Die Gartenlaube (1887)/Heft 37

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[597]

No. 37.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
(Fortsetzung.)


Durch all die Stunden, während welcher der Bygotter in seiner eigenthümlichen Weise werkte und schaffte, weilte Sanni unablässig in seiner Nähe, ging ihm bei der Arbeit nach Kräften an die Hand oder saß unter einem Baume, die zerschlissenen Kleider des Vaters bessernd, und dabei zitterten fast immer heimliche Thränen auf ihren schmalen, blassen Wangen. Wenn sie sich erhob, wenn sie sich entfernen wollte, traf sie stets aus den Augen des Vaters ein finsterer Blick, so daß sie sich wortlos wieder niederließ auf die verlassene Stelle. Am Tage nach des Vaters Ankunft war sie von ihm ins Dorf geschickt worden, um beim Krämer einen Scheffel Kartoffeln, ein Säckchen mit Linsen und Bohnen und allerlei andere Dinge, beim Bäcker eine Metze Mehl und schwarzes Brot zu bestellen. Ihr Weg führte eigentlich nicht am Pointnerhof vorüber; als sie sich dennoch plötzlich vor dem großen, weißen Hause mit den grünen Läden sah, schüttelte sie das Köpfchen darüber, wie es nur möglich gewesen wäre, daß sie so weit vom Wege abkommen konnte. Dabei verzögerte sie die Schritte und musterte das schöne Haus, besonders aber den Hofraum und die blinkenden Fenster mit schüchternen Blicken. Das war doch seltsam, wie leer der Hof sich ansah! Als gäb’ es im Pointnerhause keine Mannsleute! Und da drinnen hausten doch ihrer fünfe, die vier andern – und Karli! Nun plötzlich gewahrte sie hinter einem der Fenster ein ihr völlig unbekanntes, lächelndes, bildsauberes Gesicht mit großen dunklen Augen. Sie wußte nicht, was sie dachte, sie fühlte nur, daß es ihr beim Anblick dieses schönen Gesichtes wie ein Stich durch das Herz ging; so eilte sie davon, und als sie den schmalen Fußpfad am Bache erreichte, fing sie zu laufen und laut zu weinen an.

Seitdem hatte sie das Dorf nicht wieder betreten. Die Woche war vergangen und der Samstag gekommen. Als sie da bei grauendem Morgen ihr kümmerliches Lager verließ und die Stube betreten wollte, hörte sie schon die dumpfe Stimme des Vaters, halb wie Gebet, halb wie Gesang. Sie öffnete die Thür und fuhr sich erschrocken mit den Händen an die Schläfe. Inmitten der Stube lag der Bygotter ausgestreckt mit dem Gesichte auf den Dielen.

„Vaterl – um lieben Herrgotts willen –“ stammelte Sanni unter Thränen. Schon wollte sie auf den Vater zueilen, als er sich murmelnd auf die Kniee emporrichtete und, die Arme ausbreitend, mit starren, glühenden Augen aufschaute zur Decke.

„Vaterl – Vaterl –“ stotterte Sanni leise; er schien sie nicht zu hören, und da verließ sie zögernd die Stube und setzte sich draußen im finsteren Flur weinend auf die morsche, leiterartige Treppe, die zum Bodenraume führte. Dort saß sie lange Stunden, und dabei hörte sie unablässig aus der Stube die dumpfe, murmelnde Stimme des Vaters.

Der trieb es so fort den ganzen Tag, rührte keine Hand zur Arbeit und verzehrte keinen Bissen. Erst gegen Abend

Theodor Storm.
Nach einer Photographie von Karl Andersen in Neumünster.

[598] verlangte er zu essen. Erleichtert eilte Sanni in die Küche, um dem Vater eine Speise zu richten, die er sie bereiten gelehrt: aus Roggenmehl, getrockneten Erdbeeren, Salz und Wasser. Sie mußte, um Feuer machen zu können, Späne von den Zimmerplätzen draußen im Walde holen. Als sie unter den rauschenden Tannen stand und die splitterigen Scheite in ihre Schürze las, hörte sie rasche Tritte sich nähern, und ehe sie noch aufblickte, schlug mit freudigem Klange Karli’s Stimme an ihr Ohr: „Sanni! Sanni! Ja grüß Dich Gott, Sanni!“

Erröthend und erblassend warf Sanni einen scheuen Blick durch das offene Zaunthor nach dem Hause, raffte mit der Linken die Schürze zusammen und reichte dem Burschen unter stammelndem Gruße die zitternde Rechte.

Mit festem Druck umspannte Karli die kleine Hand und schaute dem Mädchen mit glücklichem Lächeln in die Augen. „Ja weil ich Dich nur amal sieh’! Weil ich Dich doch dengerst wieder amal sieh’! Ja wie geht’s Dir denn, han, so sag’ mir nur g’rad, Sanni, wie geht’s Dir denn? Gelt, gelt, das sind jetzt Sachen! Gar net sagen kann ich Dir’s, wie ich mich g’sorgt hab’ um Dich! G’wiß wahr, so oft bin ich heraußen gewesen – freilich, weißt, unter Tags hab’ ich nie net wegkönnen wegen der Arbeit; bei uns haben s’ ja’s Schneiden schon ang’fangt – aber schier gar alle Abend’ bin ich heraußen g’wesen. Wie a Füchserl um an Taubenkobl bin ich allweil ’rumg’schlichen um den sakrischen Zaun da. Und wie ich Abend um Abend wieder heim hab’ müssen, ohne daß ich Dich g’sehen hab’, g’wiß wahr, da hat’s mich schon so b’langt –“

„Geh’ weiter, wird Dir doch die Zeit net lang ’worden sein!“ fiel Sanni mit leiser und dennoch ein wenig streithaft klingender Stimme ein. „Habt’s ja so an schönen B’such im Hof!“

„Was? An B’such?“ frug Karli verdutzt.

„No ja – die mit dem weißen G’sicht und die schwarzen Augen!“

„Aber geh’, was hast denn jetzt da? An B’such! Das is ja dem Vater sein’ neue Hauserin!“ lachte der Bursche, der ohne großen Aufwand von Scharfsinn in Sanni’s Worten eine Regung schüchterner Eifersucht wahrnahm – und was Wunder, daß ihm diese Wahrnehmung Freude machte! Fester schlossen sich seine Finger um die Hand des Mädchens; er neigte das Gesicht und schaute wortlos lächelnd in Sanni’s Augen, bis auch ihre Lippen sich zu leisem, verlegenem Lächeln kräuselten. Da kicherte er lustig auf: „Aber wart’ – Du bist mir amal Eine!“

„Susanna!“ tönte plötzlich vom Hause her eine strenge, rufende Stimme.

„Jesus Maria – der Vater!“ stotterte Sanni erblassend, zerrte ihre Finger aus Karli’s Händen und huschte davon.

„Sanni – Du – ich wart’ fein noch!“ rief ihr der Bursche flüsternd nach, und während er sich in das tiefere Dunkel des Waldes zurückzog, maß er mit unwirschen Blicken die hohe, hagere Gestalt des Bygotters, welcher finsteren Gesichtes unter der Thür stand und die krallenartig gekrümmten Finger durch die langen Strähne des grauen Bartes zog. Als Sanni den Vater erreichte, trat er wortlos bei Seite, ließ das Mädchen eintreten, folgte ihm und schloß die Thür.

Zu Füßen einer tiefästigen Fichte kauerte sich Karli nieder und starrte, manchmal leise vor sich hinpfeifend, durch das offene Zaunthor nach der geschlossenen Thür und den matt erleuchteten Fenstern.

Die Dämmerung wandelte sich zur Nacht, und während hoch über den schwarzen Wipfeln einzelne Sterne für kurze Dauer aus dem Dunkel der treibenden Wolken blitzten, durchstrich ein sachter Wind die Tannen, ließ das Rauschen des Baches bald näher und bald ferner tönen und weckte im Walde einen feuchten, würzigen Duft.

Jetzt hörte Karli die Thür gehen; hastig sprang er auf, zog sich aber rasch wieder unter die schützenden Zweige zurück; denn die langsamen schweren Tritte, die sich näherten, konnten nicht von Sanni’s leichten und kleinen Füßen herrühren.

Es war der Bygotter. Trotz des Dunkels unterschied der Bursche deutlich die hagere Gestalt des Mannes, der in der Thorlücke des Zaunes erschien, eine Weile regungslos hinauslauschte in den finsteren Wald, dann die aus dicken Planken gefügte Pforte schloß, den hölzernen Riegel vorschob und wieder dem Hause zuschritt.

„Da hast es! Jetzt is ausg’wart’t!“ brummte Karli und löste sich mit einem schweren Seufzer aus seinem Verstecke.

Schon wollte er sich dem Wege zuwenden, als eine Sternschnuppe in leuchtendem Bogen niederschoß zur Erde.

„Daß ich d’ Sanni krieg’!“ fuhr Karli mit hastigen Worten auf und schaute mit freudig glänzenden Augen in den Feuerschein des Meteors, das dicht über dem Dache des Bygotterhäuschens zu erlöschen schien. Das „Ich wünsch’ mir …“ hatte er verschluckt, um die anderen Worte noch herauszubringen, ehe die Erscheinung wieder in Nacht zerfloß. Wäre er nur mit einer einzigen Silbe zu spät gekommen, so hätte ja sein Wunsch „nix ’golten und kein’ Kraft net g’habt“.

Er war aber nicht zu spät gekommen – und da mußte ihm ja von nun an Alles nach seinem Wunsche gehen! „’Troffen hab’ ich’s! Richtig ’troffen!“ lachte er vor sich hin, schnalzte mit den Fingern und schwang mit einem unterdrückten Jauchzer den Hut. In seliger Laune steuerte er gemächlichen Schrittes der Straße zu, pfiff eine lustige Ländlerweise, und als er aus dem Walde auf die nebeldampfenden Wiesen trat, hub er mit lauter Stimme zu singen an und jodelte und dudelte so fort, bis er den Pointnerhof erreichte. Auf der Schwelle empfing ihn Kuni mit den Worten: „Guten Abend, Karli! Wo bleibst denn gar so lang?“

„No ja, der Mensch muß doch Luft schnappen!“

„Geh’! Und alle Abend’?“ scherzte sie. „Und gar so lustig kommst heim von Deiner Schnapperei?“

„No freilich, weißt, der gute Luft am Abend macht Ei’m halt die Brust so weit – g’wiß wahr!“ Lächelnd preßte er die Fäuste an die Rippen und wölbte die kräftige Brust unter einem tiefen Athemzuge.

„Hast schon Recht! Schnauf’ nur g’hörig! Schnaufen is Leben, und ’s Leben is ’was Schöns, wenn’s Einer von der richtigen Seiten packt. Aber jetzt komm’ ’rein! Wer leben will, muß essen auch! Ich hab’ Dir Dein’ Sach’ schon recht schön warm g’stellt!“ Dabei zog sie ihn am Aermel in den Flur, legte die Hände auf seine Schultern und schob ihn so der Thür zu.

Als die Schritte der Beiden verhallten, erhob sich von der Hausbank eine Mannsgestalt, die der Bursche im Dunkel nicht bemerkt hatte. Es war der Götz. Unter einem leisen, gedehnten Pfiffe nickte er gegen die Thür und klopfte die erloschene Pfeife aus.

„Neugierig bin ich doch, ob er net dengerst anbeißt auf ihre verzuckerten Hackerln?“ murmelte er vor sich hin, führte das ausgeschraubte Pfeifenrohr an die Lippen und blies, um es zu reinigen, heftig durch die Bohrung.




5.


Am andern Morgen warf sich Karli schon zu früher Stunde in sonntäglichen Staat und verließ den Pointnerhof. In der Nähe der Kirche stellte er sich auf, um die aus der Frühmesse kommenden Leute zu mustern. Und da er nun einmal auf einem gar so bequemen Fleckchen stand, blieb er die anderthalb Stündlein stehen, bis die Leute zum Hochamt herbeiströmten. Das ganze Dorf wanderte an ihm vorüber; aber weder Sanni erschien, noch der Bygotter. Als schon die drei Glocken zum „Segen“ läuteten, kam der Pointner einhergetrippelt, an Kuni’s Seite, die sich gar schmuck und sauber aufgeputzt hatte. Mit lustigem Zwinkern nickte der Bauer seinem Buben einen Gruß zu, und Kuni rief ihn lächelnd an: Geh’ zu, komm’ mit, versäumst ja den Segen!“

„No – auf das eine Mal wird’s auch net ankommen,“ meinte Karli, grub die Fäuste noch tiefer in die Joppentaschen und spreizte die Füße noch weiter.

Dennoch betrat er, als die Beiden in der Kirche verschwunden waren, den Friedhof. Hier setzte er sich auf die Mauerbrüstung und spähte die Straße entlang, die nach dem Binderholze führte.

„Jetzt das is doch arg! Net amal in die Kirchen gehen!“ brummte er kopfschüttelnd und ging nun endlich mit raschen Schritten dem Portal zu. Eben noch rechtzeitig erreichte er seinen Platz auf der „Pori“, um den Hochwürdigen zur Predigt auf die Kanzel steigen zu sehen.

Auch der Geistliche schien Jemand in der Kirche zu vermissen; denn mit suchenden Blicken musterte er die Schar der „in Christo Versammelten“. Dann begann er zu sprechen – über das Kapitel von den falschen Propheten, aus deren Fährten, wie er verkündete, Hader und Unfried’ zwischen die Saat des frommen [599] Friedens schösse, wie wucherndes Unkraut zwischen die Halme des blühenden Weizenfeldes. Er verallgemeinerte das Thema nach allen Richtungen hin – und beschloß es nach einer Stunde mit dem schon öfters wiedergekehrten Refrain:

„Hütet Euch, meine geliebten Kinder, hütet Euch vor den falschen Propheten!“

Als der Hochwürdige die Kanzel verließ, huschte ein leises Summen durch die ganze Kirche. Jeder und Jede fühlte sich verpflichtet, an den Nachbar oder die Nachbarin die schmunzelnde Frage zu richten: „Weißt, wen er g’meint hat?“

Und diese Frage, die durch die ganze Kirche huschte, flüsterte im „Pointnerischen Weiberstuhl“ auch die Zenz der Kathl zu.

„Dumm müßt’ ich sein, wann ich’s net g’merkt hätt’!“ lautete hier die leise, spitz kichernde Antwort. „Aber g’rad so gut, wie von die falschen Propheten, hätt’ er auch von die falschen Prophetinnen predigen können – von dieselbigen, wo die sanften G’sichter machen und dabei ihre Kluperln[1] einziehen hinter’m Buckel, daß man die lieben Nagerln net sehen sollt’, ehvor’s ans Kratzen geht. So Eine is erst der wahre Unfried’.“

So leise diese Worte gesprochen waren, Kuni hatte sie gehört. Aber in ihrem hübschen Gesichte rührte sich keine Miene; nur über ihre Lider flog ein kaum merkliches Zucken, und es war kein guter Blick, den sie auf ihr offenes Gebetbuch senkte.

Als dann der Gottesdienst zu Ende war, trat sie als eine der Ersten aus den Betstühlen und schritt mit trotzig erhobenem Kopfe an den wispernden Leuten vorüber.

Der Pointner und Karli verließen wenig später mit einander die Kirche. Erst wohnten sie der Gemeindeversammlung bei und machten dann einen Rundgang durch die Gassen des Dorfes. Mit dem Glockenschlage zwölf betraten sie ihren Hof und fanden in der Stube schon die dampfende Suppenschüssel auf dem gedeckten Tische, der mit einem duftenden Resedenstrauße geschmückt war.

„Ich sag’s halt!“ schmunzelte der Pointner. „G’rad freuen kann Ein’ ’s Heimkommen, seit die Kuni im Haus is! Soll mir nur Einer ’was sagen gegen ’s Deandl!“

„Sagt ja kein Mensch ’was!“ lachte Karli, während er die Joppe auszog und an den Thürnagel hängte.

„N … no –“ erwiederte der Pointner zögernd, „Du hörst halt net überall hin. Aber ich weiß schon – aus die Einen red’t der Gift, aus die Andern der Neid.“

Mit verdrießlicher Miene schob er sich hinter den Tisch; aber sein ganzes, rundes Gesicht kam wieder ins helle Lachen, als die Thür sich öffnete und Kuni die Stube betrat, in dem kurzen, braunen, schwankenden Röckchen mit der frischen Leinenschürze, in dem niederen, knapp sitzenden schwarzen Mieder, über welchem sich das schneeweiße Hemd, dessen Aermel die vollen Arme fast bis zu den Schultern nackt ließen, in straffen Falten um die Büste spannte, während es mit einer lose umgelegten Krause den Hals umschloß. Der hübsche Kopf war ein wenig zur Seite geneigt, als trüge er nur schwer das Gewicht der üppigen, röthlich schimmernden Haare, die nach bäurischer Sitte mit zwei dicken Flechten um die Stirn gelegt waren.

Schon am zweiten Tage nach der Ankunft hatte Kuni ihr halb städtisches Gewand gegen die im Dorfe übliche Tracht vertauscht, als hätte sie dadurch schon äußerlich zeigen wollen, wie sie sich Allem und Jedem zu fügen gedenke, was im Pointnerhof bislange Brauch und Ordnung gewesen. Mit flinken Händen griff sie die Arbeit auf und wirthschaftete mit emsigem Eifer in Haus und Küche – und obwohl sie dabei Alles that, wie es bisher gethan worden war, wußte sie doch Allem eine bessere Art und ein gefälligeres Ansehen zu geben.

Dieses Schaffen, Sorgen und Bessern schien ihr selbst Vergnügen und Freude zu bereiten. Für den Götz aber, der sie unausgesetzt beobachtete, gewann es den Anschein, als ob ihr ganzer Eifer nur eine Laune wäre, so eine Art von „G’spaß“, den sie an all dem Neuen und Ungewohnten fände – und vielleicht noch etwas Anderes. So sehr auch Kuni den Pointner verhätschelte, so sehr sie in ihm die Hauptperson des Hauses zu sehen schien und Alles that, was seinem Hange zur Behaglichkeit willkommen war, so daß der Pointner alltäglich mit Schmunzeln betheuerte: „Ja g’rad wie im Himmel is ’s jetzt in mei’m Hof!“ – dennoch meinte Götz zu gewahren, daß es nicht der Pointner, sondern Karli sei, dem das beste Theil dieser geschäftigen Fürsorge zu Gute käme, und daß dieselbe überhaupt der Absicht entspringe, mehr dem Sohne als dem Vater das Leben im Hause so angenehm wie möglich zu machen. Wohin solche Absicht zielen möchte, das meinte sich Götz ohne besonderes Kopfzerbrechen sagen zu können. Sah er es doch mit an, wie Kuni in wenigen Tagen die bescheidene Haltung, welche sie anfangs dem Burschen gegenüber eingenommen, zu einem fast vertraulichen Verkehr umzuwandeln wußte. Karli war eine viel zu gutmüthige Natur, als daß die etwas mißtrauische Zurückhaltung, die er während der ersten Tage gegen Kuni beobachtete, lange bei ihm vorgehalten hätte. Schon am dritten Tage erwiederte er den Gruß, den Kuni ihm bot, mit freundlichen Worten. Bald hörte er gern auf ihr lustiges Geplauder – und das um so lieber, als es ihm selbst bei den sorgenden Gedanken, die er sich um Sanni’s willen machte, im innersten Herzen gar wenig lustig zu Muthe war. So fand er in Kuni’s Art und Weise eine willkommene Aufheiterung und nahm dabei die kleinen Vertraulichkeiten, die sie sich ihm gegenüber mehr und mehr erlaubte, so harmlos hin, wie er sie harmlos gemeint wähnte – er sah in ihnen nichts Anderes als den ländlich sittlichen Beweis der Thatsache, daß sich Kuni im Pointnerhofe aufs Beste eingewohnt hätte. Ueberdies machte es ihm Freude, daß der Vater so vortrefflich versorgt schien – und daneben hatte er gerade genug von des Vaters Natur geerbt, um die geschäftige Fürsorge, welche Kuni in Allem und Jedem bethätigte, mit Behagen zu gewahren und zu genießen. Wenn er nun auch hierin nichts Anderes sah, als die Leistung einer bezahlten Magd, die eben ein wenig mehr als ihre Pflicht that, so war er doch ein zu offener und ehrlicher Bursche, um diesem Mehr die Anerkennung zu versagen. Er nickte zustimmend zu den sprudelnden Lobhymnen des Vaters, und es war bei ihm ein beliebtes Wort, von dem „guten Zuge“ zu sprechen, der mit Kuni in das Haus gekommen wäre.

Als er einmal nach solch einem Worte die Stube hatte verlassen wollen, hatte plötzlich Kuni vor ihm gestanden. Eine Weile hatte sie ihn schweigend angeschaut und ihm darauf mit einem leisen Lächeln die Hand hingestreckt:

„Schau, Karli, das is lieb von Dir, daß Du das Bißl, wo ich Euch zum G’fallen thun kann, was gelten laßt!“

„No ja – was wahr is, muß wahr sein!“ hatte er ruhig erwiedert, hatte ihre Hand gedrückt und war zur Stube hinausgestolpert.

Seit diesem Tage hatte Kuni ihren sorgenden Eifer noch verdoppelt. Daneben hatte sie auch Alles versucht, um sich mit den Dienstboten in gutes Einvernehmen zu setzen. Wenn sie dabei auch genau zu wissen schien, wie sie sich gegen die zwei Dirnen und die beiden Knechte verhalten sollte, so schien sie dem Götz gegenüber die richtige Art des Verkehrs nicht finden zu können. Einmal versuchte sie es mit ruhiger Freundlichkeit, ein andermal mit Lachen und Plaudern; dann wieder zeigte sie ihm gegenüber ohne jegliche äußere Ursache eine seltsame, fast scheue Zurückhaltung, die einen merkwürdigen Widerspruch zu ihrem sonstigen, so sicheren Wesen bildete. Vielleicht fühlte sie, daß sie von ihm schärfer und anhaltender beobachtet wurde, als von all den Andern. Bei Tische wie an den Abenden, wenn Alle beisammen in der Stube saßen, begegneten ihre Blicke immer und immer wieder diesen dunklen, ernst schauenden Augen; und wenn sie einmal zu seinem Gesichte aufsah, ohne seinen Blicken zu begegnen, schien sie ihre Augen von ihm nicht losbringen zu können; dabei zeigten ihre hübschen Züge einen so eigenartig zerstreuten, verlorenen Ausdruck, als wüßte sie selbst nicht, was sie bei all diesem Anstarren dächte oder denken sollte. Wurde sie dann unerwartet angesprochen, so fuhr sie auf, seufzend, wie aus einem Traume – doch verstand sie es, mit klingendem Lachen und lustigen Worten ihr seltsames Gebahren rasch wieder vergessen zu machen. Gewöhnlich waren es Martl und Stoffel, welche bei solchen Gelegenheiten für Kuni’s Scherze und Späße die Zielscheibe abgeben mußten. Die Beiden ließen sich das lachend gefallen, zum ganz besonderen Aerger der Zenz und der Kathl, denen gegenüber Kuni seit dem Sonntage, an welchem der Pfarrer über das Kapitel der falschen Propheten gesprochen, ihr früheres Verhalten in ziemlich schroffer Weise geändert hatte.


  1. Kluperln, eigentlich jene kleinen Holzgabeln, mit welchen die zum Trocknen kommende Wäsche am Seil befestigt wird, in bildlichem Sinne: krallenartige Finger.

[600] Hatte sie sonst, so oft sie eine der beiden Dirnen zur Hilfeleistung in Haus und Küche berief, ihr Verlangen mit einem „Sei so gut, Kathl –“ oder „Zenz, ich bitt’ schön –“ eingeleitet, so hieß es jetzt: „Mach’ weiter und komm’ her –“ oder „Das thu’ und das laß bleiben!“ Mit jedem Tage steigerte sich Kuni’s herrische Art und Weise, während die Dirnen mit jedem Tage bockbeiniger wurden. Einmal kam es zwischen Kuni und Kathl in der Küche zum offenen Streite, und das Ende davon war, daß die Letztere heulend und mit brennender Wange zum Pointner gelaufen kam. Der besänftigte die Dirne mit einem Preußenthaler und mit dem Versprechen, der Hauserin tüchtig den Text zu lesen – kaum aber war die Kathl aus der Stube, als er in die Küche trippelte, um Kuni mit den schmeichelnden Worten zu beruhigen:

„Ganz recht hast es g’macht! Laß Dir nur nix g’fallen! Da kann g’schehen was mag – ich hilf zu Dir!“

Seitdem verging beinahe kein Tag, ohne daß eine der Dirnen mit einer Klage gegen Kuni zum Pointner kam. Dem wurde die Sache schließlich zu bunt, und da begann er sich auf’s Jammern zu verlegen.

„So laßt’s doch g’rad mir mein’ Fried’! Ich will mein’ Frieden haben! Und laßt’s mir die Kuni in Ruh’! Is so a lieb’s und a gut’s Madl und schaut auf mich, wie man net besser auf mich schauen könnt’!“

So oder so ähnlich lautete des Pointner’s ewige Litanei, und solche Worte waren es auch, auf die er eines Tages von Kathl die maulende Antwort erhielt:

„Wer is denn schuld d’ran, daß Dein’ Fried’ net hast! Hättst Dir den leibhaftigen Unfried’ net ’rein’zerrt ins Haus!“

Einen Augenblick war der Pointner sprachlos vor Staunen und Wuth. Dann hub er ein lautes Schreien und Keifen an, warf der Dirne den Lohn vor die Füße, jagte sie aus der Stube, schrie nach Kuni und jammerte und greinte, bis er einen „völligen Anfall“ bekam und kraftlos in seinen Lehnsessel sank. Lange Stunden mußte Kuni an seiner Seite sitzen, mußte ihm kalte Umschläge auf den Kopf machen und ihm ihre weiche, kühle Hand auf die heiße Stirn legen. Besonders das letztere Mittel schien gar beruhigend und wohlthätig auf seinen Zustand zu wirken.

Von nun an ließ er Kuni tagsüber kaum mehr für Minuten aus seiner Nähe, und wenn es einmal geschah, daß Kuni von Götz zur Mithilfe bei irgend einer Feldarbeit aufgefordert wurde, die wegen eines nahenden Gewitters rasch bewältigt werden mußte, so jammerte und greinte der Bauer, daß man ihn, den der Pflege so sehr Bedürftigen, mutterseelenallein lasse, daß man ihn behandle, als wäre er der Letzte, der „Garniemand“ im Hause, und er gab keine Ruhe, ehe nicht Kuni mit ihrer Näharbeit wieder bei ihm in der Stube saß. Sie selbst machte dazu eine Miene, daß es ihr ein Anderer als der Pointner leicht würde angesehen haben, um wie Vieles besser als dieses Stubensitzen und das endlose Geschwatz des Bauern ihr die lustige, flinke Arbeit auf dem freien, sonnbeglänzten Felde behagt hätte, wo es Karli all den Anderen zuvorthat mit Eifer, Geschick und jugendlicher Kraft.

Der Bursche war von den Zerwürfnissen und Zwistigkeiten, die es während der letzten vierzehn Tage im Pointnerhofe abgesetzt hatte, wenig berührt worden. Da er Tag für Tag mit Götz auf dem Felde oder in den Holzschlägen arbeitete, hatte er von den meisten dieser Vorfälle überhaupt nichts erfahren, und was ihm davon zu Ohren kam, gewann durch die Darstellung des Pointner’s immer ein solches Gesicht, daß auch Karli stets das Recht auf Kuni’s Seite sehen mußte.

Auch die Leute im Dorfe hüteten sich, von dem, was sie über die Dinge im Pointnerhofe schwatzten und zischelten, vor Karli ein Wörtlein fallen zu lassen. Es waren nicht die besten Augen, mit denen man die „Hergelaufene“ und ihre Stellung im Hause des Pointner’s betrachtete. Nur Einer war im Dorfe, der schaute zu Kuni empor wie zu einer Heiligen. Das war der alte Spinner-Veit. Der hatte als junger Bursche in Rausch und Streit seinen besten Freund erschlagen. Mit langjähriger Zuchthausstrafe hatte er gebüßt, was mehr ein Unglück als ein Verbrechen gewesen, und war dann als gebrochener Greis mit halb zerstörtem Geiste in die Heimath zurückgekehrt, für die Erwachsenen und ihre bäuerische Moral ein Gegenstand der Verachtung, für die Kinder des Dorfes ein schutzloses Ziel des Spottes. Der Spinner Veit konnte kaum einen Schritt vor die Thür machen, ohne daß die herzlosen Rangen in lärmender Schar hinter ihm her waren. Sie äfften den irrsinnigen Alten durch die Geste des Spinnens, warfen mit Erde und Steinen nach ihm und schrieen ihm seine Schande und sein Unglück in die Ohren: Zuchthäusler, Zuchthäusler! Solch einen Auftritt hatte Kuni eines Tages vom Hofe aus mit angesehen, und da war sie in hellem Zorn hinausgeeilt auf die Straße, hatte ein paar von den Buben mit derbem Griffe beim Schopfe erwischt und den mißhandelten Alten vor seinen Verfolgern in das Haus gerettet. Von dieser Stunde an war der Spinner-Veit ihr erklärter Schützling; sie steckte ihm manchen guten Bissen und manch ein klingendes Almosen zu, und so oft er auch im Pointnerhofe vorsprechen mochte, immer fand er bei Kuni freundliche Worte und herzlichen Trost für seinen wirren Jammer. Wohl brummte der Pointner manchmal gegen den Stammgast, den ihm Kuni da ins Haus gezügelt hatte; aber auch er gewöhnte es sich ab, den Spinner-Veit einen Zuchthäusler zu nennen, seit Kuni, die doch sonst mit dem Pointner nur immer im sanftesten Tone sprach, ihn einmal mit bebender Stimme angefahren hatte: „Ich möcht’ mir a G’wissen draus machen, dem armen Teufel allweil wieder sein Unglück vorz’reiben, das er doch lang schon verbüßt hat! Und im Uebrigen – Zuchthaus? – im Zuchthaus is schon mancher g’sessen, der ehnder in a Kirchen ’paßt hätt’.“

Die Dienstboten des Pointnerhofes zuckten natürlich auch die Achseln über Kuni’s Samariterthum. Götz allein, wenngleich er sich mit keinem Worte äußerte, betrachtete Kuni’s Gebahren mit freundlichen Augen. Es schien, als hätte er in ihrer so seltsam sich äußernden Mildherzigkeit eine Entschuldigung für Manches gefunden, was an ihr bedenklich war. Es lag vielleicht hierin die Ursache, daß er, so kühl und vorsichtig er sonst der Dirne auch gegenüber stand, seit jener leisen Warnung, die er bei Kuni’s Eintritt in das Haus dem Sohne des Pointner’s zugeraunt, mit keinem mahnenden Worte mehr auf Karli zu wirken suchte. Und Karli selbst war, wenn er von der Arbeit oder seinen abendlichen Spaziergängen zurückkehrte, allzuviel mit seinen Gedanken wo anders, um etwa durch eigene Beobachtung hinter Dinge zu kommen, die sich ihm nicht von selbst vor die Augen stellten.

Zu Dutzendmalen war der Bursche hinausgewandert nach dem Binderholze. Aber der Bygotter und Sanni schienen wie verschollen in ihrer Waldeinsamkeit, und im Dorfe wußten die eifrigsten Zungen in Bezug auf den Bygotter nichts Neues zu berichten, als höchstens das Eine, daß man den Hochwürdigen wenige Tage nach jener Predigt von den falschen Propheten gegen das Binderholz hätte hinauswandern sehen, von wo er eine Stunde später mit zornigem Gesichte zurückgekehrt sei. Das Gerede, das sich an diese Begebenheit knüpfte, fand weitere Nahrung, als auch am zweiten Sonntage und an einem in die Woche fallenden Feiertage weder der Bygotter noch Sanni in der Kirche erschien.

Wenn Karli bei seinen abendlichen Wanderungen auf eine Gruppe von Männern oder Burschen stieß, welche diese Dinge mit breitem Eifer verhandelten, wurde ihm bei den Schlußfolgerungen, die er da ziehen hörte, bald heiß und bald kalt im Kopf und Herzen. Fragte man ihn um seine Meinung, so äußerte er sich mit einer gewissen, Gleichgültigkeit heuchelnden Zurückhaltung dahin, daß ihn die ganze Geschichte eigentlich nichts anginge; was der Pfarrer mit dem Bygotter hätte, das wäre eben des Pfarrers und des Bygotters Sache; aber – und bei diesem Aber gerieth er unwillkürlich in Hitze – aber das Eine müßte auch einem Blinden einleuchten, daß die Gefangenschaft, in welcher der Bygotter die erwachsene Tochter hielte, allen Gesetzen von Recht und Menschlichkeit zuwiderliefe.

Dennoch erschrak er vor der Art und Weise der Zustimmung, die seine Worte fanden, vor den offenen und versteckten Drohungen, die er wider den Bygotter laut werden hörte. Es fiel ihm ein, daß ja der Bygotter trotz allem und allem Sanni’s Vater wäre und bliebe, daß ihm Sanni anhinge, wie eben ein gutes Kind dem Vater anhängen müßte, und daß also jedes Ungemach, das den Einen träfe, auf die Andere zurückfallen würde. Da suchte er dann wieder einzulenken und die erregten Gemüther nach Möglichkeit zu beruhigen.

Diese Dinge mehrten von Tag zu Tag seine Sorgen um Sanni, so daß ihm die Aufheiterung, die er in Kuni’s lustigem

[601]

Ausgrabung Verschütteter.
Nach dem Oelgemälde von C. Ademollo.

[602] Geplauder fand, mehr als je vonnöthen war. Oft saß er, wenn der Pointner seinen von Ruh’ und Frieden ermüdeten Leib schon aufs Lager gestreckt hatte, noch stundenlang in der Stube mit Kuni beisammen, lauschte ihrem unermüdlichen Geplauder, schmunzelte zu ihren Anekdoten, und wenn gerade der Uebermuth sie packte, wie er das nannte, so ließ er es lachend sich gefallen, daß sie ihn mit der Lichtschere oder mit dem Messerhefte auf die Fingerknöchel schlug oder ihm mit beiden Händen in die Haare fuhr.

Manchmal, wenn sie sich besonders freundlich zu ihm erwies, stieg der Gedanke in ihm auf, Kuni zur Vertrauten seiner Herzenssorgen zu machen. Oft lag ihm das vertrauende Wort schon auf der Zunge, und dennoch wollte es ihm nicht über die Lippen. Er wußte selbst nicht, woran es lag, daß er das Wort nicht heraus zu bringen vermochte.

Eines Abends jedoch, als er wieder einmal von einem nutzlosen Gange nach dem Binderholze zurückkehrte, nahm er sich fest und heilig vor: „Heut’ red’ ich mit der Kuni! Sie muß mir was verrathen, wie ich’s anstellen soll.“

Er fand sie zu Hause in der Stube, sie saß am Tische, auf welchem ein thränendes Talglicht brannte, und putzte aus ihrem Schoße grüne Bohnen in eine Schüssel. Als er eintrat, erhob sie sich mit lächelndem Gruße, schüttete den Inhalt ihrer Schürze auf die Bank und zündete die Hängelampe an.

„Geh, setz’ Dich nieder, ich bring’ Dir gleich Dein Essen,“ sagte sie und huschte aus der Stube.

Karli setzte sich, stützte die Ellbogen auf den Tisch und starrte mit verdrießlichen Blicken in die leise singende Lampenflamme.

Kuni kehrte zurück und brachte einen dampfenden Suppenteller. Dabei schaute sie mit forschenden Blicken in das grämliche Gesicht des Burschen. „Was is denn? Was machst denn schon wieder für a Göschl?“ fragte sie und fuhr ihm mit der Hand über die gesträubten Haare. „Gelt, bist recht müd’?“

Er nickte nur und rührte unablässig mit dem Löffel in der Suppe. Dann fragte er zerstreut: „Wo is denn der Vater?“

„Zum Nachbar is er ’nüber auf an Sprung. Ja – und daß ich net vergiß – recht g’sorgt hat er sich wegen Deiner! Weißt, gegen Abend is a Schrift ’kommen, an Dein’ Adress’, und da hat er g’meint, es müßt’ was Amtliches sein. Ja, ich glaub’, da hat er s’ ’reing’legt –“ Sie ging auf einen kleinen Wandschrank zu und öffnete ihn. „Da – da hast es!“

Karli nahm das Schreiben, das sie ihm reichte, und las die Aufschrift. „Was kann denn jetzt das bedeuten? Es wird doch net“ – er stockte und erbrach das Siegel. Kaum hatte er zu lesen begonnen, als er mit stammelnden Worten auffuhr: „No also – da hab’ ich’s jetzt! Himmel Kreuz Saxen!“

Neugierig näherte sich Kuni. „Was is denn, han?“

„Was wird denn sein! Einrucken muß ich, zu die Manöver – und übermorgen in der Fruh soll ich mich schon beim Regiment stellen! Da soll so doch gleich –“. Aergerlich warf er das Schreiben auf den Tisch und kraute sich mit beiden Händen die Haare.

Mehr noch als er selbst war Kuni erschrocken. Ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren. Eine Weile stand sie schweigend, dann legte sie eine Hand auf seine Schulter und fragte: „Han, Karli – gehst ungern fort?“

„Na, so a Frag! Gern soll ich auch noch gehn!“ brummte er. „G’wiß wahr, ich bin mit Leib und Seel’ Soldat g’wesen und hab’ heutigen Tags noch grad so mein’ Freud’ und mein’ Lieb’ dazu. Aber – wenn’s nur net jetzt g’rad wär’ – g’rad jetzt!“

„Und – wie lang kann’s denn dauern?“

„No, unter vier Wochen wird’s allweil net abgehn.“

„Vier Wochen?“ flüsterte Kuni und starrte, die rothe Lippe benagend, vor sich nieder.

Karli aß ein paar Löffel Suppe und schob dann den Teller von sich. „Jetzt is mir schon der ganze Appetit vergangen!“

Mit der Zunge fing er die Schnurrbartspitzen zwischen die Zähne und schaute unter hochgezogenen Brauen hervor in die dünnen Dampfwölkchen, die sich aus dem Suppenteller kräuselten.

Kuni seufzte laut, rückte ihm den Teller wieder näher und redete ihm freundlich zu: „Geh’, Karli, schau, essen mußt ja doch a Bißl ’was. Jetzt wirst so wie so recht harte Tag’ kriegen!“

Sie verließ die Stube und kehrte mit einer Schüssel voll Rohrnudeln und einer irdenen Raine zurück, in welcher das Kraut noch schmorte. „So, geh’, laß Dir’s schmecken!“

Karli begann zu essen, als gäb’ es gegen solche Mahnung keine Widerrede; auch schien nach den ersten Bissen der Appetit wieder in ihm zu erwachen, so daß er drauf loslöffelte, als hätte er den ganzen Tag gehungert.

Kuni hatte sich ihm gegenüber an den Tisch gesetzt, die Arme über der Eichenplatte gekreuzt, und so schaute sie ihm schweigend zu, eine Weile mit den Augen jeden Bissen verfolgend, den er zum Munde führte.

Es mußten seltsame Gedanken sein, die in ihrem Kopfe durch einander schwirrten. Ihre frischen rothen Lippen waren wie schmollend aufgeworfen, und zwei kleine Furchen lagen zwischen ihren zusammengezogenen Brauen. Dabei verwandte sie keinen Blick mehr von dem Gesicht des Burschen, und mehr und mehr verschärfte sich der forschende, wägende Ausdruck in ihren Augen. Nun huschte es hell über ihre Wangen, wie der Abglanz eines innerlichen Lachens. Doch rasch verdüsterten sich wieder ihre Züge; unter den eingekniffenen Lidern schienen ihre Augen kleiner und kleiner zu werden, und die winzigen Fältchen an ihren Mundwinkeln, die sich wie Grübchen ansahen, wenn sie lachte, wurden länger und tiefer, ließen jählings ihr Gesicht um Jahre gealtert erscheinen und gaben ihm einen müden, verächtlichen Ausdruck. Ueber ihre Züge ging ein eigenartig zuckendes und zitterndes Spiel, beinahe regungslos aber waren die Augen, welche sie unablässig auf den Burschen geheftet hielt. Nun plötzlich huschte es wie Spott um ihren Mund; die Lippen kräuselten sich zu einem leisen Lächeln, und in ihren Augen blitzte ein funkelndes Etwas auf. Rasch erhob sie sich, stemmte die Faust auf die Tischplatte und nickte kurz vor sich hin, als wäre sie in einer wohlzuerwägenden Sache nach langer Ueberlegung zu einem Entschlusse gelangt. Leichten Schrittes näherte sie sich dem dunklen Fenster, schaute lächelnd noch einmal auf Karli zurück und drückte nun, die Hände hinter dem Rücken faltend, die Stirn wider die Scheiben.

Während all dieser stummen Minuten hatte Karli für nichts Anderes Sinn und Auge gehabt, als für Teller und Schüssel. Er hatte eine Nudel um die andere verschwinden lassen, die Raine fast bis auf den Boden geleert und dazu hatte er unablässig ein Gesicht geschnitten, wie wenn ihm jeder Bissen und überhaupt alles, alles „aber schon so viel z’wider“ wäre.

Mit keinem Blick hatte er auf das Gebahren der Dirne geachtet, und er wurde auf sie erst wieder aufmerksam, als sie sich vom Fenster zurückstieß und ihm zurief: „Jetzt kommt er, Dein Vater!“

(Fortsetzung folgt.)




Im Kampf mit den Wildbächen.

Von Heinrich Noé.

Das war ein wässeriger Herbst, der von 1882! Alle Ueberlieferungen von der regelmäßigen Schönheit dieser Jahreszeit schienen, wenigstens am Südabhang der Centralalpen, über den Haufen geworfen, wenn man nicht vielleicht ein unablässiges Regnen auch als ständige Witterung gelten lassen will. Die Wettergelehrten, welche sich eben so wenig die außerordentliche Hitze wie die ungewöhnliche Kälte des einen oder des anderen Jahrganges zu erklären wissen, stehen nicht minder rathlos vor einer derartigen Erscheinung. Man hat an alle möglichen Ursachen gedacht, auch kosmische Einwirkungen in Erwägung gezogen; aber kein Erklärer läßt die Weisheit des anderen gelten. Genug, nachdem im Pusterthale bis zum 12. September der betreffende Monat sieben Regentage gezählt hatte, öffneten sich an diesem Tage die Schleusen des Himmels und die Fluthen begannen ihr verheerendes Werk.

Die Eisenbahnreisenden konnten über allerlei Abenteuer berichten, aus den Tagen, in welchen dieses Werk begann, bis es schließlich mit jeglichem Verkehr zu Ende war. Mancher Bach, sonst ein klares, bescheidenes Rinnsal, war ein breiter, gelbschlammiger Breistrom geworden, der hier und dort über die [603] Schieferblöcke seines Bettes in klafterhohen Wellen hinausflog. Von den Berghalden wallten Wasserfälle herab, die vordem Niemand, der jemals in der Gegend reiste, gesehen hatte. Dort, wo ihre schaumigen Wellen, auf der Thalsohle angekommen, sich dem Bahndamme näherten, standen Arbeiter mit langen Stangen, welche Felsblöcke, die ins Rollen gerathen, oder Baumstämme, die herabgeflößt worden waren, auf die Seite zu schieben trachteten, damit sie nicht gegen den Schienenweg angerollt kämen.

Ueber all’ diesem trieb, vom Südwestwind gejagt, ein wildes Heer von zerfetzten Wolken, hinter deren gespensterhaftem Zug die Kirchthürme des Mittelgebirges zeitweilig verschwanden.

Wie oft kam es da vor, daß der Zug plötzlich stille hielt! Die nächste Station lag noch weit ab. In jedem Wagen rasselten die Fenster, die man des Fluthregens wegen geschlossen gehalten hatte, herab, und zu beiden Seiten erschienen die Köpfe der Reisenden.

Es dauerte alsdann immer geraume Zeit, bis man die Ursache des Anhaltens erfuhr. Der Bahnwächter hatte das Zeichen hierzu gegeben. In geringer Entfernung hatte sich, vom andrängenden Wasser unterwaschen, der Bahndamm gesenkt. Bei der Vorsicht, mit der hier allenthalben vorgegangen wird, konnte das niemals unbemerkt bleiben. Wenn man Monate später zu dieser Station kam, sah man die Lokomotive noch dort stehen, über und über mit gelbbraunem Rost bedeckt. Es war damals ihre letzte Fahrt auf ein halbes Jahr und darüber hinaus gewesen. Am 16. September gab es keine Eisenbahn, am 17. keinen Telegraphen mehr. Zugleich waren an zahllosen Stellen nicht nur Wege und Stege, sondern auch die große Reichsstraße vernichtet.

Am schlimmsten waren jene Orte dran, welche an der Mündung eines Seitenbaches in ein größeres Gewässer liegen. Diese Seitenbäche, welche aus steilen, schluchtartigen Thälern hervorbrechen, sind mit einer Wassergewalt ausgestattet, die mit ihrem kurzen Lebenslaufe unheilvoller Weise in gerade umgekehrtem Verhältniß steht. Der Ursprung solcher Bäche, welcher von ihrer Mündung in der Luftlinie oft nur drei Kilometer entfernt liegt, ist gleichwohl tausend Meter und mehr über dieselbe erhaben. Zudem sind viele dieser Wasser eben der genannten Eigenschaft wegen früher zum Hinabschwemmen von Holz benützt worden, welches oben an den steilen Böschungen des betreffenden Grabens geschlagen wurde. Die Betriebsamkeit des Menschen hat demnach ihr Möglichstes gethan, um die verhängnißvolle Wirksamkeit eines solchen Wassers zu steigern, denn es ist augenscheinlich, daß jede Holzabwurfstelle, von welcher die herabrollenden Stämme nicht nur jede Pflanzendecke weggeschürft, sondern in deren Grund hinein sie im Stürzen auch noch tiefe Furchen gerissen haben, unter der Einwirkung von Regengüssen leicht zu einer Rinne wird, in welcher trübes Wasser, Erde und Steine mit großer Schnelligkeit zu Thal fahren.

Nun kommt aber auch noch Folgendes hinzu: die Holzschläger, welche zum Theil schon vor vielen Jahren in solchen Schluchten wirthschafteten, hatten dort an manchen Stellen Klausen gebaut, in welchen der mitunter spärliche Thalbach aufgestaut wurde, um zur Zeit der Trift die Stämme mit künstlich verstärkter Gewalt hinauszuwälzen. Nachdem aber die Arbeit vorüber war, haben sie diese Klausen stehen gelassen. Deren Gefüge lockerte sich alsdann im Laufe der Zeiten; die Balken, aus denen sie aufgebaut waren, wurden mitunter morsch. Solche alte Klausen gaben nun den schlimmen Wassergeistern, welche auf Zerstörung sannen, die furchtbarsten Waffen. Nach geringem Widerstande wurden sie von den herabjagenden Gießbächen gepackt und Alles zusammen, Balken, hinter ihnen aufgehäufter Schotter und Felsblöcke, so weit gegen die Mündung der Schlucht hinausgewälzt, als eben die vorhandene Kraft reichte. Dort bildeten sie nun vorläufig eine Barrikade. Diese blieb so lange stehen, bis die Wasser, die sich mit ihr selbst ein Hinderniß geschaffen hatten und sich einstweilen seeartig ausbreiteten, so viel Kraft gewannen, um sie zu durchbrechen und sie mit sich in das Hauptthal hinauszureißen. Befand sich dort, ihrem Laufe ausgesetzt, eine Ortschaft, so wurde in derselben Alles, was die Wellen nicht sofort mitrissen, entweder unter dem Anprall der herangeflößten Stämme, Baumwurzeln und Felsen zertrümmert oder von ihnen zugedeckt und begraben. Ein Eisenbahndamm verschwand vor einem solchen Ansturm, als ob er den Geschossen der schwersten Festungsartillerie ausgesetzt gewesen wäre. Wo eine Straße war, erkennt man alsdann nur noch an den Wipfeln rothbeeriger Ebereschen, die aus einer Mengung von Wasser, Kalk- und Schieferblöcken, Brennholz, Lehm und Brettern herausragen.

Gleichwohl aber verlangt es die Pflicht der Wahrhaftigkeit, einzugestehen, daß es an vielen Orten auch ohne die verderbliche Thätigkeit der Holzfäller nicht anders gegangen wäre, als es leider in jenem Herbst gegangen ist. Wenn solche Regenmengen so lange Zeit hindurch herunterstürzen, so sehen sich auch solche Grundstücke in Bewegung, welche mit tiefer Dammerde und Graswuchs, ja selbst von einem schönen Waldstand, bedeckt sind. Der Boden saugt sich eben so mit Wasser an, daß er sich von seiner felsigen Unterlage loshebt und zu Thal fährt. Mögen es nun die wandelnden Wälder sein oder die aus den Seitengräben herangewälzten Schlamm- und Steinberge – genug, die Verheerung muß sich dort am wirkungsvollsten gestalten, wo eine derartige Zufuhr rechtwinkelig auf den Hauptfluß des Thales auftrifft.

Der schmucke Ort Welsberg, mit dessen Zerstörung und Wiederaufrichtung wir uns hier besonders beschäftigen, war für die Aufführung eines derartigen Dramas eine vorzüglich geeignete Bühne. Hier vereinigte sich Alles, um das Werk der Vernichtung zu begünstigen. Derjenige, der im Bahnhofe ausstieg, erblickte alsbald, wenn er gegen Norden schaute, in geringer Entfernung den Berg Rudel, von welchem der Gsieser Bach herabkommt. Auf diesem ungemein steilen Berge nahm man ungefähr sechs Rinnen wahr, welche, durch schmale Waldstreifen unterbrochen, sehr tief in das mürbe Gestein eingeschnitten sind und koncentrisch fast lothrecht in die Tiefe züngeln. Man kann nicht sagen, hier liegt, sondern man muß sich ausdrücken, hier hängt alles das Zerstörungsmaterial, welches bei einem Sturm auf Welsberg zur Verwendung kommen muß. So war es damals. Wie man dem für immer abgeholfen hat, werden wir weiter unten sehen.

Dieselbe Bemerkung gilt für den Gsieser Bach. Damals, in den Tagen des Unglücks, gelang es ihm, seine Einmündung in den Hauptfluß des Thales, die Rienz, rechtwinkelig, also gerade im schlimmsten Verhältniß, zu bewerkstelligen. Dadurch wurde dieser letztere Fluß aufgehalten und betheiligte sich nun seinerseits am Werke der Zerstörung, indem er sich zu einem See ausbreitete.

Man würde indessen irren, wenn man das Dasein eines solchen Sees als ein erstmaliges bezeichnete.

Ein See, vermuthlich unter ähnlichen Umständen entstanden, bedeckte schon im vierzehnten Jahrhundert den Grund von Welsberg und wurde erst 1359 von wälschen Baumeistern glücklich abgelassen. Auch dieser Umstand führt uns zur Schlußfolgerung, daß es nicht ausschließlich die moderne Waldverwüstung sein kann, welcher wir derartige Katastrophen zuzuschreiben haben.

Wenn man wissen will, wie eine solche aussieht, so braucht man sich nur eine einzige Scene aus der Geschichte Welsbergs in jenen Tagen zu betrachten.

Es ist Nacht. Allenthalben dröhnender Donner der Wasser. Die Finsterniß ist so groß, daß man die Hand vor Augen nicht erkennt. Der Regen strömt ununterbrochen, wie bei einem sommerlichen Hochgewitter. Welsberg liegt finster da, alle seine Insassen haben sich in die hochgelegene Kirche Maria Rain geflüchtet, wo sie beim Scheine von Laternen schreckliche Stunden verleben. Doch von irgend woher glänzt es hell über die unsichtbaren Wasser. Dafür ist aber dort, von wo die Helle ausgeht, das Elend noch größer als in der vom Felsen aufragenden Kirche. Denn dort in dem Hause, welches ringsum von den brandenden Wassern umgeben ist, haben die Leute an jedes Fenster brennende Kerzen gestellt, damit sie von den Geretteten nicht vergessen würden. Und sie wurden nicht vergessen, denn als der Tag graute, wagten sich die Helfer vom sicheren Berge herab und brachten die Eingeschlossenen, jeden Augenblick mit dem Tode ringend, über die Wasser.

Ich habe schon oben die Thätigkeit des Wildbaches mit einem Artillerie-Angriff verglichen. Denjenigen, welche damals ihre Häuser anschauten, mußte an vielen Stellen die Aehnlichkeit noch deutlicher vor die Augen treten. Statt der Bomben und Sprenggeschosse waren die sogenannten „Bachkugeln“ in die Häuser eingedrungen. Es sind dies Gneißblöcke, welche durch die Thätigkeit der Wasser, vielleicht auch alter Gletscher in der Eiszeit, abgerundet wurden und nunmehr von jedem Hochwasser mobil gemacht werden. Was diese Bachkugeln nicht eingeschlagen hatten, das war von Schotter und Schlamm ausgefüllt worden. Aus dem ersten Stockwerk derjenigen Häuser, welche noch standen, konnte [604] man ohne Weiteres auf die Schuttflächen hinausgehen, welche nunmehr Alles bedeckten, was früher Platz, Straße, Garten gewesen war.

Der mehrfach erwähnte Wildbach hatte aber sein Bett verlassen und seine Wasser über die Felsenmassen hinweg, die von ihm mitgebracht worden waren, strahlenförmig zwischen, durch und über die Häuser hinweg ergossen.

Man muß sich das nicht so vorstellen, als ob das Unheil, welches da hereingebracht wird, etwa in der Form eines Theaterkoups aufträte, so wie ein Erdbeben oder ein Schiffsuntergang in einer Spektakeloper. Letztere Dinge kommen, sind aber rasch vorüber.

Hier dagegen verhält sich die Sache ganz anders. Die Wasser fließen fort und fort über den Schutt herein. Und wenn sich auch die Wasser nach und nach verlieren, so bleibt doch der Schutt da. Es giebt kein Brot, kein Fleisch, keinen Wein, denn die Keller sind Behälter von Schlamm und Felsblöcken. Es giebt keine Mühle, keine Backstube. Herbeischaffen ist unmöglich, denn es giebt auch keinen Weg, keinen Steg, keine Eisenbahn, keine Landstraße, keinen Telegraphen. Zudem befinden sich andere Orte in ähnlicher Lage. Nichts desto weniger aber stehe ich nicht an zu behaupten, daß die Leute im Hochgebirge bei Wasserunglück immer noch nicht so schlecht dran sind, wie in Tiefebenen, wie etwa in Holland oder in den Po-Niederungen. Denn das Leben wenigstens scheint im Gebirge nicht so gefährdet. Die Fluth mag steigen wie sie will, irgendwo giebt es an den Berghalden hin doch eine Zuflucht, während der arme Mensch auf flachem Boden hilflos weggeschwemmt und ersäuft wird.

Wenn einem Gebirgsorte Derartiges zustößt, so ist es ein ganz besonderes Glück für ihn, wenn er an einer Eisenbahn liegt. Mehr als Staat und Provinz, schneller als alle Wohlthätigkeitsvereine muß die Eisenbahn Hilfe bringen, weil die Wiederherstellung dessen, was zu Grunde ging, für sie selbst zur Lebensfrage wird. Ich will nicht davon erzählen, daß sechs Wochen später sich das Unglück wiederholte, sondern zunächst auf die Art und Weise der Hilfe hindeuten.

Zu allernächst mußte der Schotter aus der Ortschaft und den Häusern entfernt werden. Die Eisenbahn, welche Tausende von Arbeitern hatte aufnehmen müssen, um ihre Linien, die von Kärnten an durch das ganze Pusterthal und das Etschland hinab an zahllosen Stellen zerstört waren, wieder herzustellen, schickte unentgeltlich hundert Arbeiter mit allen nothwendigen Werkzeugen nach Welsberg, welche sich alsbald an die Wegräumung der Geröllberge machten. Um dies zu ermöglichen, wurde eine Rollbahn erbaut. Welche Massen hier zu bewältigen waren, ersieht man aus der Angabe, daß zwischen den Häusern allein ungefähr zwölftausend Kubikmeter Geröll ausgehoben und fortgeschafft wurden. Solche Massen erscheinen begreiflich, wenn man beispielsweise erfahren hat, daß der Schmied vom Rande seines Schornsteins hinabschauen mußte, wenn er seine Feueresse sehen wollte.

Es sei hier der Untergang einer anderen Schmiede unweit Welsberg eingeschaltet. Ein Augenzeuge erzählte mir, wie ihm aus ansehnlicher Entfernung durch die offene Thür hindurch der Hintergrund der weißroth auflodernden Flamme, welche der durch ein Wasserrad in Bewegung gesetzte Blasbalg anfachte, die Umrisse des Schmiedes gezeigt habe. Er nahm wahr, wie der kräftige Mann eben den Hammer erhob, um auf ein vor ihm liegendes Stück Glüheisen zu schlagen. Urplötzlich erfaßte den Beschauer, welcher fuhr, ein Schrecken, daß er schier von seinem Karren gefallen wäre, denn jetzt sah er gar nichts mehr. Der Bach war von hinten in die Schmiede gebrochen und hatte Alles fortgerissen. Der erhobene Hammer fiel nicht mehr auf die Eisenstange herab. Schmied und Amboß, Zaun und Haus waren und blieben verschwunden. –

Nächst der Wegräumung des Schotters galt als eine nicht minder wichtige Arbeit die Sicherung des Ortes gegen den Gsieser Bach und die Anlegung eines neuen Bettes für den Wildling. Es wurde also zunächst eine ungeheure Mauer aufgeführt und aus gemauerten Steinen eine breite, ziemlich jäh geneigte Rinne hergestellt, in welcher der Wildbach rasch, eine Strecke weit fast parallel mit ihr, zur Rienz hinabfließen muß. Der Boden dieses Bettes ist mit ungeheuren Steinblöcken gepflastert, deren flache Seiten nach oben schauen. Eine solche Pflasterung war nothwendig; denn ohne sie würde das Wasser sich bald weiter in den Grund eingewühlt, sein Bett vertieft haben. Dann hätten die geneigten, aus gemauerten Steinen bestehenden Böschungen sich gesenkt und die Gefahr eines Durchbruches herbeigeführt. Das cyklopische Pflaster verhindert eine weitere Sohlenvertiefung des Wildbaches. Es ist ein gewaltiges Werk, welchem man es wohl ansieht, daß sich Welsberg sicher fühlen kann in seinem Schutze.

Wenn man in den Jahren der Verheerung durch Welsberg ging, sah man in manchem Hause, von welchem eine ganze Mauerseite weggerissen war, im ersten Stockwerk noch den Hausrath in den Zimmern stehen und die Bilder an den Wänden hängen. Auf den Tischen und Bänken aber, wie auf dem Boden lagen Felsblöcke, darunter manche viele Centner schwer. Hier und dort war noch ein Dachstuhl vorhanden, der mit seinem festvernieteten Gefüge dem Anprall der Wellen widerstanden hatte, während das zu ihm gehörige Mauerwerk verschwunden war. Konnte man doch Aehnliches auch bei der Eisenbahn wahrnehmen, bei welcher man an vielen Stellen von Dämmen und Unterbau keine Spur mehr erblickte, während die Schwellen, fest mit den Schienen zusammenhängend, in einem weiten, nach abwärts gerichteten Bogen in der Luft hingen, so daß die Eisenbahn einer jener Taubrücken glich, auf welchen die Indianer Südamerikas über die Abgründe der Kordilleren oder die Hindns über die Gebirgsschluchten der Ganga setzen.

Die Fortschaffung des Schotters hatte zur Folge, daß die Straßen wieder so sind wie früher, daß die Wiesen und Gärten wieder grünen und blühen. Die Ausbesserung und der Wiederaufbau der Häuser aber machte aus Welsberg einen viel schöneren Ort, obwohl er schon früher zu den behäbigsten des Pusterthales gehört hatte. Inschriften schmücken die wieder erstandenen Häuser; sie weisen auf die Katastrophe und den Wiederaufbau des Ortes hin. Wir lesen beispielsweise:

„Der Wildbach bahnte den Weg sich durch mich.
Gar Manches fiel in Trümmer,
Doch hoffnungsfreudig erhebe ich wieder mein Haupt.“

Nicht nur die Gebäude stehen schöner da als früher, sondern auch der freie Grund und Boden hat gewonnen. Wo früher eine wüste Strecke sich ausdehnte und wilde Wasser rannen, dort grünen jetzt die Prenninger-Anlagen, nach jenem Meister so genannt, welcher sich nicht nur um die Wiedererstehung Welsbergs, sondern auch um die anderer Orte, insbesondere aber um die Herstellung der Eisenbahn, die höchsten Verdienste erworben hat. Wo ungeregelt einst die Rienz floß, dort erheben sich jetzt Bäume, und die gewaltigen Dolomite spiegeln sich im stillen Becken eines Springbrunnens.

Während amerikanische Hilfsbahnen den zerstörten Schienenweg herstellen halfen, während die Rollbahn, auf die Höhe der Dachstühle hingelegt, den Schotter aus dem Orte führte, um ihn an anderer Stelle zur Aufschüttung eines Eisenbahndammes zu verwenden, während alle Handwerke und Gewerbe sich in Bewegung setzten, um Welsberg wieder zu dem zu machen, was es, schon der Herrlichkeit seiner Gebirge wegen, zu sein verdient, nämlich zum behaglichsten und schönsten Orte des oberen Pusterthales, waren auch diejenigen nicht lässig, welche den Feind auf seinem Rückzuge für immer unschädlich zu machen berufen waren. Ich möchte diese die Strategen, jene andern aber, welche den Ort aufrichteten und schützten, die Taktiker nennen.

Es handelte sich darum, dem Wildbach ein- für allemal die Möglichkeit zu nehmen, wieder mit gleicher Gewalt gegen das schöne Welsberg anzustürmen. Zu diesem Zwecke hat man auf dem oben erwähnten Berge Rudel nach dem Muster der Arbeiten in den französischen Alpen im Sammelgebiete des Wildbaches Abstaffelungen und Thalsperren angebracht. Um das Abrutschen des Bodens und das Herabgleiten des Gerölles aufzuhalten und das Gefälle des Wassers zu brechen, wurden hinter einander Mauerabsätze, Staffeln, Stränge von Flechtwerk angebracht, welche allen diesen Zwecken genügen werden.

Auf diese Weise also ist Welsberg versichert, und der Bach wird es bleiben lassen, die ihm entgegengestellten Hindernisse zu überwinden. Eine Denksäule, welche in Gegenwart des Kaisers enthüllt wurde, erinnert an all die Arbeit und den Opfermuth, wodurch die Häuser und Straßen aus der Verheerung wiedererstanden. Dort, wo man in jenen Tagen eine Cigarre vor der Feuchtigkeit, welche die Wohnräume erfüllte, um den Finger wickeln konnte, dort, wo die Leute sich das nasse Getreide mit Lauge anmachten, um einen Brei daraus zu bereiten, herrscht jetzt wieder das gastlichste Leben.



[605]

C. A. Steinheil und der erste Schreibtelegraph.

(Dr. C. A. Steinheil)

Im Juli dieses Jahres feierten die Engländer ein Telegraphenjubiläum: die Erinnerung an den 25. Juli 1837, als auf einer kurzen Strecke der Birminghamer Eisenbahn der Nadeltelegraph von Cooke und Wheatstone zum ersten Male in Thätigkeit trat. Zu derselben Zeit wurde in Deutschland eine viel wichtigere Erfindung öffentlich bekannt gemacht. Dem Scharfsinne und der Geschicklichkeit des auf optischem wie physikalischem Gebiete gleich berühmten Gelehrten Professor Dr. Carl August Steinheil in München (geb. 1801, gest. 1870) gelang es vor fünfzig Jahren, den Telegraphen so umzugestalten, daß er die Drahtmeldungen in einer einfachen und sicheren Zeichensprache nicht nur dem Ohre vernehmbar machte, sondern auch bleibend niederzuschreiben vermochte.

Anfangs Juli 1837 stand der hier (Fig. 1 und 2) abgebildete, noch heute vorhandene Originalapparat vor dem Forum der Akademie der Wissenschaften zu München. Steinheil verwendete, wie Gauß und Weber vier Jahre früher bei dem Göttinger Nadeltelegraphen, ebenfalls sogenannte inducirte Ströme, die aber mittelst einer magnet-elektrischen Rotationsmaschine erzeugt wurden. Der 60 Pfund schwere Hufeisenmagnet A trägt oben die Anker a. Die beiden mit Eisenkernen versehenen Induktionsdrahtrollen B werden mittelst des Balanciers C um die Achse b schnell an den Magnetpolen vorbei bewegt. Alle hierdurch hervorgerufenen entgegengesetzt gerichteten Ströme erhalten in dem Stromwender D wieder gleiche Richtung und gelangen so in den Zeichengeber E, welcher nebenan (Fig. 3) etwas deutlicher in horizontalem Durchschnitte dargestellt ist; derselbe besteht aus einem Multiplikatorgewinde, in dessen Höhlung sich zwei drehbare Magnetstäbe c befinden, deren Ausschlag jedoch durch die Platten e ein begrenzter ist. Beide Magnete tragen an ihren Enden kleine Farbnäpfchen d mit kapillaren Spitzen. An den letzteren wird ein Papierstreifen G mittelst des Uhrwerkes H und der Rolle F (Fig. 1) langsam vorbeigezogen. Je nach der Drehrichtnug des Induktors wird im Zeichengeber bald der Pol des einen, bald der des anderen Magnets abgelenkt und dadurch in rascher Reihenfolge ein oberer bezw. unterer Punkt auf dem Papierstreifen gedruckt. Die seitwärts der Magnete aufgestellten kleinen Magnete m bringen die bei jedem Strome abgelenkten Magnete sofort wieder in die Ruhelage zurück.

Zur Bildung eines Buchstabens oder einer Ziffer wählte der Erfinder – wie die umstehende Probe (Fig. 4) zeigt – höchstens vier Punkte in zwei Zeilen, wodurch 30 Zeichen möglich waren.

Steinheil hatte von vornherein drei Stationen in gegenseitige Verbindung mittelst doppelter, über Gebäude und auf eigenen Masten geführter Drahtleitungen gesetzt: die Akademie, die fast 5 Kilometer von dort entfernte Sternwarte bei Bogenhausen und seine Wohnung in der Lerchenstraße. Alle Drahtenden liefen in der Drehscheibe K (Fig. 2) zusammen und konnten hier beliebig zu geschlossenen Linien verbunden werden.

Welchen unbeschreiblichen Eindruck das neue Wunder der Physik und Mechanik auf Alle, die es sahen, ausübte, kennzeichnet folgende verbürgte Anekdote aus der Zeit der ersten telegraphischen Versuche Steinheil’s.

König Ludwig I. von Bayern, für alles Neue und Nützliche so empfänglich, besuchte einst bei starkem Nebelwetter den Erfinder in der physikalischen Werkstätte der Akademie und fragte denselben: „Ich habe gehört, Sie haben einen Telegraphen erfunden, kann man heute auch telegraphiren?“

Steinheil bejahte dies, führte den König zum Apparat und bemerkte, daß die Leitung mit seiner Privatwohnung, wo seine Frau und deren Schwester telegraphiren könnten, sowie mit der Sternwarte zu sprechen gestatte. Nun ließ König Ludwig, Steinheil’s Alphabet in der Hand haltend, in die Station Lerchenstraße durch den Apparat fragen: „Was reimt sich auf Nebel?“ und alsbald ward die Antwort „Hebel“ buchstabenweise auf dem Papierstreifen sichtbar. Der Monarch verlangte hierauf: „Fragen Sie den Lamont (Professor Lamont war damals Observator der königl. Sternwarte), wie die letzten Worte lauteten, welche ich gestern zu ihm sprach.“ Als auch die Antwort hierauf von der Sternwarte her deutlich auf dem Papierstreifen erschienen war, ging König Ludwig mehrmals erregt im Saale auf und ab, klopfte dann Steinheil auf die Schulter und sagte: „Seien Sie froh, daß Sie nicht vor 200 Jahren gelebt haben; da hätte man Sie als Hexenmeister verbrannt!“

Steinheil suchte im Jahre 1838, in welchem er auch die galvanische Uhr und damit die Zeittelegraphie erfand, seinen Telegraphen weiter zu verbessern. Schon Gauß hatte auf die mögliche Verwendbarkeit der Eisenbahnschienen zur Stromleitung hingewiesen. Um hierüber Gewißheit zu erlangen, nahm Steinheil mit Genehmigung der Regierung im Juni 1838 eingehende Versuche vor auf der Nürnberg-Fürther Eisenbahn. Längs der Versuchsstrecke war eine Drahtleitung auf Stangen gezogen, die Rückleitung des elektrischen Stromes sollten die Schienen besorgen. Doch merkwürdig! Steinheil fand, daß der Strom von einem Schienenstrang zu dem andern durch den Erdboden hindurch drang, daß das feuchte Erdreich gleichsam als Leitungsdraht aus schlecht leitendem Materiale, aber von unbegrenzter Dicke, die Stromrückleitung übernahm; er hatte eine überaus wichtige Entdeckung gemacht, die dadurch, daß nun die Zahl der Leitungsdrähte bis auf einen einzigen vermindert war, am meisten zur Anlegung langer Telegraphenlinien beitrug. Steinheil wandte diese glänzende Entdeckung erfolgreich bei seiner Münchener Leitung an, indem er an beide Drahtenden Metallplatten löthete und diese in das feuchte Erdreich eingrub, wie es ja noch heute geschieht.

Fig. 3. Zeichengeber. 
Fig. 1. Durchschnitt. Fig. 2. Obere Ansicht.
Steinheil’s Schreibtelegraph aus dem Jahre 1837.

Niemand spricht mehr vom Steinheil-Telegraphen, aber alle Welt kennt den auf jedem Staatstelegraphenamte und fast auf jeder Eisenbahnstation arbeitenden Fernschreiber unter dem Namen „Morse-Schreiber“. Wir wollen die hervorragenden Leistungen des Amerikaners auf telegraphischem Gebiete durchaus nicht schmälern; allein ein vergleichendes Studium der bezüglichen Quellenlitteratur zwingt, die Priorität der Erfindung des Schreibtelegraphen Steinheil zuzuerkennen.

Historienmaler Samuel Morse (geb. 1791, gest. 1872), seit 1835 Professor für Litteratur der zeichnenden Künste, hatte auf seiner Rückreise aus Europa im Jahre 1832 gelegentlich müßiger Experimente eines Schiffspassagiers mit einem Elektromagneten den Grundgedanken zu seinem späteren Telegraphen gefaßt. Thatsache ist, daß Morse allerdings seit 1835, so gut es eben bei seinen mangelhaften Kenntnissen in der Physik und Mechanik ging, an der Verwirklichung seiner Idee arbeitete, am eifrigsten, als ihm Kunde davon wurde, was in Europa auf dem betreffenden Gebiete geschah, und nachdem er höchst nützliche Anweisungen von seinem Freunde, dem Chemiker Gale, erhalten hatte; allein vor dem Herbste 1837 kam weder durch die amerikanische Presse, noch von Morse selbst nur eine Silbe über des Letzteren Arbeiten in die Oeffentlichkeit. Erst zu Anfang des September machte Morse in seinem Zimmer des New-Yorker Universitätsgebäudes im Kreise einiger Freunde und Gönner Versuche mit seinem Stiftapparate, dessen Haupttheil ein 185 Pfund (!) schwerer Elektromagnet bildete.

Vom 4. September 1837 datirt die erste, einigermaßen gelungene Depesche Morse’s in Zickzackschrift, welche wir auf S. 606 (Fig. 5) wiedergeben. Zur Telegraphirung der Zahlen benöthigte Morse eigens gegossener Typen für die Stromschlüsse, und zur Entzifferung derselben eines telegraphischen Wörterbuches. So lautete die erste Depesche: (214) Gelungener (36) Versuch (2) mit (58) Telegraph (112) September (04) vier (01837) 1837.

Wie vorhandene Abbildungen zeigen, besaß Morse’s Erstlingsapparat nicht die geringste Aehnlichkeit mit den nachmals so verbreiteten und durch die fortschreitende Kunst der Feinmechanik so vollendeten Morse-Schreibern. Der „Recording electric Telegraph“ von 1837 erscheint – im grellen Gegensatze zu Steinheil’s Werk – als eine plumpe, sehr langsam arbeitende, unbequeme und keineswegs betriebsfähige Maschine, wenngleich Morse unverweilt ein Patent darauf nahm. Der Erfinder muß dies gefühlt haben; denn er warf sich alsbald mit aller Kraft auf die Vervollkommnung seines Apparates, [606] nachdem er in Gale, in dem Fabrikbesitzer Vail und in dem Handelsvorsteher Smith fördersame technische und finanzielle Unterstützung gefunden hatte. – Zunächst veränderte Morse den Telegraphen (Reliefschreiber) für ein aus Punkten und Strichen gebildetes Alphabet; er erfand den als „Taster“ bekannten Zeichengeber und verbesserte das Wheatstone’sche Relais. Wir fügen eine Probe aus dem heute international gewordenen Morse-Alphabet (Fig. 6) bei. Der Schreibapparat, welcher im Jahre 1844 auf der von Morse auf Staatskosten erbauten Versuchslinie Baltimore-Washington, dann im Jahre 1848 zwischen Hamburg und Cuxhaven in Thätigkeit trat und hier zugleich dem seit vielen Jahren bestehenden optischen Telegraphen ein jähes Ende bereitete, kann als der Stammvater des fast den gesammten Depeschenverkehr beherrschenden Morse-Schreibers gelten.

Fig. 4. Steinheil’s Alphabet vom Juli 1837.
Fig. 5. Erste Morse-Depesche vom 4. September 1837.
Fig. 6. Jetziges Morse-Alphabet.

Merkwürdig! Morse benutzte die Erde zur Rückleitung des elektrischen Stromes erst, als seine vorerwähnte Versuchslinie bereits ein halbes Jahr in Betrieb stand. Gleichwohl haben Einige die Entdeckung der Erdrückleitung Morse zugesprochen. – Ziehen wir in Betracht, daß Steinheil seinen Münchener Telegraphen bereits im Juli 1837, ohne fremde Beihilfe, sofort in völlig durchgebildetem, betriebsfähigem Zustande und in großem Maßstabe erprobte, und würdigen wir die volkswirthschaftlich hohe Bedeutung der Entdeckung des Stromleitungsvermögens der Erde richtig, so müssen wir Steinheil unbedingt als den Erfinder des Schreibtelegraphen, ja als den eigentlichen Begründer der elektromagnetischen Fernschreibekunst überhaupt, verehren und an der Thatsache festhalten, daß der erste Schreibtelegraph auf deutschem Boden entstand.
Hugo Marggraff.     




Hängende Fäden.

Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)

Lassen Sie mich nicht für allzu unbescheiden gelten, Fräulein!“ begann der junge Mann mit wohlklingender Stimme. „Als ich Sie hier so unerwartet erblickte, war die Versuchung zu mächtig. Wenn Sie sich aber eines gewissen rothen Deserteurs gar nicht mehr entsinnen könnten, wüßte sich der unberufene Wegelagerer freilich nicht zu entschuldigen.“

Lisbeth wurde schnell roth; ein Blitz der braunen Augen gab genügende Antwort, während ihre Lippen nicht gleich eine Entgegnung fanden. Auch blieb ihr dazu kaum Zeit, denn der Blonde fuhr lebhaft fort:

„Ist es nicht der wunderlichste Zufall, daß ich hier vor Ihnen stehe – diesmal auf gleichem Niveau? Als Ihr hängender Faden eine Verbindung zwischen uns hergestellt hatte, war ich für einen Tag nur in München, und heute wieder ist es nach einer Woche Aufenthalt mein letzter Münchener Tag!“

„Damals war es ebenfalls mein erster,“ sagte Lisbeth zutraulich, „und leider Gottes ist es heute auch mein letzter!“

„Darf man fragen, wohin Ihr Knäuel zunächst rollen wird?“

„Nach Norden,“ seufzte sie, schon im Begriff, den blauen Augen, die so treuherzig und zugleich so strahlend auf sie gerichtet waren, ihren ganzen Herzenskummer anzuvertrauen; doch besann sie sich und stellte, mit etwas höher schattirten Wangen, nur die Gegenfrage: „Und wohin gehen Sie?

„Nach Süden!“ rief er mit einem Freudeblitz. „Ueber die Alpen, ins gelobte Land, das Sie gewiß schon kennen, da man in München gleichsam auf der Schwelle steht.“

„Ich kenne nichts davon!“ sagte Lisbeth, und ihre verlangenden Augen verloren sich wie in unabsehbare Ferne. „Wie beneidenswerth sind Sie! Italienische Kunst zu sehen –“

„Sie interessiren sich für die Künste?“

„Ueber Alles!“

Während dieser rasch getauschten Worte wechselte Lisbeth die Stellung und bemerkte nun Richard Ahrens, der zwischen den Bäumen hervorkam und mit erstauntem Gesichte stehen blieb. Es schien ihr plötzlich, als habe sie sich schon seit undenklicher Zeit von ihrer Gesellschaft getrennt und müsse nun Rechenschaft ablegen. Mit verabschiedender Verbeugung gegen den Fremden sagte sie etwas hastig:

„Ich habe warten lassen –“

Dieser, welcher sie bisher unverwandt angeblickt hatte, wendete die Augen; ein schalkhafter Zug glitt über sein ausdrucksvolles Gesicht, als er den jungen Mann erblickte, und er machte keinen Versuch, Lisbeth aufzuhalten, als sie mit dem schnell hervor geathmeten Worte: „Glückliche Reise!“ den Steg verließ.

Während er ihr nachsah, sichtlich gespannt auf die Art ihrer Begegnung mit diesem Begleiter ihres Morgenspazierganges, tauchten wenige Schritte hinter Richard zwei Mädchenköpfe auf, und er hörte rufen:

„Aber wo bleibst Du, Lisbeth? Wenn wir noch in die Amalienburg wollen, ist es höchste Zeit. Mama hat uns eingeschärft, zur Tischzeit heim zu sein!“

Ein heiterer Zug spielte um die Lippen des Blonden. Er sah der Gruppe nach, bis sie zwischen dem Gehölz verschwand; wenn er darauf gerechnet hatte, daß die ihm interessante Brünette noch einmal den Kopf wenden würde, irrte er freilich, doch schien ihn das keineswegs anzufechten. Den weichen, zum Gruße abgenommenen Filzhut noch in der Linken, fuhr er sich mit der Rechten durch das Haar und ging raschen Schrittes in entgegengesetzter Richtung um den See.

Als die vier jungen Leute vor dem äußerlich so unscheinbaren Schlößchen anlangten, dessen innere Einrichtung als Juwel seines Zeitgeschmackes gelten darf, fanden sie es nicht nöthig, der Frau des Portiers zu klopfen. Die Eingangsthür stand offen, und bei dem ersten Schritt, welcher Lisbeth in die reizenden Räume führte, denen sie heute einen letzten Blick gönnen wollte, trat ihr der Blonde entgegen und bat, ihn ihrer Gesellschaft vorzustellen.

Lisbeth lachte. Das Leuchtende, was mitunter von ihren Augen ausging, erhellte das beredte Gesicht.

„Vorstellen? als wen? Ritter vom rothen Faden etwa?“

„Ja so! – mein Name ist Rank.“

Richard, gegen den er sich leicht verbeugte, erwiederte diese Begrüßung in gleicher Weise, ohne nöthig zu finden, auch die jungen Damen zu nennen. Lebendiges Geplauder entspann sich, während die kleine Gesellschaft in den Rokokosälen des Schlößchens verweilte, und die feinen, eigenartigen Bemerkungen des Fremden weckten steigendes Interesse bei den Einheimischen. Der Gast hatte offenbar Vieles gesehen und verstand es, jede Schilderung oder Kritik, wozu das hier Vorhandene ihn anregte, scharf zu charakterisiren, wobei lebendigste Frische des Ausdrucks den überlegenen Geist stets liebenswürdig erscheinen ließ.

Als die jungen Leute zusammen in das Freie traten, erschien es selbstverständlich, daß der Fremde sich für den Rückweg nach München anschloß. Vielleicht theilte Richard das unverhohlene Vergnügen der Mädchen über diesen Zuwachs nicht ganz. Es war ihm aufgefallen, daß die sonst so offene Lisbeth das kleine Abenteuer, welches sie vorhin als Erklärung ihres Gespräches mit einem Fremden flüchtig berichtet hatte, nie früher erwähnte, [607] während es doch offenbar eine bleibende Stelle in ihrem Gedächtnisse eingenommen und beiden Betheiligten nach so langer Zwischenzeit ein rasches Wiedererkennen ermöglicht hatte. Eine Regung heimlicher Eifersucht raunte ihm zu, daß es doch damals schwerlich bei so flüchtiger Berührung sein Bewenden gehabt haben möge, und er beobachtete die Beiden, ohne das selbst recht zu wissen oder zu wollen. Bald mußte er sich sagen, daß der Fremde jedenfalls seinen Vortheil nicht unbescheiden ausnützte, da er während der anderthalbstündigen Wanderung Lisbeth keineswegs in Beschlag nahm, auch nicht die geringste Neugier blicken ließ, etwas über sie zu erkunden.

Während einer ziemlichen Strecke des Weges geriethen die jungen Männer sogar in eifrige Unterhaltung, die sie für eine Weile isolirte. Als die ersten Häuser der Vorstadtstraße sichtbar wurden, strebte Rank freilich ganz entschieden an Lisbeth’s Seite und vertiefte sich mit ihr in ein Gespräch, dessen lebhaftes Tempo sich auch den Füßen mitzutheilen schien, das leicht ausschreitende Paar war bald den Andern weit voraus.

„Sagen Sie mir ganz ehrlich, Fräulein,“ unterbrach Rank ganz unvermittelt ein Geplauder, dessen Thema unpersönlich gewesen war, „hätten Sie, ohne meinen Appell an Ihr Gedächtniß, wirklich eine Ahnung davon gehabt, solchem Menschenkinde schon einmal begegnet zu sein?“

„Natürlich! Und warum nicht? Sie erkannten mich doch auch!“

„O, das ist etwas Anderes. Ich bin Künstler von Metier, unser Einem prägt sich Zeichnung und Farbe schnell ein.“

„Nun, vielleicht gilt dieser Satz auch für mich!“

„Ah –“ erwiederte Rank und sah ihr scharf in das Gesicht: „Sie wären – eine Kollegin?“

„Und wäre das etwa ein Verbrechen?“ entgegnete Lisbeth rasch, da sein Ton ihr auffiel.

„Nicht gerade ein Verbrechen – vielleicht aber doch eine Sünde. Sehen Sie mich nicht so dräuend an, bitte! Leider bleibt mir nicht Zeit, Ihnen über dieses Thema alle Variationen zum Besten zu geben, die es in reichlicher Menge darbietet. Nur Eines! Keine Sünde meint’ ich gegen den heiligen Geist der Kunst, nur gegen den Geist, der mir aus Ihren Augen entgegenschaut. Wer sich mit Leib und Seele den Künsten ergiebt, muß durch Feuer gehen – das läutert, zuvor aber brennt es, verbrennt sogar, und – das wäre schade!“

Lisbeth ward purpurroth vor Entrüstung.

„Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut! Gönnen Sie es keiner Mädchenhand, Schönes zu bilden, so dürften Sie auch keinem Mädchenauge gönnen, Schönes zu sehen. In meinem Falle freilich können Sie ruhig sein – ich werde nichts malen, nichts schaffen, und wenn ich durch Feuer gehe, ist es ein Fegefeuer, ohne Himmel danach!“

Große Tropfen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte, stürzten ihr über die heißen Wangen.

Mit ganz veränderter Miene beugte Rank sich zu ihr nieder und rief, indem er den Schritt anhielt, sehr betroffen:

„Ich habe Sie verletzt! Das wollt’ ich wahrlich nicht, verzeihen Sie meiner Kühnheit, meinem Uebermuthe. Wie durfte ich wagen, so frei zu sprechen, fremd wie ich Ihnen bin. Und doch – nicht fremd! Darin allein liegt meine Entschuldigung, daß Sie mir von der ersten Sekunde an so heimisch, so sympathisch waren – aber ich bin ein allzu offener Geselle, und auch was ich jetzt vorbringe, bedarf vielleicht der Absolution.“

Die ernsten, ehrlichen Augen, der herzliche Ton löschten Lisbeth’s raschen Verdruß mit einem Male aus. Sie schüttelte den Kopf und sagte dringend:

„Nein, nein – denken Sie nicht, daß ich kein offenes Wort vertragen könnte – ich bin nur so erregt, weil – weil –“ und nun kam all ihr Leid zu Tage. Wie einem Freunde, einem Bruder vertraute sie dem jungen Manne ihre zerstörte Hoffnung, ihr Verzichtenmüssen, mit tiefster Ueberzeugung verstanden zu sein, und fühlte sich, als sie Alles vom Herzen gesprochen hatte, mit einem Male so leicht, als gäbe es nun nichts mehr zu beklagen, als müsse Alles sich zum Guten wenden.

Er hörte ihr ernsthaft zu, die Gluth, womit ihr Sehnen und Entsagen zu Worte kam, ergriff ihn mit der Macht voller Wahrheit.

„Verlieren Sie den Muth nicht, was sein soll, das wird!“ sagte er kräftig. „Vielleicht hören wir noch einmal von einander. Wenn ich Großes und Schönes sehe, werde ich es Ihnen im Geiste zeigen – wollen Sie mir Gleiches versprechen? Es wäre schön, so an einander zu denken!“

Er streckte ihr seine Hand entgegen, sie legte die ihrige hinein, und Beide standen einen Moment schweigend einander gegenüber. Ehe die Folgenden herankamen, hatte das Paar jedoch seinen Weg langsam fortgesetzt, der bereits durch die Nymphenburger Straße nach dem Stiegelmayerplatze führte.

„Wir müssen die Pferdebahn benutzen, Lisbeth,“ rief Resi eilig. „Es hat schon Eins geschlagen.“

„Ich verabschiede mich,“ sagte Rank, zu Richard gewendet. „Haben Sie Dank, daß mir Anschluß verstattet ward. Wäre es vielleicht möglich, uns heute Abend noch einmal zu treffen?“

„Wenn Sie uns das Vergnügen machen wollen, würde ich Sie gern meiner Mutter vorstellen,“ entgegnete Richard nach kaum merklichem Zögern. „Wir erwarten einige Gäste.“

Rank überlegte einen Moment und warf einen kurzen Blick auf Lisbeth, deren erwartungsvolle Augen ihn trafen.

„Es thut mir leid,“ sagte er dann rasch, „Ihr freundlicher Vorschlag wäre große Versuchung, aber ich bin gebunden. Es handelt sich um eine Abschiedsfeier, welche hiesige Freunde mir bereiten; dafür dachte ich eben Sie anzuwerben.“

„Leider nicht möglich, da wir, wie gesagt, daheim Besuch erwarten. Also Ade, und glückliche Fahrt gen Rom!“

Der Pferdebahnwagen stand, es war höchste Zeit. Indem Rank Lisbeth die Hand zum Aufsteigen bot, drückte er leicht die ihrige und sagte warm:

„Wir begegnen uns doch noch einmal!“

Sie machte ein verneinendes Zeichen, welchem jedoch ihr Wort widersprach, denn als der Zug sich in Bewegung setzte, klang es in leisem Altton zu ihm nieder:

„Auf Wiedersehen!“

„Rathet einmal, mit wem wir heute nach Hause spaziert sind?“ sagte Richard bei Tische, entschlossen, Lisbeth nicht anzusehen, und doch einen durchdringenden Blick auf sie werfend, sobald das Wort von seinen Lippen war.

„Nun?“ riefen Martha und Resi gleichzeitig.

„Kein geringeres Menschenkind, als derselbe Joachim Rank, von dem wir neulich lasen, daß er in Berlin den großen Akademiepreis für Bildhauer davongetragen hat. Mit diesem Stipendium geht der Glückliche jetzt für ein paar Jahre nach Italien.“

Das Aufleuchten in Lisbeth’s Augen gab dem Berichterstatter einen Stich, der ihm momentan den Athem versetzte: er sah sie trotzig und zugleich spöttisch an und dachte: „Weit davon!“

Je mehr der Tag aber vorrückte, desto völliger schwand jede Regung von Neid vor dem Gedanken an das unerbittlich nahe Scheiden, und am folgenden, letzten Morgen that der junge Mann seiner Herzenstrauer keinen Einhalt mehr, so gut er auch wußte, daß er für die Scheidende nur eine kleine Ziffer in der großen Summe ihrer Verluste bedeutete.

Als der Schnellzug, welcher Lisbeth entführte, brausend von dannen fuhr, schloß sie die Augen, als ließe sich darin die Welt einschließen, welche ihr versank. Indem sie des Tages gedachte, an welchem sie gekommen war, schien es ihr plötzlich, als flösse zwischen heut und damals ein tiefer, unüberschreitbarer Strom und sie stehe gebannt am jenseitigen Ufer.



2.

Braunschweig stand in Flaggenschmuck. Doch flatterte heute nicht das lebhafte Blau-Gelb der Landesfarben auf den Giebeln der charaktervollen Häuser über die launenhaft gewundenen, malerischen Straßen der alten Residenzstadt. Zahllose Trauerfahnen regten ihr ernstes Schwarz im Winde des frischen Oktobertages. Ein Telegramm hatte die Botschaft vom Ableben Herzog Wilhelms gebracht, dessen sterbliche Hülle in der folgenden Nacht vom Lustschlosse Sibyllenort nach dem Residenzschlosse übergeführt werden sollte. In den Straßen wogte eine theils neugierige, theils beschäftigte Menge, doch drängten sich alle diese Leute in den Hauptstraßen, während es in den abgelegeneren Vierteln der Stadt heute noch stiller war als gewöhnlich. Dies galt namentlich für eine neuerer Zeit zugehörige Straße, welche, in der Nähe eines Thores beginnend, sich zwischen Kasernenmauern und einzelnen, [608] durch öde Flächen getrennten Gartenwirthschaften nüchtern hinspann, um dann, je mehr sie sich dem Stadtparke näherte, freundlicheren Charakter zu gewinnen. Hier standen helle, zum Theil schmucke Häuser mit kleinen Vorgärten zwischen vereinzelten Baumgruppen in ländlicher Ruhe, die durch keinerlei Geschäftsbetrieb gestört, auch durch städtisch elegantes Treiben selten belebt wurde. Als Durchgangsweg zu Schulen bevölkerte sich diese stille Gasse während der betreffenden Stunden mit lustigem jungen Gesindel. Heut aber waren alle öffentlichen Schulen geschlossen, und nachdem die mit Hunden bespannten Milchkarren vorüber waren, regte sich zur Morgenstunde nichts auf dem Pflaster als etliche Sperlinge, welche mit geringem Erfolg nach etwas Verspeisenswerthem spähten.

Es hatte eben Neun geschlagen, als ein etwa sechsjähriges Knäblein eilfertigen Schrittes um die Ecke bog und die menschenleere Straße entlang kam. Ein Schulranzen kleinsten Kalibers von grünem Saffian war ihm auf den Rücken geschnallt; dichte, lockige Haare umgaben ein Gesicht von köstlicher Frische, das in erwartungsvoller Freudigkeit leuchtete. Die behende kleine Gestalt strebte mit flinken Schritten, fast in Sprüngen, einem zweistöckigen Hause zu, das isolirt stand, etwas tiefer von der Straße abgerückt als seine Nachbarn, und sich in der Umgebung herbstlich gefärbter Bäume und mit der hübsch dekorirten Giebelfronte sehr gefällig ausnahm.

Hinter dem breiten Giebelfenster der zweiten Etage saß eine weibliche Gestalt eifrig beschäftigt; der dunkle Kopf beugte sich über eine Arbeit, der alle Aufmerksamkeit hingegeben schien. Dieser Fleiß war dem Bübchen, dessen lachende Blauaugen unverwandt zu dem Fenster aufschauten, vor dem er Halt gemacht hatte, offenbar sehr störend. Nachdem er es, auf den Zehen erhoben, mühsam fertig gebracht, die Klinke der Zaunthür zum Vorgärtchen niederzudrücken, stand er mit verblüfftem Gesicht innerhalb, unschlüssig, ob er wieder umkehren müsse oder nicht. Schon hatte er mit vorgeschobenem Mäulchen Kehrt gemacht, da kam ihm ein leuchtender Gedanke: er stellte sich breitspurig hin und fing mit seinem glashellen Kinderstimmchen zu singen an: „Wenn ich ein Vöglein wär’ –“

Im nächsten Moment klang das Fenster, eine schlanke Mädchengestalt erschien im Rahmen und rief mit heiterem Zunicken hinab:

„Bist da? ich glaubte, heute gäb’s keine Schule?“

„Beim Fräulein giebt’s immer Schule!“

„Wart’ ein Bischen!“

Sie verschwand, um schnell wieder zu erscheinen, die schmale Hand ließ einen langen Bindfaden zur Straße niedergleiten, bei dessen Anblick der kleine Mann einen Luftsprung that. Nun schwankte die zwischen den Maschen eines am Schnurende befestigten Netzes glänzende Apfelsine dicht vor seinem rothen Mündchen, gleich darauf befand sie sich in der schnell zufassenden Kinderhand. Ein glückseliges „Danke!“ flog auf, der Kleine lüpfte sein Filzhütchen und setzte trällernd und hüpfend seinen Weg fort.

Lisbeth sah ihm nach, bis er unfern in einer Thür verschwand. Ein fast kindlicher Ausdruck harmloser Freudigkeit beseelte ihre Züge, die eben so jung erschienen als zur Zeit der Münchner Tage. Als sie aber das Fenster geschlossen hatte und den Stift, mit dem sie zuvor beschäftigt gewesen, wieder zur Hand nahm, saß doch eine Andere hinter den Scheiben als die Lisbeth jener Zeiten. Das interessante Gesicht war während der dazwischen liegenden vier Jahre etwas länglicher geworden, der schalkhafte Zug um die Lippen einem nachdenklichen gewichen. Doch entbehrte die zarte Kontour ihrer Wangen nicht der Fülle und die braunen Augen blickten klar und tief unter der schöngewölbten Stirn hervor. Jetzt waren sie zu einer aufgeschlagenen Mappe gesenkt und prüften den Entwurf einer in kleinem Format leicht und keck hingezeichneten Waldidylle: ein Reh, das in einem von Bäumen besetzten Teich seinen Durst stillt. Sie schien die lebensvolle Skizze nicht unzufrieden zu betrachten, dennoch seufzte sie, indem sie die letzten Striche that, worauf sie begann, das Bildchen in Farbe auszuführen.

Diese Arbeit war noch nicht beendet, als im anstoßenden Zimmer laute Schritte und starkes Räuspern hörbar wurden und eine Männerstimme polternd rief:

„Die Lisbeth nicht da? Wo steckt das Mädel?“

Sie stand hastig auf und ging in das Nebenzimmer, um dem Vater guten Morgen zu sagen und sein Frühstück herbeizuholen. Major Rüttiger pflegte, „seit er dem lieben Herrgott die Tage abstehlen mußte“, in diese Tage hineinzuschlafen und kam erst lange nach der Frühstücksstunde seiner Familie in das Wohnzimmer, wo er unter allen Umständen Frau und Tochter seiner harrend erwartete und nur aus Lisbeth’s Hand den Kaffee haben wollte. Während diese das Spiritusflämmchen anfachte, nahm der Major die bereitliegende Morgenzeitung zur Hand und machte seiner Frau ein Zeichen, welchem diese schon zuvorgekommen war, indem sie das in der Ecke stehende Rauchtischchen herbeitrug. Frau von Rüttiger’s Haar zeigte manchen Silberstreifen; sie war hagerer geworden, und eine Sorgenfalte hatte sich in das gute Muttergesicht eingegraben, noch immer verriethen aber ihre Bewegungen die Anmuth, welche sich aus dem Seelischen in das Körperliche übersetzt.

Der Hausvater erhob einen Moment die Augen von seinem Blatt, um der eben aus dem Zimmer verschwindenden Tochter nachzuschauen, und knurrte:

„Sag’ doch der Lisbeth, daß sie keine Albernheiten machen soll wie vorhin wieder. Hat sie Leckerbissen, dann mag sie es selbst aufessen oder ihren Brüdern schenken. Dummes Zeug! so recht ’was für Die da drunten –“ er klopfte mit dem Fuße gegen den Boden – „sie raisonniren ohnedies genug!“

Ein leiser Zug von Humor verjüngte das Gesicht der Majorin.

„Warum sagst Du es Lisbeth nicht selbst, wenn Dir etwas nicht recht ist? Uebrigens weiß ich nicht, wovon Du sprichst.“

Der alte Herr brummte unverständlich in seinen Bart hinein, als er aber den schalkhaften Ausdruck seiner Frau gewahrte, polterte er Lisbeth, die mit frischen Weißbrötchen zurückkam, im tiefsten Baß entgegen:

„Wer ist der Junge, den Du aus Deinem Fenster fütterst? Laß das bleiben! Oder macht es Dir Spaß, der ganzen Nachbarschaft ’was zum Klatschen zu geben? Das freche Bürschchen scheint sich hergewöhnt zu haben wie ein Spatz an Brotkrumen.“

Lisbeth lachte und sah dem Scheltenden dicht in die stark überbuschten Augen, während sie ihm die vollgeschenkte Tasse näher rückte.

„Der ist mein Schatz, Papa,“ sagte sie heiter, „und Du weißt sicherlich aus eigener ehemaliger Erfahrung, daß Verbote bei Herzensangelegenheiten nichts ausrichten. Das Verhältniß ist sehr intim, aber nicht gefährlich! Wie mein kleiner Schatz heißt, kann ich Dir nicht verrathen, ich habe mich nur in seine Schönheit verliebt, und da er bei seinen täglichen Fensterparaden durchaus nichts von meiner heimlichen Anbetung merken wollte, verfiel ich darauf, mir sein Herz auf dem Umwege seiner weißen Mausezähnchen zu erobern. Will die Nachbarschaft über dies Verhältniß klatschen, so mag sie’s thun, ist mir ganz einerlei. Uebrigens geht die Sache nicht ohne Heimlichthun vor sich, trotz ihrer Öffentlichkeit und Mündlichkeit, denn mein Liebster weiß genau, daß wir nur dann in Rapport treten, wenn kein anderes Kamerädchen um den Weg ist.“

Des Papa’s verdrießliches Gesicht entwölkte sich während der spielenden Worte; er zwinkerte mit den Augen und sah wohlgefällig zu dem Mädchen auf; die Gewohnheit, über alles Vorkommende zu knurren, ließ sich trotzdem nicht so schnell aus dem Felde schlagen und kam mit der Bemerkung zu Worte:

„Wüßte nicht, daß Dein Taschengeld für solche Spendagen bestimmt wäre.“

Ein Schatten ging über Lisbeth’s eben noch so heitere Stirn. Sie richtete den Kopf auf, sagte rasch: „Für mein Taschengeld sorge ich selbst, Papa,“ und setzte sich, eine Arbeit zur Hand nehmend, an den Nähtisch. Ein ängstlicher Blick der Majorin streifte ihren Mann, doch brach das gefürchtete Ungewitter nicht los. Er zuckte nur die Achseln, vertiefte sich, stark sich räuspernd, in sein Zeitungsblatt und begann abwechselnd Kaffee zu schlürfen und große Wolken aus der kurzen Morgenpfeife zu dampfen, bis er nach einer Weile die im Zimmer herrschende Stille mit der Bemerkung unterbrach:

„Heute Nacht wird des Herzogs Leiche vom Bahnhof nach dem Schlosse übergeführt. Ein Galazug in der Finsterniß, der wohl des Anschauens werth sein mag, so weit sich etwas sehen läßt. Wer geht mit?“

[609]

Die letzten Garben.
Originalzeichnung von W. Grögler.

[610] „Nicht ich,“ sagte Frau von Rüttiger, „der bloße Gedanke daran ist mir unheimlich.“

„Dir auch, Lisbeth?“ fragte der Major etwas barsch, nachdem er eine Minute auf eine Aeußerung seiner Tochter gewartet hatte.

„Durchaus nicht, Papa – es würde mich das sehr interessiren, und ich dank’ Dir, wenn Du mich mitnehmen willst.“

„Gut!“ Er stand auf, rückte den Sessel geräuschvoll ab und schickte sich an, in sein Zimmer hinüberzugehen. Als er bereits unter der Thür war, drehte er sich noch einmal um, wirbelte den grauen Schnurrbart in die Höhe, dessen struppige Linie das starkgefärbte Gesicht gleichsam in zwei Theile schied, und sagte, während er mit dem Zeitungsblatt auf Lisbeth’s Schulter schlug, sehr nachdrücklich: „Trotzkopf!“

„Das ist gnädig abgelaufen,“ seufzte die Mutter, als er draußen war. „Lisbeth, wie konntest Du nur –“

„Entschuldige, Mama! Aber ich durfte den Vorwurf, als ob ich aus Papa’s Kasse meine Privatvergnügungen bestritte, nicht auf mir sitzen lassen. Papa weiß recht gut, daß und wie ich erwerbe, was ich für mich selbst bedarf.“

Sie hatte rasch und nicht ohne Empfindlichkeit gesprochen und wurde ein wenig roth, als die Mutter nun dicht vor ihr stand und sie ernsthaft ansah:

„Du solltest aber auch nicht vergessen, liebes Kind, wie ungern Papa Deine Beschäftigung zuläßt, und solltest ihn darin schonen. Wir Alle wissen ja, wie viel Du im Grunde über ihn vermagst, wenn Dir auch dann und wann eine seiner Bemerkungen nicht lieb ist – warum antworten? Er würde heute überhaupt schwerlich etwas gesagt haben ohne den Gedanken an die Spötteleien der Tante.“

„Das ist’s, Mama!“ rief Lisbeth sehr lebhaft. „Dieser allgegenwärtige Gedanke ist es, den ich nicht vertragen kann. Laß mich’s einmal frei heraussagen, daß ich nicht verstehe, warum Ihr Euch solche Bevormundung gefallen laßt, warum wir nicht aus diesem Hause ziehen, um in den bescheidensten vier Wänden unsere eigenen Herren zu bleiben. Was läge daran, arm zu sein, wenn man es auf eigene Weise sein dürfte! Wir schulden Niemand etwas, so viel ich weiß, auch diese Wohnung schulden wir nicht, der Onkel hat sie uns angeboten –“

„Zu sehr mäßigem Miethpreise, Lisbeth, und Du weißt, wie viel Papa auf standesmäßige Räume hält. Mein Bruder hat viele Gefälligkeiten für uns, auch die Tante –“

„Ist immer bereit zum Protegiren, ja!“ unterbrach Lisbeth. „Aber sie macht sich dafür bezahlt. Wir sollen an ihrem Theetische sitzen, wenn sie Gäste hat, sie nimmt es übel, wenn wir ausbleiben, eben so übel nimmt sie es aber, wenn wir selbst einmal bescheidene Gastfreundschaft üben wollen! Kannst Du es leugnen, Mama, daß ihr dann auf dem Gesicht geschrieben steht, wie sie Alles, was wir aus frohem, ehrlichem Gemüthe bieten, auf den Kostenpunkt taxirt und uns zu verstehen giebt, das doch lieber bleiben zu lassen, denn wir hätten es nicht dazu? Hast Du Dich nicht beinahe entschuldigt, daß Du Dich für meine Brüder hast photographiren lassen, was sie so überflüssig fand? Dies Alles drückt mir das Herz ab! Jeder Blumenstrauß, den ich nach Hause trage, läuft auf der Treppe Gefahr, durch solchen Taxator- und Vormundschaftsblick seinen Duft und Reiz einzubüßen!“

„Du übertreibst!“

„Ich übertreibe nicht und es erscheint mir empörend, daß mit dem Armen so gerechnet wird, daß ihm das einfach Menschliche, das Liebliche und Schöne nicht gegönnt sein soll, daß er nicht auch einmal verschwenden darf, wo sein Herz ihn treibt, während er freudig oder stolz auf tausend Anderes verzichtet. Und es quält mich, daß ich redliche Arbeit vor meinem Vater verleugnen soll, als sei es etwas Niedriges!“

Sie war aufgesprungen und stand rasch athmend der Mutter gegenüber, die sie traurig ansah.

„Du kannst nicht vergessen, Lisbeth, und ich kann Dir nicht helfen. In Allem, was Du klagst, liegt Wahres, und doch beschuldigst Du zu hart: Was Dir unerträgliche Bevormundung erscheint, ist auch eine Form von Theilnahme, freilich nicht immer die angenehmste, man muß aber bedenken, daß Jeder die Dinge nach seiner eigenen Anschauung auffaßt. Du selbst bist hier nicht an Deinem Platze, Kind! Ich glaubte Dir Gutes zu thun, als ich vor Jahren für Dich fast erzwang, was sich nicht zu Ende führen ließ, Dir nur den weiten Blick aufthat, der Dir jetzt Alles zu eng erscheinen läßt. Hättest Du doch Richard Ahrens’ Werbung nicht ausgeschlagen! Der junge Professor machte mir den angenehmsten Eindruck, als er uns diesen Sommer hier aufsuchte. Eine Neigung, die sich durch vier Jahre der Entfernung treu blieb, die ihn antrieb, Dir Herz und Hand zu bieten, sobald er dazu im Stande war, ist gewiß echt, und er hätte Dich in die Luft zurückgeführt, nach der Du Dich unablässig sehnst.“

„Was könnte ich Dir Anderes sagen als die Antwort, die ich ihm selbst gab, Mama? Er ist ein herziger Mensch, dem ich sehr gut bin, lieben kann ich ihn aber nicht. Ich weiß, wie treu, brav und begabt er ist; daß er sich so jung schon ehrenvolle, auskömmliche Stellung gewann, bezeugt das ja auch, aber, nimm es mir nicht übel, trotzdem er Professor genannt wird, konnte ich nichts Anderes in ihm sehen als den Studenten, den ich damals kennen lernte. Er imponirt mir nicht, wie könnte ich da geloben, er solle mein Herr sein?“ Sie unterbrach sich plötzlich und umschlang der Mutter schmächtige Gestalt mit beiden Armen. „Habe nur weiter Geduld mit mir, Liebste, Beste! Ich will ja gar nicht fort von Dir! Wenn ich auch mitunter etwas ungebärdig mit den Flügeln schlage, bei Dir fühl’ ich mich immer daheim, und, wart’ es nur ab, die Zeit kommt auch, wo ich Dir noch Freude mache, mein Mutterchen!“

„Soll die Zeit erst kommen? Kind, Du bist unser Aller Sonnenschein!“

Die Thür flog auf und zwei etwa zwölfjährige Knaben stürmten herein. Auf den ersten Blick ließ es sich erkennen, daß sie Zwillinge waren, sie glichen einander eben so sehr, wie ihr untersetzter Bau, die derb geschnittenen Züge, die vollblütige Gesichtsfarbe sie zu Abdrücken ihres Vaters stempelten. Es waren das die Nesthäkchen der Familie; schon für nächstes Jahr zum Eintritt in das Kadettenkorps angemeldet, wo zwei ältere Brüder bereits weilten, fühlten sie sich vorerst noch im Vollgenuß ziemlich unbändigen Freiheitsbewußtseins. Beide zugleich fuhren wie Blitze auf die Schwester zu und bemächtigten sich ihrer Arme.

Du mußt das machen, Lisbeth!“ rief Hans, und Kurt fiel mit lauterer Stimme ein: „Du kriegst es fertig; wenn’s bloß die Mama sagt, thut er’s nicht!“

„Ja, was denn?“ fragte Lisbeth lachend, mit vergeblichem Versuch, ihre Hände von den kleinen Klammern zu befreien.

„Schreie doch nicht so, Kurt,“ warnte Hans indessen. „Sonst kommt der Papa herein und schilt, und dann ist’s Essig! Weißt, Lisbeth,“ fuhr er mit nachdrucksvollem Flüstern fort, „wir möchten heut’ Nacht auf die Straße, den Herzogszug zu sehen; der Papa geht gewiß, mach’ Du, daß er uns mitnimmt!“

„Ja, ja, Du kriegst es fertig!“ wiederholte Kurt mit Zuversicht – „willst Du auch?“

„Wollen sehen, was sich thun läßt! Aber Barmherzigkeit, Ihr Kobolde, laßt mich los!“

Dieser Nothruf hatte guten Grund, denn jetzt hingen die Beiden an der Schwester Hals und küßten sie so stürmisch, daß ihr kaum möglich ward, das Gleichgewicht zu bewahren.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Theodor Storm. (Mit Portrait S. 597.) In die wenig erfreuliche litterarische Gegenwart, deren unklare Strömungen ohne sichere Ziele durch einander treiben, reicht das künstlerische Schaffen von ein paar Männern älterer Schule herzerquickend hinein. Zu diesen gehört in erster Linie Hans Theodor Woldsee Storm, dessen 70. Geburtstag in dieser Zeit ein weiter Verehrerkreis mit ihm feiert.

Geboren am 14. September 1817 zu Husum an der Westküste von Schleswig, aus wohlhabender, weitverzweigter, angesehener Familie stammend, wurde Storm wie sein Vater Jurist (in Kiel und Berlin) und ließ sich in der noch dänischen Vaterstadt als Advokat nieder. Aber seine deutsche Gesinnung machte seine Stellung dort unhaltbar, so ging er 1853 nach Preußen, wurde in Potsdam Gerichtsassessor, dann 1856 in Heiligenstadt Kreisrichter, bis ihn 1864 die vom dänischen Joche befreite Vaterstadt als Landvogt zurückrief. Nach der Gerichtsreorganisation von 1867 blieb er Amtsrichter und lebt seit 1880 als pensionirter Amtsgerichtsrath auf seiner ländlichen Besitzung in Hademarschen. Seine überaus glückliche erste Ehe mit einer Verwandten zerstörte der Tod kurz nach der Rückkehr – ein Kindbettfieber raffte die Gattin hinweg; eine spätere zweite Ehe gab den Kindern wieder eine Mutter und dem Dichter eine sympathische Lebensgefährtin und Pflegerin.

[611] Storm hat Gedichte und Novellen geschrieben, durchweg ausgereifte, bis aufs Wort durchgebildete und durchgefeilte Kunstwerke, mit jeder Zeile den Duft einer ganz bestimmten poetischen Eigenart athmend. Ihm fehlt der große Schwung – aber ihm fehlt dafür auch völlig die Phrase, die wuchernde Ueppigkeit; und seine „Gedichte“, welche mehr als sechs Auflagen verdient hätten, sind von ergreifender Naturlaute. Die meisterhaft gestalteten Novellen – er arbeitet wohl ein Jahr an einer solchen – tragen einen stark lyrischen Charakter, um so mehr, je älter sie dem Ursprung nach sind; so das weitverbreitete „Immensee“, von welchem jetzt im Amelang’schen Verlag in Leipzig eine prächtig ausgestattete Jubiläumsausgabe mit 23 stimmungsvollen Heliogravüren nach W. Hasemann und Prof. Edmund Kanoldt erscheint. Die Stimmung macht neben der filigranartigen Detailschilderung den Reiz dieser Dichtung aus. Erst in den späteren Arbeiten beginnen die Gestalten plastischer, der Aufbau epischer, die innere Bewegung mannigfaltiger, leidenschaftlicher zu werden, wie in „Aquis submersus“ u. A. Die Werke Storms erscheinen in einer Gesammtausgabe, die gegenwärtig 14 Bände zählt. Mögen dem greisen Dichter noch reiche Jahre rüstigen Schaffens und beschaulichen Genießens beschieden sein! Victor Blüthgen.     

Josephine Wessely †. Mit Wehmuth erfüllt uns das Hinscheiden verheißungsvoller Talente, ehe sie auf ihrer Laufbahn das Höchste erreicht, das ihnen erreichbar schien nach der Meinung der Kundigen. So schmerzlich berührt uns jetzt die Trauerkunde vom Tode der Josephine Wessely: mir haben dieser Künstlerin in unserer Zeitschrift, als ihr Stern in Leipzig so glänzend aufgegangen war, eine eingehende Würdigung zu Theil werden lassen („Gartenlaube“ Jahrg. 1877, S. 647); es knüpften sich die schönsten Hoffnungen an ein Talent, das den zündenden elektrischen Funken besaß, der für die Wirkungen der Tragödie unerläßlich ist; auch bei ihrem Berliner Gastspiel waren Kritik und Publikum einstimmig in der Anerkennung ihrer schönen Begabung. Nicht lange darauf wurde sie am Wiener Burgtheater engagirt. Sie war eine Wienerin, am 18. März 1860 in der Donaustadt geboren und hatte auch dort 1874 bis 1877 ihre Ausbildung in der Schauspielerschule des Konservatoriums erhalten. Dr. Förster brachte bei Uebernahme der Leipziger Direktion die junge Kunstnovize mit nach Leipzig, wo sie alsbald als Luise in „Kabale und Liebe“ einen vollen Erfolg davongetragen.

Ein Engagement am Wiener Burgtheater, wo sie auch 1884 zur k. k. Hofschauspielerin ernannt wurde, war bei ihrer Jugend ein nicht geringes Glück zu nennen. Gleichwohl war ihre Laufbahn dort eine dornenvolle: ein Theil der Kritik war ihr nicht hold, die Rivalität eines jungaufstrebenden Talents war den anerkannten Größen unbequem; Alles trug Anfangs dazu bei, eine freudige Entwicklung der strebsamen Künstlerin zu hemmen; gleichwohl brach sie sich Bahn beim Publikum. Die innere Geschichte des Burgtheaters ist ja für die Außenstehenden ein Buch mit sieben Siegeln: nur einzelne Mittheilungen dringen daraus ins Publikum, und so vernahm man auch später Mancherlei von Konflikten mit der Direktion, von langen Beurlaubungen, von einer Audienz beim Kaiser. Jedenfalls war ihre Stellung an der Burg eine schwierige. Hinzu kam eine Kränklichkeit, die sie oft genug entmuthigen mußte: mehrfach suchte sie Heilung in Karlsbad. Im letzten Sommer hielt sie sich eine Zeit lang in Ungarn auf, doch hat ihr dieser Aufenthalt, wie sie an eine Leipziger Freundin schreibt, nur geschadet und „sie hatte dann Mühe, in der guten harzigen Semmeringluft das Schlechte gut zu machen“. Leider sollte sich ihre Hoffnung, im nächsten September „mit neuer Kraft ihren Pflichten nachkommen zu können“, nicht erfüllen. In Karlsbad ereilte sie am 12. August der Tod; sie starb, bald nach ihrer Ankunft an diesem Badeort und ohne aus dem Schlummer der Erschöpfung, in den sie sogleich verfallen war, wieder zu erwachen, an einer Krankheit der Leber.

Das Leichenbegängniß des Fräulein Wessely fand unter großer Theilnahme des Wiener Publikums statt. Am Grabe widmete Sonnenthal der geschiedenen Kollegin einen Nachruf, dem wir die folgenden so bezeichnenden und ergreifenden Worte entnehmen: „Ein Wesen in der Blüthe der Jahre, der Schönheit, des vollen reifen Talents – dahin, unwiederbringlich dahin! Die weiche sympathische Stimme, die so oft zu unseren Herzen drang, für ewig verstummt, das schöne sprechende Auge für ewig erloschen, für immer gebrochen! Arme Josephine, wohl trugst Du den Todeskeim schon seit Jahren in Dir, allein Du wehrtest Dich muthig und tapfer gegen den grausamen Feind, und wunderbar, je mehr er Deinen zarten Körper zu zerstören drohte, desto mehr erstarkte Deine Seele, Dein Geist, und gerade in den letzten Jahren Deiner Leiden wurden Deine künstlerischen Schöpfungen geklärter, reifer, vollendeter, und gerade das allerletzte Gebilde, das Du schufst – schon mit der Todeswunde im Herzen – war vielleicht die weiblich zarteste, die künstlerisch vollendetste Deiner Schöpfungen.“ Sonnenthal meint damit die Rolle der „Denise" in dem Stücke des jungen Alexander Dumas.

Josephine Wessely betrat mit 16 Jahren zuerst erfolgreich die Bühne und ist im Alter von 27 Jahren gestorben. Es heißt ja, daß die Götter ihre Lieblinge früh abberufen, man hat das besonders mit Bezug auf die Dichter ausgesprochen und Poeten wie Theodor Körner und Novalis erinnern an den ewig jungen Gott des Gesanges, Phöbus Apollo. Doch auch manchen der Künstlerinnen hat es die Gunst des Schicksals erspart, vor dem Publikum zu altern, mit fraglicher Berechtigung junge Heroinen zu spielen und zuletzt als tragische Alte in ein lebensmüdes Fach überzugehen. Josephine Wessely, als Gretchen, Klärchen, Luise, Desdemona, wird mit ihrer reizvollen Jugendlichkeit in den Erinnerungen der Zeitgenossen und den Annalen der deutschen Theatergeschichte unverkümmert fortleben. †      

Josephine Wessely als Gretchen in „Faust“.

Das Silberjubiläum des Deutschen Sängerbundes. Vor 37 Jahren, am 5. August 1850, war es, als bei einem Feste des Schwäbischen Sängerbundes in Ulm Herr Konrektor Pfaff aus Eßlingen die bedeutsamen Worte sprach: „Stehen wir auch noch fern von der politischen Einheit Deutschlands, so soll doch hier ein Band gewoben werden, welches allmählich alle deutschen Bruderstämme umschlingt; ein Bund soll gegründet werden, den keine engeren Grenzen einschließen als die, welche Gott der Herr selbst dem deutschen Lande setzte, der Alpen Höhen und des Meeres Strand, ein großer deutscher Sängerbund!“ Diese Worte, damals prophetisch ausgesprochen, verwirklichten sich zwölf Jahre später, nachdem sowohl die Schiller-Feier (1859) als auch das Sängerfest in Nürnberg (1861) die Begeisterung für den deutschen Einheitsgedanken in erfolgreicher Weise entflammt hatten. Namentlich die herrlichen Jubeltage in Nürnberg trugen dazu bei, den Festspruch

„Deutsches Banner, Lied und Wort
Eint in Liebe Süd und Nord.“

zur That zu gestalten. Dort beschloß man, die Bildung weiterer Gauverbände zu veranlassen, um dann die Gründung eines allgemeinen deutschen Sängerbundes vornehmen zu können. Die Vorarbeiten wurden dem Schwäbischen Sängerbunde übertragen, der die ihm gestellte Aufgabe mit Energie und organisatorischem Talente löste.

Am 21. September 1862 stellten sich 68 Abgeordnete als Vertreter von 41 Sängerbünden (mit ungefähr 45000 Sängern) in Koburg ein, um, unter dem Vorsitz des Herrn Dr. Otto Elben aus Stuttgart, in einmüthiger Begeisterung das Werk der Einigung zu Stande zu bringen. Wenige Stunden genügten, zu gegenseitigem Verständniß über die Statuten zu gelangen. Nach dem grundlegenden Paragraphen seiner Satzungen geht das Streben des Deutschen Sängerbundes „auf die Ausbildung und Veredelung des deutschen Männergesanges. Durch die dem deutschen Liede innewohnende einigende Kraft will auch der Deutsche Sängerbund an seinem Theile die nationale Zusammengehörigkeit der deutschen Stämme stärken und an der Einheit und Macht des Vaterlandes mitarbeiten.“

Als ein praktisches Bindemittel für die einzelnen Gauverbände hat sich das anfangs mit Mißtrauen aufgenommene Liederbuch erwiesen. Der leitende Gedanke bei der Herausgabe dieser Liederhefte war: eine Zahl von Kernliedern, welche überall gern, freilich oft in verschiedenen Satzweisen, gesungen wurden, den Sängern im richtigen Satz und in handlicher Ausgabe zu bieten, so daß diese Lieder jederzeit gemeinsam gesungen werden können; außerdem wurden den Vereinen neue [612] Kompositionen durch Aufnahme in die Sammlung zugänglich gemacht. Bis jetzt erschienen von dieser Sammlung, die nur an Bundesmitglieder abgegeben wird, acht Hefte.

Am 11. September d. J. soll an der Geburtsstätte des Deutschen Sängerbundes, in Koburg, sein 25jähriges Jubiläum durch einen erweiterten Sängertag gefeiert werden. Viele von denen, die vor 25 Jahren mit Jugendfrische und Begeisterung für die Gründung des Bundes eintraten, sind bereits „zu den Todten entboten“; wir aber, die wir noch im Leben stehen, wollen dankbar ihrer gedenken und treue Hüter und Pfleger des deutschen Liedes bleiben, eingedenk des Wahlspruchs:

O grüne fort und blühe lang,
Du edler deutscher Männersang!

Heinrich Pfeil.

Die neue Weltsprache. In der ersten Hälfte des August hat eine Versammlung in München stattgefunden, deren Name und Tendenz für Viele zumeist den Reiz der Neuheit hat: es war der zweite internationale Kongreß der „Volapükisten“, der Anhänger der von Pastor Schleyer erfundenen neuen Weltsprache. Eine „erfundene“ Sprache – das klingt auf den ersten Blick seltsam genug; denn man ist ja gewöhnt, die Sprache als etwas aus dem Volksleben selbst Erwachsenes und mit ihm sich Fortbildendes zu betrachten. Gleichwohl ist schon oft der Versuch aufgetaucht, eine Weltsprache zu erfinden, welche wie früher das Latein als Gelehrtensprache eine Brücke für das Verständniß bei den verschiedenartigsten Nationen bildet. Eine solche Sprache kann natürlich nie die Volkssprache im täglichen Lebensverkehr, bei Reisen, beim Aufenthalt in fremden Ländern ersetzen; aber für den wissenschaftlichen und den Handelsverkehr bietet sie eine Erleichterung, indem die Gelehrten und Kaufleute statt einer großen Zahl von Sprachen nur diese einzige zu erlernen brauchen, um sich auf der ganzen Erde mit ihren Fachgenossen zu verständigen.

Eine solche Sprache, das Volapük, hat der Pfarrer Schleyer zu Lizzelstetten bei Konstanz erfunden, und diese Sprache hat eine sehr große Zahl von Anhängern gewonnen. Auf dem Gebiete der Erfindung ist indeß die Konkurrenz nicht ausgeschlossen und Niemand kann Bürgschaft dafür leisten, daß nicht eine zweite und dritte Weltsprache auftauchen wird, welche vor dem Volapük irgend welche Vorzüge voraus hat, sowohl betreffs der sprachlichen Logik und Konsequenz als auch der leichten Erlernbarkeit, denn dieser letztere Vorzug ist für eine erfundene Sprache unerläßlich. Auch Schleyer hat große Rücksicht darauf genommen und sich aller „mnemotechnischen“, das heißt dem Gedächtniß zu Gute kommenden Hilfsmittel bedient. – Um unseren Lesern davon eine kleine Probe zu geben, erwähnen wir, daß durch die Vorsilbe „lu“ eine Verringerung oder Verschlechterung des Begriffs bezeichnet wird, zum Beispiel:

bük, Buchdruck, lubük, Makulatur,
lit, das Licht, lulit, Dämmerung,
man, Mann, luman, Kerl, Strolch,
kanitön, singen, lukanitön, heulen,
begön, bitten, lubegön, betteln.

Umgekehrt wird mit der Vorsilbe „le“ eine Erhöhung des Begriffs, eine Verstärkung des Ausdrucks bei Haupt-, Zeit- und Eigenschaftswörtern gegeben:

läb, das Glück, leläb, Glückseligkeit,
balib, der Bart, lebalib, der Vollbart,
jek, der Schrecken, lejek, Graus, Schauder,
galön, freuen, legalön, entzücken,
löflek, lieblich, lelöflek, wunderlieblich.

Die reichliche Anwendung dieser und ähnlicher Vor- und Nachsilben kommt dem Gedächtniß außerordentlich zu Hilfe und bedeutet außerdem eine Ersparniß für den aufzunehmenden Wortschatz.

Bei dem Münchener Kongreß waren Abgesandte der Weltsprachvereine aus Deutschland und Oesterreich, der Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, England und Nordamerika eingetroffen, aus den anderen europäischen Landen Briefe und Telegramme.

Der erste Weltsprachverein ist am 11. Mai 1882 in Württemberg begründet worden; gegenwärtig besitzt er 350 Mitglieder; ähnliche Vereine bestehen in den andern deutschen Staaten. Volapük findet auch eifrige Pflege in Asien (besonders Syrien und Palästina), in Afrika (Aegypten und am Kap der guten Hoffnung), in Nordamerika (New-York, San Francisko), auf Martinique und Portoriko.

Es ist begreiflich, daß vielsprachige Staaten, wie Oesterreich und auch Rußland, ein besonderes Interesse an der Pflege der neuen Weltsprache nehmen. Dr. Obhlidal in Wien hat im Laufe des letzten Winters nicht weniger als 2000 Personen in Volapük unterrichtet; an der Universität, den Handelsschulen etc. finden Kurse in dieser Sprache statt. Die Zahl sämmtlicher Anhänger des Volapük wird auf mindestens eine Million geschätzt; 450 Volapükisten sind vom Erfinder zu Lehrern der Weltsprache ernannt. Elf selbständige Zeitungen wirken für „Volapük“, drei in Deutschland, von denen eine ganz, die andern theilweise in Volapük geschrieben sind. Prof. Kerkhoffs in Paris hat ebenfalls ein eigenes Blatt für Volapük gegründet: „Le Volapük“; seine französisch-volapükische Grammatik hat bereits die zehnte Auflage erlebt.

Bei dem Münchener Kongreß wurde eifrig „Volapük“ gesprochen; Toaste, Scherze und Lieder erklangen in der neuen Weltsprache, die sehr wohllautend und kräftig tönt und zwischen Latein und Italienisch die Mitte hält.

Welche Zukunft die neue Erfindung haben wird, ist schwer vorauszusagen, da es sich um etwas Künstliches, nicht Naturwüchsiges handelt und eine erfundene Sprache immerhin einem in der Flasche erzeugten Homunculus gleicht. Jedenfalls wird der praktische Nutzen den Ausschlag geben und es wird darauf ankommen, ob die Regierungen selbst in irgend einer Weise dieser Weltsprache, z. B. für den diplomatischen Verkehr, die officielle Weihe geben und ob die großen Mittelpunkte des Welthandels eine der neuen Allsprache günstige Losung ausgeben.

Die letzten Garben. (Mit Illustration S. 609.) Steigen wir hinauf in ein tirolisches Hochthal, allenfalls ins Alpachthal bei Brixlegg, wo die Sitte heimisch ist, welche unser Bild so lebenswahr darstellt.

Es ist Erntezeit. Monate banger Sorgen sind für den Bauer vorüber, und heute sollen die letzten Garben unter das schützende Dach der Scheune gebracht werden. Kein Wunder also, wenn Freude und Jubel ins einsame Berghaus eingekehrt sind.

Noch ist indessen nicht alle Mühe zu Ende. Auf den holprigen, unwegsamen Gebirgspfaden und den jäh abfallenden Halden eines solchen Hochthales kommt kein Erntewagen, ja nicht einmal ein Karren fort. Deßhalb kann das Getreide hier nur durch Dienstboten oder Tagelöhner vom Felde hereingeschafft werden, und dies ist in der That keine leichte Arbeit. Da sieht man den stämmigen Knecht und die kräftige Dirne, wie sie mit der schweren Last der Garben auf dem Kopfe, die sie draußen zu einem ausgiebigen „Schab“ (Bündel) zusammengeschnürt, im kurzen Trott über Stock und Stein dem Bauernhofe zueilen. – Sie mögen wohl froh sein, daß es die letzten Garben sind, welche sie eben eintragen, von den Berglern die „Braut“ genannt. Dorfkinder ziehen deßhalb mit Schellengeläut und muthwillig lärmendem Jubel den längst erwarteten Trägern voran, während Neugierige aus Thüren und Fenstern dem Spektakel zusehen.

So naht sich der kleine Zug dem heimischen Hause. Da tönt zum freudigen Gruß die Dorfglocke mit hellem Läuten ins Thal hinaus, als wollte auch sie der „Braut“ ein fröhliches Willkommen entgegenrufen.

Dieser uralte Brauch heißt „das Brauteinläuten“. Darauf folgt für die Dienstboten ein kleines Mahl, bei welchem gewöhnlich Honigkrapfen aufgetischt werden, und will der Bauer ein Uebriges thun, spendet er vielleicht dazu noch einige Flaschen Tirolerwein. Die Leute haben den Trunk gewiß redlich verdient!

Ausgrabung Verschütteter. (Mit Illustration S. 601.) Noch unvergessen ist das furchtbare Erdbeben auf der Insel Ischia, die mit ihrer hochragenden Warte, dem Epomeo, am Golf von Neapel Wache hält. Eine Episode aus jenen Schreckenstagen, die in Casamicciola spielt, stellt unser Bild dar. Die Trümmer der zusammengestürzten Häuser werden bei Seite geräumt, um die Verschütteten ans Licht zu fördern. Tiefe Trauer, zugleich mit banger Spannung, ob vielleicht doch noch eines der unter dem Schutt vergrabenen Lieben zu retten sein werde, malt sich auf allen Gesichtern. Der Maler hat jedenfalls eine Scene dargestellt, die sich in neuester Zeit oft genug wiederholt hat; denn von der Insel Ischia schweift unser Auge unwillkürlich nach Nizza und der Riviera. Die Schrecken der so plötzlich in unser Leben eingreifenden unterirdischen Gewalt mahnen uns daran, daß unsere Civilisation ohnmächtig ist gegenüber dem Wirken unberechenbarer, zerstörender Naturkräfte.

Scherz-Räthsel.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

B. Z. in St. Petersburg. Wir konstatiren gern, daß die deutschen Petersburger Gärtner ihrem Namen volle Ehre machen. Auf der Internationalen Gartenbau-Ausstellung in Dresden erhielten: W. Freundlich eine große silberne Medaille für die von ihm gezogenen blühenden Rosen und Th. Gerstner gleichfalls eine große silberne Medaille für „Reise- oder Dauerbouquets“. Sonst war Rußland auf der Ausstellung nicht vertreten.

W. in B. Vergleichen Sie gefl. den Artikel „Wie erzeugt die Sonne ihre Wärme?“ im Jahrgang 1882 der „Gartenlaube“ Nr. 51.

A. E. in Dresden. Arbeit ehrt den Menschen, das sollte man nie vergessen.

X y z. in B. Besten Dank, aber leider nicht geeignet.

Ein Abonnent in Feldkirch. Sie müssen zuerst genau lesen, bevor Sie dem Verfasser „Schnitzer“ vorwerfen.


Inhalt: Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer (Fortsetzung). S. 597. – Im Kampf mit den Wildbächen. Von Heinrich Noé. S. 602. – C. A. Steinheil und der erste Schreibtelegraph. Von Hugo Marggraff. S. 605. Mit Portrait und Abbildungen S. 605 und 606. – Hängende Fäden. Erzählung von A. Godin (Fortsetzung). S. 606. – Blätter und Blüthen: Theodor Storm. Von Victor Blüthgen. S. 610. Mit Portrait S. 597. – Josephine Wessely †. Mit Illustration. S. 611. – Das Silberjubiläum des Deutschen Sängerbundes. Von Heinrich Pfeil. S. 611. – Die neue Weltsprache. S. 612. – Die letzten Garben. S. 612. Mit Illustration S. 609. – Ausgrabung Verschütteter. S. 612. Mit Illustration S. 601. – Scherz-Räthsel. S. 612. – Kleiner Briefkasten. S. 612.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.