Die Gartenlaube (1892)/Heft 17

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[517]

Halbheft 17.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Ketten.
Roman von Anton v. Perfall.
(2. Fortsetzung.)


Hans faßte neue Hoffnung, der widerliche Mann neben ihm gehörte nicht zu des Vaters Freunden und fühlte sich nicht wohl in der „Fackel“, das war ein gutes Zeichen. Er war noch zu unerfahren, um in die wirren Reden seines Führers den rechten Sinn zu bringen, aber er begriff in dieser Umgebung instinktiv, welchem Lose er durch Herrn Berry entrissen worden war – nein, durch Claire, nur durch sie. Und inmitten der häßlichen Eindrücke ringsum füllte sich seine Seele wieder ganz mit ihrem Bilde.

Da stand er vor der „Fackel“. Lärmende Stimmen drangen heraus. Vorsichtig blickte er durch die Spalten der rothen Vorhänge. An einem runden Tische saßen Männer in Arbeitskleidern hinter Schnaps und Bier, an einem anderen einige Weiber, Mörtelträgerinnen mit weißen Kopftüchern, Kanalarbeiterinnen in Männerjoppen und plumpen Stiefeln, mit gemeinen harten Gesichtern dem erregten Gespräch der Männer lauschend. Den Vater konnte er nicht sehen. So scheute er sich doppelt, einzutreten, lieber wollte er warten; gewiß war der Vater noch nicht von der Arbeit gekommen. Leute mit wenig Vertrauen erweckenden Gesichtern gingen an ihm vorbei und blickten erstaunt auf den jungen Mann, der für diesen Ort auffallend gut gekleidet war. Vom „Jörgl“ herüber tönte noch immer das verstimmte Klavier und grelles Lachen. Da näherte sich von der Höhe her eine einzelne Gestalt, ein Helm blitzte im Laternenschein – ein Schutzmann!

Plötzliche Furcht beschlich den Wartenden – wenn man ihn fragte, was er hier wolle! Aengstlich wie ein Dieb huschte er in das Lokal und setzte sich, ohne sich umzusehen, in die nächste Ecke; niemand von den Gästen achtete auf ihn.

Eine ältere Frau, wohl die Wirthin, fragte mit forschendem Blicke auf die hier ungewohnte Erscheinung nach seinem Begehr.

Der „Schwarze Jakob“ wollte ihm nicht über die Lippen. In dieser Umgebung kam ihm der Name noch unheilverkündender, düsterer vor. Schüchtern bestellte er ein Glas Bier und sah sich dann vorsichtig in der Stube um.

Die Männer am runden Tische gehörten ihrem Aeußeren nach verschiedenen Berufsarten an. Zwei in arg mitgenommener, aber sonntäglicher Kleidung führten das Wort. Das Gespräch drehte sich um die Arbeitsverhältnisse – die beiden hatten „die Plackerei nun einmal satt“ und wollten es eine Woche so probieren. Wenn alle ebenso denken und handeln würden, meinten sie, dann wäre die Sache bald anders. Die Arbeiter der ganzen Welt einmal eine Woche feiernd – und es sollte allen ein Licht aufgehen, was der Arbeiter eigentlich sei – allmächtig, wenn er wolle! „Aber am Zusammenhalten fehlt’s, das verstehen die anderen, von denen muß man lernen! Zum Henker mit dem bloßen Geschrei der Maulhelden in den Versammlungen! Einfach Millionen Hände in die Hosentaschen und einmal ruhig zugeschaut, wie’s dann weitergeht, wenn auch mit bellendem Magen!“

Das Senefelder-Denkmal für Berlin.
Entworfen und in Marmor ausgeführt von R. Pohle.

[518] Beifällig nickte man dem Sprecher zu, obwohl den abgespannten Gesichtern und den milden, lässig hingestreckten Korpern keine besonders begeisterte Theilnahme anzumerken war. Die Gluthhitze des eisernen Ofens dicht neben dem Tische löste alle Begeisterung in eine laue Schläfrigkeit auf; allmählich schienen auch die beiden Wortführer davon ergriffen und wurden stiller.

Die Wirthin setzte sich zu Hans und lauerte sichtlich auf ein Gespräch mit ihm. In diesem Augenblick ging die Thür, ein Schutzmann trat ein, wohl derselbe, der vorhin draußen sichtbar gewesen war; die Gespräche verstummten, die Arbeiter stießen sich heimlich mit den Ellbogen.

Der Polizist ging musternd durch das Zimmer und ließ sich an der Schenke ein Gläschen Schnaps eingießen; dabei schaute er unverwandt zu Hans hinüber, der sich unter diesem forschenden Blicke wie ein Verbrecher vorkam.

„Ist Ihnen ’was?“ fragte die Wirthin, der es auffiel, daß er plötzlich ganz blaß wurde.

Er überhörte die Frage. Indessen hatte der Schutzmann ausgetrunken und kam gerade auf ihn zu. Hans fühlte seine Knie zittern, er ärgerte sich darüber und zwang sich zu einer trotzigen Miene.

Der Mann stellte einige oberflächliche Fragen an die Wirthin, offenbar nur zum Scheine, sein Auge ruhte unverwandt scharf auf Hans. Wenn es dem Argwöhnischen einfiel, ihn nach Namen und Stand zu fragen! Dann wurde wohl die ganze Sache sofort Herrn Berry berichtet, und er selbst war verloren!

Wo er den Muth hernahm, wußte er nicht – aber plötzlich fragte er den Polizisten: „Regnet’s noch?“

Die unbefangene Frage that scheinbar ihre Wirkung; die Schärfe des Blickes ließ nach.

„Sind Sie wasserscheu?“ antwortete der Mann mit einem ironischen Lächeln, legte nachlässig die Hand an den Helm und ging zur Thür. Im gleichen Moment wurde diese ungestüm aufgerissen, eine große Gestalt in triefenden Kleidern und schlammbedeckten Stiefeln, die bis zu den Schenkeln heraufreichten, polterte in die Stube und prallte unsanft gegen den Schutzmann.

„Sieh’ da, der ‚Schwarze Jakob‘ – Sie suche ich eben!“ rief dieser und versperrte dem Eintretenden den Weg.

„Mich?“ der Arbeiter schleuderte unbekümmert die Regentropfen von seinem Hute; schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn. „Was giebt’s denn schon wieder?“

„Sie sind seit gestern von der Arbeit bei der Flußregulierung entlassen.“

„Stimmt – ich habe dem Aufseher gegenüber über die Luderarbeit geschimpft. Aber ist das ein Verbrechen? Soll man sich bei solchem Verdienst noch schön bedanken?“

Der Polizist nahm sein Notizbuch heraus. „Haben Sie schon einen anderen Dienst?“

„Wissen Sie mir einen, weil Sie so besorgt sind?“

Beifälliges Gelächter vom runden Tische.

Jener verlor keinen Augenblick die Ruhe. „Innerhalb drei Tagen müssen Sie Arbeit haben, das weiß ich; das andere kümmert mich nicht.“

„Kümmert Sie nicht – das glaub’ ich, Ihr Brot geht freilich nie aus! Na, fragen Sie halt in drei Tagen wieder nach!“ Von den Gästen am runden Tische stürmisch begrüßt, ging er lachend an dem Schutzmann vorbei, der ruhig sein Notizbuch einsteckte und sich ohne weitere Bemerkung entfernte.

Hans war bleich geworden bis in die Lippen. Das Verfahren gegen seinen Vater – er hatte ihn auf den ersten Blick erkannt – empörte ihn. Haß und jäher Zorn regten sich in ihm gegen die Macht, die dieser Mann im Helme vertrat und die hier so gewaltsam in die persönliche Freiheit eingriff, ohne sich doch um die Noth zu kümmern. Sein Groll hob ihn hinaus über die Beklommenheit, die ihn anfänglich beim Anblick des Vaters befallen hatte. Eben wollte er ihn durch die Wirthin an seinen Tisch rufen lassen, da machte Jakob Davis eine Wendung und erblickte ihn. Hans hatte nun zum ersten Male Gelegenheit, das Gesicht seines Vaters deutlich zu sehen – es erschien jetzt lange nicht so abschreckend wie gestern, nur der gläserne, verschwommene Ausdruck der Augen hatte etwas Abstoßendes, Rohes und ließ auch die Aehnlichkeit mit den Zügen des Sohnes, die sonst nicht zu verkennen war, weniger hervortreten.

Nach einigem Zögern schlug sich Jakob Davis wie verwundert mit den großen Händen auf die Lederschäfte der Stiefel und trat lachend, kopfschüttelnd an Hans heran, auf den jetzt alle Gäste aufmerksam wurden. „Hat es Sie doch hergetrieben? Na, das freut mich für Sie!“ rief er laut. Er machte der Wirthin ein Zeichen, sie solle sich entfernen, und setzte sich neben Hans, der Gesellschaft den Rücken kehrend. „Sei ganz ruhig,“ flüsterte er, sich über den Tisch herüberbeugend, „ich bin nicht so dumm und verrathe Dich – man wird vorsichtig in meinem Alter. Ich wohne im Hause, wir sprechen nachher noch allein miteinander, die Leute gehen bald. Jetzt komm’ herüber und mache kein Aufsehen! – Ja, ja, das freut mich, junger Mann,“ begann er dann laut und klopfte Hans kameradschaftlich auf die Schulter, „das freut mich, daß Sie mich aufsuchen! Setzen Sie sich nur da her – lauter gute Freunde, Ehrenmänner, die gern ein bißchen zusammenrücken.“ Er stand auf; Hans folgte ihm willig. Die sichtlichen Bemühungen des Vaters, ihn nicht in Unannehmlichkeiten zu bringen, beruhigten ihn, und zugleich erwachte in ihm ein abenteuerliches Interesse an diesen Eindrücken, die ihm eine so ganz andersartige Welt eröffneten als die, in welcher er bisher gelebt hatte.

„Der Sohn eines alten Kameraden, Maschinist, ein Mordskerl!“ stellte Jakob Davis den Sohn vor.

Die Männer betrachteten mißtrauisch die saubere moderne Kleidung des neuen Tischgenossen.

„Maschinist – das ist noch ’was, da kann man’s noch zu ’was bringen in der Zeit der Maschinen,“ meinte der eine Blaumacher.

„Das kommt gleich ganz anders daher als unsereiner bei der ewigen Dreckarbeit!" rief ein mürrisch aussehender Geselle, den der kalkbespritzte Anzug als Maurer kennzeichnete.

„Ach was, der Rock macht nichts aus,“ wendete ärgerlich ein Stubenmaler im Farbenkittel ein. „Die Maschinisten werden nicht weniger ausgenützt. Wir gehören alle in eine Presse, die von den Herren Kapitalisten und Fabrikanten und Meistern, und wie sie alle heißen zusammengeschraubt wird, bis der letzte Tropfen Blut heraus ist. Hab’ auch nie gehört, daß gerade die zu den Zufriedenen gehören, im Gegentheil – vorn dran sind sie, mit dem Maule wenigstens, in jeder Versammlung, bei jeder Wahl."

„Weil sie am meisten Grütze im Hirne haben, sehr einfach," mischte sich jetzt der andere der beiden Blaumacher in die Unterhaltung.

„Nun, was sagen denn Sie dazu, junger Herr Maschinist? Sie kümmern sich wohl nicht um solche Sachen?“ fragte der Maurer den stumm dasitzenden Hans.

„Ich bin noch zu jung und zu unerfahren, um mitreden zu können, aber soviel weiß ich, daß sich vorhin alles in mir empört hat gegen dieses herrische Ausfragen, das dem Schutzmann beliebte! Wer giebt ihm ein Recht dazu?“

Jakob Davis wurde sichtlich verlegen und that einen tiefen Schluck.

„Na, da hat’s allerdings einen kleinen Haken; einen jeden darf er auch nicht so ausfragen,“ antwortete der Farbenkittel. Der alte Davis warf dem Sprecher einen wüthenden Blick zu, den dieser aber gleichmüthig erwiderte, indem er hinzusetzte: „Nun, nun – hier braucht es doch kein Geheimniß zu sein, warum die Polizei sich so freundschaftlich nach Ihnen erkundigt. – Ach so!“ Er sah auf Hans – „Daran habe ich nicht gedacht!“ Eine peinliche Pause trat ein, auch Hans schwieg. Der Vater hatte also durch jenes Vergehen, das er schon gestern angedeutet, das freie Recht der Selbstbestimmung eingebüßt – wie weit mochte er schon fortgerissen worden sein auf der verderblichen Bahn, welch dunkle Saat mochte aus dieser Vergangenheit für sie beide noch aufsprossen!

Mit einem Blicke, der in der Seele des Sohnes zu lesen schien, sah Jakob Davis auf den stumm Dasitzenden; er betheiligte sich nicht mehr an dem Gespräch, das allmählich wieder in Gang kam. Endlich brachen die Leute auf. Kaum hatten sie sich entfernt, so gab Davis dem Sohn einen Wink, und dieser folgte ihm über die Bodentreppe hinauf in eine fensterlose Kammer. Die langsam aufleuchtende Flamme der Unschlittkerze erhellte nothdürftig den ärmlichen Raum, dem offenbar jede ordnende Hand fehlte: eine Kiste, aus welcher alte Kleidungsstücke hervorquollen, eine zerrissene Strohmatratze auf dem schmutzigen Fußboden, ein wackeliger Tisch und darauf eine leere Flasche als Leuchter – das war die ganze Ausstattung.

Hans war nicht verwöhnt, allein gegen das, was er hier sah, stach doch seine ärmliche Stube bei Merks nicht weniger ab [519] als diese gegen Herrn Berrys Wohnräume. Was für Verhältnisse thaten sich da vor ihm auf! In dieser dumpfen ungesunden Luft, dieser verwahrlosten Umgebung – konnten da andere Gedanken reifen als die, welche von den Arbeitern vorhin ausgesprochen worden waren? Er wußte nicht, wen er anklagen sollte, aber eine Anklage erhob sich mächtig in seinem Innern, eine Empörung des Mitleids, welche die halberwachte und immer wieder zurückgedrängte Liebe zum Vater mit einem Male hell entzündete. Davis saß auf dem Strohsack – in den ungefügen schmutzbedeckten Stiefeln, dem feuchten, von der Hitze des Ofens drunten noch dampfenden Kittel, in der müden gebrochenen Haltung schien er selbst ein verbrauchtes Stück dieser ärmlichen Welt ringsum zu sein.

„Das ist Dir wohl ’was Neues, mein Junge?“ begann er endlich. „Mich geniert’s nicht mehr, seit Deine Mutter tot ist, treib’ ich’s so. Manchmal freilich erinnere ich mich dran, daß es auch mit mir einmal besser stand, und dann ist’s bös; es war ja damals auch ein Elend, aber doch ganz anders; sie hat’s verstanden, aus dem schlechtesten Fetzen noch etwas zu machen, die Marie. Das Bett war sauber und gut; der polierte Schrank, die paar Teller und Schüsseln blitzten so appetitlich; der Spiegel, der Boden – alles blank, und in der Ecke das sauber überzogene Sofa, auf dem wir des Abends so glücklich beisammensaßen, bis über mich . . .“

Mit einem Laut, der wie ein Stöhnen klang, brach er ab und stierte schmerzlich vor sich hin.

Hans traten die Thränen in die Augen; jenes blasse feuchte Gesicht tauchte wieder deutlich vor ihm auf. Totenstille herrschte, nur die Kerze knisterte leise.

„Pah, vorbei ist vorbei!“ Davis machte eine wegwerfende Bewegung mit dem Kopfe. „Reden wir von unserer Angelegenheit! Ich habe Dich ein bißl grob angelassen gestern, es hat mich gereut nachher; aber der Teufel höre das ruhig an, was Du dahergeschwatzt hast. Die Mutter hat einfach das Lumpenleben satt gehabt, und ich kann’s ihr heut’ noch nicht verdenken. Und damit laß die Sach’ ein für allemal, es ist besser für uns beide! Wenn ich so meine Zeit hab’, dann packt mich die Wuth und ich bin zu allem fähig. So ist auch die letzte Geschichte passiert, der dumme Streit mit dem Vorarbeiter – ich hab’ ihn mit einer eisernen Stange niedergeschlagen, und das End’ waren vier Jahre Zuchthaus. Jetzt steh’ ich unter Polizeiaufsicht; darauf hat der Anstreicher unten angespielt und deshalb ist mir der Schutzmann aufgesessen. Dann war ich ein ganzes Jahr wieder richtig im Zuge; ’s hat nichts gefehlt, bis es vor ein paar Tagen wieder über mich gekommen ist – ich hör’s, allemal ordentlich heranschleichen. Da hab’ ich Angst gekriegt und es ist mir der Gedanke aufgestiegen: suchst den Hans auf, ’s ist doch Dein Kind, vielleicht hilft’s! So hab’ ich Dir aufgepaßt, und wie Du mich so hart angelassen hast, ist’s nur noch ärger in mir aufgestiegen; ich hätt’ einen Mord begehen können an Dir, hätt’ ihn vielleicht begangen, wenn nicht passiert wär’, was passiert ist. Ich hab’ alles gehört und gesehen, ich hab’ es auch erkannt, das Mädel vom Berry. Jetzt ist die Hitz’ wieder verflogen und, offen gesagt, es wär’ mir lieber, Du hättest nicht nach mir gesehen. Weil Du aber schon einmal da bist, wollen wir unsere Sach’ gleich richtig stellen. ich brauch’ von Dir nichts und will Dir nicht im Weg’ stehen. Was ich da gestern gered’t hab’ von gegenseitigem Helfen, ist ein Unsinn; hör’ nicht drauf! Unsere Wege gehen weit auseinander. Nur, wenn’s grad’ sein könnt’, das G’fühl möcht’ ich haben können, daß es noch eine Seel’ auf der Welt giebt, die – die – der noch ein bißl was liegt an mir. ’s ist ja Dummheit, ’s kümmert sich in der Welt kein’s ums andere, aber doch meint man, ganz allein ist’s nicht zum aushalten.“ Seine Stimme klang gebrochen, als stecke ihm etwas in der Kehle; allein mit einem Rucke sprang er auf und rief mit erzwungener Gleichmüthigkeit: „Geh’, lassen wir’s, ’s ist ja nur Einbildung, G’schwätz!“ Mit großen Schritten ging er auf dem knarrenden Boden hin und her.

Hans fühlte einen mächtigen Drang in seinem Innern. Eine Flamme leuchtete auf in seiner Brust, die nur angefacht zu werden brauchte, um nie mehr zu erlöschen. Bewegt streckte er dem Vater die Hand hin; doch dieser zögerte, sie zu ergreifen.

„Es ist keine Einbildung, es giebt eine Seele, die sich von nun an um Dich kümmern wird.“

In Davis’ hartem Antlitz zuckte es auf. Er faßte die Hand und preßte sie wie im Krampfe.

„Ist’s wahr, Hans?“

Der junge Mann sank schluchzend an die Brust des Vaters. „Dein Hans, der Sohn Deiner Marie!“

Jakob Davis stand mit gespreizten Beinen, seine Brust ging stürmisch, als hätte er eine Riesenlast zu stemmen, seine rauhen Finger preßten sich wie Klammern um das Haupt des Sohnes. Ein Ausdruck fast des Staunens über ein unbegreifliches Glück verklärte seine trotzigen Züge. Hinter einem harten Lachen suchte er seine seelische Erschütterung zu verbergen. „Der Pflegesohn des Herrn Berry, der Schatz des schönen Fräuleins – o Du Hauptkerl! Und dazu der ‚Schwarze Jakob‘, der Zuchthäusler, der Kanalarbeiter – eine nette Zusammenstellung das! Und doch ist’s so und doch willst mich nicht verleugnen! ‚Dein Hans, der Sohn Deiner Marie‘ – ja, ja, das bist Du! Aber hab’ ein bißl Nachsicht mit mir – wenn man so eine Freud’ gar nimmer g’wohnt ist, da geht einem alles rundum –“ Er drückte die geballte Faust auf die Brust. „So, jetzt geht’s schon wieder, jetzt setz’ Dich, Hans, und dann reden wir vernünftig! Wie denkst Du Dir denn die Sach’ in Zukunft?“

„Ich bin von morgen ab Angestellter der Fabrik Berry, Monteurgehilfe mit einem Gehalt von achtzehn Mark die Woche. Es ist nicht viel, aber immerhin mehr, als ich brauche. Meine Ersparnisse stehen Dir zur Verfügung und können wenigstens dazu dienen, Dir eine anständige Wohnung zu verschaffen, mehr freilich wird vor der Hand nicht herausspringen. Doch habe ich nicht im Sinne, Gehilfe zu bleiben, und dann kommt es ja besser. Ich habe nur eine Bitte: sorge dafür, daß Herr Berry unseren Verkehr nicht erfährt – er hat ihn mir ausdrücklich verboten. Der Kommerzienrath hat nun einmal eine schlechte Meinung von Dir. Mit der Zeit wird sich schon Gelegenheit finden, ihm eine bessere beizubringen und das Verbot zu beseitigen. Er ist berechtigt, Gehorsam von mir zu verlangen.“

„Wie kannst Du nur solange darüber reden, Junge!“ entgegnete Davis. „Als ob ich das nicht am besten selbst wüßte, daß die Leute nichts von mir erfahren dürfen, der Herr Berry und vor allem Deine Claire.“ Er lachte verschmitzt. „Bist doch ein verfluchter Kerl mit achtzehn Jahren – allen Respekt! Aber nimm’ Dich in acht, sie wird Dir noch vielen Kummer machen, Deine Claire, ich sage es Dir im voraus. Na, ich will jedenfalls das Meinige thun, um das zu verhüten. Wir wollen uns höchstens hie und da am Sonntag auf ein paar Stündchen treffen – unter der Woche kennen wir uns nicht, selbst wenn uns ein Zufall zusammenführen sollte. Da kann niemand etwas merken, und verderben kann ich Dich auch nicht in den paar Stunden, wohl aber kann ich Dir da und dort rathen – besonders wenn einmal die Claire wiederkommt. Ich kenne das – ob reich oder arm, vornehm oder gering, ist ganz gleich, wenn’s einen hübschen jungen Kerl gilt – also warum nicht? Oft schon dagewesen, so was; ich thät’s Dir gönnen, das Mädel!“

„Was war schon oft da? Was meinst Du mit dem ‚gönnen‘? Ich verstehe Dich nicht!“

„Was ich mit dem ‚gönnen‘ mein’?“ Davis lachte laut. „Nun, daß sie einmal Deine Frau wird! Was werd’ ich sonst meinen? Ich glaube wirklich, Du bildest Dir ein, es sei Dir nur um Freundschaft mit dem Mädel zu thun!“

Das Antlitz des Jünglings färbte sich dunkelroth. Der Vater sprach nur unverblümt aus, was der Traum seiner Nächte war, aber das Wort „Frau“, das er nie klar zu denken wagte, erschreckte ihn geradezu, die Ungeheuerlichkeit des Gedankens drückte auf ihn; er erklärte eine solche Vermessenheit für lächerlich, ja geradezu für schlecht, für ein Verbrechen an seinem Wohlthäter, Herrn Berry; kurz er gab sich sichtlich alle Mühe, diese Hoffnung in ihrem Entstehen zu vernichten.

Sein Vater hörte ihm ruhig zu und lächelte überlegen zu den Gegengründen des Sohnes. „Und doch ist es so,“ sagte er ruhig. „So jung Du bist – Du wirst keinen anderen Gedanken, keinen anderen Wunsch mehr haben, als sie Dir ganz zu erringen allen Hindernissen zum Trotz. Und wenn’s Dir gelingt, so ist das eine recht ausgesuchte Rache dafür, daß sie Dich einmal verschenkt haben wie ein Spielzeug. Der Stiel wird umgedreht, Du nimmst Dir die Kette ab und legst sie Deiner Herrin an! Und warum soll’s nicht gehen, wenn Du’s vernünftig anpackst? Bist

[520]

Frauenleben in alten Rom.
Nach einem Gemälde von P. Piatti.

[521] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [522] ein strammer Kerl, gern hat sie Dich auch, und das bricht immer wieder durch, wenn Du nicht locker läßt; darauf versteh’ ich mich. Jetzt siehst Du mir’s freilich nimmer an, aber als ich noch jung war und um die Marie warb – sie war guter Leute Kind und die Schönste im ganzen Dorfe und mancher Reichere wollte sie haben – da hab’ ich’s auch durchgesetzt. Mich nahm sie, den armen Teufel! Hab’ ihr’s freilich schlecht gelohnt – doch das gehört nicht hierher! Also ich sage Dir, die Geschichte ist immer die gleiche, es giebt kein Halten, wenn ein Mädel einmal richtig in einen vernarrt ist; und bei der schon gar nicht, die sieht gerade so aus. Und verlaß’ Dich nur auf mich, ich helf’ Dir, und die Sonntage sollen Dir nicht schaden. Von mir wird kein Mensch was hören und sehen. Einverstanden, Hans?“

Der junge Mann schlug mit Wärme ein, sein ganzes Innere war in Aufruhr. Das Unerklärliche, das er gestern gefühlt beim Abschied der Freundin, jetzt erst hatte er es begriffen. Der Schleier hob sich von seiner Seele, und er war glücklich, nicht allein zu sein mit seinem süßen Geheimniß. Des Vaters Herzlichkeit hatte in ihm das Gedächtniß an dessen Vergangenheit zurückgedrängt – wer anders sollte sein Vertrauter sein als er? Und war dieses neue Band, das sie beide verknüpfte, nicht kräftiger als das alte, längst verwitterte?

Mit glühenden Wangen verabschiedete er sich, da seine längere Abwesenheit Verdacht erregen konnte. Die Kleegasse kam ihm jetzt lang nicht mehr so häßlich vor, und das Klavierspiel, das aus dem „Jörgl“ herausdrang, erschien ihm wie eine heitere Begleitung zu seinen goldenen Zukunfsträumen. Den Schutzmann an der Ecke würdigte er keines Blickes mehr. Daheim schlich er vorsichtig die Treppe hinauf. Im Flackerschein des gegenüberliegenden Hochofens küßte er zum ersten Male das kleine Bild, das über seinem Bette hing – „Claire!“ flüsterte er leise.


5.

Alle Bemühungen des Kommerzienraths Berry, seinem Sohne Otto die militärische Laufbahn auszureden, waren vergeblich. Zu lange hatte er die sich frühzeitig kundgebenden Neigungen desselben gewähren lassen, hatte sie für kindische Spielerei gehalten, die mit den Jahren von selbst einer vernünftigen Ueberlegung weichen würde. Nun sah er zu spät ein, daß er den rechten Zeitpunkt versäumt habe, um erfolgreich auf den Sohn einzuwirken und ihn für den eigenen Beruf zu gewinnen. Entscheidenden Zwang wollte er nicht anwenden, damit wäre auch nach keiner Seite hin gedient gewesen. Zur richtigen Leitung eines so riesigen Unternehmens, wie das seinige war, bedurfte es vor allem der ganzen Kraft, des ganzen Interesses von seiten des Besitzers, und nichts war von Otto weniger zu erwarten als eben dies.

Die Kommerzienräthin, welche die Wahl des Sohnes durchaus nicht ungern sah, suchte den Gatten zu trösten, indem sie auf das aristokratische Blut hinwies, das in dem Jungen sich rege und gegen das sich nun einmal nicht ankämpfen lasse. Allein ihre Gründe wollten nicht recht verfangen. Berry hing mit Leib und Seele an seinem Werke, das er gegründet und auf solche Höhe gebracht hatte; er wußte auch sehr gut, daß er den Glanz seines Namens nicht der adligen Abstammung, sondern einzig und allein seinen industriellen Unternehmungen zu danken habe.

Das Geschäft blühte gerade jetzt wie noch nie zuvor. Bei der kürzlich vollzogenen Verstaatlichung der Eisenbahnen hatte Berry durch einflußreiche Beziehungen sich großartige Lieferungen zu beschaffen gewußt und war so in der angenehmen Lage, den Betrieb seiner Werke verdoppeln zu müssen. Und nun, wo er auf dem Höhepunkt seiner industriellen Laufbahn stand, schlug sein einziger Sohn das Erbe dieser Lebensarbeit aus für ein armseliges Lieutenantspatent! Das erschien ihm ungeheuerlich. Alle die Zukunftsträune, welche dem sonst kalt berechnenden und nüchternen Geschäftsmann die ehrgeizige Phantasie vorgaukelte, alle die Hoffnungen auf ein jede Konkurrenz überflügelndes Wachsthum seines Hauses über sein Grab hinaus – all das zerstob in nichts. Diese flammenden Hochöfen, diese ewig lebendigen Maschinen und Walzwerke, diese ganze lodernde, rastlos schaffende Welt, die sein Stolz war, sie sollte einst in einen toten Goldhaufen sich verwandeln, wie ihn jeder gewissenlose Börsenspekulant aufstapeln konnte, um ihn dann vielleicht von heute auf morgen an der Spielbank, im Freudentaumel der Großstadt sinnlos zu vergeuden!

Es kam zu heftigen Auftritten, dann wieder ließ sich Berry zu Bitten herbei – umsonst! Otto war schon frühzeitig ergriffen von der krankhaften Sucht nach äußerlichem Glanze und möglichst mühelosem Lebensgenuß; seinen scharfen Augen entging nicht dle bevorzugte Stellung, welche der Offizier in der „Gesellschaft“ einnahm. Für den Werth der Arbeit hatte er kein Verständniß; wo sie ihm vollends wie in der Fabrik als Handarbeit entgegentrat , hatte er nur Geringschätzung dafür. Und der Kommerzienrath konnte sich nicht verhehlen, daß er selbst an dieser Gesinnung mitschuldig sei. Hatte er nicht die verkehrten Anschauungen seines Sohnes mit heranbilden helfen? Sein Unmuth gegen die stets murrenden Arbeiter, seine Klagen über ihre feindselige und ewig kampfbereite Stellung, welche die Großindustrie in ihren besten Plänen lahmlege und durch die sicherste Rechnung einen Strich mache – waren sie nicht gerade bei einem Knaben wie Otto ganz dazu angethan, eine gründliche Abneigung gegen jede Berührnug mit diesen Leuten zu wecken; durfte er sich wundern, wenn sein Sohn wieder und wieder erklärte, er wolle sich nicht sein ganzes Leben lang „mit dieaem Pack herumschlagen"?

Zu spät sah Herr Berry seinen Fehler ein. Aber gewohnt, mit unerbittlicher Scharfe aus jeder Sachlage die Folgerungen zu ziehen, ließ er sich durch diese Erkenntniß weiterführen. Er begann, seine eigenen Ansichten, die ihm in gesteigerter Einseitigkeit aus dem Munde des Sohnes entgegen traten, mit kritischem Blicke zu untersuchen, und gab sich Mühe, die Arbeiterverhältnisse so unbefangen zu prüfen, als dies seine bisherige entgegengesetzte Anschauungsweise überhaupt zuließ. Dabei ertappte er sich auf mancher Ungerechtigkeit. Zugleich regte sich in ihm ein Widerwille gegen die Vorurtheile, die seinen Sohn ihm entrissen und sich nun gegen ihn selbst kehrten. So gewöhnte er sich daran, gewisse Fragen von einer ganz anderen Seite zu betrachten und zu behandeln. Der ttebergallg vollzog sich naturgemäß langsam und zuerst fast unmerklich. Berry war in allem, was die Leitung seiner Unternehmungen anging, viel zu sehr gewohnt, kühl zu berechnen und immer zuerst nach dem eigenen Interesse zu fragen, als daß er sich jetzt unter dem Eindruck, den Arbeitern gegenüber manches versehen zu haben, zu einem auffälligen entgegengesetzten Verhalten hätte hinreißen lassen. Allein was anfangs ihm selbst kaum bewußt war und sich höchstens in größerer Theilnahme an der inneren Verwaltung und Einzelüberwachung der Werke mit ihren Beamten kundgab, das griff doch allmählich weiter und war nahe daran, zum bewußten Systemwechsel zu werden.

Nun konnte auch die Veränderung nicht mehr lange verborgen bleiben. Bald herrschte in den Werken allgemeines Kopfschütteln, man kannte Herrn Berry gar nicht mehr. Nicht daß er seine Leute jetzt mit Wohlthaten überhäuft oder in völlig anderer persönlicher Weise behandelt hätte, aber seine frühere kalte Zurückhaltung milderte sich zu ruhigem Ernste, seine Strenge ließ jetzt Ausnahmen zu und ward nicht selten durch etwas wie Wohlwollen unterbrochen. Ueberall, in den Werkstätten, in den Arbeiterwohnungen, war er nun zu sehen; Uebelstände, die bei dieser Aufsicht seinem scharfen Auge nicht entgehen konnten, wurden plötzlich aufgehoben. Die Direktoren und Ingenieure erhielten Öffentliche Rügen, und was bei Berry bisher unbekannt war, man wurde sogar für tüchtige Leistungen gelobt. Kurz, der Kommerzienrath, der bis jetzt in diesen Räumen als die unsichtbare böse Macht gegolten hatte, die den Arbeitern, wie sie sich erbittert ausdrückten, „das Mark aus den Knochen saugte“, trat mit einem Male menschlich mitten unter diese Leute, sie verblüffend durch seine ungewohnte Theilnahme an ihrem Wohl und Wehe.

Besonders erfreute sich Hans der Aufmerksamkeit seines Chefs. Es verging fast kein Tag, ohne daß ihn dieser bei der Arbeit aufgesucht oder sich bei seinem Meister nach seiner Aufführung erkundigt hätte. Dieses liebevolle Interesse bewegte Hans mächtig und spornte ihn zum Aeußersten an. Es war, als ob er alle Hindernisse spielend überwinden könnte; jedem mußten seine Fortschritte auffallen. Den Mangel an theoretischem Können suchte er in seinen abendlichen Freistunden durch Privatstudien zu ersetzen, der Tag gehörte den Maschinen. Mit scharfen Augen verfolgte er ihr mühevolles stückweises Entstehen, ihre erste Lebensregung, ihren geheimstenl Pulsschlag, all ihre tollen Launen, ihre Krankheiten, deren Heilung, ihren letzten Athemzug. Er beobachtete, daß trotz ihrer mechanischen, nach unumstößlicher Berechnung sich vollziehenden Bewegung jeder einzelnen eine besondere [523] Individualität innewohne, eine Art Seele, die erst ihren Werth bestimmte. Und diese Seele, die nirgends zu sehen, aber überall zu fühlen war, ließ sich nicht wissenschaftlich nachweisen und berechnen, die mußte instinktiv gefunden und hineingearbeitet werden, und in diesem schöpferischen Ahnungsvermögen erblickte er den Höhepunkt seines Berufes, der weit über dem Handwerk lag. –

Die sonntäglichen Besuche bei dem Vater fanden regelmaßig statt, doch die Atmosphäre der „Fackel“ – Davis mochte sich trotz alles Zuredens nicht davon trennen – konnte seiner im Stahlbad ernster strebsamer Arbeit gestärkten Seele nichts anhaben. Aber Schmerz und eine unbestimmte Angst empfand er bei der Beobachtung des unsteten haltlosen Wesens seines Vaters. Er traf ihn in den verschiedensten Stimmungen; voll zufriedenen Muthes und wieder voll Trotz und Haß; oft väterlich zärtlich, Liebe und Dankbarkeit verrathend, oft voll höhnischen Spotts, neidisch auf die Stellung, die hoffnungsvolle Zukunft des eigenen Sohnes; oft weich wie ein Kind, zugänglich den Ermahnungen und Bitten des Sohnes, auszuharren, bis er in der Lage sei, mehr für ihn zu thun, für seine alten Tage zu sorgen; oft wüthend in sinnlosen Drohungen gegen Gott und Welt oder in rohen Worten jede Bevormundung durch so einen „grünenn Jungen“ zurückweisend.

Hans lebte dabei in der ständigen Furcht, sein Verkehr in der „Fackel“ könnte entdeckt werden, und er selbst mußte sich gestehen, daß der Ort ganz dazu angethan sei, um Herrn Berrys höchste Entrüstung zu rechtfertigen. Ein halbes Jahr ging so vorüber, da traf er eines Sonntags denselben Gesellen, der ihm einst den Weg zur „Fackel“ gewiesen hatte, bei seinem Vater. Beide waren offenbar nicht mehr sehr nüchtern, einige geleerte Weinflaschen standen vor ihnen. Davis stellte den Genossen als seinen Kollegen und guten Freund Holzmann vor, und aus dem gegenseitigen Anblinzeln und Zulachen glaubte Hans zu erkennen, daß dem Fremden sein Verhältniß zu Davis kein Geheimniß mehr war. Mit Widerwillen blieb er; und in der That – bei einer weiteren Flasche, welche die beiden Männer unter lärmendem Gespräch tranken, machte Holzmann plumpe Anspielungen auf das Schicksal von Hans und sprach dabei von dem Blutsauger Berry, dem einmal ordentlich zu Ader gelassen werden sollte. Dann wurde sein Ton immer vertraulicher, bis er endlich unvermittelt herausplatzte, Hans werde sich doch nicht einbilden, irgendwie diesem Berry verpflichtet zu sein, der ihn wie einen Sklaven gekauft und für seine hartherzigen Zwecke aufgezogen habe, nachdem sein Vater durch diesen Menschen ins Elend, die Mutter ins Wasser gejagt worden sei; im Gegentheil habe er allen Grund, sich zu rächen für solche Gemeinheit. Daran knüpften sich sonderbare Fragen über die Räumlichkeiten im Berryschen Hause, Ausdrücke der Verwunderung, daß es noch niemand probiert habe, an den goldenen Raub zu kommen, den der alte Fuchs jedenfalls aufgestapelt habe, das ware ja geradezu ein verdienstliches Werk.

Diese Dinge wurden allerdings in scherzendem Tone gesprochen aber die Blicke des Mannes ruhten lauernd auf Hans und schweiften dann wieder zu Davis hinüber, der durch seine Miene zur Vorsicht zu mahnen schien, so daß den scharf beobachtenden jungen Mann ein Schauer überlief bei der furchtbaren Ahnung dessen, auf was Holzmann abziele. Trotzdem unterbrach er den Redestrom des halb Betrunkenen nicht. Die Besorgniß machte ihn verschmitzt. Mochte dieser Mensch sein Innerstes nur aufdecken und den verbrecherischen Anschlag, mit dem er sich offenbar trug, bloßlegen. Nicht nur, daß der Vater auf diese Weise vor dem gefährlichen Umgang gewarnt wurde – es ließ sich so zugleich die Möglichkeit gewinnen, ein Verbrechen zu vereiteln.

Und Holzmann kroch immer mehr aus seinem Versteck, seine kleinen Augen blitzten vor Vergnügen und er vergaß sogar seine Flasche. Stück um Stück enthüllte er einen vollständigen Plan zur Beraubung des Berryschen Hauses. Der Vater hörte ruhig zu und stierte auf den Boden, nur in seinem Gesicht spiegelte sich eine lebhafte Theilnahme, eine das Gesprochene verfolgende lebhafte Phantasie. Als Holzmann seine Auseinandersetzungen mit den leisen Worten schloß: „Sie sehen, es handelt sich nur noch um einen Eingeweihten aus der Fabrik, und der könnte sich ja finden,“ erhob Davis unmerklich den gesenkten Blick und schielte gespannt hinüber zu dem bleichen Gesicht seines Sohnes, aus dem ihn zwei klare Augen fragend anschauten.

Eine peinliche Pause trat ein, dann lachte Davis hell auf und gab Holzmann einen Tritt mit dem Fuße. „Ich glaube gar, der Junge nimmt die Geschichte ernst und hält uns für die leibhaftigen Banditen, die alles zu thun imstande wären.“ Er lachte, daß ihm die Adern am Halse dick anschwollen, dann sprang er plötzlich empor und schlug heftig auf den Tisch. „Das aber ist eine Gemeinheit, weißt Du das! Eine Gemeinheit – ich verbitte mir das! Will das auch schon auf unsereinen herabsehen wie auf Lumpenvolk? Oder gar spionieren, kundschaften – wär’s das? Junge, nimm’ Dich in acht, wenn ich Dich wieder zwischen meinen Fäusten habe, geht’s nicht wieder so gut aus!“ Sein Gesicht hatte wieder denselben thierischen Ausdruck wie an jenem Abend im Fabrikhof, allein Hans fürchtete sich jetzt nicht mehr; fest sah er den Zornigen an.

„Du hast keinen Grund, so zu poltern,“ sagte er ruhig, „Du hast ja vorhin kein Wort gesprochen, also konnte ich von Dir nichts für Spaß oder für Ernst nehmen; nur dieser Mann hier spricht über Dinge, über die man auch im Scherze nicht sprechen soll –“

„Aha!“ rief jetzt Holzmann höhnisch, „hörst Du ihn, Deinen gestrengen Herrn Sohn? Schau nur, wie er predigen kann!“

Davis ging, die Hand in der Tasche, wie ein wildes Thier im Zimmer umher; nun blieb er mit einem Rucke vor Holzmann stehen und strich sich die zerwühlten schwarzen Haare mit einer zornigen Bewegung aus der Stirn. „Und recht hat er doch, der Herr Sohn; Du hast wirklich ein zu dummes Gewäsch, das einen ins Zuchthaus bringen könnte. Ich will’s auch nimmer hören, es stürzt mir ins Hirn wie der Wein da und macht mich ganz toll . . . Und sag’, Holzmann, hab’ ich je von so ’was gesprochen, daß ich wollte – oder könnte – oder – sprich, habe ich je – sprich, sag’ ich . . .“

Drohend, mit geballten Fäusten und herausquellenden Augen stand er vor dem Freunde. Der Blick des schmächtigen, durch den Trunk entkräfteten Menschen kroch scheu zu Boden, sein Körper drückte sich furchtsam beiseite, plötzlich sprang er geradeaus gegen die Thür.

„Du bist ein tolles Thier – mach’, was Du willst!“ rief er und war im Nu verschwunden.

Davis rannte mit einer blinden Wuth, welche den Vergleich Holzmanns rechtfertigte, gegen die ins Schloß fallende Thür. Als er sah, daß der Verfolgte außer dem Bereich seiner Fäuste war, schien er sich zu besinnen und kam langsam zu Hans zurück.

„Warum verkehrst Du mit einem solchen Menschen?“ fragte ihn dieser furchtlos.

„Dumme Frage! Wir arbeiten zusammen wie zwei Maulwürfe, ein Kollege von mir! Mit einem ‚solchen Menschen‘, sagst Du? Ja, was soll’s denn für ein Mensch sein? Er hatte freilich nicht das Glück, von einem Geldprotzen von der Straße aufgelesen zu werden wie Du, und hat natürlich ganz andere Ansichten wie Du. Er meint’s auch nicht so schlimm, und ich ärgere mich jetzt nur, daß ich so grob war gegen ihn. Aber daran bist nur Du schuld mit Deinem dummen Moralpredigen . . . Ja, wer bin ich denn eigentlich, daß ich mir das gefallen lassen muß?“

In neu aufsteigendem Zorne stampfte er mit dem Fuße. Hans ließ ihm Zeit, sich zu beruhigen, und faßte unterdessen seinen Entschluß

Endlich setzte sich Davis, wie ermattet von dem Wuthanfall, und brachte seinen Pfeifenstummel wieder in Brand. Es war ganz still, nur um den verschütteten Wein summten die Fliegen.

„Ich bin überzeugt,“ begann Hans, „daß dieser Mann nicht im Scherze sprach, daß er mich ausforschen wollte, daß er in mir diesen ‚Eingeweihten aus der Fabrik‘ zu finden hoffte.“

Davis blies eine Rauchwolke gegen die Wand und bewegte sich unruhig auf seinem Stuhle. „So laß ihm doch sein Vergnügen, was kann er schaden, wenn er doch in Dir den Mann nicht findet, den er braucht?“ antwortete er dann leichthin.

„Aber Dir kann er schaden, Vater, wenn Du unter seinem verderblichen Einfluß bleibst,“ entgegnete Hans eifrig.

„Du sprichst ja wie ein Pfarrer! Teufel, was hab’ ich für ein Söhnchen!“ Davis lachte spöttisch auf.

„Ich muß Dir erklären, daß ich nicht mehr zu Dir kommen kann, wenn Du den Verkehr mit diesem Menschen nicht aufgiebst.“

„Du hast also wirklich Angst für die Geldspinden Deines geliebten Herrn Berry?“

„Ich habe Angst, daß Holzmann Dich in irgend eine unrechte That verwickelt, wenn auch wider Deinen Willen, und dann wärst Du und ich für immer zu Grunde gerichtet.“

[524] „An mir ist nicht mehr viel zu Grunde zu richten! Wenn man einmal drin war im Häusl, liegt am zweiten Mal nicht mehr soviel. Freilich bei Dir ist es ’was anderes – da hast Du recht, das wäre schlimm, das möcht’ ich selbst nicht. Die Claire und alles futsch wegen mir – nein, das will ich nicht! Aber ich bin auch kein Kind mehr und laß mich nicht am Gängelband führen. Der Holzmann ist ein fideler Kerl, der sein letztes Hemd hergiebt für seinen Freund, das gefällt mir an ihm; eine Kneipfreundschaft also – weiter nichts. Uebrigens sollst Du ihn nicht mehr bei mir treffen, das verspreche ich Dir. Damit ist’s aber genug der Vorschriften, das merke Dir! Meine Freiheit verkaufe ich nicht für Deine Altersversorgung."

Hans stand auf und nahm seinen Hut. Davis sah ihn erstaunt an.

„Es ist also wirklich Dein Ernst? Du willst nicht mehr kommen wegen dieses Schwätzers? So sei doch vernünftig, ich muß ja mit ihm umgehen, wenn ich den ganzen Tag mit ihm arbeite; ich kann mir meine Gesellschaft nicht aussuchen wie Ihr Herrenleut’! Es wär’ mir wirklich leid, wenn Du nicht mehr kämest.“ Er wühlte mit der Hand in dem offenen Hemde an der Brust. „Und es ist eine große Frage, ob Du gut daran thust. Dann bin ich wieder ganz allein und hab’ auf nichts aufzupassen – aber allerdings. –“ seine Stimme klang wieder heftig – „wenn Du nur kommst, um zu spionieren und uns auszuforschen wie heute, dann bleibst Du mir besser ein für allemal weg.“

In Hans stieg ein heißes Mitleid auf, einen Augenblick besann er sich, dann versprach er, wiederzukommen am nächsten Sonntag, unter der Bedingung, daß Holzmann nicht da sei. Das wurde ihm von Davis feierlich zugesichert.

„Du verstehst unsere Sprache nicht, weißt nicht, was für dumme Gedanken einem kommen, wenn man den ganzen Tag in Staub und Schmutz herumpudelt, während einem die Wagen der Reichen über den Kopf wegrasseln – wenn das alles ausgeführt würde, was da gedacht wird!“

„Ich denke, das Bewußtsein redlich gethaner Arbeit müßte alle diese schlimmen Gedanken verscheuchen und einen Stolz wachrufen, wie ihn der reiche Müßiggänger nicht haben kann," sagte Hans im Tone innerer Ueberzeugung.

„Bei Deiner Arbeit mag das sein, aber unsere – die giebt überhaupt kein Bewußtsein. Mach’s einmal nur einen Tag und such’ dann das ‚Bewußtsein redlich gethaner Arbeit‘ und den ‚Stolz‘!“ Eine tiefe Verbitterung klang aus den Worten.

Hans fand keine Antwort darauf.

„Auf Wiedersehen!“

Er drückte dem Vater die Hand und wandte sich zur Thür; ihm stiegen die Thränen in die Augen, sie drangen aus tiefstem Herzensgrund.

Als er nach Hause kam – seit er festes Gehalt bezog, wohnte er bei Merks, deren Rolle als Pflegeeltern jetzt ausgespielt war, in freier Miethe – sand er auf seinem Tische ein großes Schreiben mit der Firma Berry auf dem Umschlag. Aufgeregt öffnete er den Brief.

„Es freut mich, daß Ihre gute Aufführung und Ihre Fortschritte mich in stand setzen, Sie zum Monteur zu ernennen mit dem Gehalt eines solchen. Ich benutze die Gelegenheit, Sie für morgen abend zu mir zu Tisch zu laden. Ihr geneigter J. Berry.“ 

Das Papier fiel ihm aus den zitternden Händen; er hob es auf, las immer und immer wieder „zum Monteur zu ernennen ... zu Tisch zu laden“. Er an Herrn Berrys Tisch geladen – er, der eben an einem Tische gesessen hatte mit diesem Holzmann, welcher die Beraubung des Kommerzienraths plante und daneben saß der Vater und wartete ab, was er dazu sagen, wartete ab, ob nicht auch in ihm ein verbrecherischer Gedanke sich regen würde – doch nein, das that er nicht, so weit war er noch nicht wie dieser Holzmann, der arme Vater! Und jetzt könnte er ihn ja vielleicht erlösen aus dem Staube und Schmutze, aus der häßlichen Luft unter der Erde, welche alle diese häßlichen Gedanken erzeugte! Er wollte so gern alles entbehren, um nur ihn zu retten. Wenn er rasch hineilte und ihm die Freudenbotschaft brächte, ob er ihn dadurch nicht ganz von Holzmann losreißen könnte?

Schon war er entschlossen zu gehen, da dachte er an morgen abend; jetzt noch einmal Herrn Berry zu hintergehen, jetzt mit diesem Briefe in der Hand, in welchem jede Zeile die Fürsorge des wohlwollenden Mannes verrieth – nein, das war nicht möglich! Nächsten Sonntag mochte es sein, und dann zum letzten Male! Ein Monteur verdiente hundertzwanzig Mark im Monat, mit der Hälfte konnte er leben; die andere sollte der Vater haben unter der Bedingung, daß er die „Fackel“ verlasse . . .

„Für morgen abend zu mir zu Tisch zu laden“ – las er immer wieder.

Was lag doch gar so Beglückendes in diesen Worten? Die Ehre hatte er ja früher schon genossen, als Claire noch hier war, aber nie war er so begeistert davon wie jetzt. Früher war sie ihm zu theil geworden als dem aus Barmherzigkeit angenommenen Knaben, als dem Automaten Nummer zwei; jetzt als einem Angestellten des Hauses – war es deshalb? Aber einen einfachen Monteur lud doch Herr Berry sonst nicht an seine Tafel – was also war der Grund? Hatte vielleicht Claire geschrieben, den Papa gebeten – –? Er hatte seit ihrer Abreise nichts mehr von ihr vernommen, den Kommerzienrath nach ihr zu fragen, wagte er nicht. Jetzt würde er wohl von ihr hören – über was sollte man denn mit ihm sprechen als über Claire? Und morgen durfte er auch fragen nach ihr, sie grüßen lassen! Ja, das war’s, was dies Glücksgefühl in ihm wachgerufen hatte, was ihn sogar seine überraschende Beförderung, den Vater mit seinem entsetzlichen Freunde – alles, alles vergessen ließ.

(Fortsetzung folgt.)

Die Frau im alten Rom.

Von Ernst Eckstein.


Wenn wir das Frauenleben im alten Rom und insbesondere die Stellung betrachten, welche die Gattin im Hause wie in der Gesellschaft einnahm, so gilt es zwei zeitliche Hauptabschnitte zu unterscheiden, die etwa gegen das Ende der Republik nach und nach ineinander übergehen.

Man könnte den ersten dieser beiden Zeitabschnitte als den der römischen Frau, den zweiten als den der römischen Dame bezeichnen.

Hand in Hand mit dieser Veränderung der Hausherrin geht eine Umgestaltung des Hauses, der alten Wahrheit entsprechend, die in dem Satze enthalten ist: „Sage mir, wie Du wohnst, und ich sage Dir, wer Du bist.“

Es sei hier gleich im voraus bemerkt, daß die hier folgende kleine Studie ausschließlich die Frau höherer Stände ins Auge faßt, da jene Umwandlung nur auf sie Bezug hat. Die Frau des Landmanns, des Kleinbürgers, die sich in ihrer Entwicklung naturgemäß weit konservativer zeigt, muß hier unerwähnt bleiben, da sie nach römischen Kulturbegriffen nicht mitzählt, daher denn auch die Quellen für ihre Darstellung sehr spärlich fließen.

Der Mittelpunkt des römischen Hauses, in welchem die Herrin (domina) schaltete und als Zeichen ihrer Herrschaft sämmtliche Schlüssel unter Verwahrung hielt, war das Atrium, so genannt von dem schwärzenden Rauch (ater = schwarz), der von dem Familienherde durch die viereckige Dachöffnung abzog.

Dieses Atrium glich in der guten alten Zeit mehr einem Wohnzimmer, in der späteren Periode ward es vollständig zum Salon.

Ursprünglich hatte hier – außer dem Herde, der gleichzeitig irdische Feuerstätte, Hausaltar und Standort für die Penaten, die Hausgötter, war – alles das Platz gefunden, was mit dem Wesen und dem Begriff der Familie zusammenhing. So befand sich hier, am Boden befestigt oder in die Wand eingelassen, die eiserne Geldkasse des Hausherrn. Liebe Erinnerungen an Verstorbene wurden hier angebracht, vor allem auch die aus Wachs gefertigten sogenannten imagines, die Porträtmasken der Vorfahren. Das Schlafgemach der Ehegatten stieß unmittelbar an diesen Raum oder bildete gar einen Theil desselben.

Das Atrium war auch die Stätte, wo die sittsame Hausfrau, umringt von ihren lustig mitschaffenden Dienerinnen, der Arbeit oblag, besonders dem Wollespinnen. In jener bekannten Scene, die uns der Geschichtschreiber Titus Livius gezeichnet hat, finden die römischen Edelinge die schöne Lucretia noch spät in der Nacht

[525]

Lieblingsplätze.
Nach einer Zeichnung von P. Bauer.

[526] mit den fleißigen Mägden „deditam lanae“, das heißt: an der Wollarbeit. Und Lucretia war einem der ersten Geschlechter der Siebenhügelstadt entsprossen.

Dies reizende Genrebild – die Frau in dem engen Bezirk des Atriums, dem sie den Stempel ihres geräuschlosen Waltens aufprägt – ist für das römische Haus jenes Zeitalters typisch.

Das häusliche Leben der alten Zeit im allgemeinen kennzeichnet Columella in seiner Schrift „De re rustica“ („Ueber den Landbau") etwa wie folgt: „Die Arbeit war damals eine gern geleistete Pflicht der Frauen, während sich die Familienväter nur an den Herd zurückzogen, um die staatsgeschäftlichen Sorgen abzuschütteln und sich Erholung zu gönnen. Im Atrium wehte der Geist der Eintracht, der liebenden Fürsorge, der gegenseitigen Achtung. Die Frau war darauf bedacht, den Mann zu zerstreuen, und doch wieder an seinen Bestrebungen Antheil zu nehmen. Es gab hier nichts, was getrennt war, nichts, was der Mann oder die Frau als ein persönliches, ausschließliches Recht in Anspruch nahm: beide gingen vielmehr einmüthig Hand in Hand.“ – Selbst der strenge, vielleicht etwas allzu mürrische Cato war, wie uns Plutarch erzählt, von zartester Rücksicht gegen seine Gemahlin. Er soll öfters den Ausspruch gethan haben, daß er einen braven Familienvater und Gatten „höher schätze denn einen klugen Senator“.

Als mit der sinkenden Republik der Luxus und die Verweichlichung überhand nahmen, als man Gefallen an übergroßem gesellschaftlichen Verkehr, an Gelagen und Schwelgereien fand, da erfuhr das römische Atrium und mit ihm ein beträchtlicher Theil der römischen Hausfrauen die oben erwähnte Umwandlung. Der alte Familienherd mit den Hausgöttern paßte nicht mehr in den wachsenden Prunk; er nahm ja Platz weg, wenn des Morgens in aller Frühe die Staatsbesuche und Aufwartungen begannen, bei welchen nicht mehr wie einst die guten Freunde und nächsten Verwandten die Hauptrolle spielten, sondern die „Leute von Distinktion“, der Schwarm der Modepersönlichkeiten, außerdem aber die Rotte der Scheinklienten, die gegen ein Trinkgeld den Hausherrn mit ihrer Begleitschaft umgaben. Die Stätte, wo einst die fleißige Hausfrau gesponnen, dem Spiel ihrer blühenden Kinder zugeschaut oder mit gütigem Lächeln die Scherze der Sklavinnen angehört hatte, ward von den gravitätischen Togaträgern, von den Schmarotzern und Schmeichlern erobert. Keine Dienerin durfte hier mehr im Korbe von Spartgras oder von Weidengeflecht Spindel um Spindel bergen oder die Nadel handhaben zur kunstlosen Anfertigung der Kindergewänder. Das Wohn- und Familiengemach war von der großen, geräuschvollen Welt siegreich gestürmt worden.

Sehr natürlich paßte sich nun auch die Hausfrau diesem veränderten Zustand an. Statt wie früher die Rolle der Trösterin, der Erzieherin, der freundlichen Allverwalterin und Mutter zu spielen, mußte sie nun „repräsentieren", geistreich thun und über den neuesten Vortrag des oft sehr langweiligen Tagespoeten eben so eifrig mitschwatzen wie über die Vorzüge eines vergötterten Schauspielers oder den neuesten Klatsch der Hauptstadt. Sie mußte belesen sein in schöngeistigen und philosophischen Werken, die sie im Grunde durchaus nicht verstand, eine glitzernde, oberflächliche Scheinbildung möglichst auffällig und kokett zur Schau tragen, und vor allem griechisch parlieren, was nur das Zeug hielt.

Der Satiriker Juvenal wendet sich gegen die grauenhafte Verbildung des schönen Geschlechts, wie sie bereits zu Anfang des ersten Jahrhunderts grassierte, wiederholt mit den unbarmherzigsten Ausdrücken.

„Was ist ekelhafter,“ heißt es in der berühmten sechsten Satire, „als daß sich heutzutage kein Frauenzimmer für reizvoll erachtet, ehe sie nicht aus einer geborenen Tuskerin sich zur Hellenin, aus einer Sulmonenserin sich zur echten Tochter Athens gemacht hat? In dieser Sprache – in der griechischen nämlich – zagen und zürnen sie; in ihr strömen sie all ihre Freuden, all ihre Sorgen und die gesammten Geheimnisse ihrer Seelen aus!“

Eine andere Stelle verurtheilt den litterarisch-kritischen Dilettantismus:

„Unerträglicher selbst als ein Weib, das sich bezecht, ist mir die Dame, die, wenn sie kaum Platz genommen, für den Virgil schwärmt, es ganz berechtigt findet, daß Dido, von Aeneas verlassen, sich tötet, und bei den Haaren herbeigezogene Vergleiche anstellt zwischen den einzelnen Poeten und ihren Schöpfungen! Schauderhaft, wenn sie so den Virgil in die eine Wagschale und in die andere den alten Homer legt! Kein Schulmeister kommt gegen sie auf, kein Rhetor, kein Advokat, kein öffentlicher Ausrufer, ja kaum eine andere Dame! Wie ein Bergstrom stürzen die Worte von ihren Lippen; das schallt und dröhnt und klingelt – man möchte verrückt werden!“

Weit schlimmer als diese Auswüchse war die fortschreitende Lockerung des Familienlebens, die schwindende Achtung vor der Heiligkeit des Ehebündnisses, die Leichtfertigkeit und Entsittlichung, die sich namentlich in gewissen hohen und höchsten Kreisen mit jedem Jahrzehnt breiter machte. Die Römer hatten schon in der Urzeit den Frauen eine viel freiere Stellung eingeräumt als z. B. die Griechen. Athen schloß die Frauen und Mädchen mit fast orientalischer Strenge in die sogenannte „Gynäkónitis“, das Weibergemach, ein. Oeffentlich zeigten sich die Griechinnen der geschichtlichen Zeit nur ausnahmsweise. Ganz anders in Rom! Schon die Sage von dem Raub der Sabinerinnen beweist, daß die Frauen und Mädchen der lateinischen Stämme bei Volksfesten zugegen sein durften. Am Forum befand sich im fünften Jahrhundert v. Chr. eine öffentliche höhere Töchterschule. Wiederholt wird berichtet, daß die Frauen schon in den frühesten Zeiten überall ungehindert erscheinen konnten, ein Recht, das sie einigemal – freilich nur in besonders dringenden Fällen – zur Abhaltung förmlicher Versammlungen und zu politischen Kundgebungen benutzten. Die oben angeführten Worte des Columella würden für sich allein schon ausreichen, um zu erhärten, daß die Auffassung von dem Zweck und dem Wesen der Ehe im republikanischen Rom eine ungleich würdigere und edlere war als in Griechenland. Diese Auffassung aber schwand allmählich, und die Freiheit, die Rom, im Gegensatze zu Hellas, seinen Frauen eingeräumt hatte, wurde mißbraucht. Im ersten Jahrhundert finden wir allenthalben die Spuren einer allzu ausgiebigen Emancipation. Die ursprüngliche strenge Form der Eheschließung ward durch andere, minder weihevolle verdrängt: die Rechtsbefugnisse der Frau wuchsen; ihr Pflichtgefühl stumpfte sich im gleichen Verhältniß ab. Kurz, es entwickelten sich allmählich Zustände, die sich einer Beleuchtung an dieser Stelle durchaus entziehen, Zustände, deren Auswüchse wir uns nicht abscheulich genug vorstellen können.

Dennoch ist es ein weitverbreiteter Irrthum, die römische Kaiserzeit, der wir so haarsträubende Beispiele weiblicher Entartung verdanken, durchweg für den verpesteten Pfuhl zu halten, den uns die unbarmherzigen Epigrammatiker und Satiriker, zum Theil aber auch die Historiker, in so abschreckendem Giftgrün erschillern lassen. Nicht einmal die aristokratische Welt war so überwiegend von Fäulniß zersetzt, wie man dies nach den Greueln, die uns die römischen Schriftsteller überliefert haben, voraussetzen möchte. Stellt doch selbst die Geschichte, die uns nur die gewaltigen Züge aufbewahrt, einer Verworfenen wie der Kaiserin Messalina die heroische Weiblichkeit einer Arria entgegen! Der Kenner des menschlichen Herzens wird ja von vornherein nicht daran zweifeln, daß Zartheit und Innigkeit des Empfindens, Edelmuth der Gesinnung, opferwillige Gattenliebe und fleckenloseste Reinheit und Trelle zu allen Zeiten öfter und herrlicher sich bewähren, als der erste oberflächliche Blick dies vermuthen läßt. Immerhin scheint es mir eine lohnende Aufgabe, einige solcher minder bekannten Beispiele hier zusammenzustellen und so dem Leser zu zeigen, daß auch das Iuvenalische Rom nicht arm war an jenen Lichtgestalten, in deren Herzen wie Bogumil Goltz sagt, „die Engel traumreden und Gott der Herr immer von neuem wieder Paradiese entwirft.“

Von Arria, der Gattin des Pätus, erzählt die Geschichte uns jenen heldenhaften Zug, der wohl uns allen seit unserer Schulzeit geläufig ist. Arria, gewillt, mit ihrem wegen einer Verschwörung gegen den Kaiser Claudius zum Tode verurtheilten Gatten gemeinsam zu sterben, erbittet sich von dem noch Zögernden das Stilett, stößt es mit ruhiger Hand sich selbst in die Brust und reicht es dann dem Gemahl mit den „unsterblichen“ Worten: „Pätus, es schmerzt nicht!“

Das gehört in die Weltgeschichte. Ein anderer Zug aber dieser hochherzigen und dabei außerordentlich weichmüthigen Frau ist minder bekannt, ohne an Größe dem hingebungsvoll verzweifelten „Pätus, es schmerzt nicht!“ nachzustehen.

Man urtheile!

Ihr Gatte war einst lebensgefährlich erkrankt; ihr Sohn ebenfalls. Beide Leidenden wurden in verschiedenen Gemächern gepflegt. Arria führte die Oberaufsicht und theilte sich mit unermüdlicher Liebe zwischen Vater und Kind. Der Sohn, ein [527] entzückender Knabe, die ganze Wonne des Mutterherzens, starb. Der Vater jedoch, der selbst noch in größter Gefahr schwebte, durfte von diesem Tode nichts wissen. Arria traf sonach – das bitterste Weh in der Brust – geräuschlos die Anstalten zum Leichenbegängniß und ließ den Knaben zur ewigen Ruhe bestatten, ohne daß ihr Gemahl das Geringste erfuhr. So oft sie das Zimmer ihres Gatten betrat, gab sie in frommem Betrug vor, der Sohn lebe und befinde sich besser. Sie mußte sich oft genug, wenn sich Pätus erkundigte, mit allerlei Einzelheiten befassen, ein ganzes Gewebe spinnen, ihm sagen, der Sohn habe das und das mit Appetit gegessen, so und so lange geschlafen – und bei all dem die Miene lächelnder Hoffnung zur Schau tragen! Nur wenn die lange verhaltenen Thränen die Oberhand bekamen und sie plötzlich zu überwältigen drohten, entfernte sie sich und überließ sich rückhaltlos ihrem Schmerze. Hatte sie dann sich satt geweint, so kehrte sie trockenen Auges, gefaßt, heiter zu dem Gatten zurück, „als ob sie ihren Verlust vor der Thüre gelassen hätte.“

Und so ward Pätus gesund.

Der Aufwand an Seelengröße und sittlicher Kraft, den Arria bei diesem Anlaß bekundete, überbietet noch den bei ihrem heldenmüthigen Tode.

Zur Beurtheilung dieses Todes – und mancher ähnlichen Vorkommnisse im alten Rom – muß sich der Leser vergegenwärtigen, daß bei den Römern die Selbstentleibung nicht nur in gewissen Ausnahmefällen entschuldigt wurde, sondern geradezu für ein sittliches Recht, ja, unter gewissen Verhältnissen für eine Pflicht galt. Der Gedanke, mit ihrem Pätus gleichzeitig in den Tod zu gehen, war bei Arria nicht erst in dem Augenblick der letzten Entscheidung entstanden. Sie hatte bereits der Gattin des Scribonianus (des Mitverschworenen ihres Gemahls), als diese verhört wurde und vor dem Cäsar Geständnisse ablegte, den verächtlichen Zuruf entgegengeschleudert: „Dich soll ich anhören, die Du noch lebst, nachdem Scribonianus in Deinen Armen ermordet wurde?“ Auch wird überliefert, daß ihr Schwiegersohn Thrasea sich eifrig bemüht habe, sie von dem Vorsatz, mit Pätus gemeinsam zu sterben, durch vernünftige Vorstellungen abzubringen. Thrasea fragte sie schließlich: „Also wünschtest Du, daß Deine Tochter im gleichen Falle auch mit mir in den Tod ginge?“ Worauf sie versetzte: „Ja, wenn sie so lang und so glücklich mit Dir gelebt hätte wie ich mit Pätus.“

Einen ganz ähnlichen Fall – nur aus unberühmten Kreisen – erzählt uns der jüngere Plinius in einem Briefe. Die Scene, die er uns schildert, gemahnt an das einst viel bewunderte Bild „Die Lebensmüden“, nur mit dem Unterschied, daß auf dem Bilde der Mann der aktivere Theil ist.

„Ich fuhr auf unserem Larischen See[1],“ so schreibt Plinius, „als mir ein sehr bejahrter Freund ein Landgut und ein Schlafzimmer zeigte, das auf den See herausgeht. ‚Aus diesem,‘ erzählte er, ‚stürzte sich einst eine Landsmännin von uns mit ihrem Gatten.‘ Ich fragte ihn um die Ursache. ‚Der Mann litt an einer unheilbaren Krankheit. Da die Gattin nun sah, daß jede Hoffnung verloren sei, so ermahnte sie ihn, zu sterben. Sie war seine Begleiterin, ja seine Führerin, sein Beispiel im Tode und die nothwendige Ursache desselben, denn sie band sich mit ihm zusammen und stürzte sich so in den See.‘“

Der Name dieser Frau ist nicht auf die Nachwelt gekommen. Plnius aber findet die That „nicht minder groß als jene berühmte That der Arria“.

Eben dieser jüngere Plinius bietet mit seiner Gattin Calpurnia das Beispiel einer fast idealen Ehe, deren Einzelzüge uns vielfach modern anmuthen. Es lohnt in der That, die Briefe, die Plinius an seine Calpurnia geschrieben hat, wenigstens flüchtig ins Auge zu fassen. Alsbald wird man erkennen, daß es sich hier um ein Verhältniß von edelster Innigkeit, um eine Lebensgemeinschaft handelt, wie sie nur mit einer Frau möglich war, die alle Vorzüge echter Weiblichkeit in sich vereinigte.

So lautet ein kurzes Briefchen:

„Du sagst mir, liebe Calpurnia, meine Abwesenheit schmerze Dich sehr; den einzigen Trost gewähre Dir die Beschäftigung mit meinen Schriften. Ach, wie freue ich mich, daß Du eine so große Sehnsucht nach mir empfindest und mit solchen Mitteln Dich zu beruhigen strebst! Mir geht es genau so. Immer wieder nehme ich Deine Briefe zur Hand, als wären sie neu. Ich stelle mir vor, welches Glück es sein müßte, Dich in der Nähe zu haben, da mich schon diese Briefe so sehr entzücken – freilich mir auch eine quälende Sehnsucht wecken.“

Ein anderes Mal schreibt er noch stürmischer:

„Meine Sehnsucht nach Dir übersteigt jeden Begriff. Ich liebe Dich gar zu sehr und bin so gar nicht gewohnt, von Dir getrennt zu sein. Den größten Theil der Nacht flieht mich der Schlaf; bei Tage wandle ich um die Zeit, da ich sonst bei Dir zu sein pflege, in unbewußtem Drange nach Deinem Gemach, dessen verödete Wände ich dann traurig verlasse wie ein Zurückgewiesener. Nur die Arbeit erlöst mich für Augenblicke von dieser Pein. Sage Du selbst, Calpurnia, was ich hiernach für ein Leben führe!“

Ein dritter Brief, den er ihr nach einem campanischen Luftkurort, wahrscheinlich nach Bajä, schreibt, zeigt die fiebernde Unruhe eines Herzens, das um sein Liebstes bangt. Noch niemals ist dem vielbeschäftigten Manne seine Berufsthätigkeit so verhaßt gewesen als jetzt, da sie ihn hindert, die etwas kränkelnde Gattin ins Bad zu begleiten. Er wäre gar zu gern bei ihr gewesen, um sich mit eigenen Augen von dem Fortschreiten ihrer Genesung zu überzeugen. „Wenn Du auch ganz gesund wärest, würde ich dennoch besorgt sein, denn man ist angsterfüllt, wenn man von dem, was man so zärtlich liebt, zeitweise ohne Nachricht bleibt. Jetzt aber fürchte ich alles, male mir die entsetzlichsten Bilder aus und stelle mir gerade das vor, was mich am meisten erzittern und zagen läßt. Ich bitte Dich also, schreibe mir alle Tage, womöglich zweimal.“

In einem Briefe an Hispulla – die Tante Calpurnias – spricht sich Plinius folgendermaßen über Calpurnia aus:

„Sie hat sehr viel gesunden Verstand, dabei die größte Einfachheit im Auftreten und einen Hauch von Kindlichkeit, der mich entzückt. Aus Liebe zu mir liebt sie die Wissenschaften. Sie besitzt meine sämmtlichen Schriften und studiert sie mit Eifer. Rührend ist ihr Interesse für meinen Beruf. Wenn ich für jemand einen Prozeß führe, so bangt sie, als ob die Sache sie selbst beträfe. Sie stellt Leute auf, die sie davon unterrichten sollen, wie ich gesprochen habe, ob ich Beifall errang, ob der Rechtsstreit gewonnen wurde. Lese ich etwas Litterarisches vor, so hält sie sich in der Nähe, etwa hinter einem Thürvorhang, und ist glückselig, wenn ich gelobt werde.“

Vielleicht das rührendste Beispiel unermüdlicher Treue und Hingebung im ganzen klassischen Alterthum bietet uns Peponila, die Gattin des Julius Sabinus. Ihr Schicksal bedeutet einen unauslöschlichen Flecken auf dem Wappenschild des sonst so tüchtigen, von altrömischer Gesinnung erfüllten Kaisers Vespasian. Julius Sabinus hatte in Gallien die Fahne des Aufruhrs erhoben, war aber nach heldenmütgigem Widerstande besiegt worden. Er floh auf sein Landgut, zündete dieses an und verbreitete das Gerücht, er sei mitsammt seiner Gattin Peponila – Tacitus nennt sie „Epponina“, Plutarch „Empona“ – im Feuer umgekommen. So lenkte er die Nachforschung von sich ab. Neun Jahre lang lebte er nun, von seiner treuen Gattin gepflegt, in einer unterirdischen Gruft, die er nur einmal verließ, um in der Tracht eines Sklaven die Peponila nach Rom zu begleiten, woselbst sie für seine Begnadigung allerlei Schritte that. Umsonst. Vespasian ließ sich nicht rühren und als später durch einen Zufall die Gruft entdeckt wurde, gab der hartherzige Fürst den Befehl, nicht nur den ehemaligen Aufrührer, sondern auch seine opfermuthige Lebensgefährtin dem Henker zu überantworten. Peponila hatte sogar ihre beiden Kinder dem Vespasian zu Füßen gelegt und, auf die bleichen Gesichter deutend, gesagt: „Siehe, Cäsar, die Kleinen hier habe ich in der Gruft erzogen, um auch durch ihren Mund Gnade für meinen Gemahl zu erflehen.“ Alle Umstehenden weinten, aber der Cäsar blieb unerbittlich. So starb Peponila denn muthig und noch im letzten Augenblick eine Trösterin dessen, dem sie Treue gelobt hatte bis in den Tod.

Unter den makellosen Frauen der Kaiserzeit findet sich auch eine Kaiserin, nämlich die Gemahlin des ausgezeichneten, mit allen Herrschertugenden reichgeschmückten Ulpiusans Trajanus, die edle Plotina. Sie zeigt viele verwandte Züge mit der Calpurnia des Plinius und war ein Muster der Sitteneinfalt, der Anapruchslosigkeit und der Frauenwürde. Als sie zuerst nach der Thronbesteigung ihres Gemahls den Palast betrat, machte sie auf der Treppe Halt und wandte sich zu den Umstehenden mit dem Gelöbniß, das Scepter ihres Gemahls werde nichts an ihrer [528] Einfachheit und Bescheidenheit ändern. Sie hat dies Gelöbniß gehalten. Dio Cassius giebt ihr das Zeugniß: „Und in der That führte sie während der ganzen Regierung das untadelhafteste Leben."

Es ist und bleibt eben ein wahres Wort: Weibliche Tugend, weibliche Seelengröße macht nicht halb so viel von sich reden wie die Ungebühr jener entarteten Frauen, die auf irgend einem Gebiete die Schranken, mit denen die Natur sie umgiebt, zu durchbrechen wagen. Von der besten Frau spricht man am wenigsten. Deshalb muß man sich die Belege zur Ehrenrettung der spätrömischen Frauenwelt aus Privatbriefen zusammensuchen, während die Annalen der Weltgeschichte und die Skandalchroniken der Epigrammendichter voll sind von Einzelheiten über die Ausschreitungen nicht nur entarteter Fürstinnen, sondern auch solcher Personen, von denen uns außerdem nichts übermittelt wird als ihr Name.


Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Erfinder-Lose.

Alois Senefelder und die Steindruckerei.
Von Eduard Grosse.

Die Lithographie ist eine der wichtigsten Erfindungen des 18. Jahrhunderts!“ So schrieb vor mehr als achtzig Jahren der damalige Kronprinz Ludwig von Bayern mit Umdrucktinte auf ein Stück Papier, als er die Senefeldersche Steindruckerei in München besuchte. Und in der That ist die Lithographie oder Steindruckerkunst nächst dem Buchdruck das hervorragendste Vervielfältigungsverfahren; sie ergänzt diesen aufs trefflichste, da sie sich besonders zur Wiedergabe von Vorlagen eignet, die sich nur schwer dem Buchdruck fügen.

Auch die Schicksale der Erfinder beider Künste haben einige Aehnlichkeit. Gutenberg wie Alois Senefelder arbeiteten ihre Erfindungen unter aufreibender Thätigkeit und hinderlichen Geldsorgen zu einem Grade der Reife aus, welcher ihren Nachfolgern nur noch wenig zu verbessern übrig ließ; beide hatten die erhebende Genugthuung, noch zu Lebzeiten ihre Erfindung siegreich durch alle Länder schreiten zu sehen, sie als eine ruhmreiche That preisen zu hören; beide starben endlich nach einer mühevollen Laufbahn arm und unbemittelt, nachdem sie ihre letzten Lebensjahre von einer bescheidenen Altersversorgung gezehrt hatten. Aehnlich wie Gutenberg hat auch Senefelder den Undank seiner Mitmenschen kennengelernt, und seine Erfahrungen über das Los des Erfinders brachte er in seiner Münchener Mundart drastisch zum Ausdruck, indem er einem jungen Steindrucker den Rath ertheilte: „Hüten S’ sich vor dem viele Quacksalbere und Experimentiere; schaun’s, alle anderen werden reich durch meine Erfindung und ich bleib’ ein armer Lump!“

Geboren wurde Alois Senefelder am 6. November 1771 zu Prag, wo sein Vater als Schauspieler angestellt war; derselbe verzog jedoch später mit seiner Familie nach München, da er hier eine Anstellung an der kurfürstlichen Hofbühne gefunden hatte. In Alois’ Adern rollte Künstlerblut; sich gleichfalls der Bühne zu widmen, war sein Trachten. Der Vater aber wünschte, Alois solle studieren, und so fügte sich der Sohn und bezog nach vollendetem Besuch des Gymnasiums die Universität. Als bald darauf der Vater starb, zauderte Senefelder nicht länger, seinem inneren Drange zu folgen, das Studium aufzugeben und sich der Schauspielkunst zuzuwenden, um so mehr, da ihm nach dem Tode des Vaters die Mittel zur Fortsetzung seines Studiums fehlten. Er fand Anschluß an eine wandernde Schauspielertruppe und zog mit dieser in Süddeutschland umher, wobei er das Elend des fahrenden Schauspielerstandes zur Genüge kennenlernte. Nach zwei Jahren herber Enttäuschungen entschloß er sich, die Bühnenlaufbahn wieder aufzugeben; er kehrte nach München zurück und beschäftigte sich mit litterarischen Arbeiten.

Bereits früher hatte Senefelder einige Theaterstücke verfaßt, von denen „Der Mädchenkenner“ an der Münchener Hofbühne erfolgreich zur Aufführung kam und nach der Drucklegung einen Ueberschuß von 50 Gulden einbrachte. Dadurch ermuthigt, gab er ein zweites Stück auf eigene Rechnung zum Drucke; dieser wurde aber nicht rechtzeitig zur Messe fertig, infolgedessen war der Absatz gering und die Einnahme genügte kaum, um die Kosten zu decken. Ein harter Schlag für den mittellosen Senefelder! Doch das Mißgeschick vermochte ihm sein Unternehmen nicht zu verleiden, es spornte im Gegentheil seinen Unternehmungsgeist nur noch mehr an und wurde in der Folge der Anstoß zur Erfindung der Steindruckerei, mit welcher Senefelder der Welt ein ungleich werthvolleres Geschenk gemacht hat als mit seinen Theaterstücken.

Sein Mißerfolg war hauptsächlich vom Buchdrucker verschuldet, da dieser die Lieferungsfrist nicht eingehalten hatte. Um sich nun von den Buchdruckern unabhängig zu machen, faßte er den abenteuerlichen Gedanken, selbst eine Druckerei einzurichten und seine Geisteskinder eigenhändig mit Schrift und Schwärze zu verewigen. Dieses kühne Vorhaben scheiterte indessen an der Armseligkeit seiner Kasse, die nicht entfernt zur Beschaffung der nöthigen Geräthschaften zureichte. Dessenungeachtet gab er die Idee nicht wieder auf und versuchte, auf einem anderen Wege als dem des gewöhnlichen Buchdrucks zum Ziele zu gelangen.

Zunächst hielt er sich noch an die Technik des Buchdruckes und bemühte sich, eine Art von Stereotypplatten herzustellen, doch ohne Erfolg. Hierauf machte er Versuche mit einer Kupferplatte; er schrieb die Schrift in Aetzgrund, mit welchem er die Platte überzogen hatte, um später die in den Aetzgrund radierten Schriftzüge mit Säuren vertieft zu ätzen. Dabei war es nöthig, die Schrift im Spiegelbild, also verkehrt, auf die Platte zu bringen, da sie beim Abdruck von dieser auf das Papier ebenso umgekehrt zum Vorschein kommt, wie die Buchstaben beim Abdruck eines Petschaftes in Siegellack. Dieses Verkehrtschreiben bereitete ihm große Schwierigkeiten, und um die theure Kupferplatte bei den vielen Schreibübungen nicht zu verderben, benutzte er hierzu einen Kehlheimer Sandstein, den er sonst zum Verreiben der Farben verwendete. Diesen Stein überzog er ebenso wie die Kupferplatte mit Aetzgrund und übte sich, in diesen die Buchstaben im Spiegelbild zu ritzen.

Als er eines Tages wieder mit derartigen Uebungen beschäftigt war und eben im Begriff stand, flüssigen Aetzgrund über den gereinigten Stein zu gießen, störte ihn seine Mutter mit der Bitte, ihr schnell einen Wäschezettel zu schreiben. Senefelder wollte dem Wunsche nachkommen, suchte jedoch vergebens nach einem Stück Papier, fand auch, daß die Tinte eingetrocknet war, da er in der letzten Zeit die Schriftstellerei über seinen Druckversuchen gänzlich vernachlässigt hatte. Die Wäscherin wartete, die Mutter drängte zur Eile, und so schrieb Senefelder den Wäschezettel kurz entschlossen mit seinem flüssigen Aetzgrund auf den gereinigten Stein. Als er später den Wäschezettel auf Papier abgeschrieben hatte und eben die Schrift wieder vom Stein entfernen wollte, kam ihm der Gedanke, zu versuchen, wie sich der mit Aetzgrund beschriebene Stein gegen aufgegossenes verdünntes Scheidewasser verhalten würde. Der Aetzgrund bestand aus Wachs, Seife und Kienruß, wurde also vom Scheidewasser nicht angegriffen, und so folgerte Senefelder, daß möglicherweise die Steinplatte rings um die mit Aetzgrund bedeckten Schriftzüge vom fressenden Scheidewasser vertieft würde, wogegen die Schriftzüge selbst erhöht stehen bleiben würden. Er faßte den Stein mit einem Wachsrande ein, goß das Scheidewasser darauf und ließ ihn fünf Minuten lang unter der Einwirkung der Säure stehen. Nachdem er diese abgegossen hatte, fand er seine Voraussetzung bestätigt. Alle nicht mit Aetzgrund bedeckten Stellen waren um die Stärke eines Kartenblattes vertieft geätzt, die Schriftzüge dagegen in ursprünglicher Höhe stehen geblieben. Nun schwärzte er die erhabenen Schriftzüge mit Buchdruckfarbe ein, versuchte, Abdrücke auf Papier zu machen — und siehe da, sie gelangen ganz leidlich.

Damit hatte Senefelder zwar noch nicht die eigentliche Lithographie, immerhin aber ein brauchbares Vervielfältigungsverfahren gefunden. Er setzte seine Versuche noch einige Zeit fort und vervollkommnete das Verfahren so weit, daß er vollständig reine und saubere Abdrücke herzustellen vermochte.

Es mußte nun sein erstes Bestreben sein, die Erfindung geschäftlich auszunutzen und darauf womöglich ein Privilegium zu erhalten. Dazu aber war vor allen Dingen Geld nöthig, das Senefelder leider nicht besaß! Vergeblich bemühte er sich, eine kleine Anleihe zu machen; vergebens griff er zu dem verzweifelten

[529]

Verwaist.
Nach einem Gemälde von Mathias Schmid.

[530] Mittel, gegen ein Handgeld von 200 Gulden als Stellvertreter für einen anderen beim Militär einzutreten — man nahm ihn nicht zum Dienste an, weil er ein geborener Ausländer war.

Um diese Zeit (1796) erregte ein schlechter Notendruck seine Aufmerksamkeit; wie wäre es, wenn er sein Verfahren zunächst zum Drucke von Musikalien verwerthete? Er zweifelte nicht, daß er mit seinem Steindruck den bisher üblichen Letternsatz an Schönheit und den Kupferstich an Billigkeit übertreffen würde. Vielleicht war es möglich, einen Musikalienverleger für seine Erfindung zu erwärmen und von ihm die nöthige Geldunterstützung zu erhalten. Er wollte mindestens den Versuch wagen und machte sich auf den Weg, um mit dem Musikalienverleger Falter in München Rücksprache zu nehmen. Als er jedoch an dessen Thür stand, verließ ihn der Muth, unentschlossen kehrte er wieder um und schlich schüchtern nach Hause.

Auf dem Rückweg erfuhr er durch einen bekannten Musiker, daß der Hofmusikus Gleißner beabsichtige, einige Kirchenmusikstücke drucken zu lassen. Da Senefelder mit Gleißner von früher her bekannt war, so stattete er diesem einen Besuch ab und suchte ihn für sein Unternehmen zu gewinnen.

Gleißner sowohl wie seine kluge, unternehmende Frau waren durch einige Proben bald von dem Werthe und der Tragweite der Erfindung überzeugt. Sie wurden Senefelders treue Berather, Mitarbeiter und Geschäftstheilhaber, und ihr Schicksal blieb fortan innig mit dem seinigen verflochten. Gleißner, obgleich selbst in bescheidenen Verhältnissen, brachte die Mittel zur Einrichtung einer kleinen Druckerei auf, eine rohe Holzpresse hatte Senefelders Mutter bereits für 6 Gulden von einem Zimmermann herstellen lassen, und so konnte der Druck der Gleißnerschen Kompositionen beginnen. Das geschah mit solchem Glücke, daß die drei Unternehmer in vierzehn Tagen einen Reingewinn von 70 Gulden erzielten — das erste, mit der Steindruckerei verdiente Geld! Ferner sendete der Kurfürst Karl Theodor für einen ihm überreichten Abdruck 100 Gulden und stellte die Ertheilung eines Privilegiums in Aussicht. Kurz darauf brachte der Druck von „Duetten für zwei Flöten“ weitere 40 Gulden Reingewinn und außerdem ging eine Druckbestellung von der Gräfin Herting in der Höhe von 150 Gulden ein.

Senefelder schwelgte im Glücke, seine Zuversicht wuchs, er wagte es, der Akademie der Wissenschaften eine Probe zur Begutachtung einzureichen, wobei er zugleich bemerkte, daß dieselbe auf einer Presse gedruckt sei, welche nur 6 Gulden herzustellen gekostet habe. Der Erfolg war ein ungeahnter: die gelehrte Körperschaft schickte ihm 12 Gulden und den Bescheid, „daß man wohlgefällig über seine Erfindung votiert und ihm beifolgende Ehrengabe von 12 Gulden bewilligt habe, mit welcher er, als dem doppelten Betrag seiner Auslagen, wohl zufrieden sein werde.“

Eine noch größere Enttäuschung als diese wegwerfende Behandlung durch die Akademie der Wissenschaften mußte der bisher so glückliche Erfinder bei dem Baue einer neuen, kostspieligeren Druckpresse erleben. Als diese Presse, an die er große Hoffnungen geknüpft hatte, fertig war, zeigte es sich, daß sie zum Steindruck nicht geeignet und ganz unbrauchbar war. Der Schlag traf ihn um so härter, da er die alte Presse vernichtet hatte und sich so in der peinlichen Lage befand, die Bestellung der Gräfin Herting nicht rechtzeitig ausführen zu können. In seiner qualvollen Angst und Aufregung gelang es ihm nicht, den Fehler an der Presse zu entdecken, viel Papier wurde verdorben, der Druckauftrag endlich zurückgezogen und das Ende vom Liede war — ein Verlust von 150 Gulden und der Spott mißgünstiger Nebenmenschen!

Die drei Gesellschafter waren in einer wirklich üblen Lage. Senefelder besaß gar nichts mehr; auch Gleißner hatte sein Besitzthum allmählich zu Geld gemacht und obendrein noch eine beträchtliche Schuldenlast übernommen, die zu tilgen ihm bei einem jährlichen Gehalt von 300 Gulden nicht wohl möglich war. In dieser Noth griff der Musikalienhändler Falter ein. Er bewilligte die Mittel zum Baue einer neuen, sorgfältig ausgearbeiteten Walzenpresse und ließ seine Verlagswerke von Senefelder drucken. Lange blieb dem Erfinder indessen das Glück auch jetzt nicht hold; sein treuer Mitarbeiter Gleißner erkrankte gefährlich, er benöthigte der Pflege seiner Frau und Senefelder sah sich plötzlich der werthvollen, für ihn fast unsersetzlichen Hilfe seiner Gesellschafter beraubt. Da ihn selbst die Herstellung der Platten vollständig in Anspruch nahm, so war er gezwungen, den Druck durch Falters Leute ausführen zu lassen, die er in der Eile angelernt hatte. Diesen mangelte jedoch die tiefere Kenntniß der Technik, sie verdarben unmäßig viel Papier, und Falter zog es daher vor, seine Noten wieder in Kupfer stechen zu lassen.

War so die Krankheit Gleißners für Senefelder die Quelle großer Sorgen, so gab sie doch auf der anderen Seite den Anstoß zu neuen, noch wichtigeren Erfindungen, als die bereits gemachte es war. Gleißner hatte bisher die Noten verkehrt mit Bleistift auf den Stein vorgeschrieben und Senefelder, welcher im Verkehrtschreiben nicht gleich geübt war, hatte sie mit chemischer Tinte überzeichnet. Während Gleißners Krankheit nun war Senefelder gezwungen, die Spiegelschrift der Noten selbst auszuführen, und da ihm dies äußerst beschwerlich war, so suchte er ein Mittel zur Erleichterung. Er sann, probierte — und erfand schließlich eine chemische „Umdrucktinte“, mit welcher die Schrift in gewöhnlicher Weise auf Papier geschrieben und von diesem verkehrt auf den Stein „umgedruckt“ werden konnte.

Während dieser Versuche, die er mit den verschiedensten Stoffen vornahm und unermüdlich Monate hindurch fortsetzte, wurde er darauf aufmerksam, daß seine fetthaltige Steintinte alle Nässe, besonders aber dünne Gummilösung, von sich abstieß, wogegen sie die fettige Druckfarbe leicht annahm. Die fettige Druckfarbe aber wurde wieder von der Nässe abgestoßen, setzte sich also bei einem Stücke Papier, welches mit Steintinte beschrieben und hierauf mit dünner Gummilösung überstrichen war, nur auf der Steintinte fest und ließ sich von da leicht auf ein anderes Papier überdrucken. Diese Wahrnehmung führte Senefelder endlich zu seiner größten Erfindung, zur eigentlichen Lithographie oder chemischen Druckkunst. Er folgerte, daß sich eine Solnhofener Steinplatte, mit fettiger Tinte beschrieben, ebenso verhalten würde wie ein Stück Papier, und schon die erste Probe überzeugte ihn von der Richtigkeit seiner Voraussetzung. Alsbald machte er sich an den chemischen Notendruck. Auf einen reingeschliffenen Stein schrieb er mit seiner fetten Tinte Noten, behandelte den Stein leicht mit Aetze und befeuchtete ihn hierauf mit Gummiwasser; als er dann Druckfarbe über den feuchten Stein rieb, blieb diese auf den fetten Noten haften, wurde dagegen vom Steine nicht angenommen, so daß also nur die Noten eingeschwärzt wurden. Nun legte er ein Stück Papier auf den Stein, zog beides durch die Presse und fand zu seiner Freude, daß sich die Noten rein und scharf bis auf die zartesten Striche abdruckten.

Die Proben, welche Senefelder nunmehr mit seiner Kunst lieferte, waren von einer Vollkommenheit, die keinen Zweifel über den Werth der Erfindung mehr übrig lassen konnte; es gingen denn auch soviel Aufträge ein, daß Senefelder mit dem wieder arbeitsfähigen Gleißner bereits daran denken mußte, die Druckerei zu vergrößern. Senefelder lernte auch zwei seiner Brüder an und führte sie in sein ganzes Geheimniß ein, wofür ihm später diese Brüder mit schnödem Undank lohnten. Außerdem beschäftigte er noch einige Lehrlinge und machte bald recht gute und umfangreiche Geschäfte, so daß sich seine und seines treuen Gleißners Lage erheblich besserte. Im Jahre 1799 wurde ihnen endlich auch das Privilegium zur alleinigen Ausbeutung der Erfindung in Bayern auf fünfzehn Jahre verliehen, allerdings, wie sich später zeigte, nur dem Buchstaben nach, nicht als wirklich kräftiger Schutz.

So hätte nun Senefelder aus seiner Erfindung unabsehbar Nutzen ziehen können, wenn er es verstanden hätte, überall seinen Vortheil zu wahren. Aber eine Natur wie die seinige eignete sich hierzu nicht. So groß er als Erfinder war, so ungeschickt war er in kaufmännischen Dingen und in Geldsachen. Dem genialen Manne war der Eigennutz völlig fremd, ihm war es aber auch undenkbar, daß Hinterlist und Selbstsucht die Handlungen anderer leiten könnten, er brachte jedem unbeschränktes Vertrauen und treuherzige, ehrliche Offenheit entgegen.

Senefelders Druckverfahren erregte natürlich schon nach kurzer Zeit die Aufmerksamkeit weiter Kreise. So hatte auch der Offenbacher Musikalienverleger André davon gehört, und als er gelegentlich durch München reiste, erkundigte er sich bei Falter über die Erfindung und ließ sich, ohne seinen Stand zu nennen in die Senefeldersche Druckerei führen. Als er dort die Einfachheit des Verfahrens, die Schnelligkeit des Druckens und die Vollkommenheit der Arbeit sah, erkannte er sogleich den großen Werth der Erfindung, und, indem er sich zu erkennen gab, machte er Senefelder das Anerbieten, ihm gegen eine Entschädigung von [531] 2000 Gulden eine Steindruckerei in Offenbach einzurichten und seine Arbeiter in der Lithographie zu unterweisen. Senefelder ging mit Freude darauf ein, ordnete seine Geschäfte in München und reiste mit seinem Genossen Gleißner nach Offenbach. Und wirklich war auch André von dem Erfolg der ersten Druckversuche so befriedigt, daß er Senefelder den Vorschlag machte, nach Offenbach überzusiedeln, sein Theilhaber zu werden und mit ihm gemeinsam die Erfindung auszubeuten. André wollte die Geschäftsleitung übernehmen, zum Schutze der Erfindung Privilegien in Preußen, Oesterreich, England und Frankreich auswirken, und auch Senefelders treuer Mitarbeiter Gleißner sollte durch ein annehmbares Einkommen versorgt werden. Senefelder und Gleißner bedachten sich nicht lange, das günstige Anerbieten anzunehmen, und so wurde der Vertrag geschlossen. Mit Rücksicht auf das bayerische Privilegium mußte freilich die Münchener Steindruckerei weiter geführt werden, und trotz schlimmer Erfahrungen, die Senefelder bereits mit seinen Brüdern gemacht hatte, übertrug er diesen die Fortführung des dortigen Geschäftes ohne jede Kontrolle.

Unter Andrés umsichtiger Leitung nahm nun das neue Unternehmen einen kräftigen Anlauf, der zu den besten Hoffnungen berechtigte. Während aber Senefelder in London weilte, um dort für das englische Privilegium zu sorgen, begannen seine Brüder in München ihr altes, treuloses Spiel. Sie überredeten ihre Mutter, nach Wien zu reisen und sich dort ein Privilegium für die Familie zu verschaffen, damit diese und nicht der vollständig fremde André den Nutzen aus Alois’ Erfindung zöge. Die Mutter gab nach und machte sich auf den Weg. Das erfuhr Frau Gleißner, und entschlossen reiste sie, von André mit einer Geldanweisung ausgerüstet, der Frau Senefelder nach, um das Privilegium für Senefelder und André zu retten. In Wien hatten sich indessen Dinge begeben, welche das Mißtrauen der Frau Gleißner gegen André wachriefen und als Senefelder mit dem englischen Privilegium aus London zurückkam, fand er einen Brief der Frau Gleißner vor sowie ihres Hauswirths, eines angesehenen Wiener Kaufmanns, in dem er vor André gewarnt und aufgefordert wurde, sofort selbst zur Erwerbung des österreichischen Privilegiums nach Wien zu kommen.

Senefelder stand diesen Vorgängen rathlos gegenüber. Endlich entschloß er sich, die Reise zu unternehmen. Dem widersetzte sich nun aber André, welcher Senefelder behufs Vergrößerung des Geschäftes sehr nöthig in Offenbach brauchte und außerdem wenig Hoffnung hatte, bei dem Stande der Dinge in Wien überhaupt noch etwas zu erreichen. Die Auseinandersetzung beider nahm einen immer erregteren Ton an, André warf Senefelder seine hilflose Lage vor, dieser, dadurch aufgebracht, zerriß den Vertrag und mit den Worten: „Ich mag durch Sie nicht glücklich werden!“ erklärte er die Verbindung für gelöst. Dieser Schritt sollte für ihn verhängnißvoll werden. André hatte es mit Senefelder wirklich ehrlich und gut gemeint, und ohne das Dazwischentreten seiner Brüder wäre diesem die verdiente Belohnung für seine große Erfindung wohl kaum entgangen. Nun aber, ohne den Beistand eines umsichtigen Kaufmanns, glitt ihm jeder Vortheil, den er bereits in der Hand zu halten glaubte, wieder aus den Fingern.

Zunächst erwarteten ihn bittere Enttäuschungen in Wien, wohin er sich, gefolgt von seinen eigennützigen Brüdern, sofort begeben hatte. Frau Gleißner fand er krank und in einer hilflosen Lage. Deren Hauswirth sorgte allerdings bereitwilligst für die Lebensbedürfnisse und brachte in einem Herrn v. Hartl einen Geldmann bei, welcher gewillt war, zur Ausbeutung der Erfindung 6000 Gulden vorzuschießen; Hartl hatte aber weniger den eigentlichen Steindruck im Auge als vielmehr die Ausnutzung des Kattundruckes, eine Erfindung, die Senefelder gleichfalls gemacht hatte. Mit der Erlangung des Privilegiums ging es langsam, und zu dem allen kam, daß sich Senefelders Brüder schon nach kurzer Zeit wieder treulos zeigten. Als sie sahen, daß in Wien keine Reichthümer zu erwerben waren, verlangten sie von Alois, er solle ihnen sofort das nöthige Geld zur Rückreise schaffen, oder sie würden das Geheimniß an Wiener Kunsthändler verkaufen. Um diese Gefahr abzuwenden, gab Hartl das Verlangte, und die Brüder kehrten nach München zurück.

Senefelder richtete nun mit Hartls Hilfe eine Steindruckerei ein, erwarb sich auch durch die hergestellten Proben dessen Zufriedenheit und volles Vertrauen, und Hartl sicherte durch Vertrag dem Erfinder die Hälfte des Gewinnes aus dem gemeinsam zu betreibenden Unternehmen zu, während dieser wieder beabsichtigte, seine Hälfte mit Gleißner zu theilen. Gleißner befand sich noch in Offenbach, und um ihm das Reisegeld senden zu können, machte Senefelder eine Anleihe von 400 Gulden bei seiner Hauswirthin. Diese hilfsbereite Frau besaß mehr kaufmännisches Talent als der geniale Erfinder und verstand es, durch wiederholte Prolongationen die 400 Gulden auf 2000 anwachsen zu lassen, die sie später durch einen Advokaten eintrieb.

Gleißner kam, und um etwas drucken zu können, komponierte er einige Lieder. Denn die Wiener Kunsthändler stellten sich der neuen Erfindung feindlich gegenüber, sie verweigerten jeden Druckauftrag, infolgedessen sich die Gesellschafter ausschließlich auf die Gleißnerschen Schöpfungen angewiesen sahen. Dieser „komponierte einstweilen immer frisch drauf los“, wie Senefelder sagt; der Vorrath an Kompositionen von ihm schwoll immer mehr an, mit ihm wuchsen die Ausgaben, wogegen die Einnahmen ausblieben. Hartl, dessen Einlagen allmählich von 6000 auf 20 000 Gulden gestiegen waren, verlor das Vertrauen und zog sich von dem Unternehmen zurück, indem er es in die Hände seines Sekretärs Steiner und eines Herrn Grasnitzky legte.

Unter der neuen Leitung änderten sich die Verhältnisse. Das Privilegium war ertheilt worden und das Geschäft nahm einen allmählichen Aufschwung. Senefelder allerdings sollte die Früchte nicht mitgenießen, die aus seiner Saat hervorgingen. Als er nach einem Jahre mit Steiner über seinen Gewinnantheil sprach, erklärte ihm dieser, daß erst die 20 000 Gulden an Hartl abgezahlt werden müßten, bevor er einen Gewinnantheil erhalten könnte. Indessen erklärte er sich bereit, Senefelder, der sich in der drückendsten Noth befand, seine gesammten Anrechte sowie das Privilegium für Oesterreich um den Preis von 600 Gulden abzukaufen. Jetzt gingen Senefelder die Augen auf, er sah, wie man gegen ihn zu handeln gedachte — allein es blieb ihm in seiner Nothlage kein Ausweg, er mußte wohl oder übel einwilligen. Bei der Auszahlung des Geldes erfuhr er, daß Gleißner an Steiner noch 550 Gulden schuldete, die von den 600 Gulden abgezogen wurden, und so stand er, seiner Existenz und seines österreichische Privilegiums verlustig, mit den bar erhaltenen 50 Gulden auf der Straße.

Er kehrte im Jahre 1806 nach München zurück, ärmer als er es verlassen hatte. Die unermüdliche Frau Gleißner war ihm dorthin bereits vorausgeeilt und hatte in dem Freiherrn v. Aretin einen Gönner gefunden, der bereit war, den Erfinder zu unterstützen und das Geld zur Gründung einer neuen Anstalt zu bewilligen. Außer dieser erfreulichen Nachricht erwartete ihn indessen bei seiner Ankunft auch eine recht betrübende Botschaft. Seine gewinnsüchtigen Brüder, mit den reichlichen Einnahmen, die sie aus ihrer Münchener Steindruckerei zogen, nicht zufrieden, hatten das Geheimniß der Erfindung eigenmächtig an die Sonntagsschule des Professors Mitterer in München verkauft. Von diesem wurde die Errichtung eines königlichen lithographischen Institutes betrieben, in welchem die Brüder Anstellungen erhielten; später ward noch ein lithographisches Institut im Ministerium errichtet und der eine Bruder Theobald mit hohem Gehalt, Nebeneinkünften und weitgehenden Garantien als Inspektor angestellt.

So wurde das Privilegium von der Regierung, von der es ertheilt worden war, selbst nicht geachtet; kein Wunder, daß sich auch Privatpersonen nicht mehr durch dasselbe gebunden fühlten. Die Technik der Steindruckerei war überhaupt schon allgemein bekannt, frühere Lehrlinge Senefelders, seiner Brüder und Andrés hatten das Geheimniß in andere Städte und Länder getragen, in Stuttgart war unter dem Titel „Das Geheimniß des Steindrucks“ ein Lehrbuch erschienen, und in München bestanden schon 1809 nicht weniger als sieben Steindruckereien. Als Senefelder wegen Verletzung seines Privilegiums Beschwerde führte, antwortete man, das Privilegium sei nicht mehr aufrecht zu erhalten, da die Erfindung längst Gemeingut sei.

Freiherr v. Aretin hatte die hochherzige Absicht, dem Erfinder durch die Gründung einer Kunstanstalt die Zukunft zu sichern und alles beizutragen, seine Verhältnisse zu bessern. Der beste Wille war vorhanden; allein so wenig wie Senefelder war Aretin kaufmännisch veranlagt. Ihre lithographische Anstalt leistete Vorzügliches, sie hatten tüchtige Künstler gewonnen und Werke wie das von Albrecht Dürer für Kaiser Maximilian gezeichnete Gebetbuch in vorzüglicher Nachbildung herausgegeben; trotzdem [532] blieb der geschäftliche Gewinn aus. Die Konkurrenzdruckereien hatten die Preise herabgedrückt, und so arbeitete Senefelder unter Sorgen und Anstrengungen, ohne vorwärts zu kommen. „Es schien —“ sagt er selbst — „daß ich bloß deshalb Tag und Nacht gearbeitet hatte, um anderen den Vortheil meiner mühseligen Arbeiten überlassen zu müssen, indeß ich selbst nur das Leben durchbrachte.“ Ja, eine Zeitlang dachte er sogar daran, bei einem seiner früheren Lehrlinge als Gehilfe in Arbeit zu treten. So weit kam es nun allerdings nicht, denn ein glücklicher Zufall brachte plötzlich eine andere Wendung in sein Geschick.

Der Geometer Schiegg, unter dessen Aufsicht die Karten und Pläne in der Regierungsdruckerei hergestellt wurden, hatte den Direktor der Vermessungskommission, Geh. Rath Utzschneider, auf die Verwendbarkeit des Erfinders aufmerksam gemacht, und dies führte zu Verhandlungen, deren Ergebniß Senefelders sowie Gleißners Anstellung in der Regierungsdruckerei war. Senefelder wurde 1809 mit dem Titel eines königlichen Inspektors mit 1500, Gleißner mit 1000 Gulden Gehalt angestellt. Ersterer gab die von Aretin eingerichtete Druckerei auf und widmete seine fernere, nun von Sorgen befreite Lebenszeit ganz der Weiterausbildung seiner geliebten Steindruckerei. Zunächst ging er an die Ausführung seines Lieblingsplanes, an die Herausgabe eines großen, mit vielen Vorlagen ausgestatteten Lehrbuches, das im Jahre 1818 erschien; daneben beschäftigte er sich mit der Erfindung eines Farbendruckes zur Vervielfältigung von Oelbildern und war bis an sein Ende mit neuen Versuchen beschäftigt. Mit selbstloser Freude sah er die schnelle Ausbreitung der Steindruckerkunst in allen Kulturländern, und obgleich ihm seine Erfindung keine pekuniären Erfolge gebracht hatte, so war er doch weit entfernt, sich darüber in unfruchtbaren Klagen zu ergehen. Nur das schmerzte ihn tief, daß in Zeitungen und Büchern sein reines Streben verkannt, daß ihm Eigennutz und andere unedle Triebfedern untergeschoben wurden, ja, daß man ihm sogar seine Erfindung böswillig abstritt. Man warf ihm vor, er habe nur das Rohe des Steindrucks erfunden, es nicht weiter als bis zum Notendruck gebracht, er habe aus Eigennutz das Geheimniß der Erfindung verborgen gehalten und was dergleichen vom Neide eingegebene Gehässigkeiten mehr waren.

Wahrhaft mitleiderregend war das Ende des Gleißnerschen Ehepaares, das mit Senefelder so treulich Leid und Freude getheilt hatte. Gleißner verfiel in eine unheilbare Gehirnkrankheit und starb im Jahre 1824, seine Frau in einer gänzlich hilflosen Lage zurücklassend. Muthig und entschlossen, wie sie stets gewesen, suchte sie sich wohl mit Hilfe einer kleinen Druckerei zu ernähren, allein sie erlag der wachsenden Konkurrenz. Senefelder that, was in seinen Kräften stand, um die Lage der armen alten Frau zu bessern, und rief selbst die Großmuth des Königs an — mit welchem Ergebniß, ist leider unbekannt geblieben.

Senefelder wurde 1827 in den Ruhestand versetzt und lebte von da an noch bis zum 24. Februar 1834. Es war ihm nicht vergönnt, aus seiner großen Erfindung auch nur so viel zu ziehen, als nöthig war, um seine Hinterbliebenen vor der Noth zu bewahren. Schon zwölf Jahre nach seinem Tode, in den Jahren 1846 und 1847, wurden in Zeitungen Aufrufe zur Unterstützung seiner bedrängten Familie erlassen, leider mit geringem Erfolg. Ebenso ward im Jahre 1872 eine weitere Sammlung veranstaltet, hauptsächlich zur Unterstützung einer Nichte Senefelders, welche erblindet war, in bitterer Noth ihr Bett verkaufen mußte und krank auf armseligem Strohlager dahinsiechte. Die Sammlung ergab 55 Thaler 12½ Silbergroschen!!!


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Goliath und David unter den Antilopen.

Eine naturgeschichtliche Studie von Dr. L. Heck, Direktor des Zoologischen Gartens in Berlin.
Mit einer Zeichung von G. Mützel.


Unter diesem Titel vereinigen sich zwei meiner Pfleglinge, die vermöge ihrer eigenartigen Schönheit und zutraulichen Liebenswürdigkeit zu meinen Lieblingen gehören, seit ich sie unter meiner Obhut habe. Es sind der Wasserbock (Antilope unctuosa Laur.) und das Buschböckchen (Antilope pygmaea Pall.).

Obwohl beides Antilopen, sind sie doch so verschieden, wie innerhalb eines gewissen Rahmens zwei Thiere nur sein können, und sie führen uns dadurch recht handgreiflich vor Augen, wie die im Kampfe ums Dasein nothwendige Anpassung an verschiedene Lebensverhältnisse das Aeußere eines in seinen wesentlichen inneren Verrichtungen völlig gleichen Organismus verändert. Wie sie sich uns jetzt darstellen, sind nun allerdings auch beide Antilopenformen für das Leben an den ihnen eigenthümlichen Aufenthaltsorten ganz vortrefflich ausgerüstet, während die eine am Platze der anderen ganz unmöglich wäre.

Der Wasserbock durchbricht mit wuchtigem Sprunge aeines mächtigen Körpers leicht die dichten Schilfwaldungen der süd- und innerafrikanischen Flußufer; durch sein langes dichtes, von Fett glänzendes Haarkleid geschützt, bewegt er sich stundenlang äsend auf den überwachsenen Untiefen und teichartigen Ausbuchtungen derselben, und vor dem verfolgenden Leoparden – wie auf unserer Zeichnung von Mützel – vor dem Löwen oder Menschen stürzt er sich ohne weiteres in das tiefe Wasser des breitesten Stromes, um sich schwimmend zu retten.

Das Buschböckchen andererseits ist durch seinen überaus zier lichen Körperbau, seine für eill Hnftier fast ungtanhliche Kleinheit in stand gesetzt, mit mausartiger Behendigkeit durch die unentwirrbaren Dickichte des afrikanischen „Busches“ zu schlüpfen; es pflegt hier behaglich der sicheren Ruhe an Orten, wohin von außen weder der Sprung eines Raubthieres, noch der Stoß eines Raubvogels, noch endlich das Auge und die Kugel eines Jägers zu dringen vermögen, oder es schleicht durch das hohe Gras der Lichtungen von einem „Busch“ zum andern auf bleistiftdünnen Beinchen so sachte dahin, daß nicht einmal ein Zittern der Halme dem Verfolger seine Spur verräth.

Wenn wir nun zwei so unter einander verschiedene Thiergestalten unter dem Namen „Antilope“ vereinigt finden, so liegt die Frage sehr nahe, was sie denn eigentlich Gemeinsames besitzen. Darauf giebt uns die wissenschaftliche Betrachtung folgende Antwort: Sie sind zunächst Hufthiere und zwar Zweihufer oder, wie man aus triftigen Gründen sich jetzt ausdrückt: Paarzeher (Säugethierordnung der Artiodactyla); ferner sind sie Wiederkäuer (Unterordnung der Ruminantia) und schließlich tragen sie Hohlhörner, d. h. hornige Scheiden um zwei Knochenzapfen, die dem Stirnbein aufsitzen und niemals abgeworfen werden (Familie der Cavicornia). Aber alle diese Charaktere kommen auch Rindern, Schafen und Ziegen zu; warum sind nun Wasserbock und Buschböckchen Antilopen? Was versteht man überhaupt unter einer Antilope?

Durch diese Frage bringen wir die Zoologie einigermaßen in Verlegenheit. Sie muß, wenn auch verblümt, eingestehen, daß sie eine scharfe Bestimmung des Begriffes nicht zu geben weiß, und auch die Paläontologie, die ihr sonst mitunter aus der Noth hilft, indem sie aus vergangenen Perioden der Erdgeschichte Zwischenglieder zu Tage fördert, giebt in diesem Falle so gut wie gar keine nähere Auskunft; denn Reste von Antilopen früherer Erdperioden sind bis jetzt nur sehr sparsam und aus den jüngsten Schichten bekannt geworden. So ist man denn in der Bestimmung der Unterfamilie der Antilopen nicht über den Standpunkt des alten russischen Zoologen und Sibirienreisenden Pallas hinausgekommen, welcher ebenso treffend als ehrlich sagte: „Die Naturforscher haben diejenigen mit Hohlhörnern versehenen Wiederkäuer Antilopen genannt, welche sich weder mit den Ochsen, noch mit den Ziegen, noch mit den Schafen in ungezwungener Weise zusammenbringen lassen.“

Daß bei einer so verschiedenartig zusammengewürfelten Sammelgruppe die innere Gliederung, die Aufstellung von Gattungen ebenso großen Schwierigkeiten begegnet wie die Abgrenzung nach außen, ist von vornherein wahrscheinlich; und in der That treten denn auch bei den Antilopen alle diejenigen Merkmale, die zur Zusammenfassung je einer Anzahl Arten zu einer Gattung dienen könnten, ohne jeden Zusammenhang so bunt durch- und nebeneinander auf, daß eine eigentlich systematische Gliederung, eine Eintheilung nach einem und demselben durchgehenden Prinzip ganz unmöglich ist und man froh sein muß, [533] eine Anzahl ausgeprägter, wenn auch nach ganz verschiedenen Gesichtspunkten charakterisierter Typen gefunden zu haben, um die man dann die übrigen Formen gruppiert, so gut es eben gehen will. Unter diesen Typen ist es nun derjenige der Wasserantilopen (Gatung Kobus), dem der Wasserbock, und derjenige der Buschantilopen (Gattung Cephalolophus), dem das Buschböckchen angehört.

Buschböckchen.   Wasserbock.

Der Wasserbock ist, wie oben bereits angedeutet, die Antilope der Flußniederung mit ihren Rohrwäldern und Sumpfwiesen und daraus erklärt sich auch seine hervorstechende Eigenthümlichkeit, die bei einem tropischen Thiere doppelt auffallen muß: das lange, dichte, auf dem Halse bis zu einem Wirbel vor den Schultern gescheitelte Haarkleid, welches von den Talgdrüsen der Haut fortwährend dermaßen eingefettet wird, daß es zeitweise von flüssigem Fette förmlich trieft. Dieses Merkwal ist so charakteristisch, daß es mit Recht sowohl zu der deutschen Bezeichnung „Fetthaarantilope^ als zu dem lateinischen Artnamen „unctuosa“, die „gesalbte“, den Anlaß gegeben hat. Von der Größe unseres Edelhirsches, ist der Wasserbock noch kräftiger und massiger gebaut oder erscheint wenigstens so infolge seiner längeren Behaarung; er wäre vielleicht sogar plump zu nennen, wenn die elegant geformten und gestellten Beine diesen Eindruck nicht verhinderten. Jedenfalls ist er eine der stattlichsten Erscheinungen unter allen Antilopen, und wenn er den schönen Kopf mit dem ausdrucksvollen Auge und dem prächtigen Gehörn langsam erhebt, entzückt er das Auge des Jägers und Thierfreundes. Man kann sich in solchen Augenblicken lebhaft in die freudige Aufregung des Reisenden hineinversetzen, der zum ersten Male die majestätische, dunkel glänzende Gestalt aus dem Grün des umgebenden Dickichts emportauchen sieht, wenn das vorsichtige Thier einen Termitenbau besteigt, um von dort aus mit ruhiger Würde sichernd sein Gebiet zu überschauen, eine Gewohnheit, die dem alten Leitbock jedes Rudels eigen sein soll.

Die Färbung des Wasserbockes ist ein schönes glänzendes Rothbraun mit schwärzlichem Anflug, der dadurch entsteht, daß die einzelnen Haare schwarze Spitzen haben; den schönen Glanz verdankt das Fell der oben bereits erwähnten Einfettung der Haare. Diese letztere hat aber auch einen ganz eigenthümlichen unangenehmen Geruch im Gefolge, der gewöhnlich als Bocksgeruch bezeichnet wird, mich jedoch mehr an Theer erinnert. Er soll auch dem Fleische anhaften und dieses selbst der wenig wählerischen Zunge des hungernden Negers verleiden, was sehr [534] viel sagen will; ja, unmittelbar nach dem Tode soll dieser Geruch oft so stark werden, daß der weiße Jäger kaum imstande ist, das erlegte Wild abzuhäuten und sich des Gehörns als Jagdtrophäe zu versichern.

Die schöne Farbe des Wasserbocks wird durch eine einfache, aber ansprechende Zeichnung noch gehoben. Die Schnauzenspitze mit Ausnahme der nackten schwarzen Nase, ein Ring um die Augen, ein halbmondförmiges Halsband, welches, sich verschmälernd, bis zu den Ohren hinaufreicht, die Innenseite der Ohren selbst, die Gegend zu beiden Seiten des Schwanzes bis gegen die Ferse herab und schließlich ein ganz schmaler Streif gerade über den schwarzen Hufen sind weiß gefärbt, während die Beine in einiger Entfernung vom Rumpfe ganz schwarz werden. Der schönste Schmuck des Wasserbocks, der allerdings nur dem Männchen zukommt, ist unstreitig das Gehörn; es macht ihn erst zu einer so eindrucksvollen Erscheinung. Dick und stark, an der Wurzel etwa von dem Durchmesser eines mäßigen Ochsenhornes, erheben sich die Hörner etwa zwei Fuß über den Kopf, indem sie sich sanft erst nach außen und hinten, dann wieder nach vorn biegen; die Vorderseite ist hell und mit wulstigen Halbringen versehen, die Hinterseite schwarz und glatt. Das Weibchen entbehrt, wie gesagt, der Hörner, ist überhaupt kleiner und unscheinbarer, indeß durch die Farbe und das lebhafte, aufgeweckte Wesen immerhin ein eigenthümlich schönes Thier.

Der Wasserbock lebt in kleinen Rudeln, indem ein alter Bock mehrere Weibchen um sich vereinigt; außerdem halten sich stets einige junge Böcke zu dem Trupp, wohl meist die Söhne des alten, die dieser aber sicher nur solange duldet, als sie ihm keinen Anlaß zur Eifersucht geben. Einen erheblichen Nutzen für den Menschen gewährt der Wasserbock nicht, da Fell und Hörner keine besondere Verwerthung erfahren, und nur ganz junge Thiere ein einigermaßen schmackhaftes Fleisch liefern; ebensowenig thut er aber bei seinem eigenthümlichen Aufenthaltsort irgend welchen Schaden, und seine Jagd wird daher auch nicht um materieller Zwecke willen betrieben, sondern „aus bloßer Leidenschaftlichkeit,“ wie ein namhafter. älterer Systematiker mit unvergleichlicher Trockenheit von der Antilopenjagd im allgemeinen sagt.

In Gefangenschaft ist der Wasserbock in den letzten Jahren mehrfach gekommen und hat sich hier auch wiederholt fortgeplanzt. Doch blieb es mir vorbehalten, ihn in unseren deutschen Zoologischen Gärten bekannt zu machen. Nachdem ich das prächtige Thier einmal in Antwerpen gesehen, ließ es mir keine Ruhe, bis ich nach vielen Umfragen und Bitten glücklich auch ein Paar erobert hatte. Dieses bildet heute noch eine Hauptzierde des Kölner Zoologischen Gartens und ist dadurch noch ganz besonders interessant, daß es meines Wissens den ersten gelungenen Versuch vollständiger Acclimatisation einer Antilope in einem deutschen Thiergarten darstellt. Ermuthigt durch bedeutsame Erfolge auf diesem Gebiet, die mir besonders aus Holland bekannt waren, brachte ich nämlich in Köln meine Wasserböcke zusammen mit einem Paare Nilgauantilopen in den gerade fertig gewordenen neuen Hirschgehegen unter, wo sie Sommer und Winter im Freien leben und nur in einem hölzernen Stalle mit offener Thür vor den schlimmsten Unbilden der Witterung einigen Schutz finden.

Daß so großen kräftigen Thieren, die doch in ihrer Heimath die mitunter gewaltigen Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht aushalten müssen, die reine, feuchte, wenn auch kalte Freiluft unseres Winters schaden oder auch nur schädlicher sein sollte als die unreine trockene Heizungsluft unserer Thierhäuser, wollte mir, der ich kaum in die Zunft der deutschen Thiergärtner eingetreten war, nicht recht in den Kopf: so schlug ich denn als junger Wagehals über die Stränge und – der Erfolg gab mir recht. Die Thiere überstanden den Winter prächtig, und als ich nach Berlin übersiedelte, konnte ich schon meinem Nachfolger das Versprechen abnehmen, mir das erste, damals gerade geborene Junge des Wasserbockpaares nachzuschicken, sobald es versandtfähig sei. Dieser mittlerweile stattlich herangewachsene Bock ist jetzt eines der schönsten Stücke des Berliner Antilopenbestandes, und ich sehe ihn jeden Tag auf meinem Rundgang mit besonderer Liebe an.

Das Buschböckchen ist – um einen Vergleich zu gebrauchen – der Zaunkönig unter den Antilopen, nur daß es nicht wie dieser kleine Spektakelmacher unseres heimischen Waldes sich stets durch auffallendes, lautes Benehmen zu verrathen pflegt. Im Gegentheil, die Afrikajäger können es gar nicht drastisch genug schildern, wie es ihnen anfangs trotz aller Zurufe und Fingerzeige ihrer eingeborenen Führer ganz unmöglich war, das Zwergwild in dem Zweig- und Laubgewirr des halbdunklen Buschwaldes zu entdecken. Das Buschböckchen ist so klein – es erreicht nicht einen Fuß Höhe und Rumpflänge, eine für ein Hufthier fast unglaubliche Winzigkeit! – daß es von vornherein leicht übersehen wird, zumal es auch in der Farbe seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort, dem dichten Unterholz, ganz vortrefflich angepaßt ist. Die Hauptfarbe ist ein Mausgrau mit zart bläulichem Anflug, das an Kopf und Gliedern in ein lichtes Fuchsroth, auf der Unterseite des Körpers in Weiß übergeht. Der kurze, jedoch nicht stummelhafte Schwanz ist auf der oberen Fläche dunkel, an den Seiten weiß und zwar lang zweizeilig behaart nach Art des Eichhornschwanzes. Die kleinen spitzen Hörnchen, die für gewöhnlich nur der Bock tragen soll – bei allen Pärchen, die ich bis jetzt gesehen habe, besaßen sie beide Geschlechter – gleichen in Form und Größe den Akazien- oder Mimosendornen und werden von einem Haarschopf, der sich zwischen den Ohren erhebt, halb verdeckt; sie sind schwarz gefärbt, ebenso wie die unbeschreiblich niedlichen Hufe. In Figur und Haltung zeigen die Zwergantilopen wie alle kleinen Wiederkäuer, sogar der verhältnißmäßig noch sehr große Schweinshirsch, eine gewisse Annäherung an die Nagetiere, insbesondere an die südamerikanischen Hufpfötler, z. B. das Aguti, und zwar durch den im Vergleich mit den Beinen massig und schwer erscheinenden Körper sowie den etwas gekrümmt getragenen Rücken und die im Zusammenhang damit besonders stark geknickten Hinterläufe. Ob dies wohl daraus zu erklären ist, daß alle diese Thiere bei ihrer Ortsbewegung vielfach auf Hochsprünge angewiesen sind, zumal die Zwergantilopen, für die ein kräftiger Grasbüschel schon ein ansehnliches Hinderniß zu nennen ist? Abgesehen von den sehr großen Thränengruben, die öfters in ihrer ganzen Länge mit vertrockneter Absonderung gefüllt sind, erinnert auch der Kopf der Zwergantilope einigermaßen an die genannten Nager, und zwar besonders durch die großen Augen und die gebogene Linie des Profils; in der Vorderansicht dagegen erweist die schmale, nackte, dunkel fleischfarbene Muffel unzweifelhaft die Wiederkäuernatur.

Das Freileben der Zwergantilope hat uns Brehm geschildert mit der ganzen klassischen Anschaulichkeit, die diesem großen Thiermaler in Worten eigen ist. Er führt uns in das eigentliche Wohngebiet des Thierchens, den afrikanischen „Busch“ ein, jene kreuz und quer von einer Unzahl von Schlingpflanzen durchrankten, für jeden größeren Körper undurchdringlichen Dickichte von Baum- und strauchartigen Gewächsen, wie sie sich besonders an den Betten der Wildbäche entlang ziehen. Hier, wo der Tisch mit zarten Mimosenblättern, mit saftigen Gräsern und allerhand grünen Trieben und Knospen stets reichlich gedeckt ist, führt das Buschböckchen mit seinem Weibchen ein stillvergnügtes Gnomendasein. Es lebt stets paarweise, niemals in Rudeln, und auch das Junge bleibt nur so lange bei den Alten, bis es selbständig ist. Wenn nur die bösen Feinde nicht wären! Aber deren hat unser Antilopenzwerg, wie alle die Kleinen im Thierreich, eine ganze Schar. Obenan steht natürlich der Mensch. Der Farbige zwar, der Abessinier oder der Kaffer, stellt ihm nicht allzu heftig nach, für seinen Appetit ist der kleine Schelm kein Gegenstand; den weißen Jäger dagegen, den weidwerkskundigen Afrikareisenden, reizt die Schwierigkeit der Jagd und die mit der Jagd verbundene Beobachtung des klugen, niedlichen Thierchens, die in der That ein köstliches Vergnügen, eine wahre Augenweide sein muß. Wiederum unseren Brehm, den weidgerechten Forscher, in Gedanken auf den Pirschgang begleitend, sehen wir den schlauen Bock, der uns natürlich schon eher gewahrt hat als wir ihn, erst eine Weile regungslos im Dickicht stehen und dann ganz sachte im Dunkel des „Busches“ verschwinden, gefolgt von der getreuen Ehehälfte; wir hören den scharf schneuzenden Warnungston in dem Augenblick, ehe das Pärchen in pfeilgeschwinden Sätzen über die nächste Lichtung flüchtet, und das Jagdfieber ergreift uns fast bei dem schwierigen Schusse auf das kleine Wild, das bei der unglaublich raschen Bewegung kaum zu erkennen ist. Selbst mit [535] dem Schrotgewehr bringt nur ein Meisterschuß den flüchtigen Bock zur Strecke.

Nächst dem Menschen ist wohl der schlimmste Feind der Zwergantilopen der Leopard, und er wird sich auch durch die Zähigkeit und Trockenheit des Wildprets nicht abschrecken lassen; ebensowenig wie die kleineren Räuber aus dem Katzen- und Hundegeschlecht, Serval und Schakal, die vielleicht hier und da einen der kleinen Buschklepper erwischen.

Daß lebende Zwergantilopen außerordentlich selten nach Europa kommen, wie Brehm behauptet, kann ich nach meinen Erfahrungen nicht bestätigen. Auf den Listen der englischen Thierhändler erscheint öfters einmal eine „Philantomba-Antelope“ und im Amsterdamer Zoologischen Garten blüht eine ergiebige Zucht mehrerer Arten, so daß man die kleinen Dinger schließlich jederzeit haben kann. Nichtsdestoweniger war ich der erste, der sie sowohl in Köln als hier in Berlin einführte; im allgemeinen sind sie allerdings bei uns in Deutschland noch ziemlich unbekannt, weil es eben in unseren Zoologischen Gärten, die ja alle annähernd nach einer Schablone angelegt sind, meist an passender Unterkunft für kleine Vierfüßler zu fehlen pflegt. Und doch erregen die Zwerge mindestens ebensoviel Interesse als manches zehnmal so theure Stück aus dem „Eisernen Bestand“, der in jedem Zoologischen Garten unvermeidlich wiederkehrt. Wenn man ihnen nun gar ein Liliputanerschlößchen mit drahtübergittertem Grasgärtchen davor zusammenzimmert, wie wir das auf einem großen Tische mitten im Grün unseres hellen, glasgedeckten Antilopenhauses gethan haben, so wird man erst recht inne, welch genußreiches Schauspiel sie gewähren können.


Die Astronomie auf der Straße.[2]

Das Stück Himmel, welches unser heutiges Theilkärtchen herausgreift, ist verhältnißmäßig arm an Sternen erster Größe.

Es erscheint hier wieder der uns schon bekannte Arktur, die Spica und die Wega, sowie das Sternbild der nördlichen Krone. Die Linie, welche die Sterne 2 und 7 des Großen Bären miteinander in Verbindung setzt, führt ziemlich genau auf Gemma, den Hauptstern in der Krone; dieselbe Linie giebt in ihrer weiteren Verlängerung die Richtung nach dem Antares, einem Sterne etwa erster Größe im Sternbild des Skorpions; der Name dieses Sternes („Gegen-Ares“) rührt von seiner rothen Farbe her, welche an diejenige des Planeten Mars oder Ares erinnert. Noch eine Reihe von Sternbildern befindet sich in dieser Gegend des Himmels, z. B. Herkules, Ophiachus, Schlange u. a.; sie mögen aber hier außer Betracht gelassen werden. Denn wer sich an der Hand dieser Kärtchen mit den wichtigsten Sternen und Sterngruppen bekannt gemacht hat, wird von da aus leicht selbst mit Hilfe einer einheitlichen ausführlicheren Sternkarte das Fehlende zu ergänzen imstande sein. Die schon früher erwähnte Wega wird am besten durch die Verbindungslinie der Sterne 3 und 4 des großen Bären aufgefunden; wie man sieht, liegt sie etwas links von derselben ab.

Was die Kennzeichnung der einzelnen Sterne als solcher „erster“, „zweiter“, „dritter“ etc. Größe anlangt, so ist der Laie nur zu sehr geneigt, diesen Bezeichnungen der Sternkarten einen größeren Werth beizulegen, als ihnen in Wahrheit zukommt. Die Einordnung der Sterne in die verschiedenen Größenklassen ist ziemlich unbestimmter Natur und beruht zum Theile auf verhältnißmäßig oberflächlicher Schätzung der Helligkeit; die meisten der gangbaren Himmelskarten lassen noch Reste der von Ptolemäus gegebenen Eintheilung der Sterne in die einzelnen Klassen erkennen; und die neueren wissenschaftlichen Methoden der Helligkeitsbestimmung liefern keineswegs vollkommen übereinstimmende Ergebnisse, auch sind manche Sterne wie z. B. Beteigeuze von wechselndem Glanze.

Die Bestimmung der Helligkeitsverhältnisse von Sternen verschiedener Größe ist in diesem und dem vorigen Jahrhundert auf mannigfache Weise unternommen worden. Wilhelm Herschel befolgte das Verfahren der Vergleichung, das den meisten Lichtmessern überhaupt zu Grunde liegt: zwei Spiegelteleskope von ganz gleicher Beschaffenheit stellte er so auf, daß jedes derselben das Licht von einem bestimmten Sterne, einem helleren (A) und einem weniger hellen (B) auffing, und daß zugleich der Beobachter sich in sehr kurzer Zeit von der Augenöffnung des einen Fernrohrs zu der des anderen begeben konnte; durch Einschieben von kreisförmigen Oeffnungen mit verschiedenem Durchmesser wurde sodann nach und nach das Bild des helleren Sternes A so lange verringert, bis das abgeschwächte Licht des Sternes A dem ungeschwächten Lichte des anderen Sternes B gleich erschien. Andere Apparate wurden u. a. von John Herschel, Arago, Steinheil und besonders von Zöllner konstruiert, welch letzterer die sogenannte Polarisation des Lichts in Nicolschen Prismen benutzte.

Um einige Zahlen anzugeben, so fand Seidl mittels des Steinheilschen Photometers folgende Verhältnißzahlen für die Helligkeit verschiedener Sterne: giebt man der Wega die Zahl 100, so hat Sirius 513, Rigel 130, Arktur 84, Capella 83, Procyon 71, Spica 49, Atair 40, Aldebaran 36, Regulus 34 etc.

Die Sternbilder, d. h. die Umrißzeichnungen der Gestalten, welche den Sterngruppen ihre Namen geliehen haben, wurden aus gutem Grunde in die Kärtchen nicht aufgenommen; dem Anfänger in Sachen der Himmelskunde möchten dieselben zur Orientierung herzlich wenig nützen.

Nicht uninteressant ist es im übrigen, auf die Geschichte der Zusammenfassung einzelner Sterngruppen zu Sternbildern einen kurzen Blick zu werfen. Nach Gretschel dürften die beiden ältesten Urkunden über Sternbilder eine im Britischen Museum zu London aufbewahrte assyrische Keilinschrift und die Bibel sein; jene Keilinschrift sagt von dem Weltschöpfer: „Der Sterne Erscheinung ordnete er an in Gestalt von Thieren. Das Jahr zu bestimmen durch die Beobachtung ihrer Konstellationen, ordnete er zwölf Monate von Sternen in drei Reihen, von dem Tage, da das Jahr beginnt, bis zum Schlusse.“

Und das Buch Hiob erwähnt die Namen des Orion, der Plejaden und der Hyaden, woraus folgen würde, daß schon Jahrhunderte vor Christus in Arabien Sternbilder entworfen und benannt wurden; allerdings mögen die alexandrinischen Uebersetzer der sogenannten „Septuaginta“ später gebrauchte Namen an Stelle anderer gesetzt haben. Inwieweit die griechische Bezeichnung der Sternbilder mit derjenigen der Assyrer und Aegypter zusammenhängt, dürfte nicht leicht zu ermitteln sein. Nach einer späteren Legende hat der Centaur Chiron, der Lehrer des Jason und des Achilles, den Himmel zum Gebrauch der Argonauten in verschiedene Gruppen oder Sternbilder getheilt; Hesiod erwähnt die Plejaden, den Arktur, Orion, Sirius, ferner Homer, bei Gelegenheit der Beschreibung des Achilleïschen Schilds (Ilias XVIII, 483 u. f.), die Plejaden, Hyaden, den Orion und den Großen Bären, der „allein nicht in das Meer hinabtauche“, woraus meist geschlossen wird, daß um die Zeit Homers die Griechen die Sternbilder des Kleinen Bären, des Cepheus und des Drachen noch nicht kannten.

Im 22. Buche der Ilias wird Achilles, wie er von fern den Troern erscheint, mit dem aufsteigenden Orion verglichen, der Unheil und sengende Hitze den unglückseligen Menschen bringt; und im 5. Buche der Odyssee (Vers 268 bis 277) lenkt Odysseus sein Schiff nach den Sternbildern:

„Fahrwind sandte sie dann, unschädliches laues Gesäusels.
Freudig spannt’ im Winde die schwellenden Segel Odysseus,
Selbst dann saß er am Ruder, und steuerte kunstverständig
Ueber die Flut. Nie deckte der Schlaf ihm die wachsamen Augen,
Auf die Plejaden gewandt, und den spät gesenkten Bootes,
Auch die Bärin, die sonst der Himmelswagen genannt wird,
Welche sich dort umdreht, und stets den Orion bemerket,
Und sie allein niemals in Okeanos Bad sich hinabtaucht.
Denn ihm befahl dieß Zeichen die herrliche Göttin Kalypso,
Daß er das Meer durchschiffte, zur linken Hand sie behaltend.“

Den Kleinen Bären soll Thales, den Widder und den Schützen hundert Jahre später Kleostratus von Tenedos eingeführt haben. Arago hält es für wahrscheinlich, daß die Bilder des Thierkreises als Abbildungen der zwölf ägyptischen Gottheiten, welche den zwölf Monaten des Jahres vorstanden, zu betrachten seien; danach war der Widder dem Ammon geweiht, der Stier stellte den Gott oder den Stier Apis vor, die unzertrennbaren Gottheiten Horus und Harpokrates entsprachen den Zwillingen etc. Ihre endgültige Festsetzung scheinen die Sternbilder zwischen dem 4. und 2. Jahrhundert v. Chr. erhalten zu haben, ihrer 48 zählt Ptolemäus in seinem „Almagest“ auf, und diese 48 wurden von den Arabern fast unverändert übernommen. Einige wenige neue Bezeichnungen sind Schöpfungen des vorigen oder unseres Jahrhunderts; so geht auf Bode zurück das „Herschelsche Teleskop“, die „Buchdruckerwerkstatt“, die „Elektrisiermaschine“, das „Log“ und die „Logleine“; da und dort wurde wohl auch der Versuch gemacht, den ganzen Sternhimmel mit neuen Sternbildernamen zu versehen, wie z. B. der Jenaer Professor Weigel einen „heraldischen“ Himmel konstruieren wollte. Aber solche Anläufe fanden stets die gebührende Zurückweisung. Dr. C. Cranz.     

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[536]

Der Klosterjäger.

Ein Hochlandsroman aus dem 14. Jahrhundert von Ludwig Ganghofer.

 (9. Fortsetzung.)


Herr Schluttemann wollte zu einer langen Rede ausholen; aber da kam Frater Severin in athemloser Eile über die Schwelle gestolpert; „Herr! Herr! Pater Desertus ist heimgekehrt!“

„Wo ist er?“ rief der Propst in freudiger Bewegung.

„Da kommt er schon!“

Von Staub bedeckt, wie er vom Pferd gesprungen war, erschien Pater Desertus unter der Thüre. Sein Haupthaar, auch der lange schwarze Bart, war leicht ergraut, aber seine Augen blickten hell und frei, und frische Lebensfarbe lag auf seinem sonnverbrannten Antlitz.

„Dietwald! Dietwald!“ Und Herr Heinrich umschloß mit beiden Armen den Heimgekehrten.

Frater Severin und der Vogt verließen das Gemach.

„Rede, Dietwald, rede! Wie ist es Dir ergangen? Aber ich frage noch! Und die Antwort steht in Deinen Augen, auf jedem Zuge Deines Gesichtes!“

„Wie hätt’ es mir übel ergehen können – süßer Trost und hoffende Freude zogen ja mit mir! Sagt, Herr, sagt, wie geht es dem holden Kinde?“

„Ich meine, gut. Die Kleine ist wohl aufgehoben bei den Domfrauen. Aber mir scheint, das neue Kleid will ihr noch immer nicht sitzen.“ Herr Heinrich lächelte. „Die Berichte der Oberin laufen von Jammer über wie heiße Milch. Bis heute hat das Mädchen im Kloster nicht mehr gewonnen ... als alle Herzen!“

Die Augen des Paters leuchteten. Dann faßte er die Hände des Propstes. „Ihr habt mich knapp gehalten mit Botschaft.“

„Ich schrieb Dir, was ich schreiben konnte. Der Sudmann weiß weder Ort noch Namen. Aber Du selbst magst alles von ihm hören.“

„Er lebt noch?“ fragte Pater Desertus mit ungläubigem Staunen.

„Zwei Monate liegt er nun in schwerem Siechthum. Doch als ich ihn das letzte Mal besuchte, da schien es mir, als beginne Eusebius zu hoffen. Wir wollen morgen zu ihm ...“

„Nein, Herr, heute noch, ich bitte!“

„Kann ich Dir die erste Bitte versagen? Aber nun rede, erzähle! Wie hat Dich der Kaiser aufgenommen?“

„Wie einen Sohn!“

„Und konntest Du ihm diese Liebe vergelten? Wie ist Deine Sendung ausgefallen?“

Das Antlitz des Paters verdüsterte sich. „Wir wurden abgewiesen.“

Herr Heinrich nickte vor sich hin, als hätte er diese Antwort erwartet. „Wer zog mit Dir?“

„Heinrich von Virneburg, der Mainzer. Einundzwanzig Tage währte unser Ritt. Wie staunte ich, als wir Avignon erreichten!“

„Du fandest einen weltlichen Hof, schwelgend in allen Freuden des Lebens?“

„Und inmitten dieses Taumels sitzt der Papst, ein williger Höfling Frankreichs, das den Streit zwischen Ludwig und der Kirche schürt und sich dabei durch Länderraub auf Kosten Deutschlands zu bereichern sucht. Wenn der Papst auch den Frieden mit Deutschland wollte, er darf ihn nicht wollen . . . Frankreich erlaubt es nicht!“ Mit zornigem Lachen hatte Pater Desertus diese letzten Worte begleitet.

„Laß nur gut sein, Dietwald! Für alles kommt eine zahlende Zeit!“ Herr Heinrich erhob sich. „Komm’, Du wirst müde sein; erhole Dich einige Stunden! Dann magst Du mir alles erzählen, während wir zum See reiten.“

Pater Desertus aber wollte nichts wissen von Ruhe. Er ging nur, um das Kleid zu wechseln . . . und schon ein halbes Stündlein später ritten sie zum Klosterhof hinaus. Vor Mittag noch erreichten sie Bartholomä.

„Nun? Wie geht es Deinem Kranken?“ fragte Herr Heinrich den Pater Eusebius, der sie begrüßte.

Eusebius lächelte. „Sagt, Herr, habt Ihr schon einmal einen Stein in die Höhe fallen sehen und ein Wässerlein bergauf laufen? Nein? Dann passet nur auf . . . Ihr seht es gewiß noch! Denn der Mann wird gesund. Freilich den lahmen Arm muß er sich gefallen lassen.“

Herr Heinrich und Pater Desertus traten in die Klause. Auf reinlichem Lager ruhte Wolfrat, abgemagert bis auf Haut und Knochen. Brust und Arme lagen noch im Verband; die Rißwunden im Gesicht aber waren schon geheilt und hatten kaum merkliche Narben zurückgelassen.

Wolfrats Augen leuchteten auf, als er den Propst in der Thür erscheinen sah. „Grüß Gott, Herr, grüß Gott! Gelt, ich darf schon gleich fragen . . . wie geht’s denn meiner Seph’?“

„Ein paar Wochen noch, Wolfrat, und Dein Weib ist wieder kerngesund!“

„Vergelt’s Gott, Herr. und . . . und mein Bub?“

„Gieb acht, den wirst Du gar nicht wiedererkennen! Der ist kugelrund geworden! Freilich ....“ Herr Heinrich lachte, „er war ja in Klosterkost.“

Pater Desertus trat in mühsam verhehlter Erregung an das Lager des Sudmanns.

„Jetzt kenn’ ich Euch erst, Herr Pater!“ sagte Wolfrat mit schwankender Stimme. „Euch muß ich wohl auch ein festes ‚Vergelt’s Gott!‘ sagen. Hättet Ihr selbigsmal nur ein kleine Weil später zugestoßen, dann wär’s aus gewesen mit mir!“

„Sieh, Wolfrat,“ flel Herr Heinrich ein, „da kannst Du ja Deinem Retter gleich ein Liebes erweisen! Pater Desertus möchte hören, wie es kam, daß Gittli Deine Schwester wurde. Erzähl’ es ihm!“

„Wohl wohl! Setzet Euch nur her!“

Pater Desertus ließ sich neben dem Lager auf einen Sessel nieder, und Wolfrat begann: „Wisset Herr, ich bin im zweiundzwanziger Jahr bei dem Salzburger Erzbischof als Reisiger gestanden und hab’ den Ampfinger Tag mitgemacht ... auf der feindlichen Seit’. Gewurmt hat es mich freilich, daß ich hauen und stechen sollte gegen meine eigenen Landsleut’. Aber was hab’ ich machen können ... ein Eid ist halt allweil ein Eid! Ich hab’ meine Pflicht gethan als richtiger Soldat ... aber gar ungern hab’ich’s nicht gesehen, wie der Kaiser obenauf gekommen ist und die Unsrigen auf den Abend das Laufen angefangen haben. Da hat keiner mehr stehen können, einen jeden hat’s mitgerissen ... und wer nicht laufen hat wollen, hat laufen müssen. So vier, fünf Tag’ ist es allweil hergegangen um unser Leben, keiner hat die Gegend gekannt, und die bayrischen Reiter sind hinter uns her gewesen wie die ledigen Teufel. Ich hab’ mich mit ein Stücker vierzig von den Unsrigen zusammengehalten ... und da war’s in einer stürmischen Nacht ... da sind wir in einen Markt gekommen ...“

„Wie hieß der Markt?“

„Ich weiß nicht. Aber ich besinn’ mich noch ... gleich bei der Tafern’ ist eine Kirch’ gestanden, die hat hint’und vorn’ einen Thurm gehabt und ein ebenes Dach ....“

„Pfarrkirchen war es!“ sagte Pater Desertus in lateinischer Sprache zu Herrn Heinrich. „Zwei Wegstunden von meiner Burg.“

„Die Tafern’ war gesteckt voll mit flüchtigem Volk. An die dreihundert sind da beisamm’ gewesen; und es war ein fürchtiges Gejammer, was man jetzt anfangen soll und wo man die Zehrung hernimmt? Und da war einer unter uns, ein Salzburger Rottführer, Klees hat er geheißen ....“

„Klees?“ stammelte Pater Desertus; und lateinisch sagte er zu Herrn Heinrich: „Der Mann hat einen Monat in meiner Schar gedient ... ich hab’ ihn fortjagen müssen, denn er bestahl mich!“

„Der Klees ist auf den Tisch gesprungen und hat geschrien, er wüßt’ ein Mittel, daß man sich die Säck’vollstopfen könnt’. Nicht weit vom Markt wär’ ein reicher Herrensitz . . . der thät’ einem Ritter gehören, der in der Ampfinger Schlacht mit dem Flammberg unter uns herumgehauen hätt’ wie der Mähder mit der Sense im Traidfeld. Die Handvoll Leut’ auf der Burg könnt’ man leicht überrumpeln. Wie er das gesagt hat, da hat’s einen Höllenlärm gegeben, und die meisten sind auch gleich dabei gewesen, daß man den Handstreich wagen sollt’. Ein paar haben freilich dawider geredt ... ich selber auch. Aber da hat’s gleich geheißen, man wär’ in Feindsland, und Krieg wär’ Krieg. Wer [537] sich noch lang’ gewehrt hätt’ ... ich glaub’, den hätten die anderen niedergeschlagen. Der Klees hat Wein anfahren lassen, und wie wir all’ miteinander heiße Köpf’ gehabt haben, da ist der Klees zum Hauptmann ausgeschrien worden ... und der hat auch gleich die richtige Stund’ ausgenützt ... noch in der Nacht sind wir fort aus der Tafern’, und allweil durch Wald ist der Weg gegangen, den der Klees uns geführt hat. Ich muß schon sagen, die Sach’ hat mir nicht recht hineingepaßt in mein Hirnkastel ... aber wie der Mensch ist ... wo ein paar hundert laufen, da lauft man halt mit. Und der Wein hat auch uns allen die Köpf’ dumper gemacht! Ich glaub’, der Klees ist der einzig’ gewesen, der recht gewußt hat, was es gilt. So um die zweite Morgenstund’ muß es gewesen sein, da sind wir aus dem Holz ins Feld gekommen, und ganz schwarz sind die Burgmauern vor uns aufgestiegen in der Nacht!“

Pater Desertus athmete schwer und drückte die Fäuste auf seine Brust.

„Beherrsche Dich, Dietwald!“ mahnte Herr Heinrich in lateinischer Sprache. „Der Mann soll nicht wissen, wie nahe Dich berührt, was er erzählt.“ Und zu Wolfrat sich wendend, sagte er: „Sprich nur weiter!“

In treuer Hut.
Nach einem Gemälde von E. Debat-Ponsau.

„Der Klees hat uns halten lassen .... keinen Laut und keinen Tritt hat man gehört . . und dann ist der Klees bis an den Burgwall hingegangen und hat den Thorwart angeschrien. Ich hab’s nicht recht hören können, denn ich bin einer von den Letzten gewesen .... aber ich mein’, er hat dem Thorwart zugerufen, daß er eine Botschaft brächt’ vom Burgherrn, und die Sach’ hätt’ Eil’. Ich weiß nicht, hat der Klees die Losung gewußt, oder war der Thorwart so ein guter Hascher, der gleich das erste Wörtl geglaubt hat . . . wie ich halt sag’. ich hab’ noch kaum recht gewußt, was los ist, da war die Zugbrück’ schon herunt’, eine Hauerei und ein fürchtiges Geschrei ist losgegangen ... und bis ich nach einer Weil’ mit den Letzten hineingekommen bin in den Burghof, da sind die paar Herrenleut' schon im Blut herumgelegen, die Unsrigen haben schon alle Thüren eingedrückt, und die brennenden Pechkränz’ sind in die Fenster geflogen. Da bin ich mit einem Male nüchtern worden ... und wie ein steiniges Mandl bin ich gestanden hab’ nur allweil geschaut und hab’ mir an den Kopf gegriffen ... und gegraust hat’s mir in der tiefsten Seel’! Hätt’ mich einer am Ampfinger Tag niedergeschlagen, ich glaub’, mir wär’ wohler gewesen als in derselbigen Stund’. Ich hab’ freilich keinen Finger gerührt und keine Hand gestreckt . . . aber dabei gewesen bin ich halt doch! Und die ganzen Jahr’ her . . . so oft was Unguts über mich und meine lieben Heimleut’ gekommen ist . . . allweil hab’ ich an dieselbige Nacht denken müssen und mir sagen: Schau, jetzt mußt zahlen dafür!“

Wolfrat schwieg, und tiefe Stille herrschte in der Klause. Das Antlitz des Paters war erblaßt, und seine heißen Augen starrten ins Leere.

„Wie die Flammen herausgeschlagen sind aus jedem Dach, da haben sie’s drunten im Dorf gemerkt, was vorgeht, und haben die Sturmglock’ geläutet. Haufenweis’ sind die hörigen Leut’ aus dem ganzen Burgbann herbeigelaufen, die einen mit Schwert und Spieß, die andern mit Dreschflegeln und Sensen. Da ist die Hauerei aufs neu’ wieder angegangen. Ich aber hab’ mir gedacht, ich will mit so einer schiechen Sach’ nichts mehr zu schaffen haben. Doch wie ich mich schon hab’ hinausschleichen wollen beim Thor und abschieben, da hör’ ich auf einmal ein fürchtiges Gejammer von einer Weiberstimm’ . . . und wie ich aufschau’, steht auf dem Thurmaltan, mitten im Feuer, eine junge schöne Frau. Ein kleines Bübel ist bei ihr gestanden, und auf dem Arm hat sie ein Kind im Wickel gehalten. ‚Jesus Maria!‘ hab’ ich geschrien und bin zugesprungen und hab’ gemeint, ich könnt’ noch hinauf in den Thurm und helfen. Aber derweil thut’s schon einen fürchtigen Krach. Das ganze Sparrenwerk ist eingefallen, und als wär’ die Höll’ zersprungen, so fliegt der Thurm auseinander in lauter Feuer.“

Am ganzen Körper erzitternd, schlug Pater Desertus die Hände vor das Antlitz.

[538] „Gelt, Herr? Das greift einem ans Herz!“ murmelte Wolfrat. „Ich bin selbigsmal gestanden, als wär’ in mir drin alles ein Eisbrocken worden! Und wie mich das Grausen wieder aufschauen laßt ... von dem armen Weiberleut und dem Büberl hat kein Aug’ mehr was zu sehen gekriegt . . . aber auf einem spießigen Balken, der aus dem Gluthhaufen herausgestanden ist, hab’ ich das Kindl hängen sehen, das sich am Wickel verfangen hat. Da hab’ ich kein’ Glut und kein Feuer gescheut und bin mitten hineingesprungen und hab’ das weinende Würml gepackt ... und das Glück hat’s wollen: ich bin herausgekommen. Aber da springt schon der Klees auf mich zu. ‚Gieb her‘, schreit er, ‚hörst ja, das Kindl weint nach seiner Mutter!‘ Er will mir’s wegreißen, ich aber hab’ ihm mit der Faust eins übers Gesicht gewischt, daß er hingeschlagen ist wie ein Ochs. Derweil hat’s schon geschienen, als thäten die hörigen Leut’ Herr werden über die Unsrigen ... der Klees ist wieder aufgesprungen und auf mich zu mit der blanken Wehr ... und wie’s der Zufall will, springt grad ein scheues Roß gegen mich her ... ich erwisch’ es bei der Mähn’, komm’ in einem Schwung hinauf ... und zum Thor geht’s hinaus in einem Sauser, gleich über zwanzig Köpf’ weg!“

„Kein Zweifel mehr!“ rief Pater Desertus mit bebenden Lippen; und seine flammende Erregung, in welcher Schmerz mit Freude kämpfte, mühsam beherrschend, stammelte er in lateinischer Sprache: „Das war mein Weib ... das ist mein Kind! Mein Kind!“ Die hellen Thränen rannen ihm über die Wangen in den Bart.

Erschrocken schaute der Sudmann zu ihm auf und warf dann einen fragenden Blick auf den Propst.

„Sprich weiter, Wolfrat!“ sagte Herr Heinrich.

„Ich bin auf dem scheuen Roß gehangen wie der Frosch auf dem Mühlenrad und hab’ nur allweil das Kindl an mich hingedrückt . . . und das Roß ist fortgesaust, fort und fort, bis weit hinter mir das brennende Schloß untergesunken ist in der finstern Nacht. Wie nachher der Tag gegrauet hat, sind dem Roß die Kräfte ausgegangen. Eine Weil’ ist es stehen geblieben und hat den Grind hängen lassen, dann ist es wieder fortgetrabt, Schrittl um Schrittl. Das Kind hat geschlafen, und ich hab’s auf dem Arm gehalten und hab’ nicht gewußt, was ich anfangen soll. Ich hab’ die Gegend nicht gekannt, und in ein Dorf hab’ ich mich nicht hineingetraut – ich hab’ gemeint, es müßt’ alle Welt schon wissen, was in der Nacht geschehen ist. Wenn ich gleich mit keinem Finger dazu geholfen hab’ ... dabei gewesen bin ich halt doch! So bin ich allweil zu und zu geritten, weil ich nichts anderes gedacht habe als grad das einzig: schau nur, daß du weit, weit fort kommst von dem Fleck! Auf Mittag hab’ ich einen Einödhof gefunden mitten drin im Holz und einer Dirn’ ein Reindl Milch abgebettelt für das Kind. Und so bin ich wieder fortgeritten, allweil fort, bis ich auf die Nacht zu einem Wasser gekommen bin und bald darauf in einen Markt. Da hab’ ich mich ausgekannt: das Wasser ist die Vils gewesen, und der Markt hat Velden geheißen . . . und von da hab’ ich keine drei Stund’ mehr in mein Heimathl gehabt. Wie hätt’ mir denn jetzt noch ein anderer Weg einfallen sollen! Ich bin halt geritten und geritten, bis ich daheim war. Meiner Mutter hab’ ich das Kindl in’ Arm gelegt . . . aber wie ich dazu gekommen bin, das hab’ ich verhehlt, denn ich hab’ mich gescheut vor Mutter und Vaters Aug’ . . . dabei gewesen bin ich halt doch!“

Wolfrat vermochte kaum mehr zu sprechen, seine Stimme zitterte vor Schwäche.

„Die Nacht darauf bin ich wieder fort. Aber das Kriegshandwerk hab’ ich satt gehabt bis an den Hals. In Landshut hab’ ich mich eingedingt als Flößer. Es hat lang gedauert, bis ich die schieche Sach’ in mir hab’ geschweigen können. Ich hab’ mir freilich allweil fürgesagt, daß ich ein Unrecht thue wenn ich das Kindl um sein Recht und seinen Namen bring’. Aber ich hab’ mir halt nicht getraut, daß ich umfrag’ und red’ ... dabei gewesen bin ich halt doch ... da hätt’s mir leicht an den Kragen gehen können, wenn ich mich verschnappt hätt’ . . . und sein bissel Leben hat halt doch ein jeder gern! Und wie ich wieder einmal heimgekommen bin nach Dorfen und gesehen hab’, daß mein Mutterl mit der ganzen Seel’ an dem lieben Kindl hängt, da hab’ ich erst recht nimmer reden können und hab’ mir gedacht: laß halt alles gehn, wie’s geht ... in Gottesnam’!“

„Und niemals,“ fragte Pater Desertus mit schwankender Stimme, „niemals wieder hast Du von jener furchtbaren Nacht gehört? Nie den Namen jener Burg erfahren?“

Wolfrat schüttelte den Kopf.

„Aber es muß doch ein Bild jener Burg in Deiner Erinnerung haften?“

Wolfrat schien sich zu besinnen. „Mein, es hat halt ausgeschaut, wie es ausschaut in einer Burg. Thürm’ und Mauern, ein weiter Hof und ein großmächtiges Haus,“ sagte er mit matter, kaum noch verständlicher Stimme. „Aber . . . wohl wohl, Herr ... auf eins besinn’ ich mich noch. Ueber dem Thor und über der Thür in den Thurm hinein hab’ ich im taglichten Feuerschein ein gemaltes Wappen gesehen!“

„Sprich, Wolfrat, sprich!“ klang es mit erstickten Lauten von den Lippen des Paters.

Wolfrat bewegte lallend die Zunge; man verstand nicht mehr, was er sprach; die Erregung hatte seine schwachen Kräfte völlig erschöpft; er schien einer Ohnmacht nahe.

„Sprich, Wolfrat, sprich!“ Und Pater Desertus warf sich vor dem Lager auf die Knie und neigte das Ohr dicht über die Lippen des Sudmanns.

Mit erlöschenden Sinnen rang Wolfrat nach Sprache. „Es war ... ein weißer Falk ... in blauem Feld ..."

„Das Wappen meines Hauses!“ schrie Pater Desertus auf. Sich erhebend, schlug er die Hände vor das Antlitz und wankte hinaus, als erdrücke ihn der enge Raum; draußen ließ er sich schluchzend niedersinken auf die sonnige Bank.

Herr Heinrich eilte ihm nach. Im gleichen Augenblick legte ein Boot mit zwei Schiffern und einem Reisigen am Ufer an.

„Dietwald, ermanne Dich!“ flüsterte der Propst. „Es kommen Leute!“ Er ging dem fremden Kriegsknecht entgegen. „Wen suchst Du?“

„Herrn Heinrich von Inzing, den Propst!“

„Du bist an rechter Stelle. Wer bist Du?“

„Ein Salzburger Fronbot’. Die Oberin der Domfrauen schickt Euch diese Botschaft.“ Er reichte dem Propst ein versiegeltes Pergament.

Herr Heinrich las; er erschrak nicht; nur ein Lächeln glitt über seine Lippen. „Du kannst heimkehren!“ sagte er zu dem Boten. „Man soll Dir im Kloster den Botenlohn reichen und Dich köstigen.“ Der Knecht ging zum Ufer zurück. Herr Heinrich wartete, bis das Boot abgestoßen war, dann wandte er sich zu Pater Desertus.

„Willst Du lesen, Dietwald? Eine Botschaft von Deinem Kinde!“

Mit hastigen Händen griff der Pater zu und entfaltete das Pergament. Er erblaßte. „Mein Kind ... aus dem Kloster entflohen?“ „Entflohen? Weshalb das hohe Wort?“ meinte Herr Heinrich lächelnd. „Sag’ lieber: davongelaufen.“

Pater Desertus faßte die Hand des Propstes. „Herr! Ich bitt’ Euch! Lasset uns gleich zurückkehren! Im Seedorf stehen unsere Pferde. Wir wollen nach Salzburg reiten!“

„Nach Salzburg? Nein, Dietwald, ich weiß einen näheren Weg, um Dein Kind zu finden. Wir wollen hinaufsteigen in die Röth’!“

Desertus erschrak. „So meint Ihr ...? Nein, nein, es ist unmöglich! In dieser einen Nacht sollte das zarte Kind einen Weg bezwungen haben, der die Kräfte eines rüstigen Mannes erschöpfen würde?“

„Die Liebe vermag viel!“ lächelte Herr Heinrich. „Komm, Dietwald!“

In bebender Erregung, aber schweigend, folgte Desertus dem Propst an das Ufer. Ein Knecht holte zwei Bergstöcke, der Einbaum wurde ins Wasser geschoben, rasch war die schmale Wasserzunge übersetzt, und die beiden stiegen empor durch den sonnigen Bergwald.

Mit ungeduldigen Schritten eilte Pater Desertus voran.

Herr Heinrich aber rief ihm lachend zu: „Dietwald, willst Du nicht hinter mir gehen? Weißt Du, ich möchte doch mit ganzer Lunge droben ankommen!“


27.

Am Morgen, noch vor Tag, hatte Haymo die Jagdhütte verlassen, um die Grenzen seines Bergreviers zu umwandern. Nahe den Funtensee-Tauern traf er mit dem Jäger Renot zusammen, der am Ufer des Grünsees hauste. Unter den steilen Wänden [539] saßen sie wohl eine Stunde lang bei einander, das jubelnde Glück neben der stillen Schwermuth.

„Hast denn meine Gundi nie gesehen?“ fragte Renot.

Haymo schüttelte den Kopf.

„Weißt, zwei Jahr’ lang bin ich ihr schon um den Weg gegangen. Und da war’s jetzt in der letzten Mondzeit, da komm’ ich einmal hinauf zum Funtensee und hör’ auf den Halden das Almvieh läuten. Denk’ ich mir. jetzt muß ich doch schauen, was für eine Sennerin der Bauer geschickt hat. Ich geh’ auf die Hütten zu, und wie ich hineinschau ... was sagst? ... steht die Gundi vor mir! Vor lauter Seligkeit hab’ ich einen Luftsprung gethan, daß ich mir an der Thür das Hirnkastel angeschlagen hab’. Und Du ... ich sag’ Dir ... ein Sommer ist das jetzt, jeder Tag eine Freud’, die vom Himmel fallt. Gelt, das hast ja doch auch schon gespürt: es giebt nichts Liebers und Schöners auf der Welt, als wenn zwei junge, kreuzbrave Leut’ zusammenhalten mit Herz und Hand! Und auslassen thu ich nimmer! Und bis der Frühling wiederkommt, wird Hochzeit gehalten – Juhuuu!“

Von allen Wänden klang das Echo des hallenden Jauchzers.

Lachend schaute Renot in Haymos Gesicht; da verstummte sein Lachen und erschrocken fragte er: „Ja Bub’, was ist Dir denn? Du hast ja nasse Augen!“

Haymo sprang auf und schüttelte den Kopf; die Lippen zuckten ihm, er konnte nicht sprechen.

„So red’ doch, Bub’, red’, was hast denn?“ stotterte Renot.

Wortlos nickte Haymo einen Gruß, wandte sich ab und ging seiner Wege. Renot blickte ihm betroffen nach. „Mir scheint ... dem ist die Lieb’ überzwerch gelaufen.“

Als Haymo den Saum eines Lärchenwaldes erreichte, blieb er tief athmend stehen und wischte sich die Zähren aus den Augen. Während er weiter schritt, hörte er den am Fuß der Felswand hinsteigenden Jäger singen:

„Der Winter ist zergangen,
In Bluh steht alle Heid’,
Da kam zu mir gegangen
Gar süße Augenweid’.
Mir ward das Herzlein froh,
Zum Schätzlein sprach ich so:
Gelt, Du bist mein? Nein, ich bin Dein!
Der Streit, der muß wohl allweil sein!
 Jo ho!
 Jo ho!
So blank allsam ein Härmeletn[3]
Sind ihre beiden Aermelein.
Mein Schätzelein ist fein und schmal,
Gar wohl geschaffen überall.
 Jo ho!
 Jo ho!
Mein Herzelein ist froh!“

Lange war die jubelnde Stimme schon verhallt, doch immer noch klang es wie quälender Spott in Haymos Ohr: „Jo ho, jo ho ... mein Herzelein ist froh!“

Er hatte die Landthaler Wand erreicht, über deren schroff bis zum See abfallende Felsen ein schmaler Wildsteig hinwegführte. Einzelne Steine lösten sich unter seinen Schuhen und stürzten prasselnd in die Tiefe; mit heißen Augen blickte Haymo ihnen nach; er konnte ihre sausenden Sprünge mit den Augen verfolgen, bis sie nahe dem See auf dem schräg verlaufenden Griesbett liegen blieben.

„Da drunten findet ein jeder seine Ruh’ ... ein jeder!“ glitt es leise von seinen Lippen.

Nun löste er absichtlich Stein um Stein und lauschte, wie ihr Fall, der mit lautem Lärm begann, immer leiser und leiser wurde . . . und jeder fallende Stein redete zu ihm mit verführerischer Stimme: „Schau, so könntest Du Dein schreiendes Herzleid auch geschweigen . . . wirf’s hinunter . . . wirf’s hinunter . . . es thut keinen Laut nimmer, wenn es drunten liegt!“

Mit der Hand an einem Felszacken sich anhaltend, beugte er sich vor, daß sein ganzer Körper über dem Abgrund schwebte. Die verwitterten Schrofen, welche aus dem steilen Gewände ragten, waren anzusehen wie tausend steinerne Arme, die sich ausstreckten nach ihm. Und in der gähnenden Tiefe lag der Obersee wie ein großes rundes Auge, es blickte herauf zu ihm, und dieser Blick hatte Sprache: Ich seh’ Dich schon . . . komm’ nur . . . komm’ nur . . . schau, ich wart’!

Immer weiter beugte sich Haymo vor, ein Frösteln überlief seine Glieder, seine Knie begannen zu zittern ... an der Hand, die den Felszacken umklammert hielt, zuckten schon die Finger, als wollten sie sich öffnen ...

Da tönten weiche, schwebende Klänge durch die Lüfte empor. In der Bartholomäer Klause läutete das Glöcklein zur Frühmesse.

Haymo richtete sich erblassend auf und fuhr mit der Hand über die Stirne, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Aufathmend bekreuzte er sich und stieg mit ungestümer Eile über die Wand hinweg. Es schien ihm erst wieder wohl zu sein, als er den Bergwald erreichte, um dessen Wipfel der erste Goldglanz der steigenden Sonne schimmerte.

Schon aus weiter Ferne hörte er das Gebrüll des Almviehs.

Was die Rinder nur haben mögen? fragte er sich. Vielleicht missen sie die Sennerin! Sie wird wohl tags zuvor hinuntergegangen sein in das Klosterdorf, um dem heiligen Umgang beizuwohnen. Aber das hätte sie doch dem Hüter sagen müssen und wohl an die hundert Male hatte Haymo am vergangenen Tag, bald im Gewänd, bald auf den Almen, bald im Bergwald, den Hüter schreien hören: „Zenzaaah . . . Zenzaaah . . . hoidoooh!“

Als Haymo die Alm erreichte, sah er die Kühe unruhig um die stille Hütte traben, brüllend und mit den Schweifen schlagend. Ihre Euter strotzten ... sie hatten das Milchbrennen. Langsam kamen ihm, da er sich der Hütte näherte, die Thiere entgegen, streckten keuchend die Köpfe, und eine Blässin fuhr ihm mit der rauhen Zunge über die Hand. Er kraute ihr die Stirn, und mit läutender Glocke lief sie ihm nach bis zur Hütte. Er trat in die Thür. Die Hütte war leer. „Zenza!“ rief er . . . aber keine Antwort kam. Er lehnte das Griesbeil an die Wand, legte die Armbrust ab und setzte sich auf den Herdrand. In der Asche lagen noch glimmende Kohlen; er stöberte sie zu einem Häuflein zusammen, legte Spähne darüber und blies in die Gluth. Ein Flämmlein züngelte über das Holz, die Spähne knisterten und krachten, und als das Feuer wuchs, legte er, in träumende Gedanken versunken, Scheit um Scheit in die Flammen.

Er hörte nicht mehr das Brüllen und Läuten der Kühe ... immer, immer summte es in seinen Ohren: „Jo ho, jo ho ... mein Herzelein ist froh!“

Weit da drüben, in der Sennhütte am Funtensee, flammte jetzt wohl auch ein Feuer auf dem Herde . . . und Renot saß bei seiner Gundi und hielt sie umschlungen und zog sie an seine Brust und lachte. „So blank, allsam ein Härmelein . . . sind Deine weißen Aermelein . . .“

Haymo schlug die Hände vor die Augen, als könnte er das Bild verscheuchen, das mit seinem jauchzenden Glück ihn quälte und verhöhnte, ihn und sein brennendes Leid, seine dürstende Sehnsucht . . .

Ganz in sich verloren saß er und hörte nicht, wie draußen alle die Kühe läutend zusammendrängten nach einer Stelle . . . er merkte nicht, daß ihr Brüllen jählings verstummte ... er hörte die raschen Schritte nicht, die sich der Hütte näherten . . . es war ihm nur, als hätte sich mit einem Mal die Thür verfinstert. Mit müden Augen blickte er auf, aber da traf es ihn wie ein Blitz. Er schnellte in die Höhe, streckte mit ersticktem Laut die Arme . . . und stand nun wieder wie versteinert. War es denn Wirklichkeit oder nur ein Traum? War sie es denn wahrhaftig, die da vor ihm unter der Thür stand . . . über und über mit Staub bedeckt, im weißen Röcklein, dessen zerfetzter Saum über die Knöchel der nackten, vom Gestrüpp zerkratzten Füße hing, ein weißes Mäntelein um die schmalen Schultern, die gelösten Haare um den Hals geknotet, mit erschöpften Zügen, aber mit lachendem Mund und leuchtenden Augen?

Jetzt rührte sie die Lippen. „Haymo!“ stammelte sie.

„Gittli!“ schrie er jauchzend auf, und sie flogen sich entgegen, hingen Lippe an Lippe und hielten sich mit zitternden Armen umschlungen, fest, fest, als wollten sie sich nimmer lassen.

„Haymo!“

„Gittli!“

Das war alles, was sie sprachen zwischen Küssen und Küssen.

Und als wäre das Glück über sie hergefallen, so groß und so erdrückend, daß sie es nicht mehr zu tragen vermochten auf ihren schwachen Schultern, so sanken sie auf den Herdrand nieder ... und da streichelte Gittli unter rinnenden Thränen Haymos Gesicht mit beiden Händen und lispelte:

„Gelt? Jetzt thust mir aber nimmer sterben?“

[540] „Sterben . . . sterben ... vor Freud’“ . . . schluchzte er, und was er weiter stammeln wollte, erstickte schon wieder in einem heißen, dürstenden Kuß.

Zenza stand in der Thür, mit geballten Fäusten und kalkweißem Gesicht. Sie konnte den Anblick dieses Glückes nicht länger ertragen, heiser auflachend wandte sie sich ab, rannte wie eine Wahnsinnige hinaus in das offene Almfeld, schlug in einem fort die Fäuste an ihre Stirn und schrie: „Giebt’s denn auf der Welt noch einen Narren, wie ich einer bin! Erschlagen hätt’ ich sie sollen heut’ in der Nacht . . . umbringen, umbringen . . . ins Wasser werfen . . . und ich selber hab’ sie hergeholt! So ein Narr! So ein Narr, wie ich einer bin!“

Unter der einsam stehenden Fichte warf sie sich auf die Erde, schlug die Nägel in den Rasen und schluchzte, schluchzte . .

Dann sprang sie wieder auf und trocknete mit dem Arm die Augen. „Da heroben bleib’ ich keine Stund’ nimmer!“ Ihre heißen Blicke spähten über das Almfeld, während sie mit gellender Stimme schrie. „Jörgi! Jörgi!“ Ihr Ruf verhallte, keine Antwort ließ sich hören. Eine Weile wartete sie . . . und wiederholte den Ruf. Alles blieb still. Nur die Kühe trabten ihr brüllend entgegen. „Meinethalben . . . mag alles hin sein ... das Vieh und alles . . . ich bleib’ und ich bleib’ nimmer!“

Mit eilenden Schritten ging sie dem Steige zu. Die Kühe zogen ihr nach, aber mit Steinwürfen trieb sie das Vieh zurück. An der Stelle, an welcher der Pfad sich in den Wald verlor, blieb sie stehen und blickte, zornig auflachend, noch einmal zurück nach der Hütte. „So ein Narr, wie ich einer bin!“ Und immer wieder lachte sie, während sie dem steil abwärtsziehenden Pfade folgte.

Ueber eine Stunde war sie schon gewandert, als sie schwer ermüdet auf einen Steinblock sank. Die beiden durchwachten und durchwanderten Nächte hatten ihre Kraft erschöpft. Sie schluchzte und lachte dann wieder gellend auf. Aber lange ertrug sie das ruhige Sitzen nicht. Während sie weiterlief, raffte sie einen dürren Stecken auf und zerschlug mit zornigem Hieb jeden grünenden Zweig, der über den Pfad hereinhing. Sie hatte schon den tieferen Bergwald erreicht. Da hörte sie plötzlich eine rufende Stimme, halb ubertäubt vom dumpfen Rauschen des nahen Wildbachs.

„Zenza . . . Zenza . . . Hoidoooh!“

Es war ein wild kreischender, angstvoller Ruf. Auflachend blieb das Mädchen stehen, und da klang es wieder – ein wenig näher schon:

„Zenza . . . Zenza . . . Hoidoooh!“

„Mir scheint, er sucht mich . . . der Tapp!“ stieß das Mädchen zwischen den Zähnen hervor; und da der Ruf nun abermals erklang, flammte eine dunkle Röthe über Zenzas Gesicht, und ihre Fäuste ballten sich. „Der! Der ist schuld an allem! Hätt’ er den Jäger in Fried’ gelassen, so wär’ der Haymo nicht zu mir gekommen, ich hätt’ mich nicht scheuen und schämen müssen vor ihm, er hätt’ nicht geredet mit mir, sein Herzleid hätt’ mir nicht die Seel’ umgedreht im Leib, und . . . und ich wär’ nicht hinein auf Salzburg . . . und müßt’ jetzt nicht einen Zorn in mir haben, daß ich mich selber gleich zerreißen könnt’. Der! Der ist schuld an allem! So schrien die jagenden Gedanken in ihr . . . alles, alles, was Jörgi verbrochen hatte, stand ihr vor Augen, wie mit Geißelschlägen ihren Zorn weckend, ihre Wuth schürend. Nur an eines dachte sie nicht: an jene Stunde, in der sie beim Ostertanz den von allen Verachteten, ihn und sich selbst verhöhnend, hervorgezerrt hatte aus seinem dunklen Winkel.

Nun sah sie ihn um die Wendung des Pfades biegen, in keuchendem Lauf, mit brennendem Gesicht und verstört umherspähenden Augen . . . und zwischen ihr und ihm lag das breite Bett des mit reißenden Wassern steil abstürzenden Wildbachs.

„Zenza . . . wollte Jörgi rufen, aber der Laut erstickte auf seinen Lippen; er hatte das Mädchen erblickt. Mit jauchzendem Schrei, mit Stammeln und Schluchzen kam er herbeigerannt, stieß das lange Griesbeil in das Wasserbett, warf sich hinüber mit hohem Schwung, brach in die Knie, raffte sich auf, und den Stock beiseite schleudernd, umschlang er Zenza mit beiden Armen . . .

Sie aber gab ihm einen Stoß vor die Brust, daß er rückwärts taumelte und niedersank, mit dem halben Körper in das Wasser klatschend. Er wollte sich aufraffen, allein eine Sturzwelle packte ihn, er drehte und überschlug sich, verschwand im Wasser und tauchte halb wieder auf. „Jesus Maria! Jörgi! Jörgi!“ schrie Zenza mit bleichen Lippen. Sie stürzte dem steilen Ufer zu, es gelang ihr, die eine Hand des Versinkenden zu erfassen, mit der anderen haschte er noch ihren Rock und klammerte sich an . . . brausend schlugen die Wellen uber ihn her und drückten ihn nieder . . in stummer Todesangst wollte Zenza aus seinen Händen sich losreißen, aber während sie kämpfte mit dem ganzen Aufgebot ihrer müden Kraft, wich der brüchige Grund unter ihren Füßen, ein röchelnder Laut noch rang sich von ihren Lippen, dann stürzte sie vornüber mit dem Gesicht in den Wildbach, und über sie hinweg gingen die schäumenden Wasser . . .

Welle rauschte über Welle, eine warf sich auf die andere, mit drängender Eile und zorniger Wucht. Aus allem Rauschen heraus noch hörte man das dumpfe Rollen der Steine, welche der Wildbach auf seinem Grunde trieb. Ueber steile Gehänge warf er sich hinunter, tobte zwischen verwaschenem Gestein hindurch, hinweg über gebrochene Bäume und verschwand in einer Schlucht, so eng und tief, daß der Himmel in der Nähe nur noch als ein dünner, blauer Streif schimmerte, während auf dem Grunde der Schlucht alles grau war, ohne Farbe, einzig weiß nur noch das schäumende Wasser. Dünne Quellen rieselten in die Tiefe hinunter, und die frei fallenden Tropfen leuchteten ein wenig, als möchte jeder von ihnen ein Stäubchen Sonne aus dem hellen Tag mit hinunter stehlen in die Finsterniß.

Brausend schoß der Wildbach aus der dunklen Schlucht wieder hervor in ein breites Bett, umschleiert von Wasserstaub, jede Welle bedeckt mit flockigem Schaum. Die Uferwände senkten und erweiterten sich. Blühende Büsche neigten sich über den Rand der Felsen und griffen wie mit hundert kleinen Fingerchen in den blauen Himmel. Buntfarbiges Moos und üppiges Flechtwerk spann sich um alles Gestein, an welchem der Wildbach vorüber rauschte, und die tanzenden Wellen spielten mit dem niederhängenden Gezweig, bis sie breit und ruhig hinausflossen in den stillen sonnigen See. – – –

Von Bartholomä einher kam langsam ein plumper Nachen geschwommen, beladen mit kleinen Blöcken von Ahorn und Zirbenholz. Ein alter Mann führte das Ruder. Im Bug des Schiffes saß Ulei, der Bildschnitzer; er hatte sich neuen Vorrath für seine Werkstätte geholt; in der Hand hielt er ein Klötzchen Holz und bosselte daran mit einem kurzen Messer. Gewandt und sicher führte er jeden Schnitt, und immer deutlicher trat aus dem Holz ein weibliches Köpfchen hervor.

Da sagte der Alte: „Ulei! Was liegt denn da drüben im Wasser?“

„Wo, Vater?“

„Wo der Wildbach auslauft.“

Ulei blickte auf und deckte die Hand über die Augen. „Wohl wohl, jetzt seh’ ich’s auch.“

„Es schaut sich schier an, als thät’ ein Häs[4] im Wasser liegen.“

„Vielleicht hat einer was verloren. Geh, Vater, fahr’ hinüber!“ Ulei steckte das halb vollendete Köpfchen mit dem Messer in die Tasche und erhob sich.

Der Alte drehte den Kahn und steuerte dem Ufer zu.

„Mein Gott, Vater,“ stammelte Ulei, „da hat’s ein Unglück gegeben . . . das ist ja ein Weiberleut! O du mein lieber Herrgott. Ja was kann denn da nur geschehen sein!“

Sie kamen näher. Von den Wellen des Wildbaches seitwärts getrieben, lag die Leiche auf seichtem Grund, überdeckt von durchsichtigem Wasser, auf welchem das Kleid und die bleichen Hände schwammen. Uleis Augen wurden starr und sein Gesicht erblaßte; mit schluchzendem Schrei sprang er aus dem Nachen und riß den leblosen Körper empor in seine zitternden Arme. „Vaterl, schau nur, schau ... die Zenza! Die Zenza!“ Die Worte erstarben ihm. In fassungslosem Schmerze blickte er auf die Entseelte nieder, deren Haupt mit triefendem Haar, mit geschlossenen Augen und blutlosen Lippen in den Nacken hing. Aus dem Mieder und unter den zerrissenen Zöpfen sickerte Blut in dünnen Tropfen hervor. Das Antlitz war unentstellt, fast schöner noch als einst im Leben, denn jeden Zug von Trotz und Wildheit hatte der Tod verwandelt in stillen Frieden.

Schluchzend watete Ulei an das Ufer, bei jedem Schritte wankend unter seiner Last.

„So ein Unglück!“ jammerte der Alte. „Mein Gott, die arme Dirn’! So ein junges lebfreudiges Leut! Geh, Ulei, [541] bleib’ bei ihr! Ich fahr’ davon und lauf’ ins Ort hinein ...“ Er hatte schon den Kahn gewendet und trieb ihn mit eilenden Ruderschlägen über den See.

Ulei war auf einen Steinblock niedergesunken. Mit beiden Armen drückte er den entseelten Körper an seine Brust, als könnte er die Kälte des Todes noch verscheuchen durch die Wärme seines eigenen Lebens. Von Kind auf war sie ihm lieb gewesen. Doch immer gingen ihre Wege an ihm vorüber. Sein Herz aber geduldete sich und hoffte. Wenn er in seiner stillen Werkstatt bei der Arbeit saß, stand es immer und immer vor ihm wie ein Traum, der sich einst noch erfüllen müßte: daß er sie umfangen hielte mit seinen Armen und dürfte sie herzen und küssen . . .

Jetzt hatte sein Traum sich erfüllt! Nun lag sie ja in seinen Armen! Mit scheuem Zögern neigte er das Gesicht und drückte seine thränennassen Lippen auf ihren kalten Mund. Und sie duldete seinen Kuß . . . und wehrte sich nicht . . .

„O du mein liebes, liebes Schatzl!“ schluchzte er. Mit zitternder Hand strich er ihr blutiges Haar beiseite und flüsterte ihr ins Ohr. „Und wenn ich gleich hundert Jahr’ alt werd’ ... ich bleib’ Dein treuer Bub’! Gelt?“

Auf weichem Rasen legte er sie nieder, ordnete ihr das Kleid und die Haare und schob ihr seine Joppe als Kissen unter den Kopf. Einen Zweig mit blühenden Alpenrosen, den er von der nahen Felswand holte, legte er in ihre Hände.

Auf den Knien sprach er ein Gebet. Dann setzte er sich neben der Toten auf die Erde und zog aus seiner Tasche das hölzerne Köpfchen und das Messer hervor. Zähre um Zähre tropfte ihm auf die Hände. Vor jedem Schnitt, den er führte, hing sein Blick lange, lange an dem stillen Antlitz des Mädchens.

Das Schwesternheim in Wiesbaden.

Zwei Stunden vergingen. Dann kam ein Schiff mit Leuten, unter ihnen der Eggebauer. Als er mit kalkweißem Gesicht und schlotternden Knien an das Ufer stieg, mußten ihn zwei Männer stützen.


28.

„Wo nur die Zenza bleibt?“ So fragten sie immer wieder, wenn sie für kurze Weile aus ihrem wortlos träumenden Glück erwachten. „Wo nur die Zenza bleibt?“

Sie traten vor die Hütte und riefen Zenzas Namen über das Almfeld und gegen den Bergwald. Alles blieb still.

„Wirst sehen, sie kommt nicht ... und ich mein’, ich weiß warum!“ flüsterte Haymo.

Gittli blickte ihn mit fragenden Augen an; dann schüttelte sie das Köpfchen. „Sie wird halt müd’ gewesen sein und hat sich an einem stillen Platzl schlafen gelegt.“

„Meinst?“ sagte er. „Aber gelt, wirst auch recht müd’ sein!“

„Nicht ein lützel! Ich mein’ völlig, ich hätt’ tausend Jahr’ lang geschlafen und wär’ mit einmal aufgewacht, und derweil ist alles anders geworden, und ich selber bin auch eine andere!“

„Was? Eine andere bist? So, schön, jetzt hab’ ich gar zwei Schätzlein. Ich weiß nur nicht, welches ich lieber hab’: das selbig’, das gewesen bist, oder das selbig’, das geworden bist.“ So scherzte Haymo und wollte sie umfangen. Sie aber schlüpfte in die Hütte und wehrte ihn zurück, als er folgen wollte. Er mußte sich auf die Bank setzen und warten . . . bevor sie ihn rufe, dürfe er beileib nicht kommen.

Er saß noch keine zwei Minuten, da fragte er schon. „Darf ich noch allweil nicht hinein?“

„Untersteh’ Dich!“ hörte er sie ganz erschrocken stammeln.

So weilte er nun geduldig, schaute mit leuchtenden Augen hinauf ins Blau und lauschte dabei jedem leisen Geräusch, das sich in der Hütte vernehmen ließ.

Jetzt trat sie kichernd aus der Thür. Er machte zuerst große Augen, dann schlug er mit glückseligem Lachen die Hände ineinander. Sie stimmte fröhlich ein. „Ich hab’ ein lützel in der Zenza ihrer Truhen gekramt. Meinst, sie wird harb sein? Gelt, nein? Sie hat ja selber allweil über das dumme Häs gescholten. Was sagst, wie ich ausschau’?“ Sie hob die Arme und drehte sich. Er wollte kaum aus dem Lachen kommen. Gittli sah aber auch gar zu drollig aus. Das weiße, bis an den Hals geschlossene Pfaid und das kurze Röcklein hätten ihr wohl leidlich gepaßt. In dem schwarzen Mieder aber hätte ihr schlankes Persönchen noch ein zweites Mal Platz gefunden und jedes ihrer Füßchen stak in dem plumpen Schuh wie ein Spatz im Hühnerkorb. „Was sagst, wie ich ausschau’?“

„Aber lieb! So lieb!“ Er haschte sie mit beiden Armen und zog sie auf die Bank. „Da hast einen gescheiten Einfall gehabt. Ich hab’ mich ja ehnder schier nicht getraut, daß ich Dich anrühr’!“ Wie sehr ihm jetzt der Muth gewachsen war, das fühlte sie aus dem ungestümen Kuß, mit dem er ihre stammelnden Lippen schloß.

So saßen sie in der hellen Sonne, bald still versunken in ihr zärtliches Glück, bald wieder in traulichem Geplauder. Kein Wort, das sie sprachen, kein Gedanke, den sie dachten, ging über den Augenblick hinaus. Sie fragten nicht, was vor diesem Tag gewesen, fragten nicht, was nach diesem Tag kommen sollte ... eine selige Stunde war ihnen vom Himmel gefallen wie Sonnenschein nach Ungewitter, und sie freuten sich ihrer so recht als zwei Glückliche, die zusammengehören, einzig und allein deshalb, weil der liebe Herrgott sie für einander geschaffen. Ihr Glück und ihre Liebe war so still zufrieden wie eine Blume, die in dem Augenblick, da ihr Kelch sich dem warmen Licht erschließt, auch nicht fragt, wer ihren Samen in die Erde legte ... oder wer sie brechen wird in der nächsten Stunde. Sie blüht und freut sich.

Endlich löste sich Gittli, tief aufathmend, aus den Armen des Jägers. Ihre Wangen glühten wie zwei Rosen. Mit zitternden Händen strich sie die Haare von den Schläfen zurück.

„Schau’, Haymoli, die Sonn’ steht schon über Mittag. Hast denn keinen Hunger?“

Er schüttelte lachend den Kopf.

„Aber ich!“ sagte sie kleinlaut.

Da sprang er ganz erschrocken auf. „Ja komm’ doch, [542] Schatzl, komm’! Es wird in der Hütt’ wohl ein lützel was zu finden sein. Und die Zenza wird’s schon erlauben!“

„Was die aber lang ausbleibt! Völlig bangen thut’s mich, daß ich ihr ein Vergelt’s Gott sagen möcht’. Aber gelt, wenn sie kommen thut, müssen wir schon recht gut sein mit ihr. Sie hat’s doch verdient um uns! Gelt?“

Haymo nickte; dann traten sie in die Hütte. Mehl, Milch und Butter fand sich im Ueberfluß. Als aber Gittli auf dem Herd das Feuer schüren wollte, haschte Haymo ihre Hände.

„Nein, Schatzl, heut’ darfst nicht schaffen, heut’ mußt schon mir die Sorg’ lassen. Da wirst schauen, was ich Dir aufkoch’! Und Du . . .“ Er hob sie mit beiden Armen empor und legte sie sanft auf das Heubett nieder, „Du thust mir derweil ein lützel rasten! So, Schatzl, so! Gelt, da liegst gut?“

Erst war sie ein wenig erschrocken, dann aber ließ sie ihn lächelnd gewähren, und als sie in das weiche, duftende Heu versank, schlang sie die Arme um seinen Hals und drückte sein Gesicht an ihre heiße Wange. „Gelt, Haymoli, wir thun nimmer voneinander lassen?“

„Nimmer, Gittli, nimmer, nimmer!“

Eine Weile saß er auf dem Rand des Bettes. Schweigend hielten sie sich bei den Händen und schauten sich lächelnd in die Augen. Plötzlich sprang er auf. „Jetzt muß ich aber schaffen, sonst thust mir am End’ noch verhungern, Du Hascherl, Du arm’s!“

Sie schob die gefalteten Hände unter die Wange, schmiegte sich tief in das duftende Heu und während Haymo auf dem Herd das Feuer schürte, blickte sie unter halb gesunkenen Lidern hervor, mit dankbar zärtlichen Augen jede seiner Bewegungen verfolgend. Leise strömten ihre tiefen Athemzüge über die leicht geöffneten Lippen. Ihr war so wohl! Sie hätte sich für das ganze Leben nichts anderes mehr gewünscht, als nur immer so liegen zu dürfen, so weich zu ruhen, mit dieser sanften Wärme im Herzen, mit diesem süßen Gefühl, daß treue Liebe ihre Ruhe behüte, für sie sorge und schaffe.

Immer und immer wieder nickte ihr Haymo lächelnd zu. Er ging auf den Zehen und suchte jedes Geräusch zu vermeiden, während er alles herbeitrug, was er zur Bereitung der Mahlzeit nöthig hatte. Auf dem Herde knisterten die brennenden Späne, ganz leise rauschten die züngelnden Flammen, durch die Lücken des Schindeldaches fielen einzelne Sonnenstrahlen gleich goldig schimmernden Fäden, und der dünne Rauch, der sich langsam zwischen dem berußten Sparrenwerk verzog, umspann alle Balken mit bläulichem Duft.

Immer tiefer sanken über Gittlis Augen die schwarzen Wimpern . . . ein wohliges Rieseln rann durch ihre Glieder . . . und sacht, unmerklich flossen ihre Träume aus dem Wachen hinüber in einen tiefen Schlaf.

Haymo ließ die Arbeit ruhen; er wäre mit seinem Werk in einem halben Stündlein zu Ende gewesen, und dann hätte er Gittli wecken müssen. Er sah aber, wie wohl ihr der Schlummer that. Leise trug er einen Holzpflock neben das Heubett, ließ sich nieder, schlang die Hände um die Knie, lehnte das Haupt an die Kante des Lagers und blickte mit unverwandten Augen in das Gesicht der Schlummernden.

Sie lag und regte sich nicht; nur manchmal bewegten sich ein klein wenig ihre Lippen, als spreche sie im Traum; dann zuckten auch die Wimpern, welche gleich dunklen Sicheln auf den sanft gerötheten Wangen lagen, und mit tieferem Athemzuge hob sich die junge Brust unter dem weißen Linnen. Haymo streckte die Arme ... es war, als möchte er aufspringen, als möchte er sie aus dem Schlaf emporreißen an sein Herz; doch immer wieder duckte er sich scheu und leise auf den Holzpflock nieder, um die Schlummernde nicht zu wecken.

Stille Stunden verrannen. Als Haymo meinte, daß Gittli nun doch bald erwachen würde, ging er zum Herd. Sie sollte nicht warten müssen aus die Mahlzeit. Als die heiße Butter in der Pfanne zu zischen begann, bewegte sich Gittli, schlug die Augen auf, lächelte . . . und schlief weiter.

Haymo übte sein Küchenamt mit peinlicher Sorgfalt; vor Aufregung, ob die Speise auch wohl gerathen würde, zitterten ihm die Hände. Doch als er einmal kostete, schien er nicht unzufrieden mit seinem Werk. Er schnalzte mit der Zunge, und während er die Pfanne wieder über das Feuer setzte, begann er mit halblauter Stimme zu singen:

„Der Winter war zergangen
In Bluh stand alle Heid’,
Da kam zu mir gegangen
Gar süße Augenweid’ . . .“

Immer lauter wurde sein Lied, bis es endete mit klingendem Jauchzen:

„Jo ho, jo ho,
Mein Herzelein ist froh!“

Da brauchte er Gittli nicht mehr zu wecken, denn als er sich umblickte nach ihr, saß sie aufrecht im Heu, lachte ihn an mit hellen Augen und streckte die Arme.

Als wär’ sie eine Feder, so hob er sie in die Höhe und drehte sie im Kreis. Kichernd zappelte sie mit den Füßchen. Aber auf die Erde kam sie nicht wieder . . . sie saß mit einem Male aus Haymos Schoß. Mit dem einen Arm hielt er sie an sich gedrückt, mit dem anderen zog er die Pfanne herbei. Und da sich in der Hütte nur ein einziger Holzlöffel vorgefunden hatte, mußte es Gittli dulden, daß ihr Haymo jeden bissen in das lachende Mäulchen schob. Sie wehrte sich wohl, aber nur, weil ihr Wehren das zärtliche Mahl verlängerte. Und wie sie jeden Bissen lobte! Haymo wurde ganz stolz auf seine Kochkunst. „Ja, Du,“ sagte sie, „das schmeckt einem halt! Weißt, da drin . . .“ sie machte eine Bewegung mit dem Köpfchen und meinte dabei das Heim der Domfrauen in Salzburg, „da drin hab’ ich Sachen übereinander essen müssen, daß einem völlig hätt’ grausen mögen! Nein, Du, was die Herrenleut’ manchmal für einen Geschmack haben . . . brrr!“

Er lachte und hielt ihr den vollen Löffel entgegen.

„Hait, halt, der gehört ja wieder Dir!“ schalt sie, denn sie wachte gar ängstlich darüber, daß die Theilung auch redlich vollzogen würde: erst sie einen Löffel, dann er einen Löffel – und dazu einen Kuß zum Merkzeichen.

Als die Pfanne leer war, sagte sie ganz erschrocken: „So, schön! Jetzt haben wir der Zenza gar nichts übrig gelassen! Aber was sagst, jetzt ist die noch allweil nicht da! Komm’, Haymo, komm’, ich mein’, wir müssen uns doch ein lützel umschauen nach ihr.“ Sie lief zur Thür hinaus und rief mit heller Stimme: „Zenza! Zenza!“ Doch rings umher hörte sie nur das dumpfe Brüllen der Kühe und das unruhige Gebimmel der Almglocken. Als Haymo zu ihr trat, sagte sie: „Wirst sehen, die hat sich im Wald verschlafen. Aber wart’ nur, ich find’ sie schon!“

Mit klappernden Schuhen lief sie gegen den Bergwald. Haymo aber haschte sie, und nun wanderten sie mit langsamen Schritten, eines ans andere geschmiegt, dem Schatten der Bäume entgegen, den die sinkende Sonne schon dunkel und lang über das Almfeld warf. Als sie den Waldsaum erreichten, hatten sie schon wieder vergessen, was sie hierher geführt. Wo sie gingen, blühte mit dunklem Roth das Almrausch. Sie pflückten die schönsten der blühenden Zweige, und nach einer Weile prangte ein Sträußlein an Gittlis Mieder, ein anderes auf Haymo’s Kappe. Er legte den Arm um ihre Schulter, sie lehnte das Köpfchen an seine Brust, und so wanderten sie dem Feuerpalfen zu, aus dessen verbranntem Rasen schon wieder die grünen Grasspitzen hervorlugten.

„Hast nichts da her denken müssen in der Sonnwendnacht?“ fragte er leise.

Sie nickte erröthend. „Und wie ich eingeschlafen bin, hab’ ich geträumt . . .“

„Was denn?“

„Daß Du mir eine Scheib’ getrieben hätt’st!“

„Aber Narrerl, Du lieb’s ... ich hab’s ja doch gethan!“ lachte er. „Und was für eine! Die allergrößt’ hab’ ich getrieben für mein klein’s Schatzl! Und geflogen ist sie, als wär’ die Sonn’ herunter gefallen!“

Sie umschlangen und küßten sich, als fänden sich ihre Lippen zum ersten Mal. Kein Wunder, daß sie dabei die sich nähernden Schritte zweier Männer und einen stammelnden Ruf überhorten, der vom Saum des Waldes herkam.

Nun wieder standen sie aneinander geschmiegt und blickten mit stillen Augen hinunter in die gähnende Tiefe. Glatt und schwarzgrün lag der See zwischen seinen felsigen, schon von dunklen Schatten umwobenen Ufern.

„Schau, Haymo,“ lispelte Gittli, „siehst das Schiffl im See?“

„Wo, Schatzl?“

„Dort, wo der Wildbach auslauft wie ein weißes Banderl.“

[543] „Wohl wohl, jetzt seh’ ich’s auch.“

„Du, das muß aber ein großes Schiffl sein ... es schaut sich schier an wie ein Scheit.“

„Wohl wohl, ich mein’ auch, es müßten viel Leut’ drin sein. Schau’ nur, und hinter ihm kommt ein anders . . .“

„Ein kleins ... wie ein winzigs Hölzl!“

Sie schauten den beiden kaum merklich gleitenden Schiffen nach, bis dieselben hinter einem steil in den See abfallenden Waldrücken verschwanden waren.

„Geh’, Haymo, komm’,“ sagte Gittli tief aufathmend, „jetzt müssen wir aber die Zenza suchen!“

Sie wollten den Feuerpalfen verlassen, doch als sie sich vom Absturz wandten, fuhr ihnen jäher Schreck in alle Glieder; sie erblaßten und waren wie versteinert. Nur ihre Hände suchten sich noch und schlossen sich fest ineinander.

Herr Heinrich und Pater Desertus standen vor ihnen.

Eine Weile wurde kein Wort gesprochen. Mit ernsten Blicken betrachtete Herr Heinrich das Pärchen, während Pater Desertus, mit feuchtem Glanz in den Augen, nur Gittli zu sehen schien.

„Es schattet schon, Haymo, und ich finde Dich hier?“ sagte Herr Heinrich endlich mit ruhigen Worten. „Hast Du meines Gewildes denn ganz vergessen . . . und Deiner Pflicht?“

„Herr . . .“ stammelte Haymo, während eine brennende Röthe über seine Stirn flog. Kein zornig scheltendes Wort hätte ihn eingeschüchtert, aber diese freundlich ernste Mahnung brachte ihn um den letzten Rest seiner Fassung. Zitternd, mit rathlosem Blick suchte er Gittlis Augen und stotterte.. „Ich muß gehen . . . ich muß . . .“

Da erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Sie umschlang ihn mit beiden Armen, schmiegte den schlanken Leib an ihn, als möchte sie mit ihm in eins verwachsen, und drückte das bleiche Gesicht an seine Brust. „Ich laß’ Dich nimmer . . . und ich laß’ Dich nimmer!“

Mit nassen Augen blickte Haymo zu Herrn Heinrich auf. „Schauet Herr . . . wir haben uns lieb.“

„Und ich laß’ mich nimmer wegschaffen,“ fiel Gittli mit bebender Stimme ein, welche fester klang von Wort zu Wort, „und ich laß’ mich nimmer wegreißen von ihm ... da darf gleich kommen, wer mag ... ich laß’ mich nimmer wegreißen. Ich weiß nicht, was man allweil von mir will ... ich hab’ doch keinem was gethan, ich bin doch ein braves Leut, und keiner hat ein Recht an mich als wie der einzig’, den ich lieb hab’!“ Sie hatte sich aufgerichtet, ihre Augen blitzten, und eine wilde Entschlossenheit verschärfte ihre Züge. „Und eh’ ich mich wieder wegreißen laß’, eh’ spring’ ich lieber da hinunter, wo’s am tiefsten ist. Komm’, Haymo, komm’,“ sie klammerte die zitternden Hände um seinen Arm und zerrte ihn gegen den Abgrund, „komm’ . . . da haben wir gleich eine Ruh’ . . . und bleiben bei einander . . .“

„Kind!“ schrie Pater Desertus erblassend, und auf Gittli zustürzend, umfing er sie mit beiden Armen und riß sie vom Rand der Felsen zurück. Gittli wehrte sich gegen ihn mit zorniger Kraft, er aber ließ sie nicht mehr. „Kind! Du Kind!“ Und die Lippen zu ihrem Ohr neigend, flüsterte er, nur ihr allein verständlich: „Es will Dich ja niemand wegreißen von ihm!“ Da erlahmte ihr Widerstand; scheu erschrocken blickte sie zu ihm auf, und als sie seine Augen sah, diese zärtlich und tief innig leuchtenden Augen, fiel es in ihr gemartertes Herz wie eine Offenbarung: hier ist Hilfe, hier ist einer, der es freundlich meint. „Herr, guter Herr!“ stammelte sie. „Stehet mir doch bei in meinem Herzeleid. Ihr habt ja doch auch eine liebe Frau gehabt und liebe Kindlein ... schauet, ich hab’ ihn halt so lieb, so lieb!“ Laut aufschluchzend barg sie das Köpfchen an seiner Brust.

Haymo stand mit todblassem Gesicht. Sein Athem ging keuchend, und unstet blickten seine Augen. Er sah, wie Pater Desertus die Arme um Gittli geschlossen hielt und ihr Köpfchen zärtlich an sich drückte. Haymos Fäuste ballten sich. Um gewaltsam zu bezwingen, was heiß und sinnverwirrend in ihm aufstieg, packte er mit den Fäusten die eigene Brust.

Herr Heinrich ging auf ihn zu. „Haymo! Haymo! Was hast Du aus diesem Kind gemacht?“

„Ich, Herr?“

„Hast Du nicht gehört, was sie gesprochen hat?“

„Es hat halt in ihr das Herz geredet, wie in mir das meinig’! Und wenn Euch das nicht gefallt, Herr, dann müsset Ihr rechten mit Eurem Herrgott! . . .“

„Mit unserem Herrgott? Und Du hast einen anderen? Oder gar keinen?“

„Wohl wohl, Herr, ich hab’ schon einen, und das ist ein guter ... es ist derselbig’, der das in uns zwei hineingelegt hat, daß es keiner nimmer herausreißt. Und wenn Ihr meinet, daß es halt doch geschehen könnt’, so habt Ihr einen anderen . . .“

„So?“ lächelte Herr Heinrich.

„Ja, und dann vertragt sich auch der meinig’ mit dem Eurigen nicht, und . . .“ Haymos Stimme verlor sich in dumpfes Murmeln, „und wir zwei taugen auch nimmer zu einander!“

„Du sagst mir den Dienst auf?“

Haymo senkte den Kopf, ein Schauer rüttelte seinen Körper, er schaute wieder auf, hing mit verstörten Augen an dem Gesicht des Propstes, seine Lippen bewegten sich, doch aus seiner Kehle wollte kein Laut.

„Gut! Ich kann Dich nicht zwingen!“ sagte Herr Heinrich. „Du bist ja kein Höriger, Du bist ein freier Mann. Aber ich lasse Dich ungern ziehen. Ich war Dir gut, denn Du hast mir treu gedient . . . und so gerne wie Dir hab’ ich noch keinem das Sprüchlein gesagt:

‚Wehr ohne Schart und Fehl,
Graden Sinn ohne Hehl,
Treues Herz ohne Wank ...‘

Was hast Du? Wolltest Du etwas sagen?“

Haymo würgte nach Worten . . . und schüttelte den Kopf.

„Gut also, wenn Du es nicht anders willst. Am Michelstage bist Du meines Dienstes entlassen ... als Klosterjäger!“ Ein feines Lächeln spielte um Herrn Heinrichs Lippen.

„Am Michelstag also, am Michelstag!“ murmelte Haymo vor sich hin, während er sich mit zitternder Hand über die Haare strich. „Wohl wohl ... am Michelstag, da geh’ ich . . . und wenn ich gleich mein halbes Leben dahint’ lass’. Und daß ich bis selbhin meine Pfticht thu’, ich mein’, Herr, dafür kennet Ihr mich.“ Er wandte sich zu Gittli, welche blaß und zitternd stand. „Behüt’ Dich Gott ... es schattet, und ich muß nach dem Gewild schauen . . . behüt’ Dich halt Gott derweil!“

„Haymoli!“ stammelte sie; aber nur eine ihrer Hände ließ Pater Desertus frei, und diese streckte sie dem Jäger hin, der sie mit festem Druck umfaßte.

„Ich muß gehen!“ sagte er mit schwankender Stimme. „Aber am Michelstag, da bin ich mein eigener Herr, da komm’ ich und such’ Dich wieder. Was die Herrenleut’ von Dir wollen mögen, ich weiß es nicht . . . aber ich komm’ und such’ Dich, da kannst Dich verlassen drauf. Und wenn ich Dich nimmer find’ . . . nachher mein’ ich wohl, daß man auch mich wird suchen müssen. Unter der Landthaler Wand ist ein Fleckl, da geht einer nicht irr’ ... der mich suchen mag . . .“

Thränen erstickten seine Stimme.

„Haymo, Haymoli!“ schluchzte Gittli und klammerte die Finger um seine Hand. Aber er riß sich los und stürzte der Hütte zu.

Herr Heinrich blickte ihm nach und schüttelte den Kopf. „Amantes amentes!“[5]

Pater Desertus schlang die Arme um Gittli, zog sie an seine Brust und flüsterte ihr zu: „Laß ihn doch, Du Närrlein, er kommt schon wieder!“

Als Haymo Zenzas Hütte erreichte, riß er die Armbrust von der Wand und faßte das Griesbeil. Auf einer Holzbank sah er das übel zugerichtete weiße Kleid und das Mäntelein liegen – er packte beides mit zornigem Griff und warf es in die glühenden Kohlen. Eine jähe Flamme loderte auf, und im Nu war das dünne Gewebe in Asche zerfallen.

Dann trat er ins Freie. Drüben über dem Almfeld wanderte Gittli langsam, mit gesenktem Köpfchen den Waldsaum entlang, zwischen Herrn Heinrich und Pater Desertus, der sie an der Hand führte.

„Der Schwarze! Und allweil der Schwarze!“ stammelte Haymo. In wirren Gedanken blickte er den Dreien nach, bis sie im Wald verschwunden waren. Dann stieg er den höheren Bergen zu, mit so ungestümer Eile, daß er bald den Athem verlor und rasten mußte.

[544] Sechs lange, bange Stunden währte der Weg, auf dem er kreuz und quer sein ganzes Revier durchwanderte. Er suchte die steilsten Gehänge und die gefährlichsten Pfade, um durch die Erschöpfung des Körpers seine Gedanken und sein Herz zu betäuben.

Als er zu den Hütten kam, lag über den Bergen schon die tiefe sternenhelle Nacht. Aus der halboffenen Thür des Herrenhauses leuchtete ein matter Feuerschein. Haymo wollte zur Jägerhütte gehen; da rief Herr Heinrich ihn an; der Propst und Pater Desertus saßen vor dem Herrenhaus auf der Bank. Haymo spähte und lauschte, aber es war von Gittti weder etwas zu sehen noch zu hören.

„Nun? Wie ist der Pirschgang ausgefallen?“ fragte Herr Heinrich mit gemächlichen Worten. „Hast Du Wild getroffen?“

„Wohl wohl, Herr,“ erwiderte Haymo, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, „unter den Wänden ist eine Steingeiß mit ihrem Kitz gestanden, Gemsen hab’ ich zweiunddreißig gezählt, und auf den Kreuzwaldlahner ist ein guter Hirsch ausgezogen, dem das Geweih bald reifen wird; die Kolben zeigen schon die vierte Kron’.“

„Brav, Haymo, den wollen wir uns holen in der Brunst . . .“ Herr Heinrich stockte. „In der Brunst? Ach so ... ich vergesse ja! Die gute Brunst beginnt um den St. Pelagitag . . . und eine Woche früher fällt schon der Michelstag. Schade! Schade!“

Haymo erzitterte, als hätte er einen Schlag vor die Brust erhalten.

„Aber jetzt geh’, Haymo; koch’ Dir Dein Nachtmahl und dann leg’ Dich schlafen! Du mußt morgen wieder zeitig auf den Beinen sein.“

Ein paar heisere Laute würgte der Jäger zum Gruß heraus und wollte seiner Hütte zugehen.

„Nicht dort ...“ rief ihm Herr Heinrich nach, „in Deiner Hütte schläft das Mädchen, Du mußt Dich für heute mit dem Heuboden begnügen; drinnen auf dem Herde findest Du, was für Deine Mahlzeit nöthig ist.“

Haymo trat in die Herrenhütte, schürte das erlöschende Feuer und begann seinen Imbiß zu bereiten. Er that es nicht, weil ihn etwa hungerte ... er that es nur, weil Herr Heinrich gesagt hatte: koch’ Dir Dein Nachtmahl! Noch eh’ er damit zu Ende war, kamen die Herren in die Hütte. Der Probst ging in das Stübchen, Pater Desertus blieb unter der Thür mit verschränkten Armen stehen und verwandte keinen Blick seiner stillen, warm leuchtenden Augen von Haymo. Dem Jäger wurde unter diesem forschenden Blick unheimlich schwül zu Muth, der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn – aber er that, als sehe er den Pater nicht, hockte sich mit der Pfanne in einen Winkel und würgte Bissen um Bissen hinunter. Das Mittagsmahl hatte ihm besser geschmeckt! Mit einem tiefen Athemzug sprang er auf; als er über die Leiter emporsteigen wollte, trat Pater Desertus auf ihn zu, streckte ihm die Hand hin und sagte lächelnd:

„Gute Nacht, Haymo!“

„Gut’ Nacht, Herr!“ murmelte der Jäger, die gebotene Hand übersah er. Droben warf er sich der Länge nach über das Heu und grub das Gesicht in die Arme, um sein Schluchzen zu ersticken. Als er nach einer Weile wieder ruhig wurde, hörte er die Herren in der Küche noch miteinander reden. Dann wurde alles still.

Leise strich der Nachtwind über das Schindeldach. Haymo wachte mit klopfendem Herzen. Als er meinte, daß Mitternacht schon vorüber sei, streifte er die Schuhe von den Füßen, stieg lautlos über die Leiter hinunter und tappte sich durch die Finsterniß zur Hüttenthür.

Sie war versperrt . . . und der Schlüssel abgezogen . . .

Fast eine Stunde stand Haymo schwer athmend und zitternd auf einem Fleck. Als er sich endlich wieder zu rühren wagte und in das Heu hinaufstieg, knarrte auch noch die Leiter.

Draußen war der Mond aufgegangen; sein bleicher Schimmer quoll durch die Lücken im Dach. Haymo lag schlaflos; er hielt die Hände unter dem Nacken verschränkt und starrte mit brennenden Augen auf eine der hellen Lücken.

Als der Morgen zu grauen begann, erhob er sich und stieg in die Küche hinunter. Dabei machte er Lärm und hustete. An der Thür rüttelte er, als wüßte er noch nicht, daß sie versperrt sei.

Er trat in die Stube.

„Haymo?“ fragte Herr Heinrich in der Schlafkammer.

„Wohl wohl, Herr! Ich kann nicht hinaus. Es muß einer die Thür versperrt haben!“

„Komm nur her zu mir!“ Herr Heinrich griff unter das Lederpolster und zog den Schlüssel hervor. „Da nimm! und kannst auch gleich am Fenster den Laden aufstoßen. Ich mein’, der Morgen wird schön.“

Haymo that, wie ihm geheißen war. Nun trat er seufzend ins Freie. Das graue Licht des Morgens kämpfte mit dem Mondschein. Still und dunkel lag die Jägerhütte. Als Haymo ihr entgegenschritt, schlug ihm das Herz bis an den Hals herauf. Trotz der Dämmerung ersah er gleich mit seinem Falkenaug’, daß am Fenster der Laden offen stand. Aber ein offenes Fenster war ja auch hinter ihm.

„Wart’ nur,“ murmelte er und raffte ein Steinchen von der Erde, „so gescheit wie die Herrenleut’ bin ich auch noch!“

Als er die Hütte erreichte, warf er, fast ohne die Arme zu rühren, das Steinchen ins Fenster. Ein leiser Schrei klang aus der Stube. Haymo lehnte das Griesbeil an die Blockwand und bückte sich, als müßte er die Schuhriemen fester knüpfen.

„Gittli!“ flüsterte er.

„Haymoli!“ klang es in der Stube mit zitterndem Laut, und gleich darauf erschien ein weißes Gesichtchen am Fenstergitter.

„So, jetzt kann er meinetwegen zuschauen, wie er mag!“ Mit einem flinken Satz sprang Haymo auf das Fenster zu. Das war nun freilich ein beschwerlicher Kuß, denn die Lücken des Gitters waren eng, die Stäbe dick . . . aber ein Kuß war es doch.

„Laß Dich nur nichts verdrießen! Thu’ nur festhalten, Schatzl, thu’ nur festhalten, gelt?“

„Wie ein Astl am Baum!“

Und wieder fanden sich ihre Lippen.

„Behüt’ Dich Gott, Schatzl!“

„Behüt’ Dich Gott tausendmal, mein lieber, lieber Bub’!“

Haymo griff nach dem Griesbeil und taumelte davon, das Herz zum Springen voll von Leid und Freude.

Hinter dem offenen Fenster des Herrenhauses standen der Propst und Pater Desertus.

„Es eilt, Dietwald, es eilt!“ sagte Herr Heinrich lächelnd.

„Das merk’ ich, Herr! Wenn ich nicht das Elend meines Kindes will, dann muß ich flink die Hände rühren zu seinem Glück!“

Haymo war in der Dämmerung schon entschwunden. Er kam an diesem Morgen mit seinem Hegergang so rasch zu Ende wie noch nie. Als die Sonne über die Berge emportauchte, war er schon wieder auf dem Heimweg. Von der Kreuzhöhe sah er die Hütten; sie waren geschlossen. Spähend blickte er über die Thäler, welche der Pfad durchschnitt. Nahe dem Bergwald sah er die Herren mit Gittli gegen die Almen wandern; sie verschwanden unter den Bäumen und kamen auf dem Almfeld wieder zum Vorschein. Aus der Sennhütte lief ihnen eine Dirn’ entgegen. Das mußte wohl die Zenza sein! Eine Weile standen die viere beisammen. Dann gingen sie der Hütte zu . . . und trotz der weiten Ferne meinte Haymo zu erkennen, daß Gittli von den Herren gestützt und geführt wurde.

„O Du lieber Herrgott!“ stammelte er, „sie wird doch nicht letz geworden sein!“ Und geraden Weges, über Felsen und Büsche, stürmte er hinunter ins Thal.

Als er nach einer Stunde die Alm erreichte, trat ihm unter der Hüttenthür eine fremde Dirn’ mit verweinten Augen entgegen.

Er starrte sie an. „Sind die Herrenleut’ schon wieder fort?“

„Schon lang wieder.“

„Wo ist denn die Sennerin?“

„Die bin ja ich! Oder weißt noch nicht, was geschehen ist?“ Weinend erzählte sie.

Haymo, dem die Knie brachen, sank erblassend auf die Bank.

„Gestern um Mittag hat man das arme Leut gefunden. Und der Jörgi geht auch ab. Seit der Früh schon sucht man nach ihm.“

„Wo denn, wo?“ stotterte Haymo.

„Beim Wildbach drunten.“

Haymo sprang auf; Zähren rannen über seine Wangen, während er davonstürzte, um sich den Suchenden anzuschließen.

(Schluß folgt.)

[545]

Heinrich VIII. und Anna Boleyn.
Nach einem Gemälde von C. von Piloty.

[546] ----

Blätter und Blüthen.

Rudolf Pohle und sein Senefelder-Denkmal. (Zu dem Bilde S. 517.) Ueber die Schicksale Alois Senefelders und über seine weltbewegende Erfindung sind die Leser durch den Artikel von Eduard Grosse in diesem Halbhefte ausführlich unterrichtet. Es bleibt uns noch übrig, über das neue Denkmal in Berlin und über seinen Verfertiger einiges anzufügen.

Rudolf Pohle hatte bei der Lösung seiner Aufgabe eine eigenthümliche Schwierigkeit zu bewältigen. Das Berliner Komitee hatte, um das Verfahren des Lithographen auch äußerlich an dem Denkmal zum Ausdruck zu bringen, die Forderung aufgestellt, eine am Sockel befindliche Idealfigur habe den Namen „Alois Senefelder“ in Spiegelschrift auf den Stein zu schreiben. Um nun das Sonderbare, das einer solchen Aufschrift nothwendig anhaften mußte, zu heben und den Beschauer gleichsam von selbst auf die Lösung des Räthsels hinzulenken, verfiel Pohle auf den Ausweg, der Jdealgestalt des Druckerjungen, welcher jene verkehrten Schriftzeichen schreibt, ein kleines Mädchen beizugeben, welches seine Thätigkeit aufmerksam im Spiegel verfolgt. Dieser Gedanke gefiel dem Komitee so gut, daß es von der Ausschreibung eines Wettbewerbs absah und Pohle die Ausführung übertrug.

Die Statue Senefelders ist aus carrarischem Marmor. Sie stellt den Erfinder sitzend, in die nachdenkliche Betrachtung einer lithographischen Platte versunken dar, umgeben von den Geräthen seiner Kunst. Selbst seine Verdienste um die Kattundruckerei sind durch ein über die Steine zu seinen Füßen geworfenes Stück Zeug angedeutet. Der Sockel trägt an seinen Seitenwänden Kränze, auf der Rückseite unter einem Feston eine Tafel mit Geburts- und Todestag Senefelders. Das ganze Denkmal ist etwas über fünf Meter hoch.

Rudolf Pohle ist die Bahn zur Kunst nicht leicht geworden. Am 19. März 1837 wurde er als der dritte Sohn eines wenig begüterten Bäckermeisters zu Berlin geboren. Wohl war dieser, soweit es seine beschränkten Mittel gestatteten, darauf bedacht, seinen fünf Söhnen eine gute Erziehung zu theil werden zu lassen; aber dem Begehren des Jungen, ein Künstler werden zu dürfen, glaubten die Eltern doch als einer allzu aussichtslosen Sache ihre Genehmigung versagen zu müssen; und erst nach langem Widerstreben willigten sie ein, den Sohn, der schon als Knabe seine künstlerischen Triebe durch Figuren aus Brotteig geoffenbart hatte, bei einem Holzbildhauer in die Lehre zu geben.

Indessen schon nach wenigen Wochen bemächtigte sich eine bittere Enttäuschung des strebsamen Jünglings, denn die Kunst, die in dem Atelier jenes Holzbildhauers betrieben wurde, bestand darin, dem herrschenden Geschmack entsprechende Möbelverzierungen anzufertigen. Auf dringendes Bitten gab der Meister, ein einsichtsvoller würdiger Herr, seinen Lehrling wieder frei, und dieser machte nun auf Anrathen Rauchs an der Kgl. Akademie der Künste regelrechte Studien, nach deren Beendigung er noch auf anderthalb Jahre Schüler von Drake wurde. Im Jahre 1858 beschickte er zum ersten Male die große akademische Kunstausstellung, und er ist seither jedesmal dort vertreten gewesen; nur der Katalog von 1890 nennt seinen Namen nicht: damals war Pohle zu Carrara mit der Ausführung seines Senefelder-Denkmals beschäftigt.

Zur Geschichte des „jungen Deutschland“. Welche Bedeutung man dem Wirken und Wollen des „jungen Deutschland“ und seiner Hauptvertreter Heine, Börne, Gutzkow und Laube zuerkennen solle, das war stets eine leidenschaftlich umstrittene Frage. Aus diesem Mangel an ruhigem, geschichtlichem Abwägen erklärt es sich auch, daß eine endgültige Geschichte der geistigen Ziele und Erfolge, die hier angestrebt wurden, bis jetzt nicht erscheinen konnte. Nun hat neuerdings Johannes Proelß es unternommen, diese Lücke auszufüllen in seinem umfangreichen Werke: „Das junge Deutschland. Ein Buch deutscher Geistesgeschichte“ (Stuttgart, Cotta). Er hat dabei seine Aufgabe unter einen allgemeinen Gesichtspunkt gestellt, der an sich, interessant und weit genug, wohl geeignet war, für die unparteiische Würdigung jener litterarisch-politischen Bewegung die Warte abzugeben. „Während die politische Geschichtschreibung unserer Tage“, sagt Proelß in der Einleitung, „das Werden und Wachsen Deutschlands zum Reiche, soweit es sich um die Leistungen der Staatskunst und des Heerwesens handelt, mit wissenschaftlicher Gründlichkeit erforscht und dargestellt hat, ist der Einfluß der Litteratur auf die Gestaltung unseres Vaterlands zum in Einheit gefesteten Rechtsstaat noch keineswegs in gleicher Weise zu gerechter Würdigung gelangt.“ Als einen „Versuch zur Lösung dieser Riesenaufgabe auf begrenztem Gebiet“ will er sein Werk betrachtet wissen. Und in der That hat er, indem er mit regem Fleiße neues Material, namentlich über Börne und Gutzkow, zusammentrug, zugleich ansehnliche Bausteine geliefert für jene von ihm vermißte Geschichte der „Vorbereitung des Deutschen Reiches durch die Wortführer des deutschen Volkes“. Wer daher an der Hand ausgedehntester Darstellung über die Rolle, welche dem „jungen Deutschland“ bei dieser Vorbereitung zukommt, sich unterrichten und ein Urtheil bilden will, findet in dem Buche von Proelß reichen und befriedigenden Stoff zur Enträthseluug der schimmernden und schillernden Erscheinungen, welche nnter dem Namen „Das junge Deutschland“ zusammengefaßt und leider unendlich viel mehr genannt als gekannt sind.

Lieblingsplätze. (Zu dem Bilde S. 525.) Lieblingsplätze! Wer hätte sie nicht? Der Knabe behauptet, nirgends lerne es sich so gut als auf seinem Lieblingsplatz, hoch oben im Wipfel des alten Baumes. Der Großvater hat seinen Lieblingsplatz im großen Lehnstnhl am Ofen, und Mütterchen sitzt auf hohem Tritt am Fenster. Von da kann sie ja weit hinaussehen, nicht nur weit in die Welt, auch weit in die Zeit hinaus, in jene Zeiten, wo alle die Kinder, die dort unten spielen, erwachsene Menschen sein werden. Die reifere Jugend freilich sucht ihre Lieblingsplätze in der Mitte zwischen dem Baumwipfel des Knaben und dem Lehnstuhl der Alten.

Da hat uns Bauer ein paar reizende „Lieblingsplätzchen“ dieser Art vorgeführt. Man möchte gleich selber mit unter dem schattigen Baume sitzen und weit hinausblicken auf die glitzernden Wellen des Sees, während das kräftige Aroma des frischen Heues von der Wiese herüber duftet!

Auch das einsame Felsgestade dort unten ist kein übler Platz für einen, der lieber allein sein mag mit seinen Gedanken.

Die Schwalben scheinen noch nicht ganz einig zu sein über die Wahl ihrer Lieblingsplätze. Eilig streifen sie am Ufer hin und wieder. Aber nur Geduld, ein „Lieblingsplätzchen“, das traute Nest zu bauen, findet jedes Paar, das recht eifrig danach sucht. Auch die Schwalben werden es finden! C. M.     

Das Wiesbadener Schwesternheim. (Mit Abbildung S. 541.) Vor einigen Jahren brachte die „Gartenlaube“ (1888, Halbheft 4) unter der Überschrift „Ein weiblicher Beruf“ einen kurzen Aufsatz über den Wiesbadener Verein vom Rothen Kreuz, in welchem Frauen und Jungfrauen aufgefordert wurden, sich der Erlernung und Ausübung der Krankenpflege zu widmen und sich zu diesem Behuf als Schwestern zum Eintritt in den Verein zu melden. Dieser Artikel war von großem Erfolg begleitet, denn nach seinem Erscheinen liefen Anmeldungen von allen Seiten ein, selbst aus dem Innern von Rußland, aus Sibirien und aus China. Es dürfte für die Leser dieses Blattes darum von Interesse sein, zu erfahren, welche Entwicklung der Verein seitdem genommen hat und auf welche Weise er sich bemüht, das menschenfreundliche Ziel zu erreichen, welches er sich gesteckt hat.

In den wenigen Jahren seit der Gründung des Vereins ist die Zahl der pflegenden Schwestern bereits anf 42 gestiegen. Aber so bedeutend ist das Bedürfniß, in Heilanstalten wie in der Privatpflege, Schwestern zu erhalten, daß die doppelte Zahl noch reichlich Verwendung finden könnte. Anfänglich bewohnten die Schwestern, welche unter der Aufsicht und Leitung einer Oberin stehen, eine Miethswohnung. Da eine solche für die wachsende Schwesterngenossenschaft nicht mehr zu beschaffen war, entschloß sich der Verein zur Erbauung eines eigenen Schwesternheimes und in Verbindung mit demselben eines Sanatoriums, in welchem innere und operative Krankheitsfälle behandelt werden.

Als der Verein den endgültigen Beschluß zum Hausbau faßte, that er dies im Vertrauen auf die werkthätige Nächstenliebe, welche seiner guten Sache zur Seite stehen würde, denn die verfügbaren Geldmittel waren gering. Seine Hoffnung wurde nicht getäuscht. Er erhielt alsbald 50000 Mark von einem Wohlthäter geschenkt, und andere Gönner des Vereins gaben Darlehen zu niedrigem Zinsfuß.

In der gesündesten Lage der Stadt, auf einem Höhenzug mit dem Blicke nach Süden wurde der Bau errichtet und vor kurzem seiner Bestimmung übergeben. Das frei in einem großen Garten stehende Gebäude enthält in seinem westlichen Flügel das Schwesternheim nebst den Wirthschaftsräumen, in dem östlichen Flügel die Krankenzimmer. Die Verbindung zwischen den beiden Flügeln wird durch Gesellschaftsräume und eine große offene Loggia für Genesende hergestellt. Dieser gegenüber nach Norden zu liegt das Operationszimmer. Die Krankenzimmer sind unter voller Berücksichtigung der von ärztlicher Seite zu stellenden Anforderungen aufs geschmackvollste eingerichtet, so daß sie selbst anspruchsvollen Patienten Behagen bieten. Die zahlenden Kranken können sich von dem Arzte ihrer Wahl behandeln lassen, für Mittellose soll je nach der finanziellen Lage des Vereins eine möglichst große Anzahl von Freibetten geschafftn werden.

Da das Sanatorium von dem Tage seiner Eröffnung an gut besetzt war und seitdem wachsenden Zuspruch fand, mußte sofort eine größere Zahl von Schwestern in demselben zur Pflege verwendet werden. Die anderen Schwestern sind in verschiedenen Kliniken und Krankenhäusern, in der Armen- und in der Privatpflege thätig. Besonders die letztere verlangt hier sehr viele Kräfte, da sich gerade bei den Aerzten die Ueberzeugung immer mehr Bahn bricht, daß eine zuverlässige und zweckmäßige Krankenpflege, wie sie von den wissenschaftlich und praktisch gebildeten Schwestern geübt wird, sehr wesentlich zum Gelingen der Heilbehandlung beiträgt.

Aus diesem gedrängten Bilde ersehen die Leser schon zur Genüge, welch großes und dankbares Feld sich der Thätigkeit der Schwestern darbietet. Täglich und stündlich erfüllen sie die Pflichten der christlichen Nächstenliebe, indem sie Trost und Hilfe spendend in den Hütten der Armen wie in den Häusern der Reichen erscheinen. Sie bereiten sich im Frieden schon auf die Zeiten vor, die kommen müßten, wenn je einmal wieder die Kriegsfurie das Vaterland heimsuchen sollte. So viele Frauen aus den gebildeten Ständen suchen nach einem passenden Felde der Verwendung ihrer körperlichen und geistigen Kräfte! Keines ist ihrer Natur mehr angemessen, auf keinem sind sie dem männlichen Geschlecht mehr überlegen als auf dem der Krankenpflege.

Mit dem Wunsche allein, sich der freiwilligen Krankenpflege zu widmen, wird man indessen noch keine brauchbare und gute Schwester. Dieser Beruf will wie jeder andere erlernt sein, denn zu groß und zu vielseitig sind die Anforderungen, welche heute von Kranken und Aerzten [547] an die Schwestern gestellt werden. Die Erwerbung der nöthigen Kenntnisse wird aber nur durch die Zugehörigkeit zu einem Pflegeverein ermöglicht, welchem die Mittel zu Gebote stehen, seinen Schwestern die nöthige theoretische und praktische Ausbildung zu geben. Der Verein schürt die alleinstehende Frau, verschafft ihr eine angesehene Stellung nach außen und bietet in seinem Heime, in der Gemeinsamkeit der Schwestern den Ersatz für das mangelnde Familienleben. Aber nicht nur für die Zeit des Arbeitens und Schaffens sichert der Verein das tägliche Leben der Schwester, indem er sie jeder Auslage und Sorge für dasselbe überhebt. Er trifft auch Vorsorge für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit, ob sie nun durch hohes Alter oder durch Kränklichkeit hervorgerufen sein mag.

Anmeldungen zur Aufnahme in die Schwesterngenossenschaft des Wiesbadener Vereins vom Rothen Kreuze nimmt der Vorsitzende, Prinz Nikolas von Nassau, wie auch die Oberin stets entgegen, wobei noch bemerkt werden darf, daß Unterschiede des Bekenntnisses bei der Frage der Aufnahme nicht in Betracht kommen. Der Eintritt kann zu jeder Zeit erfolgen. Möchten Frauen und Jungfrauen der gebildeten Stände diese Gelegenheit, ihre Kräfte in den Dienst der leidenden Menschheit zu stellen und sich eine gesicherte und ehrenvolle Stellung zu verschaffen, in reichem Maße benutzen!

Die Gedächtnißmünze auf die Nürnberger Steckenpferdreiter.
Original im Germanischen Museum zu Nürnberg.

Ein Massenaufgebot von Steckenpferdreitern. (Mit Abbildung.) Als nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges zu Nürnberg ein großes Friedensfest begangen wurde, sprengte ein Spaßvogel aus, daß am nächsten Sonntage der kaiserliche Prinzipal-Commissarius, Herzog von Amalfi, Octavio Piccolomini, einem jeden Knaben, der vor sein Quartier auf einem Steckenpferd geritten komme, den sogenannten Friedenspfennig schenken werde. Die Wirkung dieses Einfalles läßt sich denken. Aus allen Gassen kamen ganze Schwadronen kleiner Reiter zum Vorschein, die alle nur ein Ziel kannten. Die hölzernen Gäulchen wieherten und stampften so arg, daß der Herzog ans Fenster eilte und hier Kenntniß von dem Sachverhalt erhielt. Er vertröstete die Knaben auf acht Tage später, mit dem Bedeuten, daß sie in demselben Aufzuge wiederkommen sollten. Gewissenhaft stellten sich nicht allein sie, sondern noch viele andere mit ihnen ein, ein ganzes Reiterheer kam kühn und trotzig dahergezogen, das mit dem Bändigen der wilden Pferde viel zu thun hatte. Nur in Nürnberg war damals ein solches Massenaufgebot hölzerner Gäule möglich. Der Fürst schenkte jedem der Knaben einen viereckigen silbernen Pfennig, den er extra prägen und mit der Darstellung eines der verwegenen Reiter hatte versehen lassen, wie wir ihn auf unserer Abbildung erblicken. Vergnügt zog die kleine Schar von dannen, noch lange die Gassen mit ihren Freudenrufen erfüllend.

Der arme Schubert! Daß es dem unsterblichen Schöpfer so vieler herrlicher Tonwerke in seinem kurzen Leben jämmerlich genug ergangen ist, dürfte wohl allgemein bekannt sein – weniger aber die von seinem vertrauten Freunde und Bewunderer Josef von Spaun in dessen „Erinnerungen“ berichtete Thatsache, daß Schubert zeitlebens zu arm war, um ein Klavier kaufen oder auch nur miethen zu können! Die Musikalienhändler bezahlten seine von Kennern bereits ihrem vollen Werthe nach gewürdigten Lieder und Klavierstücke so elend, daß es eben immer nur zum nothdürftigsten Lebensunterhalt reichte. Selbst bei den berühmten Abenden im Gasthaus, an welche Moritz von Schwind, Schober, Kupelwieser u. a. noch in späten Jahren als an selige Höhepunkte ihres Lebens zurückdachten, wo man bis weit nach Mitternacht Schuberts Lieder sang, selbst bei diesen in Bezug aus Genüsse des Leibes sehr bescheidenen Symposien hielt es Spaun für geboten, gegen Schubert den Wirth zu machen, was dieser freundlich annahm. Wenn dann, so erzählte Schwind gelegentlich, die schon bekannten Lieder gesungen waren, so zog der kleine bescheidene Meister wohl noch ein paar zerdrückte Blätter aus der Brusttasche, stellte sie aufs Klavierpult und begann, während die anderen voll Andacht zuhörten – den „Wanderer“, „Memnon“, „Ganymed“ oder sonst eines seiner bedeutendsten und schönsten Lieder, die er nur am Schreibtisch hatte verfassen können. Wollte er hören, wie sie klangen, so mußte er einen Glücklicheren aufsuchen, der ein Klavier besaß! Sie wurden bald durch den Sänger Vogl in Konzerten und aristokratischen Salons eingebürgert und erregten die begeistertste Bewunderung – für den Sänger. Kein Mensch achtete auf den unscheinbaren Mann, der am Klavier saß und sich das entzückte Publikum durch seine großen runden Brillengläser betrachtete. Einst trat die feinsinnige Fürstin Kinsky bei solcher Gelegenheit zu Schubert und suchte die Vernachlässigung seiner Person durch die eben ganz seinem Werke geltende Begeisterung zu entschuldigen. Schubert dankte und erwiderte, die Frau Fürstin möge sich gar keine Mühe diesfalls geben, er sei es gewohnt, übersehen zu werden, ja es sei ihm das sogar lieb, da er sich dadurch weniger geniert fühle!

Armer Schubert! Und doch – die Wonne des Schaffens, die höchste auf Erden, hat er in überschwänglichem Maße genossen. Dieser Gedanke allein mildert etwas die Trauer, womit man im Hinblick auf den heutigen Glanz seines Namens, das tragische „Zu spät!“ erwägt. Bn.     

Heinrich der VIII. und Anna Boleyn. (Zu dem Bilde S. 545) König Heinrich VIII. von England war ein Herrscher von geradezu cynischer Gewaltthätigkeit: ein Argwohn – und der Kopf eines langjährigen treuen Rathgebers fällt unter dem Beile des Henkers; eine Regung sinnlichen Gefallens – und Königinnen werden verstoßen oder hingerichtet. So ging es auch der armen Katharina, der ersten Gemahlin dieses Fauns auf dem throne von England. Als des Königs Augen auf ihre junge Hofdame, die aus niedrigem Stande geborene, aber mit allen Reizen weiblicher Anmuth ausgestattete und am Hofe von Frankreich fein erzogene Anna Boleyn fielen, da trat er die Rechte der Katharina mit Füßen. Anna Boleyn war stolz und hielt sich werth. Sie war taub für die Bitten des begehrlichen Fürsten, solange er ihr nicht eines versprach – den Platz an seiner Seite auf dem Throne. Und der König trug kein Bedenken, ihr ihn freizumachen. Ein Umstand kam ihm zu statten. Katharina war seines Bruders Witwe, seine Schwägerin – und die Ehe mit ihr war nach der strengen Auffassung der Kirche verboten.

Wohl hatte der Papst selbst ihm den Dispens ertheilt – nun aber, da es Heinrich so gar bequem in seine Wünsche paßte, flüchtete er sich auf einmal hinter sein zweifelndes „Gewissen“ und that, als könne er ferner nicht mit Katharina in der Ehe leben. Und als der Papst von einer Scheidung nichts wissen wollte, da war Heinrich ebenso unbedenklich bereit, die Verbindung mit ihm zu lösen und sich selbst für das Oberhaupt der Kirche und Geistlichkeit von England zu erklären. So floß bei diesem Fürsten die folgenreichste Entscheidung aus den niedrigsten Regungen seiner Menschennatur.

C. v. Piloty hat für sein Gemälde den Augenblick gewählt, wie Heinrich bei einem Feste vergeblich um die Gunst der schönen Hofdame wirbt. Mit Sorgen theils, theils mit Ingrimm schaut die Umgebung auf das gefährliche Liebesgeflüster, der Hofnarr aber macht seiner Mephistophelesnatur durch ein paar klimpernde Griffe in die Saiten der neben Anna liegenden Laute Luft.

Und was war das Ende? Fünf Jahre, nachdem Anna Boleyn feierlich als Königin von England gekrönt worden war, am 19. Mai 1536, sank ihr Haupt im Tower auf das Blutgerüst. Am Tage darauf vermählte sich Heinrich mit Johanna Seymour!

Der „hermetische Verschluß“. Wohl mancher hat sich schon nach dem Ursprung dieses sonderbaren Ausdrucks gefragt, und wenn er auch wußte, daß es soviel bedeute wie „luftdichter Verschluß“, so fehlte ihm doch eine nähere Erklärung für diese Bezeichnungsweise.

Die Benennung stammt aus sehr alten Zeiten, da es noch keine Chemie, wohl aber eine Alchemie gab. Die alten Aegypter verehrten als Beschützer der Wissenschaften und Künste den Gott Thoth, den die Griechen Hermes und die Römer Merkur nannten. Dieser Gott soll eigenhändig eine Anzahl von Büchern geschrieben haben, in denen alle Geheimnisse der ägyptischen Religion und des Wissens enthalten waren. Wohl sind die echten heiligen Bücher verloren gegangen, aber als sich später Griechen in Alexandrien niederließen, wurde eine große Zahl ähnlicher Bücher geschrieben, die man „hermetische Schriften“ nannte. „Hermes Trismegistos“, d. h. „Hermes der dreimal größte“, spielte in der Geschichte der Alchemie bis in den Anfang unsres Jahrhunderts eine große Rolle, da in seinen Schriften der Schlüssel zur Lösung der verschiedensten chemischen Probleme enthalten sein sollte. Er war auch der Gott der Magie und sollte imstande sein, durch magische Siegel Gefäße unzugänglich zu machen. Man nannte darum einen möglichst vollkommenen Verschluß einen „hermetischen“, und da ein solcher Verschluß luftdicht sein mußte, so wurden luftdicht und hermetisch gleichbedeutend. Heutzutage sind hermetische Verschlüsse etwas sehr Gewöhnliches; Bier, Wein, Mineralwässer müssen in Flaschen hermetisch verschlossen sein. Ein wesentlicher Fortschritt wurde in dieser Beziehung durch die Einführung des Gummi in den sogenannten Patentverschlüssen erzielt. *      

Zum Licht! Einen neuen deutschen Lyriker der Welt anzukündigen, ist eigentlich ein recht undankbares Unterfangen. Von wie wenigen, die in den legten Jahrzehnten aufgetaucht sind, hat die große Leserwelt ernstlich Kenntniß genommen! Wie schwer wird es einem solchen gar, die österreichische Grenze zu überschreiten und sich im „Reiche" Hörer zu verschaffen, wenn er auch das Glück gehabt hat, als Oesterreicher einen reichsdeutschen Verleger zu gewinnen! Und was kann vollends einer Gutes erhoffen, der nicht Süßholz für empfindsame Backfische raspelt, sondern meist in ernsten, männlichen Tönen siegt und sich mit seinem Dichten in die Räthsel des Welt- und Menschenlebens versenkt! Und doch will ich es wagen, den Dichter der kleinen Sammlung „Zum Licht!“, Hermann Hango, einen Wiener, vorzustellen, den übrigens die Leser der „Gartenlaube“ schon mehrfach als liebevollen Chronisten seiner Vaterstadt kennenzulernen Gelegenheit gehabt haben. Schon der Titel seiner Gedichtsammlung (Stuttgart, A. Bonz) „Zum Licht!“ ist ein deutlicher Fingerzeig, daß wir hier nicht jene Lieder allerneuesten Gepräges vor uns haben, die uns die Sonne vom Himmel wegreimen und nur den Widerschein von Erdenelend und Schmutz bieten. Auch H. Hango sieht die Naturseite des Lebens. sieht das ewige Vergehen und die nie schwindenden Schatten, aber statt sich dadurch die Lebensfreude verkümmern zu lassen, grüßt er in der Blüthe, im Schmetterling, in der Wolke, im Irrlicht, in allem, was da wird und webt, freudig die wiederbelebten Toten, welche die Welt unter Steinen, Denkmälern und Kreuzen begraben wähnt. Das formfreudige österreichische Wesen des Dichters giebt sich in Weisen kund, die geradeswegs zum Singen herausfordern, wie der „Herbst“, „Im Freien“, „Weltfern“, oder „Also schläft die Frühlingsnacht“:

„Silbermond und Sternefunkeln,
Schweigen über Trift und Wald,
Hier und dort ein Licht im Dunkeln
Wird erlöschen balde, bald“ . . .

Möchte man ihn hier als Nachfahren N. Lenaus grüßen, so weht uns etwas wie Goethescher Geist an in den machtvollen Hymnen, „Auferstehung“, „An die Wolken“, „An Mutter Erde“. Antike Versmaße meistert er mit demselben feinen und strengen Formgefühle wie den deutschen Reim, in welchem er niemals gewöhnlich wird. Und in packendem Flusse rauschen seine Balladen dahin, wie „Kleopatra“, „Klytia“, „Der Tod des Priamos“ und andere. Der Zug zum Großen, wie er nicht [548] vielen neuen deutschen Dichtern eigen ist, kennzeichnet eine Reihe Hangoscher Gedichte, so besonders den „Judas“.

Gedankentiefere und zugleich flüssigere Gedichte als Hangos „Von Nacht zu Nacht“, „An die Einsamkeit“, „Urzeitgräber“, „An eine Rieseneiche“, „Sintfluth“ finden sich bei wenig Neueren. Und so möge denn der Wiener Hango diejenigen trösten, welche seit Hamerlings Tod über den Hingang aller Poesie in Oesterreich klagen wollen. L.     

Die Schauessen. Bei festlichen Mahlen vergangener Jahrhunderte sollte nicht allein der Gaumen Befriedigung finden, sondern auch die Augen sollten ihre Weide haben, sollten sich satt sehen an dem Tafelschmuck, der oft mit großer Ueppigkeit und bedeutenden Kosten hergestellt wurde. Schon der Name „Schauessen“, „Schaugerichte“, auch „Gesichtsessen“ verkündete, daß sie bestimmt waren, nicht bloß mit dem Munde, sondern auch mit den Augen genossen zu werden. Von Zucker, Tragant, Harz, Wachs, Kreide und anderen Stoffen aufgebaut, waren diese Schaustücke häufig sehr umfangreicher und kunstvoller Art. Religiöse Darstellungen wechselten mit sinnbildlichen und solchen aus der Göttersage. Städte und Festungen, Burgen und Schlösser, Gärten mit Seen, Wälder mit Jagden, Götter, Thiere aller Art, Riesenpasteten, die lebende Vögel und Zwerge bargen, waren vor den Tafelnden aufgestellt. Uns seltsam erscheinende Schauessen zierten die Tafel des Leichenmahles, das zu München im Jahre 1508 nach der Beisetzung des Herzogs Albrecht IV. abgehalten wurde. Religion und Schmauserei waren bei demselben in eigenthümlicher Weise verquickt, sofern unter drei Essen immer ein Schauessen war, das aus einer religiösen Darstellung bestand. Sieben Schauessen zeigten die sieben Alter der Welt: das erste das Paradies mit Adam und Eva und der Schlange; das zweite die Arche Noah; das dritte Abrahams Opfer; das vierte den Kampf Davids mit dem Riesen Goliath; das fünfte den Thurm zu Babel; das sechste die Geburt Christi; endlich das siebente und letzte das jüngste Gericht. Ein achtes Schauessen stellte – in recht sinniger Weise! – das Grab des Herzogs Albrecht mit allen Panieren des Landes und der Herrschaft dar, wie dasselbe in der Kirche Unser Lieben Frauen stand. Wie schön lautete so eine Speisekarte: 14. Pastete mit eingemachten Vögeln; 15. Rehschlegel; 16. die Geburt Christi; 17. Pastete mit Birnen; 18. eingemachte Vögel; 19. das jüngste Gericht etc. Um die religiösen Darstellungen noch anziehender zu machen, war stets ein Gebäck, meist von Zucker und Mandeln, beigegeben. Aus dem Werke „Hohenzollerische Hochzeit“ (Augsburg, 1590), in welchem Jakob Frischlin, Rektor zu Reutlingeu, die Hochzeit des Herrn von Hohenzollern mit Franziska, des Wildgrafen zu Dhaum und Kürburg Tochter, besingt, erfährt man den tieferen Sinn der Schauessen:

„Dann darumb werden die Schauessen
Aufgsetzt, daß man soll nicht vergessen
Die alten Gschicht, und was darbei
Zu lernen und zu bhalten sei.“

Die Kosten der gesammten Schauessen dieses Festes wurden auf 500 Gulden geschätzt; besonders merkwürdig war das erste, welches in einer getreuen Nachbildung des Hechinger Stammschlosses des Bräutigams bestand, „an dem man alle Gemach sehen konnte“. Das zweite stellte den Namenspatron des Bräutigams, den Ritter Sankt Georg zu Pferd als Drachentöter dar,

„Damit er auch auf dieser Erd,
Gereizt zu solcher Kühnheit werd.“

Der große „Christoffel“, das Christuskind durchs Meer tragend, war das dritte Schauessen, und es bedeutete, daß man in rechtem Glauben wandeln solle. Der Dichter konnte nicht alle die Schauessen, die noch folgten, einzeln aufzählen:

„Vil schöner Baum, Geständ und Hecken,
Darunter wilde Thierlein stecken.
Und Vögel saßen oben drauf,
Des Dings war ein sehr großer Hauf,
Die alle brachten großes Wunder
Und zu beschreiben nicht jetzunder.“

Hoffen wir, daß sie schöner und besser als diese Verse waren! H. B.     

Der Siegeszug des elektrischen Lichtes erstreckt sich über die weitesten Gebiete der Erde – es glänzt bereits vom Nordpol bis zum Aequator. Unter dem warmen Himmelsstriche der Tropen ist es schon seit geraumer Zeit heimisch, und Sansibar hatte seinen elektrischen Leuchtthnrm lange vor mancher europäischen Seestadt. Auch den nördlichen Polarkreis hat das elektrische Licht überschritten. Hammerfest, die nördlichste Stadt Europas, ist mit Anlagen für elektrisches Licht versorgt, welches sowohl der öffentlichen Straßen- wie der privaten Hausbeleuchtung dient. Die Aufgabe, welche das Licht dort zu lösen hat, ist eine große, denn die Winternacht Hammerfests dauert volle 66 Tage, vom 18. November bis zum 23. Januar; dafür aber kann es im Sommer volle 71 Tage ruhen, denn während dieser Zeit leuchtet am Himmel von Hammerfest ununterbrochen die große Sonnenfackel. Das Merkwürdigste bei der Anlage ist aber, daß der elektrische Strom nicht durch Dampfmaschinen, sondern durch das fließende Wasser von drei kleinen Flüssen äußerst billig erzeugt wird. Das Gefälle, mit dem sich diese Flüsse ins Meer ergießen, ist nämlich so stark, daß sie trotz der nordischen Winterkälte seit Menschengedenken noch niemals zugefroren sind. *     

Das Ziel. (Zu unserer Kunstbeilage.) Welch lustige Phantasien mögen den Künstler umgaukelt haben, als er unser Bild schuf? Liebliche Putten auf luftigem Wolkenthron halten die Scheibe empor, mit Rosen bekränzt, in der Mitte statt des „Schwarzen“ ein rothes Herz. Zärtliche Tauben sind die Zuschauer bei dem seltsamen Preisschießen – wer mag der Schütze sein? Amor selbst, ohne Zweifel, und der letzte gefiederte Pfeil, er traf ausgezeichnet! Jubelnd schwingt ein kleiner geflügelter Genius die Siegerkränze, der kluge Wicht hat ihrer zweie mitgebracht, denn wenn Amor ins Ziel trifft, sind immer zwei des Festes Könige.



KLEINER BRIEFKASTEN.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

S. S. in Kitzingen. Die Entscheidung dieses Streites müssen wir den Gerichten überlassen!

J. G. Nr. 33. Ihre Skizzen sind leider für die „Gartenlaube“ nicht geeignet.

Das Wandern ist des Burschen Lust. Die Pläne, über die Sie unsere Ansicht hören wollen, sind so phantastischer Natur, daß wir Ihnen nur abrathen können. Wenn Sie es auf der alten Scholle nicht mehr auszuhalten vermögen, weil man Ihnen Glauben und Sprache nehmen will, nun, so suchen Sie sich irgendwo auf deutschem Boden eine neue Existenz zu schaffen. Aber jagen Sie keinen Hirngespinsten nach von friedlichen Inseln, auf denen man den Streit der Parteien noch nicht kennt!



Auflösung der arithmetischen Aufgabe auf S. 516:

Auflösung der Schachaufgabe Nr. 6 auf S. 516:
1. T a 4 – a 5 0 h 4 – g 3
2. D b 2 – e 5 †       beliebig.
3. S f 5 – c 3, c 7, L c 5 – d 6 matt.
A. 1. . . . . . . . . 0 S c 4 – b 2:
0 2. S f 5 – c 3 † 0 K d 5 – e 5
3. f 2 – f 4 matt
B. 1. . . . . . . . . 0 S c 4 – a 5:
2. S f 5 – c 3 † 0 K d 5 – c 5:
3. S g 5 – c 4 matt.
C. 1. . . . . . . . . 0 S c 6 – a 5:
2. S f 5 – e 7 † 0 K d 5 – c 5:
3. S g 5 – e 4 matt.
D. 1. . . . . . . . . 0 L a 7 – c 5:
2. D b 2 – f 6       beliebig.
3. D f 6 – e 6, S f 5 – c 7, e 3 matt.
E. 1. . . . . . . . . 0 L a 7 – b 8
2. L c 5 – b 4 (a 3) †       beliebig.
3. S f 5 – e 3, 3 7 matt.
F. 1. . . . . . . . . 0 S c 6 – d 4
2. S f 5 – c 7 † 0 K d 5 – e 5
3. S f 5 – f 4 (und auch D d 4) matt.
G. 1. . . . . . . . .       beliebig.
2. D b 2 – e 5 †       beliebig.
3. S f 5 – e 3, c 7, L d 6 matt.


Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 516:
Jung Siegfried war ein
  stolzer Knab’.


Auflösung des Logogriphs auf S. 516:
 Furien, Ferien.


Auflösung der Charade auf S. 516: 0 Heu, Pferd, Heupferd.


Auflösung des Räthsels auf S. 516:       Urlaub.


Auflösung des Buchstabenscherzrätksels auf S. 516:       Spaß, Paß.


Auflösung des Bilderräthsels auf S. 516: 0 Lustige Reisegesellschaft.


Auflösung des Scherzräthsels auf S. 516:       Harm – O, nie! Harmonie.


manicula 0 Hierzu Kunstbeilage IX: Das Ziel. Von F. Boucher.


In dem unterzeichneten Verlag ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

Das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung.
Von C. Falkenhorst. 0 Mit Abbildungen. 0 Broschiert 5 Mark, gebunden 6 Mark.

Inhalt: 1. Unsere unsichtbaren Feinde. – 2. Luft und Licht in der Wohnung. – 3. Luche und Gesundheit. – 4. Die Kinderstube. – 5. Das Sad im Hause. – 6. Das öett und das Zchlchimmer. – 7. Die Heirnng. – 8. Die Wohnung ats Erholungsstätte. – 9. Die Hausapotheke. – 10. Das Krankenzimmer.

Die Frauen für die Gesundheitspflege im Hause zu gewinnen, ist die Aufgabe, welche das Buch von der gesunden und praktischen Wohnung in erster Linie erfüllen soll. Was die Hausfrau als Vorsteherin der Küche, als Mutter und Erzieherin, als Krankenpflegerin und Stütze bejahrter Lieben in gesundheitlicher Beziehung im Hause zu thun hat, wird in dem Buche angegeben.

Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Dem heutigen Comer See.
  2. Vergl. Nr. 7 dieses Jahrgangs.
  3. Wie ein Wiesel.
  4. Gewand
  5. Verliebte Herzen, verdrehte Köpfe.