. Zu Gegendiensten gern bereit …“ und damit hat er das Opfer unter den Arm gefaßt, um es dem Amerikaner auszuliefern.

Dieser hat, während er allein blieb, seine Augen in alle Ecken geworfen und versucht, die seltenen Möbel, Gobelins und Waffen nebst anderen Alterthümlichkeiten sowie das Talent und die Narrheit des berühmten deutschen Künstlers auf Dollar- und Centswerth hin zu taxiren. Paul hat ihm sehr gut gefallen. Schade, denkt er, daß dieser nette Mensch nicht der richtige Schaumlöffel ist! Lucie wird unglücklich sein, wenn sie einen verdrehten Zwickel unter die Hände bekommt; sie wird aber schon durchsetzen, daß er sie unterrichtet … wird es schon durchsetzen!

Die Vettern treten ein, Paul stellt vor. Mister Dunby schüttelt Oskar’s Hand nicht ganz so kräftig, als er vorhin die seines Vetters geschüttelt hat.

„Ich möchte Ihnen den Vorschlag machen,“ sagte Paul, „meinen Vetter heute als Begleiter nach dem Löwenbräu anzunehmen. Ihre Damen …“

Damen! Oskar wirft Paul einen Blick zu, den dieser ignorirt.

„… werden dort eine angenehme Unterhaltung finden; Koncertmeister Bilse von Berlin ist hier, und das Programm ist ein sehr gewähltes …“

„Ich werde mich freuen, wenn Sie mit unserer Gesellschaft vorlieb nehmen,“ sagt der Amerikaner zu Oskar, „Miß Dunby, meine Tochter, ganz besonders. Sie zeichnet und malt selbst mit Vorliebe, und es ist möglich“ – er lächelt schlau – „daß sie einen Versuch machen wird, ein paar Lektionen von Ihnen zu erhalten.“

„Aber Paul, wie konntest Du!“ ruft Oskar, welcher meint, eine gütige Absicht seines Vetters zu entdecken.

„Ihr Herr Vetter hat mir durchaus keine Hoffnung gemacht,“ versichert Mister Dunby der Wahrheit gemäß, „im Gegentheil.“

„Aber halten Sie ihn fest!“ ruft Paul, sehr amüsirt, „lassen Sie nicht locker – als Lehrer ist er groß!“

„Betrachten Sie Ihre Bedingungen, wie sie auch sind, im Voraus als angenommen,“ versichert der Amerikaner und wiegt sich wohlgefällig in den Hüften. „Wie Ihr Herr Vetter mir vertraut, sind Sie ja in verschiedenen Sätteln gerecht?“ fügt er dann hinzu; denn er erinnert sich, daß Paul ihn gebeten, der augenblicklichen Laune des Künstlers nachzugeben und vom Malen nicht zu reden.

„Wenn man auf dem einen nicht recht fest sitzt, muß man es wohl auch mit einem andern versuchen …“

Der Amerikaner wirft Paul einen Blick des Einverständnisses zu: „Wenn man’s im Leben aus eigener Anstrengnng schon zu etwas Erklecklichem gebracht hat, mein’ ich, so sollte man sich des wohlverdienten Erfolges auch freuen! Sehen Sie, ich kann da ein Wort aus eigener Erfahrung sprechen. Jeder Zoll breit Boden, auf dem drüben, was ich mein Home nenne, gebaut, ist mit meinem Schweiße gedüngt, und ich bin stolz darauf. Ich bin kein Grübler und Kopfhänger, Herr Schaumlöffel – ich weiß, was ich werth bin, und freue mich, wenn man’s anerkennt. Ich habe große Hopfenpflanzungen,“ setzt er erläuternd hinzu, „und braue selbst … daher auch mein Verständniß für den ‚Sommerabend im Hofbräu‘ …“

Es ist ausgemacht worden, als Herr Dunby sich bald darauf von den Vettern empfiehlt, daß er mit seinen Damen um acht

[825]

Holländische Fischerflottille.
Nach dem Oelgemälde von Hermann Grobe.

[826] Uhr Herrn Schaumlöffel abholen solle. Die Amerikaner sind im „Bayrischen Hof“ abgestiegen und müssen des Malers Wohnung auf dem Weg nach dem Löwenbräu passiren.

„Da hast Du mir etwas Schönes eingebrockt!“ klagt Oskar.

„Wenn Du sie los sein willst, so wirfst Du sie über Bord, aber mit Grazie, damit ich sie bei der Rückkehr wiederfinde,“ sagt Paul, während er des Vetters Anzug einer sorgfältigen Prüfung unterwirft. Im Koffer hat sich ein leidlicher Rock und außer ihm das Unentbehrlichste gefunden. Alles Andere, was äußerlich den Gentleman vervollständigt, muß Oskar sich gefallen lassen, aus seines Vetters Garderobe ergänzt zu sehen.

„Bilde Dir nur nicht ein, mein lieber Junge,“ ruft dieser ein über das andere Mal bei Oskar’s Weigerungen, „daß ich in Deinem Interesse handle! Du vertrittst mich – das sagt Alles!“

Nachdem er dann dem gewandten Diener unter vier Augen so viel von seines Vetters Beruf zum Malen anvertraut, als er für gut findet – Fritz ergänzt aus eigenem Scharfsinne das Fehlende – und ihm klar gemacht, daß für die Zukunft viel von dem Zeugniß abhängen werde, das Oskar bei seiner Rückkehr ausstellen würde, nimmt er Abschied. Er war ohnedies mit seinem bessern Theil bereits in Tutzing. (Fortsetzung folgt.)     


Trinker-Behandlung.

Von A. Lammers.

Adolf Wilbrandt hat seinen berühmten und unglücklichen Landsmann, den uns Allen ans Herz gewachsenen vortrefflichen Fritz Reuter, wegen der krankhaften Trunksucht, die ihn von Zeit zu Zeit befiel, damit in Schutz genommen, daß er sie auf ihren Ursprung in einer höchst unschuldig erlittenen peinlichen Festungshaft zurückführte. Man darf glauben, daß es sich mit vielen Gewohnheitstrinkern ähnlich verhält. Nicht sowohl eine ganz maßlose Genußsucht, als seelische Leiden und übermächtige Versuchung hat sie dem Gifte wie Sklaven einem gefühllosen Despoten überliefert; dem Gifte, welches ihnen den klaren Sinn je länger desto mehr verhängnißvoll umnebelt, den Willen lähmt, alle edleren Empfindungen abstumpft und zuletzt völlig ertödtet. Der beständig erneuerte derbe oder gelinde Rausch nimmt dem Gehirn, möchte man sagen, mit der Zeit die Beseelung.

Auf diesen Standpunkt müssen wir uns stellen, wenn wir die Trinker gerecht und vernünftig beurtheilen – wenn wir die Trunksucht richtig behandeln wollen. Arzneien und rein körperliche Kuren schlagen gegen sie nicht an[2]; denn sie ist eben weit mehr eine geistige als eine körperliche Krankheit und steht auf der Stufe der allgemeinen Nerven- und der Geisteskrankheiten, nur daß sie sich von diesen doch hinlänglich unterscheidet, um eine Behandlung in besonderen Anstalten zu erheischen. Auch ist dieselbe nach der ärztlichen Seite hin verhältnißmäßig einfacher, so daß wir diese Heilstätten meistens unter anderer Leitung als derjenigen von Aerzten finden.

In Deutschland verdient vor Allem die Trinkerheilanstalt zu Lintorf bei Duisburg hervorgehoben zu werden. Sie wird von Pastor Hirsch geleitet und umfaßt eine billigere und eine theurere Abtheilung. Einigermaßen nach ihrem Muster hat ein norwegischer Theolog, Direktor Flood, zuerst auf einer Insel im Christiania-Fjord bei Moß, jetzt bei Tönsberg auf der andern Seite dieses schönen großen Meerbusens sein „Heimdal“ errichtet, eine Trinkerheilanstalt, die in letzter Zeit auch in Deutschland bekannt geworden ist.

Obwohl in Lintorf das Unternehmen hauptsächlich aus religiösen Beweggründen (in seiner älteren Abtheilung schon vor einem Menschenalter) begründet worden ist und unter der Leitung altgläubiger Pastoren steht, wird es doch nicht einseitig geleitet. In seinem neuesten Bericht warnt Pfarrer Hirsch davor, „daß man den Trunk zu ausschließlich von der sittlich-religiösen Seite ansehe und die Enthaltung eines Trinkers von geistigen Getränken geradezu als seine Bekehrung bezeichnet;“ er verwirft als in unsere Gewohnheiten nicht passend die förmlichen Enthaltsamkeitsgelübde und stellt sich ganz auf den Boden der heutigen deutschen Mäßigkeitsarbeit.

Zweierlei, sagt er, muß man zur Heilung von Trinkern erstreben: körperliche Entwöhnung vom Alkohol durch länger fortgesetzten Nichtgenuß, wodurch sie von ihrem verderblichen Hange soweit geheilt werden, daß sie Widerstand leisten können – und gleichzeitige sittliche Einwirkung, daß der erschlaffte Wille sich kräftige und auf die Niederhaltung des Triebes zum Alkoholtrinken richte. Beides müsse zu vollständiger und bleibender Genesung zusammenwirken.

„Daß die bloße körperliche Entwöhnung ohne den festen Vorsatz, der Leidenschaft zu widerstehen, nicht von der Trunksucht heilt, beweisen die zahlreichen, oft lange Zeit ihrer Freiheit beraubten Trinker, deren erster freier Gang ins Wirthshaus führt, um sich den lange entbehrten Genuß bis zur Bewußtlosigkeit zu verschaffen; und daß der feste gute Vorsatz des Trinkers ohne körperliche Entwöhnung nur in den seltensten Ausnahmefällen zur Genesung von dem Uebel führt, zeigen die gebrochenen Gelübde und kläglich endenden Kämpfe der Unglücklichen, die im ganz besonderen Sinne sich vorwerfen müssen: das Gute, das ich will, thue ich nicht, und das Böse, das ich hasse, thue ich!“

Beides erfordert Zeit. Die sittliche Hebung kann erst beginnen, wenn der Leidende durch anhaltende Entziehung des Giftes „wieder die Fähigkeit klaren und richtigen Denkens gewonnen hat und ohne Dusel sein Leben und Thun im nüchternen, wahren Lichte sieht“. Diese Klärung der Gedanken aber, die man mit dem Erwachen aus einem wüsten Traume vergleichen kann, tritt nach Pastor Hirsch meist erst nach zwei bis drei Monaten ein. Nur dann auch, wenn sie mit einigem sittlichen Ernste sich verbindet, macht sie den Entschluß möglich, in Geduld bis zur völligen Heilung auszuharren; bei der Mehrzahl äußert sich diese Klärung des Geistes in der Ungeduld, das angerichtete Unheil durch neue Thätigkeit wieder gut zu machen, wobei dann die Pfleglinge fest überzeugt sind, in das alte Elend nie wieder zurückzufallen. Fühlt der einstige Trunksüchtige sich doch jetzt kräftig und gesund, frei von den schlimmen Folgen seiner lange betriebenen Selbstvergiftung mit Alkohol, unter denen er früher seufzte; empfindet er doch gar keine besondere Lust mehr zu dem schlimmen Getränk. Kurz, er muß und will nun weg – die Anstalt hat an ihm ihren oder wenigstens seinen Zweck erfüllt. Kommen noch dringliche Anlässe hinzu, welche sein Wiedereintreten ins Geschäft oder in den Beruf fordern, oder wird es den Seinigen nicht ganz leicht, das Kostgeld zu bezahlen, so läßt er sich durch keine Vorstellungen halten und kehrt heim. Hier aber verfällt er meist wieder dem alten Jammer, über den er sich so glücklich erhaben glaubte, sei es, daß der Sorgenbrecher für den Augenblick wieder einmal sein stilles Amt verrichten soll, sei es, daß Bekannte oder thörichte Freunde die Standhaftigkeit des Geheilten mit allerhand Herausforderungen auf die Probe setzen.

In drei Ländern hochentwickelter und befestigter Volksfreiheit, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, England und den Niederlanden, hat diese Wahrnehmung zu rechtlichen Einschränkungen der Selbstbestimmung erklärter Trinker geführt. Jenseit des Atlantischen Oceans kann ein Gewohnheitstrinker auf bestimmte Zeit zum Aufenthalt in einer Trinkerheilstätte verurtheilt werden, deren Umgegend von Schenken freigehalten wird, während es Schenkwirthen überhaupt bei strenger Strafe untersagt ist, solchen Leuten berauschende Getränke zu verabreichen. In England ist vom 1. Januar 1880 ab, zunächst probeweis auf zehn Jahre, die Bestimmung eingeführt, daß ein Gewohnheitstrinker in Gegenwart von zwei Zeugen sich vor einem Friedensrichter durch seine eigene Erklärung für bestimmte Zeit in eine Trinkerheilanstalt einsperren kann; und als Gewohnheitstrinker bezeichnet das Gesetz Jemand, der, ohne wegen Irrsinns entmündigt werden zu [827] können, doch in Folge gewohnheitsmäßigen maßlosen Trinkens berauschender Getränke zu Zeiten sich selbst oder Anderen gefährlich wird oder sich und seine Geschäfte nicht mehr zu leiten vermag. Das niederländische Trunkgesetz von 1881 unterwirft solche, die sich öffentlich betrunken zeigen, erst einer Geldbuße, im Wiederholungsfalle der Haft und schließlich dem Zwangsaufenthalt im Arbeitshaus. Da dieses jedoch zur Heilung von Trinkern wenig geeignet ist, hat man eine besondere Trinkerheilanstalt errichtet, aus welchem Grunde im Sommer 1884 der Präsident des Volksbundes gegen den Mißbrauch starker Getränke, Abgeordneter Goeman Borgesius, und ein Arzt die Anstalten in Lintorf näher in Augenschein nahmen. Der Erstere hat sich über sie später sehr günstig ausgesprochen.

Von den Lintorfer Anstalten ist die ältere, Männern der unbemittelten Stände gewidmete Abtheilung eine Schöpfung der Wohlthätigkeit und bedarf eines bedeutenden Zuschusses, welcher ihr durch die Mutteranstalt (die Diakonen-Bildungsanstalt zu Duisburg) gesichert ist. Die seit ungefähr sechs Jahren bestehende neue Anstalt verpflegt die Trunksüchtigen in zwei Klassen für 100 bis 150 Mark monatlich. Ein unverheiratheter älterer Arzt sorgt für die zu Beginn oft erwünschte fachmäßige Hilfe und leistet den Pfleglingen dann weitere wichtige Dienste durch seinen erfahrenen Umgang auf Spaziergängen oder im Hause. Die Hausordnung hält vor allem auf Ordnung und Reinlichkeit, diese äußeren Stützen sittlicher Kraft; die Einführung regelrechter Arbeit ist dagegen bis jetzt noch nicht geglückt. Ohne Beschäftigung ist zwar wohl Keiner, aber was Manche treiben, darf man kaum eine Beschäftigung nennen. Die Einen füllen ihre Zeit mit der geistigen Arbeit ihres Berufsfaches aus; Andere hobeln und schnitzen Holz; noch Andere arbeiten im Garten. Dazu kommen geeignete Spiele wie Billard, Kegeln, Krocket, auch gemeinsame Aufführungen und Musik, der sich namentlich ein „sehr netter“ Gesangverein hingiebt.

Die Pfleglinge, erzählt uns Pastor Hirsch, leben sorglos wie die Kinder; sie führen kein Geld, denn was sie bedürfen, wird ihnen von Anstalts wegen angeschafft, und der Besitz von Taschengeld könnte im Anfang leicht auf eine heimliche Jagd nach dem Lieblingsgetränk führen; ihre überreizten Nerven können sich in der gesunden freien Luft und ländlichen Stille wieder völlig beruhigen. Die Meisten kommen in die Anstalt nicht ohne Angst und Mißtrauen, als wäre sie ein halbes Gefängniß. Liegen aber die ersten Tage des Katers, wie der eben so fröhliche als pflichttreue Pastor Hirsch sich ungezwungen ausdrückt, hinter ihnen, dann fühlen sie sich angenehm enttäuscht, Alles so ganz anders und soviel besser zu finden, als sie gefürchtet hatten. Sie sind nun recht glücklich, von dem ewigen unseligen Rausch abgekommen zu sein und ohne das denselben hervorbringende Gift schlafen, essen und arbeiten zu können. Allmählich tritt dann ihr eigentliches Wesen hervor, welches die beständige Umnebelung des Hirns unterdrückt hatte. Entweder gewinnen dann die alten Eigenschaften der Genußsucht und des Leichtsinns die Oberhand oder ein ernstes Trachten nach gründlicher innerer Besserung.

Von großen Erfolgen kann in Lintorf noch keine Rede sein, aber doch von Erfolgen. Von den 125 bisher entlassenen Pfleglingen bezeichnet der letzte Bericht 30 als bleibend geheilt. Größtentheils gehören diese Geheilten zu denjenigen 55 Pfleglingen, welche länger als ein halbes Jahr in der Anstalt zugebracht haben, so daß ein Aufenthalt von dieser Dauer die Aussicht auf völlige Heilung schon wie eins gegen eins oder auf die Hälfte aller Fälle stellt. Als die richtige, zur Heilung nothwendige Zeit betrachtet Pastor Hirsch im Einvernehmen mit erfahrenen Fachärzten durchschnittlich ein Jahr oder mehr. So lange sind aber nur 21 Pfleglinge überhaupt geblieben; 35 länger als dreiviertel Jahr, 55 länger als ein halbes Jahr, aber 35 nicht einmal ein Vierteljahr! Man kann sie ja eben nicht wider ihren Willen festhalten, wenn sie sich einbilden genesen zu sein und, bloß auf ihre augenblickliche Selbstempfindung gestützt, nach Hause wollen. Man darf sich unter diesen Umständen nicht über die geringe Zahl wirklicher voller Heilungen neben den bloßen Besserungen wundern, sondern muß den Muth und die Geduld von Männern anerkennen, welche trotzdem in ihrer Hingebung an das Wohl und Heil unglücklicher Alkoholsklaven ausharren. Aber die allmähliche Erhebung der Nation gegen diesen ihren bösen inneren Feind wird auch ihre redliche Mühe mit reichlicherem Lohne krönen. Jeder Entlassene zeugt für die Anstalt stumm und laut; Aerzte freuen sich, wenigstens auf eine solche Trinkerheilstätte hinweisen zu können, und mit der Zeit schwindet wohl auch das Vorurtheil gegen sie.

Ein ganz eigenartiges Unternehmen zur Bekämpfung der Trunksucht ist von einem Hamburger Pfarrer, Pastor Ninck, ins Leben gerufen worden. Ihn erbarmte des Säufer-Elends, dessen in der üppigen Weltstadt soviel ist, und mehr wohl noch der unglücklichen Angehörigen, denen ein täglich betrunken heimkehrender, gewaltthätiger Vater das Heim zur Hölle macht. Er bestimmte mit seinem Freunde, Freiherrn D. von Oertzen, darum den Landrath von Plüskow-Kowalz, auf dem ihm gehörenden Gute Sophienhof bei Tessin eine Schar solcher Männer unter einem tüchtigen und zuverlässigen Hausvater landwirthschaftlich zu beschäftigen. Das Gut liegt zwölf Stunden von der Eisenbahn in großer Abgeschiedenheit. Eine Viertelstunde von diesem entfernt befindet sich ein dazugehörender Hof: auf diesem haust der Hausvater Nagel mit seinen Pflegebefohlenen, deren indessen niemals über ein Dutzend sind. Sie müssen freiwillig eintreten und sich verpflichten, wenigstens ein Jahr lang zu bleiben. Diese wichtige, ja entscheidende Bedingung, welche man nur zu gern in Lintorf ebenfalls stellen würde, wenn die Anstalt dann eines für ihre bedeutenden Kosten hinlänglichen Besuches sicher wäre, läßt sich in Sophienhof durchführen, weil das Gut nicht nothwendig eines Dutzends solcher Arbeitskräfte bedarf. Wie dies in der älteren Abtheilung der Lintorfer Anstalt, dem dortigen Männer-Asyl, der Fall ist, so läßt auch das Männer[-]Asyl des Pastors Ninck in Sophienhof sich für die Erhaltung der Hauseltern, für Kleidung der Pfleglinge, Arzt und Arznei, endlich auch zur Ermöglichuug unentgeltlicher Aufnahme eines oder mehrerer ganz armer Trunksüchtigen thunlichst von Jedem 150 Mark jährlich zahlen. Unterkunft und Kost liefert Herr von Plüskow umsonst, nützt aber dafür die Arbeitskraft des Hausvaters und seiner Schar, die von allen übrigen Tagelöhnern abgesondert den ganzen Tag in Feld und Scheune tüchtig schaffen müssen. Nichts Alkoholisches kommt natürlich über ihre Lippen. Das ruft zunächst eine sehr unbehagliche Stimmung hervor; man sieht die Neueingetretenen häufig nach ihrer Nase fassen, der nun nicht mehr so viel Blut vom Gehirn her zuströmt, und von deren Vorhandensein sie sich daher immer erst überzeugen müssen. Sollte hiervon die Redensart Onkel Bräsig’s stammen, der doch auch etwas von einem Gewohnheitstrinker war: „Daß du die Nase ins Gesicht behältst!“?

Das mecklenburgische Trinker-Asyl nennt sich ausdrücklich ein christliches, und dem entspricht die Hausordnung. Morgens und Abends findet eine gemeinsame Hausandacht statt, bestehend in Gesang, Gebet, Vorlesung und Betrachtung eines Schlußabschnittes. Sonntags wird der Gottesdienst in der evangelischen Kirche besucht. Nachmittags folgt bei leidlichem Wetter ein gemeinsamer Spaziergang, an welchem theilnehmen muß, wer überhaupt auszugehen wünscht; „der übrige Theil des Sonntags ist der stillen Sammlung, nützlicher Lektüre und passender Unterhaltung gewidmet“. Auch alle sonstigen Ausgänge hängen von der Erlaubniß des Hausvaters ab, und Besucher müssen sich ihm zunächst vorstellen. Maßgebend für das innere Leben der kleinen Anstalt erscheint noch § 12 der Hausregeln: „Der Hausvater … begegnet allen Hausgenossen mit Liebe und Vertrauen. Von und unter den Hausgenossen ist der Geist brüderlicher Liebe und Eintracht zu pflegen. Aller sündliche Verkehr und Zerstreuung nach außen sind ausgeschlossen; leichtfertige Unterhaltungen, insbesondere auch über vergangene Verirrungen, werden nicht geduldet.“

Soweit könnte Pastor Hirsch in Lintorf mit seinen Entwöhnungsgästen auf keinen Fall gehen. Er deutet umgekehrt an, was sich psychologisch ja auch vollkommen erklärt, daß die Vorerlebnisse übler und trauriger Art den Hauptinhalt ihrer Gespräche ausmachen. Aber in Sophienhof werden eben nur geistig weniger rege, einer strengen und einfachen Zucht leichter zu unterwerfende Sklaven des Gifttranks ihre Genesung suchen.

Ueber die Erfolge der Anstalt, die seit einigen Jahren besteht, theilte Herr von Oertzen auf der diesjährigen Versammlung des deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistigen Getränks im Juni zu Hamburg mit, daß man die Hälfte der entlassenen Trunksüchtigen als geheilt ansehen dürfe.


[828]

Schwarze Freunde.

Zur Erinnerung an Ed. Robert Flegel, † am 11. September 1886 in Graß am Nigerstrom.

Auf meinem Schreibtische liegt in einer Glasschale eine vertrocknete Kolanuß. Ein Produkt afrikanischen Bodens, erinnert sie mich an einige interessante Stunden meines Lebens, die ich in einer gemischten, schwarz-weißen Gesellschaft zugebracht habe.

Als im Oktober des Jahres 1884 Ed. Robert Flegel von seinen denkwürdigen Reisen in Haussa und Adamaua zurückgekehrt war, eilte ich zu ihm nach Berlin, um mit dem berühmten Afrikaforscher über einige litterarische Unternehmungen zu verhandeln. Damals gingen die Wogen der kolonialen Begeisterung besonders hoch, und die heimkehrenden Forschungsreisenden wurdeu überall mit Jubel und Auszeichnung begrüßt. Auch Flegel’s Ankunft in Deutschland glich einem kleinen Triumphzuge, an dem sich nicht allein die geographischen Vereine, sondern auch weitere Kreise betheiligten. Ich brauche nicht zu bemerken, daß der Lorbeer, mit welchem man den ausgezeichneten Mann bekränzte, wohl verdient war. Schon einmal wurde in diesem Blatte der großen Verdienste Flegel’s in gebührender Weise gedacht. (Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1884, S. 710.)

Flegel war gerade in Berlin angekommen, als ich laut Verabredung ihm im Hotel „Stadt Magdeburg“ aufsuchte. Er war nicht allein, sondern in Begleitung zweier Hanssa-Neger, Mohamman dan Mohamman und Mohamman dan Tambari, die er mitgebracht hatte und die seiner Zeit so viel angestaunt und – bewundert wurden. Der Eine von ihnen, Mohamman dan Mohamman, mit dem Beinamen „der Alte mit dem Barte“ (mai gasin baki), überreichte mir die Kolanuß als Zeichen seiner freundlichen Gesinnung, wie mir Flegel erklärte.

Heute wandelt „der Alte mit dem Barte“ wiederum unter den Palmen an den heimatlichen Ufern des Niger und Benue und erzählt wohl seinen staunenden Brüdern von den Wundern, die er in Deutschland geschaut; sein weißer Freund aber, der in Haussa und Adamaua unter dem Namen „der Knecht des Allbarmherzigen“ bekannt ist, ruht in fremder Erde, schläft den ewigen Schlaf in dem heißen Boden Afrikas, den er mit friedlichen Waffen für fein Volk zu erobern trachtete.

Die Zeit verflog rasch, als mir Flegel von jenen fernen Ländern erzählte, „in welchen jede Spnur europäischer Kultur verschwindet und selbst die Natur so anders geartet erscheint, daß uns an die Heimat nur Regen und Sonnenschein, nur Lachen und Weinen der Menschen erinnern.“

Mehr als einmal erwähnte er dabei lobend und anerkennend seines „Freundes“ Mohamman mai gasin baki. Ja er war für den „Alten“ so sehr eingenommen, daß ich in der That glaube, einen der innigsten Wünsche des Heimgegangenen zu erfüllen, wenn ich heute den weiten Leserkreis dieses Blattes mit dieser eigenartigen Gestalt ein wenig vertrauter mache. War doch die letzte größere litterarische Arbeit Flegel’s, die er an Bord des Schiffes „Coanza“ abfaßte, der Verherrlichung dieses Negers gewidmet.

Der schwarze Mann, in dem kleidsamen Gewände und weiten Turban, blickt auf ein wechselvolles Leben zurück, das uns Europäern unter Umständen recht romantisch erscheinen dürfte. Er ging „mit den Schätzen eines Knaben“ (das heißt mit geringen Mitteln) auf seine erste Handelsreise; denn sein Anlagekapital repräfentirte den Werth von etwa 30 Mark. Aber durch kluge Umsicht wußte er sich zum reichen Mann emporzuschwingen und ward ein angesehener Karavanenführer. Auch Kämpfe hatte er zu bestehen und trug über seine Feinde manchen Sieg davon. Mit 500 Mann trotzte er einer dreimonatlichen Belagerung übermächtiger Feinde und schlug endlich 10 000 Schilde in die Flucht. Damals, es war in den sechziger Jahren, war Mohamman stets beritten, hatte Köcher, mit Pantherfell bezogen, und trug ein paar Wurfeisen über der Schulter, wie die südlichen Heidenvölker sie führen. So war er gewiß eine ritterliche Erscheinung, die den Männern Respekt einflößte und die Herzen der Frauen gewann. Er feierte auch mehr als eine Hochzeit, allerdings mit wechselndem Glück, obwohl er nach dem Haussa-Recht vier Frauen haben durfte; denn von seiner ersten Gemahlin war er selbst auf Nimmerwiedersehen davongeritten; eine zweite ließ ihn im Stiche, und mit den anderen lebte er nur zu oft in Zank und Streit. Aber daran war wohl sein Hang zum Reisen schuld, das „Herz, welches die Heimat nicht mochte“.

Mohamman mai gasin baki hatte auch Unglück gehabt. Er ließ sich verleiten, sich auf Kosten einer Karavane, deren Führer er war, zu bereichern. Das fremde Gnt brachte ihm jedoch keinen Nutzen. Arm, zu Fuß kehrte er in seine Heimat zurück. Zerknirscht und geläutert durch das Schicksal, stand er am Bruuuen in Loko, als ihn Flegel zum ersten Male erblickte und in seine Dienste nahm.

Welcher Art diese Dienste waren, das beweist am besten der Dank, welchen die afrikanische Gesellschaft in Berlin am 4. Oktober 1884 den schwarzen Begleitern Flegel’s ausgesprochen hat (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1884, S. 712).

Der zweite Neger, Mohammau dan Tambari, spielt in den Reisen Flegel’s nur eine untergeordnete Rolle; er war auch nur als Reisegesellschafter des „Alten mit dem Barte“ nach Deutschland gekommen.

Flegel beabsichtigte, sobald ihm seine wissenschaftlichen Arbeiten es gestatten würden, eine feuilletonistische Schilderung der von ihm bereisten Länder für die „Gartenlaube“ zu schreiben und übergab mir zu diesem Zwecke eine Anzahl von Jllustrationsvorlagen, von denen zwei diesen Artikel schmücken. Die Anfangsvignette stellt einige Erzeugnisse des Kunstgewerbes in Adamaua dar (Helm, Satteldecke, Schwerter, Flasche ec.). Das zweite Bildchen giebt eine Ansicht der Hossere Tadim wieder, einer Gebirgsgrnppe in Adamaua, welcher Flegel zum Andenken an deu verdienteu Geographen Dr. Ernst Behm den Namen Behm’s Berg beilegte.

Während ich mit Flegel die Skizzen seines Reise-Tagebuches durchsah, schrieb einer der Neger eifrig in einem dicken Hefte. „Die Leute,“ erklärte mir Flegel, „führen auf meine Veranlassung in ihrer Muttersprache ein Tagebuch über die Eindrücke, welche sie in Europa empfangen. Ich beeinflusse sie gar nicht in ihren Aufzeichnungen und hoffe am Ende unseres Ansenthaltes in Deutschland ein ethnographisch und psychologisch interessantes Schriftstück von ihnen zu erhalten.“

Leider war es Flegel nicht vergönnt, die Aufzeichnungen feiner schwarzen Begleiter in vollem Umfange auszunutzen. Während feines Aufenthaltes in der Heimat hinderten ihn daran Krankheit und Ueberbürdung mit wissenschaftlichen Arbeiten. Erst die Muße der Seereise wollte er zur Sichtung des Materials verwenden; aber unter den Gepäckballen vermochte er nur einen Theil des Tagebuchs zu finden, und so sind nur „Lose Blätter aus dem Tagebuch meiner Haussa-Freunde und Reisegefährten.“ Von Ed. Robert Flegel (Hamburg, L. Friedrichsen und Komp.) in die Öffentlichkeit gedrungen.

Sie sind so charakteristisch, daß ich einige Proben an dieser Stelle wiedergeben möchte: „Wir haben Gutes gesehen,“ schreiben die Haussa-Neger, „nichts Schlechtes haben wir gesehen in diesem Lande. Die Dinge, welche in dieser Stadt (Berlin) sind: Pferde ohne Ende! Wir sind gegangen und saßen in einem Schiff, welches über das Land hinfährt (Eisenbahn); dreißig Tagereisen sind wir an einem Tage gefahren. Wir haben keinen Wald gesehen, sondern Häuser und immer wieder Häuser …

Wir sahen das Haus des Sariti-n-Berlin (Königs von Berlin), in welchem man Filzschuhe anzieht, weil es sehr glatt ist und damit man [829] nicht fällt. Dieses Haus flößte uns Ehrfurcht ein! Räume, Räume, zahllose Räume großer Könige! Verschieden, verschieden stets, jeder Raum für sich in seiner Art. Was du in diesem siehst, wirst du im nächsten nicht sehen: zahllos ohne Ende!

Wir sahen ein Licht, ein Licht des Windes der Luft (Gaslicht), das hervorkam aus der Erde, ein Licht von einer bösen Leuchtkraft in Wahrheit. In einem Lichte waren wohl tausend Lichter enthalten. Die Ursache, daß wir dieses Licht sahen, war der achtundachtzigste Geburtstag des Kaisers.

Wir sahen saussi hazo (das erste Wort bedeutet Ausgleiteu auf nassen Wegen, das zweite Reif), die Eisbahn bei der Rousseau-Insel. Die Kälte auf dem Wasser war wie Stein. Frauen und Männer, Kinder und Große vergnügten sich da, auf Eisenschuhen zu laufen. Wir auch, wir vergnügten uns auf dem Eise, aber sitzend auf einem Gleitstuhle wie Kinder.

Wir hörten ein Wort in Berlin: Pos Neija (Prosit Neujahr); die ganze Stadt, Große und Kleine, alle riefen Pos Neija. Wir wissen das Herkommen, Ursprung des Wortes nicht. Ob es, wie bei uns, die Tschika-u-zekara (Ende des Jahres) ist, wissen wir nicht.“

Auch Flegel’s erwähnen seine Freunde in ihrem Tagebuch: „Abdurahamani (der Knecht des Allbarmherzigen) ist der Vermittler, der uns nach Berlin gebracht hat. Als wir in Berlin waren, legte er sich, er war krank. Diese Krankheit des Abdurahamani versetzte uns in Furcht. Madugu Mohamman dan Mohamman und Madugu Mohamman dan Tambari, wir danken Gott, dem Könige der Könige, für das Auferstehen des Abdurahamani: wir freuen uns sehr! Abdurahamani, danke du dem Dr. A., denn er ist der große Medicinmann der Berliner, danke du den Berlinern allen, Männern wie Frauen, denn sie lieben dich.“

Die Schwarzen haben richtig beobachtet. Flegel war in der That eine der liebenswürdigsten Erscheinungen in der glänzenden Schar hervorragender Afrikaforscher. Er war keine jener rücksichtslosen Naturen, die mit Gewalt sich den Weg erzwingen, auf rauchende Trümmer zurückschauen und über blutige Leichen hinwegschreiten. Und wenn er auch schrieb: „Im Sturm ist hier nichts einzunehmen, wir müssen uns zur List bequemen,“ indem er Mephisto’s Worte, die dem blonden Gretchen galten, auf seine „schwarze Geliebte“, auf Afrika, bezog – so war er doch niemals ein Intrigant und trotz seiner „List“ durchaus unfähig, niedrige Jntrigen seiner Feinde zu durchkreuzen. Er wandelte stets auf geraden Pfaden, und eiserne Energie, unermüdliche Geduld waren die erprobten Waffen, mit welchen er die größten Erfolge zu erringen wußte. Vor Allem aber war er ein rechter Menschenfreund und wußte sich als solcher auch den Schwarzen gegenüber zu bethätigen. Seine Freundschaft mit Mohamman mai gasin baki, die aufrichtige Freundschaft zwischen zwei Andersfarbigen, ist selbst in der so wechselvollen Geschichte afrikanischer Reisen einzig in ihrer Art und steht hoch über den vielen Blutsfreundschaften, die von berühmten Männern im „dunklen Erdtheil“ geschlossen wurden.

In Flegel’s Begeisterung für die Afrikaforschung mischte sich eine poetische Stimmung des Gemüths. Bald trank er einen Becher aus den Flutheu des Benue auf Deutschlands Wohl, bald erfreute ihn hoch in den Kamerunbergen ein duftend Veilchen, als süße Erinnerung an die ferne Heimat. Herrliche Stunden hatte er erlebt, da er mit Revolverschüssen vom höchsten Berge Westafrikas die vier Weltgegeuden grüßte, wo tief unter ihm ein Gewitter grollte und hoch über ihm die Sterne leuchteten „so freundlich wie stets, wem, es im Herzen fröhlich ist.“

Aber das Schicksal gönnte ihm nicht, daß sein Auge brach, während es in seinem Herzen fröhlich war. Ungeahnte Schwierigkeiten schmälerten den Erfolg seiner letzten Expedition, auf die er so große Hoffnungen gesetzt hatte. Die Nachwelt weiß jedoch zwischen Verdienst und Erfolg zu unterscheiden, und sie wird Ed. Robert Flegel den hohen Platz in der Geschichte der Afrikaforschung bewahren, der ihm mit vollem Recht gebührt, und seinen Ruhm nicht schmälern, für den er sein Leben in die Schanze geschlagen.
C. F.

Ein Friedhof ohne Gleichen und vierzig auferstandene Könige.

Von Georg Ebers.
(Schluß.)

Am 6. Juli 1881 wurde Emil Brugsch-Bé von Abd el-Rassul zu dem Verstecke geführt, welches wir kennen, und der Eindruck, den er empfing, wie er in den weiten Felsensaal vordrang und sich dort von den größten Königen umgeben sah, welche die Geschicke des Pharaonenreiches geleitet, muß ein geradezu überwältigender gewesen sein. Das Herz stand ihm still, und er fand keine Worte, dem Staunen und dem Entzücken, das ihm erfüllte, Ausdruck zu geben. Es war ihm, als habe ihm ein seltsames Ungefähr eine Wünschelruthe in die Hand gegeben, welche ihm die Macht verlieh, den großen Eroberern, denen es gegeben gewesen war, die Völker des Nordens, Ostens und Südens vor alter Zeit zum Schemel ihrer Füße zu machen, ein neues Leben zu erschließen. Der Todesschlaf dieser Leichen hatte eben so viele und mehr Jahrhunderte gedauert, als der Himmel dem Menschen durchschnittlich Jahre zumißt, und die gewaltigsten, thatkräftigsten und an glücklichen Erfolgen reichsten Pharaonen scharten sich hier um ihn her in regungsloser Ruhe, gehorsam seinem schwachen Willen und seiner spärlichen, erborgten Macht.

Aufstellung der Königssärge im Museum von Bulaq.

Die ganze Wonne des Entdeckers stürmte in dieser Stunde auf ihn ein, und neben dem Herzensjubel, welchen die Liebe gewährt, neben dem Hochgefühle des Feldherrn nach einem großen Siege, neben dem wundervollen Glücke des Künstlers, dessen Genius aus ihm heraus

Erhabenes schafft, giebt es keine Wonne, welche sich mit derjenigen des Entdeckers zu messen vermag.

Gleich die dritte Mumie, der er begegnete, war die Seti’s I., dessen herrliche Gruft unter dem Namen des Belzonigrabes längst bekannt war. Ein gleiches Stück wie das Leichenzelt der Königin Isis em-heb hatte noch keines Aegyptologen Auge erblickt. Es war bestimmt gewesen, die Mumie der genannten Fürstin bei der Fahrt über den Strom in die Nekropole wie ein an den Seiten verhängter Baldachin den Blicken zu entziehen und sie vor der Berührung unberufener Hände zu schützen.

Ein Korb enthielt Opfergaben, welche die Königin in jener Welt genießen sollte: Gazellen- und Hammelkeulen, einen Kalbskopf und Gänse, alles vor Verwesung geschützt und zum Theil mit Mumienbinden umwickelt. – Dort standen Kanopen, steinerne Krüge, deren Deckel überall und so auch hier in Gestalt der Köpfe der vier Horuskinder und Todtengenien oder mit anderen Worten als Haupt des Menschen, des Hundskopfaffen, des Sperbers und Schakals gebildet wurden. Auch an Uschebtifiguren, an Libationsgefäßen von Bronze und dergleichen fehlte es nicht. Ueber die Blumen und Guirlanden, welche sich bei den Leichen fanden, hat Dr. Schweinfurth in diesen Blättern berichtet („Gartenlaube“ 1884, Nr. 38). Jetzt galt es, all diese Schätze schnell und sicher ins Freie zu schaffen, [830] und zu diesem Zwecke bot Brugsch mit der ihm eigenen Energie und unterstützt von den öffentlichen Behörden ungesäumt 300 Fellachen auf, welche sie am Fuße des Felsenrundes von Der el-bahri aufstellen mußten. Achtundvierzig Stunden lang konnte er bei der Leitung dieser anstrengenden und nicht ungefährlichen Thätigkeit sich keine Minute Ruhe gönnen und keine Sekunde die Augen schließen; denn es galt nicht nur der Habsucht der Todtenstadtbewohner entgegenzutreten, sondern auch die kostbaren ans Licht gezogenen Alterthümer vor Beschädigung zu hüten.

Schrein Thumosis' II.

Als das Versteck endlich entleert war, sah er die Leichen der meisten Mitglieder des einundzwanzigsten Königshauses vor sich; aber die sterblichen Reste dieser Pharaonenreihe, von der die Geschichte nicht viel zu erzählen weiß und deren Regierung dem ägyptischen Staate wenig gefrommt hatte, regte sein

Interesse in geringerem Maße an, obgleich auch diese von vorn herein Probleme stellten, die der Lösung würdig erschienen. Was wollte die Kindermumie dort, welche sich bei näherer Besichtigung als Attrape erwies, weil sie aus einem Bündel von Stäben bestand, welches, um ihm das Ansehen einer balsamirten Leiche zu geben, mit Binden umwickelt und mit einem Kinderschädel gekrönt war? Durfte man dieses Falsifikat für das Produkt einer Haremsintrigue halten? Hatte man ein erbberechtigtes Kind beseitigt, es für todt ausgegeben und ein Bündel Stäbe begraben, um die Mitlebenden in dem Wahn zu bestärken, daß es gestorben sei? Was bedeutete die andere Mumie, welche die Fellachen aufgerissen hatten und die sich gleichfalls als eine Attrape erwies? Einen wie herrlichen Anblick mußte der Sarg der Königin Nezemit geboten haben, bevor verbrecherische Hände ihn seiner goldenen Bekleidung, in welche Hieroglyphen aus edeln Steinen und Glasfluß eingelegt gewesen waren, bis auf einige kaum erkennbare Reste beraubt hatten!

Zum ersten Male sah Brugsch hier eine Königin, welche sich mit ihrem neugeborenen Töchterchen in dem gleichen Sarge hatte beisetzen lassen. Dennoch sollte die Wonne des Entdeckers erst den Gipfel erreichen, als ihm das helle Sonnenlicht bestätigte, was er beim Scheine der Fackel in dem Felsenverstecke nur hatte ahnen können, nämlich daß er im Stande sei, das Museum von Bulaq auch mit den Leichen der größten Könige aus der Blüthezeit der Pharaonengeschichte zu bereichern.

Da stand der Sarg und die Mumie eines jener Fürsten der siebzehnten Dynastie, welche die Waffen zuerst gegen die Hylsos erhoben. Neben dem längst aus der Geschichte bekannten Rasequenen sah er den Heldenkönig Aahmes I., welcher die Hyksos aus ihrer Veste Avaris vertrieben, und eine andere, die er für die seiner Gattin Nefertari, welche noch in später Zeit hoch geehrt wurde und Anbetung genoß, zu halten berechtigt war. Bei ihrer Auswickelung im Juni dieses Jahres ergab es sich indessen, daß er die Leiche Ramses’ III., des reichsten unter den Pharaonen, von welchem Herodot das hübsche, allbekannte Märchen von dem klugen Baumeisterssohne erzählt, vor sich gehabt hatte. Durch eine Verwechselung war bei den Reparaturen der Särge die Leiche des Königs in den seiner großen Vorgängerin gerathen.

Nun trugen die Fellachen den Schrein und die Leiche Amenophis’ I. herbei, des ritterlichen Fürsten, der es gewagt hatte, das ägyptische Heer nach Asien zu führen. Von Kopf bis zu den Füßen fand er seinen Leichnam mit Gewinden von blauen, gelben und rothen Blumen umgeben, und unter diesen eine Wespe.

Sie war in den Sarg mit eingeschlossen worden, hatte in drei und einem halben Jahrtausend Gestalt und Farbe erhalten und hing, wenn auch vertrocknet, immer noch an dem Kelche der letzten Blume, aus der sie Honig gesogen.

Jetzt erschien auch der Sarg jenes Thutmosis’ I., des kriegerischen und baulustigen Königs, den wir als Vater der Geschwister Thutmosis II. und III. sowie der unternehmenden Königin Hatschepsu kennen gelernt haben.

Die meisten dieser Schreine, von denen die älteren bestimmt waren, in steinerne Sarkophage gestellt zu werden, deren sich denn auch einige in den ausgeraubten Grüften leer wieder gefunden haben, tragen die Form der in Binden gewickelten Mumie, und am oberen Kopfende ist häufig das portraitähnlich gebildete Antlitz des verstorbenen Herrschers zu sehen.

Hieratischer Todtenpapyrus der Prinzessin Nesichunsu.

Wem mochte der Schrein mit dem mild lächelnden Gesichte ursprünglich angehört haben, den die Träger nun brachten? Er war für den legitimen Bruder der großen Hatschepsu hergestellt worden; so hatte der König ausgesehen, der sich so willig, oder doch mit so fruchtlosem Widerstande dem schwesterlichen Joche unterworfen.

Die Mumie der thatkräftigen Regentin kam nicht zum Vorschein; wohl aber scheint ihr eine Lade von Elfenbein und Holz, welche aus der Cachette hervorgeholt wurde, angehört zu haben, und später sollte es sich ergeben, daß der andere Sarg, welcher bald darauf ins Freie gebracht wurde und der von den Dieben seiner goldenen Bekleidung beraubt worden war, die sterblichen Reste des mannhaften Thutmosis III. geborgen, vor dessen Größe sich auch Frau Hatschepsu’s starker Geist hatte beugen müssen.

Mit rücksichtsloser Brutalität waren die Räuber mit der Mumie dieses gewaltigen Monarchen, dessen Leiche reiche Beute zu gewähren verhieß, umgegangen. An drei Stellen hatten sie seinen Körper zerbrochen, und die Messungen in Bulaq ergaben später, daß er nur 1,60 Meter groß, und Thutmosis III. also ein recht kleines Männlein gewesen sei. Als dem deutschen Kronprinzen dieser Umstand mitgetheilt wurde, sagte er: „Unser großer Friedrich war auch nur klein.“ Wir wollen hierzu bemerken, daß wir es bei der Betrachtung dieser 1,60 Meter langen Mumie thatsächlich und ganz zweifellos mit den sterblichen Resten dieses Riesen an Thatkraft zu thun haben; denn der betreffende [831] Leichnam ist mit Binden aus der feinsten battistartigen Leinwand umwicklt und mit einer  ; Träger, welche unter der Last der größten Stücke, die mau ihnen umwickelt und mit einer Art von Leichentuch umgeben, worauf lange Texte des Todtenbuches verzeichnet stehen; diese aber beginnen mit einer Art von Einleitung, aus der hervorgeht, daß die ihr folgenden heiligen Schriften auf Befehl des Pharao Amenophis II. (des Sohnes Thumosis III.) hergestellt worden sind für seinen Vater und Vorgänger Thutmosis III., den Sohn der königlichen Gemahlin Isis. Dieser Frauenname erscheint hier zum ersten Male und lehrt, daß der größte der Pharaonen das Kind nicht der legitimen Gemalin Thutmosis I., sondern einer gewissen Isis, der Favoritin unter seinen Nebenweibern, gewesen.

Bald kamen neben die Mumien dieser berühmten Pharaonen diejenigen der größten Könige aus der 19. Herrscherreihe auf dem staubigen Boden der Nekropole zu stehen. Der Sarg Ramses’ I. und die Körper Seti’s I. und Ramses’ II., deren gemeinsame Thaten von den Griechen dem Sesostris zugeschrieben worden sind, hatten sich in der Cachette gefunden. Welch ein wunderbares Ungefähr, daß die sterblichen Reste gerade dieser Größten unter den Großen erhalten bleiben sollten bis auf den heutigen Tag!

Auch Ramses’ II. Mumie wurde vor Kurzem, am 1.Juni 1886, eröffnet.

Er war ein Mann von stattlicher Figur, und seine Mumie übertrifft die Thutmosis’ III. an Länge um 13 Centimeter. Emil Brugsch B, welcher bei ihrer Auswickelung zugegen war, versichert, daß der Kopf das allgemeine Erstaunen der ausgezeichneten, zu dieser Handlung gebetenen Gäste des Museums erregt habe. „Der Ausdruck der Züge,“ sagt er, „ist der eines Mannes von entschlossenem, fast tyrannischem Charakter,“ und ihre Photographie, welche wir im Holzschnitt wiedergeben, deckt sich durchaus mit dem Bilde, das wir von ihm an anderen Stellen entworfen. Obgleich er erst als Achtziger dahinging, blieb an seinem Antlitz alles Charakteristische erhalten, besonders auch die stark gebogene Nase, welche die Vermuthung zu bestätigen scheint, daß er einem semitischen Hause entstammte.

Kopfe der Mumie Ramses’ II.
Nach einer photographischen Originalaufnahme.

Die mit den Mumien bestatteten Papyrus sollten erst später aufgefunden und gewürdigt werden. Wir geben hier (S. 830) eine Probe der hieratischen Handschrift, die bei der Prinzessin Nesichunsu entdeckt ward. Die Stelle, welche H. E. Brugsch's Photographie wiedergiebt, gehört zu einem Dekret, welches welches als von dem Sonnengotte Ra zu Gunsten der verstorbenen Fürstin erlassen gedacht wird und also anhebt: „Dieser ehrwürdige Gott, Herr aller Götter Amon Ra, der Gebieter des Reichsheiligthums (heute Karnak), die erhabene Seele, welche von Anfang an gewesen ist, der Gott, der sich nährt von Wahrheit, der Erste, der da gewesen ist und jenigen, welche da sind, erzeugt hat, er, dessen Wesen alle Götter in sich schließt, der Eine und Einzige, welcher alle Dinge gemacht hat, dessen Beginn der Anfang der Welt gewesen, dessen Geburten geheimnißvoll und dessen Formen reich sind an Zahl.“ Die Mittheilung des von diesem Gotte Bewilligten, welche nun folgt, würde zu weit führen. Kehren wir zu dem Entdecker zurück!

Bald stand Alles, was das Felfenverfteck geborgen, zum Transport nach Luqsor bereit, in dessen Hafen der aus Kairo herbeigerufene große Dampfer es aufnehmen sollte. Unter Brugsch’s Leitung setzte sich der Zug in der brennenden Hitze des ägyptischen Juli in Bewegung. Es galt, zuerst die staubige, Gluth ausstrahlende Ebene der Nekropole, welche sich zwischen Der el-bahri und dem Nil weit ausbreitet, zu durchmessen. Die 12 bis 16 Träger, welche unter der Last der größten Stücke, die man ihnen aufgebürdet hatte, beinah erlagen, brauchten 6 bis 8 Stunden, um zu den Booten zu gelangen, die ihrer harrten.

Wie viel Schweiß ward bei dieser Arbeit vergossen, wie mögen des wackeren Beamten Nerven gebebt haben, bis er endlich am Abend des 11. Juli dahin gelangt war, die in Zeug und Matten wohl verpackten Monumente am Hafen von Luqsor zu registriren!

Am 14. Juli langte der Dampfer an; seine Beladung ging ohne Störung vor sich, und bald darauf lichtete er mit seiner Fracht von Königen, getrieben von einer Kraft, deren mächtige Wirkung all diese gekrönten Häupter, wenn es ihnen vergönnt gewesen wäre ins Leben zurückzutreten, mit Bewunderung und Schauder erfüllt hätte, den Anker, und der Nil trug sie nach demselben Norden hin, dem so mancher von ihnen an der Spitze gewaltiger Heere lebensfroh und siegesgewiß entgegen gezogen war.

Die Nachricht von der Entdeckung so vieler Königsleichen hatte sich schnell durch ganz Oberägypten verbreitet, und nun sah man ein unerwartetes Schauspiel, das in denjenigen, welche ihm beiwohnen durften, einen unauslöschlichen Eindruck zurückließ.

An beiden Seiten des Nils strömten nämlich die Fellachen zusammen, um das wunderbare Leichenschiff zu sehen und der Schar von Königen, die es als stumme Passagiere stromabwärts führte, die letzte Ehre zu erweisen. Als gälte es, einem großen Verstorbenen aus ihrer Mitte das Ehrengeleite zu geben, folgten die Fellachenweiber mit aufgelöstem Haar dem Dampfer; bestrichen sich Stirn und Brust mit Staub und stießen jenes weit Hinschallende Sagarit aus, mit dem sie bei den Leichenzügen, an denen sie sonst theilnehmen, der leidenschaftlichen Trauer, die sie erfüllt, Ausdruck geben. Die Männer mischten sich unter die klagenden Weiber und schossen Flinte auf Flinte ab, wie sie es zu thun gewohnt sind, wenn sie angesehene Verstorbene bestatten. Von Luqsor bis Quft begleitete das ägyptische Volk die schwimmenden Königsbahre mit allen Zeichen der Trauer. Ahnte die klagende Menge, welche in dieser Zeit der englischen Oberherrschaft Wohlfahrt und Selbständigkeit verloren, daß sie den Schöpfern und Erhaltern ihrer einstigen Größe die letzte Ehre erwies?

In dem neu hergestellten Museum von Bulaq fanden die Königsleichen würdige Unterkunft. (Vergl. Illustration S. 829.) Da stehen sie jetzt als numerirte Museumsstücke, und welch seltsame Fügung des Schicksals! Dieselben Kronenträger, welche tiefe Schachte in harte Felsen getrieben hatten, um ihren sterblichen Resten ewige Ruhe zu sichern und sie dem Blick und der Berührung der Ueberlebenden zu entziehen, müssen es sich nun gefallen lassen, daß ihre Mumien den neugierigen Blicken aller Welt preisgegeben und daß Tausende von Fremden, deren bloße Nähe bei Lebzeiten verunreinigt hätte, sie mit den Händen betasten, sie öffnen und nach Willkür mit ihnen verfahren.

Dr. Maspero hat all diese Schätze in seinem Museum aufs Würdigste aufgestellt, und es war gewiß eine weise That dieses Gelehrten, daß er den Waidmann und glücklichen Antiquitätensucher Abd el-Rassul mit 500 Pfund Sterling belohnt und ihn mit dem Posten eines Aufsehers der Ausgrabungen in Theben betraut hat. Der Plünderer der Gräber weiß nun, daß er für jeden neuen Fund auf rechtlichem Wege hübsche Summen verdienen kann, und der frühere Dieb ist, wie wir zu unserer Freude erfahren, zu einem brauchbaren Polizeimanne geworden.

[832]

Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)

Während die beiden Väter sich so in vollster Feindseligkeit gegenüberstanden, saßen ihre Kinder ganz friedlich und freundschaftlich bei einander. Hans Wehlau war von Tannberg herübergekommen, um seinen lieben Papa zu sehen und sich nach dem Befinden der Gräfin zu erkundigen. Das Letztere schien ihm aber das Wichtigere zu sein, denn er that es regelmäßig zuerst, und zwar holte er sich die Nachrichten nicht bei dem Vater, der sie ihm doch am besten hätte geben können, sondern – bei Fräulein von Eberstein, welche die gewünschte Auskunft stets selbst zu geben pflegte. Der Professor ahnte natürlich nichts von diesen Anfragen und Auskünften, sondern war der Meinung, sein Sohn komme direkt zu ihm, und freute sich über diese Anhänglichkeit, die offenbar neueren Datums war.

Auch heute hatte der junge Künstler sich bei dem gnädigen Fräulein melden lassen, und das gnädige Fräulein war schleunigst in das Empfangszimmer gekommen, wo sie nun schon länger als eine halbe Stunde bei einander saßen und wohl auch von anderen Dingen gesprochen hatten, als von der Krankheit der Gräfin; denn Hans sagte soeben:

„Sie haben es also Ihrem Herrn Vater noch nicht mitgetheilt? Er hält mich noch immer für einen Wehlau Wehlenberg?“

„Ich – ich fand noch keine Gelegenheit dazu,“ versetzte Gerlinde stockend. „Schreiben wollte ich es dem Papa nicht, denn ich wußte, es würde ihn kränken; deßhalb habe ich ihm unser Zusammentreffen ganz verschwiegen. Dann gingen wir nach Berkheim und als wir hierher kamen, erkrankte die arme Tante gleich am ersten Tage – da konnte ich vollends nicht von solchen Dingen sprechen.“

Die Worte klangen sehr ängstlich und zaghaft; Hans sah es deutlich, daß ihr nicht die Gelegenheit, sondern der Muth gefehlt hatte.

„Und überdies fürchten Sie den Zorn des Freiherrn gegen mich!“ ergänzte er. „Ich begreife das vollkommen und werde Ihnen selbstverständlich diese peinliche Auseinandersetzung ersparen. Ich fahre in den nächsten Tagen selbst nach der Ebersburg und bekenne dort reuig meine Sünden.“

„Um des Himmelswillen nicht!“ rief Gerlinde erschrocken. „Sie kennen meinen Papa nicht; er hat so strenge Grundsätze in dieser Beziehung und würde es nie zugeben –“

„Daß der bürgerliche Hans Wehlau als Gast in sein Haus kommt und mit seiner Tochter verkehrt – möglich! Die Frage ist nur, ob Sie mir das erlauben, mein Fräulein?“

„Ich?“ fragte das junge Mädchen in äußerster Befangenheit. „Ich habe ja nichts zu verbieten oder zu erlauben.“

„Und doch verlange ich die Antwort von Ihnen allein! Weßhalb glauben Sie denn, daß ich hierher gekommen bin? Doch nicht meiner Verwandten in Tannberg wegen! Ich hielt es nicht mehr aus in der Stadt, trotzdem mir die letzten Monate soviel Glück gegeben hatten. Der erste Erfolg eines Künstlers hat ja etwas Berauschendes, und mir ist er so ganz und voll zu Theil geworden, wie ich es kaum gehofft hatte. Von allen Seiten strömte es mir entgegen, und doch konnte ich eine Erinnerung, ein Sehnen nicht los werden, das immer wieder auftauchte, das mir keine Ruhe ließ und zuletzt so allmächtig wurde, daß es mich gewaltsam fortzog – meiner Sehnsucht nach!“

Gerlinde saß mit tiefgesenkten Wimpern und glühenden Wangen da. So jung und unerfahren sie auch noch war, diese Sprache verstand sie doch; sie wußte, wohin die Sehnsucht ihn gezogen. Er hatte sich erhoben und stand jetzt an ihrer Seite, und während er sich tief zu ihr niederbeugte, gewann seine Stimme wieder jenen weichen, innigen Ton, den man selten von den Lippen des übermüthigen jungen Künstlers hörte.

„Darf ich nach der Ebersburg kommen? Ich möchte sie so gern noch einmal erleben, die sonnige Morgenstunde auf den alten Burgtrümmern, hoch über dem grünen Waldmeer. Dort, an Ihrer Seite ist mir zum ersten Male die Poesie der Vergangenheit, die alte Märchenherrlichkeit aufgegangen. Durfte ich doch dem holden Dornröschen in die dunklen, träumenden Augen schauen. Ich habe diese Augen nicht wieder vergessen; sie sind mir tief in das Herz gedrungen – darf ich kommen, Gerlinde?“

Die Gluth in dem Antlitz des jungen Mädchens wurde tiefer, aber die gesenkten Augen hoben sich nicht, und die Antwort klang fast unhörbar.

„Ich hatte immer gehofft, Sie würden wiederkommen – den ganzen langen Winter hindurch – und immer vergebens.“

„Aber jetzt bin ich da!“ rief Hans aufflammend, „und jetzt gehe ich nicht wieder, ohne mir mein Glück zu sichern. Mein süßes kleines Dornröschen, ich habe es Dir ja schon damals gesagt, daß ein Tag kommen wird, wo der Ritter erscheint, der die Dornenhecke sprengt und die Träumende wach küßt aus ihrem Schlummer, und schon damals habe ich tief im Herzen den Wunsch gehegt, der Ritter möchte – Hans Wehlau heißen.“

Er hatte bei den letzten Worten den Arm um sie gelegt, Gerlinde schrak zusammen, aber sie entzog sich ihm nicht; langsam hob sie die dunklen „träumenden“ Augen zu ihm empor und leise, ganz leise, aber mit der ganzen Innigkeit des Glückes, sagte sie:

„Ich auch!“

Es war dem jungen Manne nicht zu verdenken, wenn er sich auf dies Geständniß hin nun auch genau an die Vorschrift des Märchens hielt und sein Dornröschen küßte, das sich an ihn schmiegte und glückselig zu ihm aufschaute. Aber als er sie nun fester in die Arme zog und sie seine süße kleine Braut nannte, fuhr Gerlinde auf einmal schreckensbleich empor.

„Ach Hans, lieber Hans, das geht ja nicht! Ich hatte es ganz vergessen – wir dürfen uns nimmer heirathen!“

„Weßhalb denn nicht?“ fragte Hans erstaunt.

„Mein Papa – er wird es niemals zugeben – wir stammen ja aus dem zehnten Jahrhundert!“

„Das zehnte Jahrhundert ist für mich durchaus kein Hinderniß, im neunzehnten zu heirathen. Mit dem Freiherrn wird es allerdings einen Sturm geben. Darauf bin ich gefaßt, aber ich bin ziemlich sturm- und wetterfest in solchen Dingen. Ich weiß aus reichlicher Erfahrung, was es heißt, einem wüthenden Papa Stand zu halten und schließlich doch seinen Willen durchzusetzen.“

„Aber wir werden ihn nicht durchsetzen,“ klagte das kleine Burgfräulein trostlos. „Es wird uns gehen wie Gertrudis von Eberstein und Dietrich Fernbacher, die sich auch so sehr liebten. Aber Gertrudis ward vermählt an den Edelherrn von Ringstetten, und Dietrich zog hinaus in den Kampf gegen die Ungläubigen und kam nimmer wieder!“

„Das war sehr unklug von dem Dietrich,“ erwiderte Hans. „Er hatte bei den Ungläubigen gar nichts zu schaffen! Er hätte daheim bleiben und seine Gertrudis heirathen sollen.“

„Aber sie durfte ihn uicht ehelichen, dieweil er nicht ritterlicher Abkunft, sondern der Sohn eines Kaufherrn war!“ rief Gerlinde, der die hellen Thränen in den Augen standen, während sie pflichtschuldigst den Wortlaut der alten Chronik wiederholte.

„Das war im Mittelalter,“ beruhigte sie Hans. „Jetzt ist man viel vernünftiger in solchen Dingen. Ich ziehe nicht gegen die Ungläubigen: ich laufe höchstens Sturm gegen die Ebersburg, und die nehme ich unter allen Umständen.“

„O Gott, mein Papa – das ist sein Schritt!“ rief Gerlinde, indem sie sich losmachte und schleunigst an das Fenster flüchtete.

„Hans, was fangen wir nun an?“

„Wir stellen uns ihm als Brautpaar vor und bitten um seinen Segen!“ erklärte der junge Mann kurz und bündig. „Einmal muß es doch geschehen, also je eher, desto besser.“

Man hörte in der That im Nebenzimmer den schweren, schlürfenden Schritt des Freiherrn und das Aufstoßen seines Stockes. Jetzt öffnete er die Thür, blieb aber wie erstarrt auf der Schwelle stehen. Er sah den „Menschen ohne Namen und Familie“ bei seiner Tochter, allerdings augenblicklich in respektvoller Entfernung von derselben; aber die bloße Thatsache dieses Beisammenseins genügte schon, ihn in Entrüstung zu versetzen; er trat langsam näher.

[833]

Die Virtuosin.
Nach dem Oelgemälde von H. Albrecht.

[834] „Ah – Herr Hans Wehlau!“ sagte er, den Namen scharf und hohnvoll betonend; der junge Mann verbeugte sich.

„Zu dienen, Herr von Eberstein.“

Der alte Herr wollte offenbar eine erhaben zürnende Stellung annehmen, die dieser Gerichtsscene entsprach, aber da spielte ihm seine Gicht einen bösen Streich. Er hatte sich vorhin bereits überanstrengt, jetzt versagten ihm die Füße vollständig den Dienst. Er sank in den ersten besten Sessel und bot dort einen mehr kläglichen als fürchterlichen Anblick dar; trotzdem überwand er seine Schmerzen und fuhr fort:

„Ich komme soeben von einem –“ er verschluckte einen anderen grimmigeren Ausdruck, „einem gewissen Professor Wehlau, der Ihr Vater zu sein behauptet.“

„Der es sogar ist!“ erklärte Hans, der nun wohl einsah, daß sein Bekenntniß nicht mehr nöthig sei.

„Und das geben Sie mir wirklich zu?“ rief der Freiherr empört. „Sie gestehen es also ein, daß Sie mir eine schändliche Komödie vorgespielt, daß Sie sich unter falschem Namen bei mir eingeschlichen, sich einen Adelstitel angemaßt haben –“

„Bitte, Herr Baron, das habe ich nicht gethan,“ fiel Hans ein. „Ich erlaubte mir nur, meinem eigenen Namen, der mir doch unzweifelhaft gehört, einen zweiten beizufügen. Den ‚Baron’ aber haben Sie mir zudiktirt. Uebrigens sind Sie vollkommen in Ihrem Rechte, wenn Sie mir Vorwürfe machen, und ich bitte aufrichtig um Verzeihung wegen des tollen Einfalls, mit dem ich mir eine anfangs versagte Gastfreundschaft erzwang. Ich rufe Fräulein von Eberstein zum Zeugen dafür auf, daß es meine Absicht war, aus freiem Antriebe nach der Ebersburg zu kommen und Ihnen die Wahrheit zu gestehen. Dem flüchtigen Gast, der eines Abends kam und am nächsten Morgen wieder davonzog, konnte man den Uebermuth vielleicht verzeihen, eine fortgesetzte Täuschung wäre Betrug gewesen. Das wurde mir sofort klar, als ich das gnädige Fräulein in der Hauptstadt wiedersah, und ich habe nicht einen Augenblick gezögert, ihr die Wahrheit zu bekennen.“

Eberstein warf seiner Tochter einen erstaunten und entrüsteten Blick zu.

„Wie, Gerlinde, Du hast das gewußt und es mir verschwiegen? Du hast diesem Herrn Hans Wehlau trotzdem erlaubt, in Deine Nähe zu kommen, und vielleicht sogar seine Entschuldigung angenommen über Dinge, die nicht zu entschuldigen sind? Ich finde das sehr unpassend.“

Gerlinde antwortete keine Silbe; sie stand bleich und zitternd am Fenster und blickte angstvoll zu Hans hinüber: eine Heldin war das kleine Dornröschen gerade nicht. Um so unerschrockener zeigte sich der junge Ritter vom Forschungstein. Er sah, daß hier mit dem Parlamentiren nichts zu erreichen war; der Sturm mußte gewagt werden, und so nahm er denn einen Anlauf und setzte tapfer mitten in die Dornenhecke hinein.

„Das gnädige Fräulein hat sogar noch mehr gethan,“ entgegnete er, „sie hat mir auf eine Frage, die ich an sie richtete, eine höchst beglückende Antwort gegeben. Ich gestand ihr soeben meine Liebe und empfing das Geständniß ihrer Gegenliebe. Sie erlauben uns daher wohl, Herr Baron, um Ihren väterlichen Segen zu bitten?“

Der alte Herr nahm wider Erwarten diese Worte ziemlich ruhig auf, weil er sie einfach nicht verstand. Er hielt das für eine neue „schändliche Komödie“; denn daß der Sohn des bürgerlichen Professors im Ernste um ein Fräulein von Eberstein freien könne, fiel ihm gar nicht ein.

„Mein Herr, ich verbitte mir dergleichen taktlose und empörende Scherze!“ sagte er in hohem Tone. „Sie scheinen garnicht zu fühlen, was Sie sich eigentlich damit herausnehmen, und ich sollte meinen, Sie hätten allen Grund, mir gegenüber ernst zu sein.“

Hans trat zu seiner Braut und ergriff ihre Hand.

„So muß ich Dich bitten, Gerlinde, zu sprechen und meine Worte zu bestätigen. Sage Deinem Vater, daß Du mir das Recht gegeben hast, bei ihm um Deine Hand zu werben, daß Du mir angehören willst und keinem Anderen.“

Die Worte klangen in vollster Zärtlichkeit, aber Gerlinde hörte doch die ernste Mahnung darin und fühlte, daß sie jetzt ihre Zaghaftigkeit überwinden müsse und ihrem Hans an Tapferkeit nicht nachstehen dürfe. Ueberdies war er ja an ihrer Seite, bereit, sie zu schützen, und so brach sie denn aus:

„O Papa, ich habe ihn so lieb, so grenzenlos lieb! Und wenn er auch keinen Adel und kein Wappen hat – ich will keinen Anderen, als meinen Hans!“

„Meine Gerlinde!“ rief Hans, sie stürmisch in seine Arme schließend. Und nun geschah das Unglaubliche, Unfaßbare! Vor den Augen des Freiherrn Udo von Eberstein-Ortenau küßte der Mensch ohne Namen und Familie den letzten Sprößling des erlauchten Geschlechtes aus dem zehnten Jahrhundert, und zwar that er dies zweimal hinter einander!

Der alte Herr war in der ersten Minute völlig sprach- und bewegungslos. Er sah starr auf die Gruppe und dann eben so starr nach der Decke hinauf; denn er erwartete nichts Geringeres, als daß die Mauern einstürzen und den Frevler begraben würden.

Schloß Steinrück schien aber der Meinung zu sein, daß diese Sache eigentlich nur die Ebersburg angehe, die in diesem Augenblick zweifellos mit dumpfem Krachen in Trümmer fiel, und blieb stehen. Der Freiherr sah, daß das Weltgericht unbegreiflicher Weise nicht eintrat, daß er dessen Rolle übernehmen müsse, und nun wollte er allerdings aufspringen. Aber sogar die Gicht war mit den Beiden im Bunde: sie hielt ihn erbarmungslos fest. Anstatt wie ein Rache-Engel dazwischen zu treten und sie aus einander zu reißen, brachte er es nur zu einer kläglich zappelnden Bewegung und sank dann wieder kraftlos und hilflos in den Lehnstuhl zurück.

„Gerlinde!“ rief er mit heiserer Stimme. „Entartetes Kind! Komm zu mir – komm augenblicklich an meine Seite!“

Gerlinde machte einen allerdings nicht sehr energischen Versuch, zu gehorchen: als aber Hans sie daran hinderte und sie festhielt, ließ sie sich ganz geduldig festhalten und wiederholte nur schluchzend:

„O Papa, ich habe ihn so lieb!“

„Herr Hans Wehlau,“ schrie Eberstein, der jetzt alle Haltung verlor, gellend. „Lassen Sie meine Tochter los, auf der Stelle! Ich befehle es Ihnen! Entfernen Sie sich augenblicklich!“

„Sogleich, Herr Baron,“ versicherte Hans. „Erlauben Sie mir nur, von meiner Braut Abschied zu nehmen,“ und damit küßte er Gerlinde von Neuem, was ein erneutes krampfhaftes Zappeln des Freiherrn zur Folge hatte.

„Ich rufe um Hilfe! Ich rufe die ganze Dienerschaft herbei! Ich läute Sturm!“ schrie er und bemühte sich vergebens, die Tischglocke zu erreichen, die in einiger Entfernung stand. Da öffnete sich die Thür, und Hertha, die der Lärm herbeigezogen hatte, erschien.

„Gräfin Hertha!“ rief Eberstein, der bei ihrem Anblick neuen Muth schöpfte. „Retten Sie mein Kind, das dieser Mensch da bezaubert, behext hat, weisen Sie ihn aus Ihrem Schlosse!“

Hertha stand ganz entsetzt da. Sie sah Gerlinde in den Armen Hans Wehlau’s, der noch immer mit den Abschiedsfeierlichkeiten beschäftigt war, und den alten Baron jammernd und zappelnd im Lehnstuhl; die Scene war ihr völlig unverständlich.

Hans fand sich nun endlich bewogen, dem Befehle des Freiherrn nachzukommen, aber er führte Gerlinde nicht zu ihm, sondern zu der jungen Gräfin und sagte im Tone der Bitte:

„Ich übergebe meine Braut Ihrem Schntze, Gräfin Steinrück. Der Herr Baron weist vorläufig noch meine Werbung zurück, und ich muß für den Augenblick allerdings weichen, denn ich darf meinem künftigen Schwiegervater –“

„Unverschämter!“ schrie Eberstein, der jetzt einen förmlichen Krampfanfall zu bekommen schien.

„– weder in schroffer Weise entgegentreten, noch kann ich diesen beleidigenden Ton länger ertragen,“ vollendete der junge Mann ruhig. „Nehmen Sie sich meiner Gerlinde an! Ich bitte Sie recht herzlich darum; ich komme wieder, sobald Herr von Eberstein sich etwas beruhigt haben wird.“

Damit küßte er in aller Seelenruhe seine Gerlinde zum vierten Male, küßte der jungen Gräfin die Hand, machte dem Freiherrn eine artig ritterliche Verbeugung und ging zur Thür hinaus. –

Professor Wehlau hatte inzwischen seinen Aerger überwunden und seine Briefschaften erledigt. Was ging ihn auch schließlich dieser verrückte alte Freiherr aus dem zehnten Jahrhundert an! Der Mann war offenbar unzurechnungsfähig, und deßhalb war Wehlau auch geneigt, den tollen Streich seines Sohnes milder zu beurtheilen, als er es sonst gethan hätte. Der Einfall mit [835] dem Forschungstein amüsirte ihn sogar höchlich, aber er beschloß trotzdem seinem übermüthigen Sprößling den Text zu lesen, und fand auch bald Gelegenheit dazu, denn soeben trat Hans bei ihm ein.

„Ich habe wieder einmal schöne Streiche von Dir hören müssen!“ empfing ihn der Vater. „Was hast Du wieder für Tollheiten auf der Ebersburg getrieben? Du – Ritter vom Forschungstein!“

„War das nicht ein guter Einfall, Papa?“ fragte der junge Mann lachend. „Ich habe soeben erfahren, daß die Sache zwischen Dir und dem Freiherrn zur Sprache gekommen ist. Er wollte Dich vermuthlich wegen seines Gichtleidens konsultiren?“

„Möglich, ich habe die Diagnose auf Verrücktheit gestellt!“ sagte Wehlau trocken. „Ich habe ihm Eisumschläge verordnet, es wird zwar nicht viel helfen, die Krankheit ist schon zu weit vorgeschritten, aber es beruhigt doch wenigstens, und das thut noth.“

„Wie so? Seid Ihr etwa an einander gerathen?“

„Gewiß sind wir das! Ich bin nicht dafür, fixe Ideen zu schonen, wie die meisten meiner Kollegen. Ich habe den Grundsatz, die Kranken aufzurütteln aus ihrem Wahne, und als dieser Udo von Eberstein anfing, mir ganze Chronikbücher herunter zu beten, habe ich ihm in der nachdrücklichsten Weise klar gemacht, was ich von diesem mittelalterlichen Unsinn halte.“

„O weh!“ seufzte Hans, „da hast Du ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, das verzeiht er Dir und mir niemals.“

„Meinetwegen! Was haben ich und Du denn mit diesem alten Uhu von der Ebersburg zu thun?“

„Sehr viel – da ich mich mit seiner Tochter verlobt habe!“

Der Professor sah seinen Sohn einen Augenblick lang starr an, dann runzelte er die Stirn und sagte ärgerlich:

„Treibst Du schon wieder Narrenspossen? Ich dächte, das wäre nun nachgerade genug!“

„Du irrst, Papa, ich spreche im vollen Ernste. Ich habe mich soeben mit Gerlinde von Eberstein verlobt. Du hast sie ja am Krankenbette der Gräfin kennen gelernt und wirst Dich sicher freuen, wenn ich Dir ein so liebes, holdes Geschöpf als Tochter zuführe.“

„Junge, bist Du toll geworden?“ brach Wehlau aus. „Die Tochter eines notorisch Wahnsinnigen? Das kann ja erblich sein in der Familie! Das Mädchen hat so schon etwas Scheues, Seltsames in seinem Wesen, und der Vater ist bereits vollständig übergeschnappt.“

„Bewahre!“ sagte Hans. „Er stammt nur aus dem zehnten Jahrhundert, und darauf hin mußt Du ihm einige abnorme Gehirnerscheinungen zu Gute halten. Sonst ist mein Schwiegervater ganz vernünftig.“

„Schwiegervater?“ wiederholte der Professor gereizt. „Da habe ich doch auch noch ein Wort mitzureden, sollt’ ich meinen! Wenn Du Dir wirklich diese unsinnige Idee in den Kopf gesetzt hast, so erkläre ich Dir kurz und bündig: daraus wird nichts! Ich verbiete es Dir!“

„Das kannst Du nicht, Papa. Der Freiherr hat es Gerlinde auch verboten; er bekam sogar Krämpfe, als ich meine Werbung vorbrachte, aber das hilft Euch Beiden nichts – wir heirathen uns doch.“

Wehlau, der jetzt endlich merkte, daß die Sache Ernst war, hob verzweiflungsvoll die Hände empor.

„Aber hast Du denn auch schon den Verstand verloren? Der Alte ist verrückt, daran ist gar kein Zweifel, und ich sage Dir als Arzt, daß der Wahnsinnskeim erblich ist. Willst Du Unheil in unsere Familie bringen? Willst Du eine ganze Generation unglücklich machen? So nimm doch Vernunft an!“

Das düstere Zukunftsbild machte leider gar keinen Eindruck auf den jungen Mann, er entgegnete kaltblütig:

„Es ist doch eigentlich merkwürdig, Papa, daß wir uns immer zanken müssen! – Jetzt standen wir gerade so vortrefflich mit einander! Du hast Dich mit meiner ,Farbenkleckserei‘ ausgesöhnt und bist auf dem besten Wege, stolz darauf zu werden; nun ist Dir wieder meine Verlobung nicht recht, und sie müßte Dir doch eigentlich schmeichelhaft sein. Zu Dir kommt die alte Aristokratie nur, wenn sie Rheumatismus hat; ich verbinde mich mit der jungen Aristokratie, indem ich sie eheliche; das ist doch ein offenbarer Fortschritt.“

„Es ist der unsinnigste von all Deinen unsinnigen Streichen!“ rief der Professor wüthend. „Ein für allemal –“

Er wurde unterbrochen, ein Diener erschien, um ihn zu der Gräfin zu rufen, da er befohlen hatte, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn die Kranke aus ihrem Schlafe erwacht sei. Wehlau folgte als gewissenhafter Arzt auch jetzt diesem Rufe, befahl aber seinem Sohne zu bleiben, er werde in einer Viertelstunde zurück sein.

(Fortsetzung folgt.)

Blätter und Blüthen.

Eine „Bibliothek deutscher Geschichte“. Unter diesem Titel erscheint im J. G. Cotta’schen Verlag in Stuttgart ein Unternehmen, welches auf die allgemeinste Theilnahme rechnen darf. Der Zweck desselben ist, eine Geschichte der Deutschen von ihrem ersten Auftreten bis zur Aufrichtung ihres neuen Kaiserreichs zu geben und zwar in einer zusammenhängenden Reihe einzelner Werke. Dem Verleger und dem Herausgeber, H. von Zwiedineck-Südenhorst, schwebte offenbar das Vorbild der Oncken’schen Weltgeschichte vor, die ebenfalls aus einer Sammlung selbständiger Einzelwerke besteht, vor welcher das Cotta’sche Unternehmen indessen den Vorzug hat, daß es nicht einzelne Epochen aus der deutschen Geschichte behandelt, die sich nicht ganz lückenlos an einander schließen, sondern die einzelnen Theile so organisch verbindet, daß schließlich eine zusammenhängende deutsche Geschichte entsteht. Was an der einheitlichen Fassung und Haltung dabei verloren gehen könnte, wird reichlich aufgewogen durch die Sicherheit und Vertrautheit, welche sich aus der anhaltenden Beschäftigung mit einem bestimmten Zeitraum ergiebt und welche eine anschauliche Darstellung ermöglicht, deren Bilder sich dem Geist und der Phantasie des Lesers einprägen. Daß derartige Werke jetzt von den Schriftstellern, den Buchhändlern und dem Publikum bevorzugt werden, hängt mit der ganzen Richtung unserer Zeit auf die Specialforschnng zusammen. Wenige Historiker der Gegenwart wären im Stande, wie Altmeister Ranke, eine von großen Gesichtspunkten ausgehende Weltgeschichte zu schreiben.

Sehr erfreulich ist es, daß auch im Prospekt dieser neuen Geschichtsbibliothek, welcher bereits früher unserem Blatte beigelegen hat, die Absicht hervorgehoben wird, die früher in Deutschland übliche Darstellungsweise zu vermeiden, welche durch den in den Bibliotheken aufgewirbelten Staub der Forschung und Untersuchung die Klarheit und Durchsichtigkeit einer in künstlerisch abgeschlossener Form sich gebenden Geschichtserzählung verdunkelt. Das Werk will nicht zu Fachgelehrten und Kritikern sprechen, sondern zur deutschen Nation, die ein Recht hat zu verlangen, daß sie von den Leistungen der gelehrten Welt in einer allgemein faßbaren, nicht ermüdenden Form unterrichtet werde.

Den Zeitpunkt für das Erscheinen eines solchen Geschichtswerkes erklären die Herausgeber als besonders günstig, da heute eine wahrhaft nationale Geschichtschreibung möglich geworden ist. „Die entscheidende Wandlung, welche die Geschicke des deutschen Volkes in unseren Tagen erfahren haben, die Vereinignng der Mehrheit seiner Stämme in dem neuen Kaiserreiche und der enge Anschluß der aus dem alten Reichsgefüge losgelösten, aber von deutschen Bürgern und einer deutschen Dynastie gegründeten und erhaltenen österreichisch-ungarischen Monarchie an dieses neue Deutsche Reich geben der Beurtheilung der historisch gewordenen Verhältnisse eine Sicherheit und Bestimmtheit, wie sie vordem niemals gedacht werden konnte.“

So sind es auch österreichische und deutsche Historiker im Verein, welche die dreizehn selbständigen Werke verfassen werden, aus denen die Sammlung bestehen soll: der Herausgeber von Zwiedineck-Südenhorst in Graz, Engelbert Mühlbacher in Wien, Viktor von Kraus in Wien, August Fournier in Prag, Jastrow in Berlin, Oskar Gutsche in Danzig, K. Th. Heigel in München u. A. Das erste Werk ist eine deutsche Geschichte von der Urzeit bis zu den Karolingern; das letzte: der deutsche Bund und das neue Reich. Die Gliederung des Werkes in einzelne Abtheilungen ist eine durchsichtige und geschichtlichen scharf abgeschlossenen Zeiträumen entsprechende. Die erste vorliegende Lieferung beginnt mit der Schrift: „Die deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges von Moritz Ritter.“ So sei das neue, von patriotischem Geist eingegebene Unternehmen von vornherein der Gunst des Publikums warm empfohlen.  

Ludwig Uhland in Frankfurt. Karl Biedermann hat als Ergänzung zu den „dreißig Jahren deutscher Geschichte“, die jetzt in zweiter Auflage vorliegen, eine Selbstbiographie herausgegeben unter dem Titel: „Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte“ (Breslau, Schottländer). Hier geht der Verfasser auf manche mehr persönliche und intime Seite der Zeitereignisse in den letzten dreißig Jahren ein, die er in jenem Werke geschichtlich in ihrem innern Zusammenhang dargestellt hat. Karl Biedermann, ein alter Gothaer und späterer Nationalliberaler, gehört zu den Politikern, die in ihrem Leben keine Wandlung durchgemacht haben, die nach keiner Seite hin eingeschwenkt sind, sondern deren politische Wirksamkeit sich in einer geraden Linie konsequent fortbewegte. Es ist daher selbstverständlich, daß er die Dinge seit fünfzig Jahren vom Standpunkte seiner Partei aus, mit welcher er selbst so eng verwachsen ist, ansieht und darstellt; doch ist sein Urtheil dabei stets milde und unbefangen. Seine Lebensbeschreibung enthält eine Menge interessanter

[836] Aufzeichnungen; er ist bei den mannigfachsteu politischen Ereignissen betheiligt gewesen, hat eine große Zahl bedeutender Zeitgenossen persönlich kennen gelernt, namentlich in dem großen Bewegungsjahre 1848. Zu diesen gehört auch der Dichter Ludwig Uhland, der nach Frankfurt zum Vorparlament gekommen war und dort als Wandnachbar mit Biedermann zusammenwohnte.

„Uhland war als Vertrauensmann für Württemberg in Frankfurt, Ich sah ihn nun von meinem Fenster aus täglich zu ganz bestimmter Stunde mit seiner Lebensgefährtin spazieren gehen, beide, soviel ich beobachten konnte, stumm und mit schmalen gleichgültigen Gesichtern neben einander herwandelnd, so daß, wer es nicht anders wußte, schwerlich geahnt hätte, welch innige Geistes- und Seelenverwandtschaft diese beiden trefflichen Menschen verband. Auch sonst habe ich Uhland kaum anders als schweigsam gesehen, persönlich näher gekommen bin ich ihm nicht. Von der Tribüne herab habe ich ihn nur dreimal gehört; das erste Mal im Vorparlament, wo er, als Hecker und seine Freunde gegen den Bundestag tobten und die sofortige Ausmerzung der alten Bundestagsgesandten verlangten, mit seiner klassischen Ruhe und einem echt poetischen Bilde dazwischen trat, indem er die wenigen, aber höchst eindrucksvollen Worte sprach: ,Wenn der Frühling kommt und neue Blätter hervortreten, fallen die alten von selbst ab.‘ Dann wieder im Parlament, als es sich um das Kaiserthum handelte, äußerte er, was seitdem oft wiederholt worden ist: ,Es wird kein Kaiser über Deutschland herrschen, der nicht mit einem Tropfen demokratischen Oels gesalbt ist.‘

Sein drittes Auftreten ging mich selbst und meine politischen Freunde näher an. Es war gegen das Ende des Frankfurter Parlaments, wenige Tage vor Uebersiedlung der Linken nach Stuttgart. Wir waren damals noch ein ganz kleines Häuflein von der gemäßigten Partei in der Paulskirche zurückgeblieben, also völlig in der Minderheit gegenüber der Linken. Letztere wollte eine Proklamation ans deutsche Volk erlassen; wir verlangten die Aufnahme zweier Sätze in dieselbe, nämlich einmal die Erklärung, daß die Bewegung nur der Reichsverfassung (nicht der Republik) gelte, und zweitens die, daß jede fremde Einmischung (von der französischen Republik aus) streng ferngehalten werden solle. Uhland als Berichterstatter über die Proklamation, obschon selbst der Linken angehörend, befürwortete beide Anträge, freilich ohne Erfolg. Seine Autorität ward so wenig hier als Tags darauf, wo er gegen die Verlegung des Parlaments nach Stuttgart sprach, von seinen Parteigenossen respektirt.“

Aehnliche, zwar knapp ausgeführte, aber doch an manchen zum Theil bisher unbekannten Zügen reiche Brustbilder finden sich häufig bei Karl Biedermann. †      

Holländische Fischerflotille. (Mit Illustration S. 825.) Der Schauplatz des Bildes liegt in der Nähe der drei Dörfer Nordhollands, welche nach der berühmten niederländischen Adelsfamilie Egmond noch heute diesen Namen führen, obwohl das alte Geschlecht längst erloschen und von ihrer Stammburg nichts mehr übrig ist als ein Rest von Trümmern. An einem ungewöhnlich schönen Herbstmorgen weilte der Künstler in der Nähe von Egmond aan Zee am Strande und entwarf dort sein Bild. Schon in früher Morgenstunde wurde es ringsum lebendig. Von der See her näherten sich langsam, die Segel vom Morgenwinde nur schwach geschwellt, die Fischerboote, um dicht am Strande in langer Reihe vor Anker zu gehen. Aus dem Dorfe waren die Händler herbeigeströmt, denen sich Angehörige der Fischer und Schaulustige angeschlossen hatten. Vereinzelt oder in Gruppen standen diese nun am Ufer, während sich auf den Booten allmählich ein reges Leben zu entfalten begann. In großen Körben wurden die Fische an das Land geschafft, auf dem Sande ausgebreitet und den Käufern zur Auswahl angeboten. Die Beute des Tages war eine nicht zu reiche, doch entschädigte die Fischer die erhöhte Kauflust seitens der Händler. * *      

Ueber Entstehung der Sprache. Kaum wird es noch einen wissenschafilichen Zweifler geben, der in Abrede stellte, daß der Mensch sich die Sprache selbst erfunden. Aber auf welche Weise ist sie entstanden, und wie hat der Urmensch sie geschaffen? Glühende Liebe, Rivalität, Triumph mögen nach Darwin die stärksten bewegenden Mächte zur Entwickelung der menschlichen Sprache gewesen sein.

„Die ersten Merkmale zu Elementen der Sprache waren Töne,“ sagt Herder, „der Baum rauscht, der Bach murmelt, der Wind säuselt, die ganze vieltönige Natur ist Sprachlehrerin.“

Nach Geiger entstand das Wort und die Bildung des Satzes, als die Menschen Werkzeuge machten, und G. Jäger giebt eine Skizze der Entwickelung der Sprache von den Uranfängen bis zur Ausbildung und unterscheidet folgende Perioden: 1. Periode: Empfindungslaute und Empfindungsgebärden; als solche müssen gelten: a. Paarungsrufe, d. Familienrufe und c. Warn- und Fütterungsrufe; 2. Periode: Deuten zum Zweck der Verständigung über Anwesendes; 3. Periode: Luft- und Lautbild: es wird durch Vereinigung von Deuten und Laut eine zweckmäßige Verständigung über Abwesendes hervorgebracht; 4. Periode: die Luftbilder werden durch Lautbilder ersetzt, und diese Stufe hat nur der Mensch.

Ein Pariser Theaterskandal. Welche Erbitterung zwischen den politischen Parteien in Frankreich herrscht, das zeigten vor einiger Zeit die Vorgänge bei der Aufführung eines Spektakelstückes „Juarez“ von Gassier. Das Publikum war schon vorher benachrichtigt worden, daß Oesterreich und Belgien ein Verbot der Aufführung dieses Stückes gewünscht hatten, während Paul de Cassagnac sich an seine Landsleute wandte mit der Aufforderung, sie sollten eine Beschimpfung des Kaisers Napoleon III. und des Kaisers Maximilian nicht dulden. In Folge dessen waren zwei Parteien in dem Volkssaale anwesend: die Republikaner von heute und die Kaiserlichen von gestern, jene in den obern Rängen, diese im Parkett und den Logen. Die Polizei hatte alle Vorbereitungen getroffen, um blutige Auftritte zu vermeiden. Von dem, was auf der Bühne gesprochen wurde, vernahm man oft gar nichts, so daß man glauben konnte, eine Pantomime werde aufgeführt. Wenn der mexikanische Republikaner Juarez erschien, wurde er vom Parterre mit Thierlauten begrüßt; dann regneten von der Galerie Aepfel, Kastanien und Nüsse auf das Parkett nieder. Erschienen die Jesuiten mit ihren großen Hüten, so brachen die Galerien wieder in ein Hohngelächter aus; dazwischen ertönte Katzengeschrei, Rabengekrächze, Froschgequake. Einig waren die feindlichen Parteien nur in ihrer Verurtheiluug des Marschalls Bazaine. „Das ist ein Verräther!“ ertönte es von allen Seiten, und der arme Darsteller des Vertheidigers von Metz wurde mit faulen Aepfeln bombardirt.

Diese die halbe Nacht hindurch andauernden Lärmscenen bewiesen zur Genüge, wie gefährlich es für unsere dramatischen Dichter ist, Stoffe aus der nächsten Zeitgeschichte zu wählen, obschon die Poesie offenbar dazu berechtigt ist. Das Stück „Juarez“ ist jedenfalls nur ein dramatisches Lärmstück; aber auch talentvolle deutsche Dichter wie J. G. Fischer haben diesen Stoff behandelt. In Deutschland würde bei der Aufführung eines Dramas „Maximilian“ das dichterische Interesse und die ruhige Theilnahme an dem Stoffe überwiegen; in Frankreich ist ein solcher Stoff ein Zankapfel der Parteien und kann nur die Wuth derselben entfesseln. †      

Die Virtuosin. (Mit Illustration S. 833.) Auf dem Podium sehen wir eine jugendliche Gestalt, welche den Bogen über die Saiten gleiten läßt. Vielleicht ist’s eine Dilettantin, die in einer der Soiréen der Aristokratie mitwirkt, vielleicht auch eine Künstlerin von Fach, die ein reicher Börsenmann in seine Gesellschaft zog, um den Gästen einen Genuß zu bereiten, der durch den hohen Preis an Werth gewinnt.

Jedenfalls fesselt die Künstlerin ihre Zuhörerschaft. Alle heften ihre Blicke auf das markante Gesicht und hören lautlos zu, was der Geige entströmt. Nur eine der beiden Damen im Vordergrunde scheint eben ein Wort geflüstert zu haben, dessen Wirkung sie auf dem Gesicht ihrer Nachbarin beobachtet.

Dem Anscheine nach ist’s ein Mitglied der Gesellschaft, welches an dem Flügel sitzt und begleitet. Das aufmerksam auf das Notenblatt geheftete Auge des alten Herrn sowie der ernste Ausdruck, der um die Mundwinkel liegt, zeigen das Bestreben, der Vortragenden in möglichst künstlerischer Weise gerecht zu werden. Namentlich in dieser Figur hat es der Maler verstanden, etwas Ueberzeugendes zu schaffen. Man sieht, daß die Hände mit einer gewissen decenten Rücksicht die Tasten berühren, um durch die Begleitung die Wirkung des Vortrages zu erhöhen.

Neben mehreren anderen ausgesprochenen Typen überrascht auch durch die Sicherheit der Auffassung die Figur des Dieners. Er steht mit seiner vornehmen Würde über den Dingen dieser Welt, und zumal heute! All dergleichen Volk registrirt er unter das Musikantenthum, und das Musikantenthum ist mehr oder minder Bettelvolk in seinen Augen.

In dem Gesammtbilde ist dem Künstler die Lichtvertheilung trefflich gelungen. Man sieht, wie der Kronleuchter, der von der Decke des hohen Koncertsaales herabhängt, den Raum durchleuchtet. Die seidenen Kleider der beiden jungen Damen zur Rechten schimmern in dem Lichtglanze, den auch noch die Lichter vom Flügel wirksam unterstützen. Hermann Heiberg.     


Allerlei Kurzweil.

Schach.
Von Carl May in Braunschweig.
SCHWARZ

WEISS
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.


Auflösung der Schachaufgabe auf Seite 788.
 Weiß:  Schwarz:
1. e 5 – e 6 K e 4 – f 6!
2. D c 3 – e 3! beliebig (ev. K g 4)
3. S f 3 – h 4: (ev. d 4) matt.
Auf 1- - - - b 5 – a 4 : folgt 2. D e 3 – c 4 † etc. Sonstiges wird mit 2. D e 3 – e 5 † etc. erledigt.



Inhalt: Die beiden Schaumlöffel. Eine Künstlergeschichle von Klara Biller. S. 821. – Trinker-Behandlung. Von A. Lammers, S. 826. – Schwarze Freunde. Zur Erinnerung an Ed. Robert Flegel. Mit Illustrationen. S. 828. – Ein Friedhof ohne Gleichen und vierzig auferstandene König. Von Georg Ebers (Schluß). Mit Illustrationen S. 829, 830 und 831. – Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 832. – Blätter und Blüthen: Eine „Bibliothek deutscher Geschichte“. S. 835. – Ludwig Uhland in Frankfurt. S. 835. – Holländische Fischerflottille. S. 836. Mit Illustration S. 825. – Ueber Entstehung der Sprache. S. 836. – Ein Pariser Theaterskandal. S. 836. – Die Virtuosin. Von Hermann Heiberg. S. 836. Mit Jllustration S. 833. – Allerlei Kurzweil: Schach. S. 836.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Dult – Jahrmarkt
  2. Vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1886, S. 554: „Die Geheimmittel gegen Trunksucht“.