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Die Gartenlaube (1894)/Heft 2

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1894
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[21]

Nr. 2.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Künstler und Redakteure der „Fliegenden Blätter“.


[22]
Die Martinsklause.
Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(1. Fortsetzung.)


2.

Nur mit spärlichen Lichtern drang die Morgensonne in den dichten, wirr verwachsenen Urwald, durch welchen Eberwein und Eigel auf mühsamen Pfaden niederstiegen. Ein leichter Windhauch, feucht und kühl, wehte zwischen den Bäumen und erfrischte die heißen Stirnen der Wanderer. Kein Wort wurde gesprochen. Eigel mußte all seine Aufmerksamkeit dran wenden, um unter den vielfach sich kreuzenden Wildsteigen, zwischen dem wirren Gerank und Unterwuchs den rechten Pfad zu halten. Und Eberwein war tief in Gedanken versunken, fast unbewußt seinem Führer folgend auf Schritt und Tritt. Was er gesehen und erfahren in diesen vergangenen Stunden, brauste ihm durch Herz und Seele wie ein Sturm. Ein schwerer Kampf stand ihm bevor, aber mit siegesfreudigem Mute sah er allem Kommenden entgegen.

Der Wald wurde lichter, und eine grüne Matte schimmerte durch die Bäume. „Da hauset der Gernreuter,“ sagte der Kohlmann. Eberwein erwachte aus seinem Sinnen. „Der Mann jenes unglücklichen Weibes? Führ’ mich zu ihm!“

Sie erreichten den Waldsaum. Eine weite sonnige Wiese lag vor ihnen, und in deren Mitte ein großer viereckiger Hag, dessen dichtes Flechtwerk fast von doppelter Mannshöhe war und von dem verwitterten Moosdach der eingeschlossenen Hütte nur einen schmalen Saum noch gewahren ließ.

„Ein Zaun wie eine Schanze!“ meinte Eberwein.

„Wohl wohl, Herr, so hoch muß der Hag sein, daß im Winter, wenn der Schnee steigt, die Wölf’ nicht drüber springen.“

Sie näherten sich und hörten das Grunzen eines Schweins und die lachenden Stimmlein zweier Kinder. Als sie die Ecke des Hags umschritten, erblickten sie zwei Knaben von etwa fünf und sieben Jahren, welche sich unter lustigem Balgen im Gras umherkugelten; all ihr Gewand war das dunkle Braun, das die Sonne auf ihre Haut gebrannt hatte; und daß das Wasser auch noch zu anderen Zwecken als nur zum Trinken geschaffen wäre, dessen schienen sich die beiden Knirpslein, wenn sie es überhaupt jemals gewußt hatten, seit geraumer Zeit nicht mehr erinnert zu haben. Als sie die näherkommenden Schritte hörten, hoben sie erschrocken die Struwwelköpfe und starrten mit weit aufgerissenen Augen den Mönch an, der ihnen lächelnd entgegentrat, die Hand zum Gruß gestreckt. „Gott grüß’ Euch, Kinderlein!“

Bevor jedoch Eberwein diesen Gruß noch ganz ausgesprochen hatte, erhob das jüngere der beiden Bübchen ein zeterndes Geschrei und flüchtete gegen den Hag; da hielt auch die bleiche Tapferkeit des älteren nicht länger stand, schreiend lief es hinter dem anderen her, in der blinden Angst überrannten sie sich und stürzten, einen Augenblick sah man vier nackte Beinchen in der Luft, sie rafften sich wieder auf, heulend und zeternd verschwanden sie im Hag und warfen hinter sich das Thor zu. Nun verstummte ihr Geschrei, und man hörte den hölzernen Riegel knarren.

Eberwein stand verlegen und ratlos, während Eigel aus vollem Halse lachte; dann ging der Kohlmann auf das Thor zu und rüttelte an den Bohlen. „Bauer! Heia, Bauer!“ rief er mit lauter Stimme, aber es ließ sich aus dem Gehöft keine Antwort hören. „Er wird mit dem Vieh auf der Weid’ sein. Laß gut sein, Herr, die machen nimmer auf.“

„Was mag sie nur so erschreckt haben?“

„Schau Dein Häs[1] an! Der Teufel und ein Pfaff, die sind allbeid schwarz, und Kinder machen halt keinen Unterschied.“

Eberwein lächelte. „Er wird manchmal auch den Großen schwer.“ Einen Blick noch warf er über Thor und Hag. „Zwiefaches werd’ ich erkämpfen müssen: Furcht bei den Wölfen und Vertrauen bei meinen Lämmern.“

Sie folgten dem ausgetretenen Fußpfad, der über die Wiese hinunterführte nach dem Waldsaum. Eigel hatte das Gehölz schon betreten; da blieb Eberwein stehen und griff nach der Ledertasche, die an seinem Gürtel hing; er hatte sie am verwichenen Abend in Bruder Wampos Händen gesehen – da war sie gewiß nicht leer. Er öffnete die Tasche. Zuerst kam ihr gewohnter Insasse, ein kleines in Schweinsleder gebundenes Büchlein, zum Vorschein; dann folgte ein weißes Brot, ein Stück gebratenen Wildprets und eine Handvoll roter Kirschen. Eberwein eilte zum Hag zurück, ließ sich auf die Knie nieder, und durch den schmalen Spalt, der unter dem Thor sich zeigte, schob er Brot und Fleisch und Kirschen in das Gehöft. Der scheue Klang eines wispernden Kinderstimmleins ließ sich vernehmen. „Lueg, Wasli, da lueg hin …“

Lächelnd erhob sich Eberwein. „Für Kindersinn muß auch Gottes Liebe eine verständliche Sprache wählen.^ Und eilenden Schrittes suchte er den Kohlmann einzuholen.

Der Wald, der die Wanderer aufnahm, wurde freundlicher, je weiter es zu Thal ging. Viehsteige liefen kreuz und quer – unter den Buchen gab es saftige Weide – und manchmal verrieten splitterige Baumstümpfe, daß hier schon die Axt gewaltet hatte. Aus der Tiefe des Waldes quoll ein dumpfes Rauschen herauf. Immer näher klang es, und als der Pfad, dem die beiden folgten, auf die Höhe einer steil thalabwärts ziehenden Bergrippe lenkte, senkte sich vor Eberweins Blicken eine tiefe Schlucht, darin ein schäumendes Wasser floß. „Das ist der Albenbach,“ sagte Eigel.

Der Pfad verließ den Rand der Schlucht nicht mehr; bald lenkte er vorüber an engem Geklüft, in dessen Tiefe ein Dunkel herrschte, daß man nur matt noch das weiße Wasser schimmern sah; bald wieder führte er um breite Kessel, in denen das Wasser über hohe Felsstufen niederbrauste oder große stille Tümpel bildete, darin sich ein Stücklein blauen Himmels und die sonnbeglänzten Buchenwipfel spiegelten. Bei einer Wendung des Pfades blieb der Kohlmann stehen. „Heut’ wimmelt ja der ganze Berg von Leut’,“ sagte er und deutete durch eine Lücke des Gezweiges hinunter in die Schlucht, „da ist schon wieder einer! Und ich mein’, es ist der Fischer – freilich, er hat ja die Angelrut’!“

„Der Fischer? Jener Sigenot?“ fragte Eberwein und trat mit raschem Schritt an Eigels Seite. In der Tiefe der Schlucht, jenseit des Baches, welcher hier in breiterem Bett um die Felsklötze rauschte, stand, mit der Angelrute, ein junger Mann von hohem, kraftvollem Wuchs. In dichten Strähnen quoll das braune Haar unter der pelzverbrämten, mit einer langen Schwanenfeder gezierten Lederkappe hervor und schwankte um die Wangen; das dem Wasser zugeneigte Gesicht war nicht zu erkennen, denn bläulicher Schatten lag darüber – man sah nur, daß ein junger Bart, etwas lichter als das dunkle Haupthaar, die Lippen und das Kinn umsproßte. Ein ledernes Wams, ohne Aermel, farblos und verwittert, umschloß die breite Brust, und ein plumper Gurt, an dem ein kurzes Messer in hölzerner Scheide hing, umspannte die Hüfte. Das aus rauhhaariger Kotze geschnittene Beinkleid ließ die Knie nackt, und zottige Fellstücke waren mit Riemen um die Waden geschnürt; ihm zu Füßen lag das hölzerne Fischlägel; der aufdampfende Wasserstaub, farbig schimmernd in der Sonne, verhüllte zuweilen die ganze Gestalt des Fischers.

„Heia, Sigenot!“ schrie der Kohlmann; aber der Fischer rührte sich nicht, das Rauschen des Wassers verschlang den Ruf.

„Er kann Dich nicht hören, steig’ zu ihm hinunter,“ sagte Eberwein, „und führ’ ihn her zu mir, ich will ihn kennenlernen.“

Eigel griff nach den Aesten, um sich hinausgleiten zu lassen über den Hang der Schlucht. Da hob der Fischer die Augen, aber nicht zu den beiden, sondern empor zur Höhe des Baches. Er schien dort oben etwas gewahrt zu haben, was ihn jäh um alle Ruhe brachte. Die Angel aufschnellend, sprang er mit flinkem Satz auf einen hohen Felsblock und deckte spähend die Hand über die Augen. Und dann, zurückspringend an das Ufer, haschte er den Riemen des Lägels, schwang das vom Wasser triefende Fäßlein auf den Rücken und eilte über den steilen Hang der Schlucht hinauf, als wär’ es ebener Grund und müheloser Weg. Hinter schlagendem Gezweig, durch welches er sich hindurchgeworfen hatte, verschwand er.

„Was sagst, Herr? Weg ist er – und den holen meine alten Füß’ nimmer ein!“ brummte der Kohlmann. Da sah er, daß auch Eberwein emporblickte zur Höhe. „Was mag denn nur da droben sein?“ fragte er und drückte die Zweige zur Seite, die ihm den Aufblick verwehrten. Hoch droben, am Rand einer Felsplatte, welche sich über das tief abfallende Geklüft hinausstreckte, sah er ein Pferd erscheinen – den Rappen, der die rote [23] Recka trug. Das Pferd scheute vor dem Absturz und warf die Nüstern auf, aber ein Rutenhieb zwaug es zum Sprung. Mit vorgestrecktem Halse flog es über den Abgrund hinweg, auf ihm das Mädchen mit erhobenem Arm, das Haupt vom offenen Haar umflattert wie von einem roten Schleier. Roch im Sprung verschwanden Pferd und Reiterin hinter dichtem Gebüsch. Steine kamen in die Schlucht herabgerollt, und ihr Aufschlag übertönte das Rauschen des Wassers. Eigel stieg auf den Pfad zurück. „Jetzt, Herr, sag’ selber – hat die da droben Flügel oder nicht?“

„Flügel nicht, doch einen frevlen Sinn, welcher Gott versucht.“

„Sie muß hierher kommen, sie hat keinen andern Weg.“

„So laß uns warten.“

Schweigend standen sie. Nach einer Weile hörten sie seitwärts aus dem Wald eine helle singende Stimme, die sich entfernte.

„Herr, wir haben umsonst gewartet,“ lachte der Kohlmann, „sie ist gradaus geritten durchs Holz. Ist das eine! Wo unsereins kaum durchschlüpft, findet die noch Bahn für ein ganzes Roß!“

Eberwein wandte sich schweigend ab, und so folgten sie wieder ihrem Wege. Ein halbes Stündlein waren sie thalwärts gestiegen, da wurde zwischen sonnig durchleuchteten Bäumen der Pfad so eben, daß er ein gemächliches Wandern gestattete. Von einer Lichtung her, die aus dem nahen Waldthal heraufschimmerte, klangen laute Stimmen. „Herr, Deine Lent’ sind da!“ rief Eigel über die Schulter.

Sie beschleunigten ihren Gang und traten bald unter den Bäumen hervor. Am Ufer der Ache, welche breit und ruhig in ihrem felsigen Bett das Thal durchfloß, lag eine kleine blumige Matte. Vier Saumtiere zogen weidend über das Gras, die Rücken schweißfleckig von der schweren Last, die man ihnen abgenommen hatte; im Schatten eines Gebüsches lagen die Ballen und Päcke übereinandergehäuft. Am Waldsaum, unter alten moosbehangenen Fichten, brannten zwei lustige Feuer; über dem einen hing an gekreuzten Stangen ein kupferner Kessel, in welchem Wasser dampfte. Ein Mönch trug dürres Holz herbei; es war eine stämmige ungeschlachte Gestalt, Arme wie Balken, Fäuste wie Hämmer, und einem Stiernacken gleich der Hals, der den plumpen Kopf in vorgebeugter Haltung trug; heller als Flachs noch schimmerte das geschorene Haupthaar, und der weißblonde Bart hing dick und zottig nieder, als hätte man dem Bruder Schweiker einen ganzen Spinnrocken vors Gesicht gebunden; dazu ein sonnverbranntes gutmütiges Jünglingsgesicht und unter den weißen Brauen zwei wasserblaue Augen, welche so harmlos blickten wie die Augen eines Kindes.

Ueber dem anderen Feuer schmorte an hölzernem Spieß ein mächtiges Rippenstück, und Bruder Wampo, der neben dem Feuer kauerte, Gesicht und Hände dunkelrot von der Hitze, drehte achtsam den von ihm selbst gefertigten Spieß und goß mit hölzernem Löffel reichliches Fett über den rauchenden Braten. In seiner kauernden Stellung verdeckte die schwarze Kutte seine Füße, die aufgezogenen Knie verschwanden unter dem Bäuchlein, und so war er in seines Leibes rundlicher Fülle schier anzusehen wie eine große Kugel, der man ein kleines beinernes Köpflein aufgesetzt hatte. Denn von den Brauen an, über den ganzen Kopf hinweg, bis in den faltigen Nacken hinunter war keine Spur eines Härleins zu entdecken, und bartlos war auch das rote Gesicht mit dem breiten immer lächelnden Mund, mit den rührsamen Hängebacken und den kleinen, tief versunkenen Aeuglein, die so flink und glänzend blickten wie zwei Vogelaugen. Und wie hurtig die Hände gingen! Jeder Griff und jede Bewegung war wie ein Haschen nach einer Mücke.

Um ihn her standen vier Knechte, die Führer der Saumtiere; und im Schatten des Waldes lagen zwei gewappnete Kriegsleute, deren langmähnige Pferde an einen Baum gekoppelt waren. Einer der Knechte, welcher den Kohlmann mit Eberwein aus dem Wald treten sah, puffte den Bruder Wampo mit dem Knie in den Rücken. „Guck, Du, Dein Herr kommt!“

Der Bruder blickte auf. Er machte eine zuckende Bewegung, als wollte er vom Feuer hinwegspringen. Aber seine Hand war wie festgewachsen an der Kurbel des Bratspießes. Einen flinken musternden Blick warf er über die Knechte; dann rief er zum anderen Feuer hinüber: „Komm her, Bruder, und dreh’ den Spieß! Die da können ja nichts als fressen – schau nur, wie sie am Dampf schnuppern, der Hunger hängt ihnen schon zu den Augen heraus und das Wasser läuft ihnen im Maul zusammen.“

Die Knechte lachten und Schweiker kam herbeigestapft, schwer und langsam, wie ein Baum, dem Füße gewachsen sind. „Da bin ich, was soll’s?“

„So, komm her und hock’ Dich nieder! Mit der Linken dreh’ den Spieß …“ Wampo drehte, bis Schweiker die Hand an die Kurbel gelegt hatte. „So, recht so … und da hast den Löffel und da steht das Häfelein mit dem Schmalz. Gieß’ nur allweil schön langsam auf! Und beim Drehen und Aufgießen mußt achthaben, daß nicht zu viel Fett ins Feuer tropft, sonst schlagt die Flamm’ in die Höh’ und sengt mir den Braten an. Hast verstanden?“

„Wohl wohl!“

Wampo stand noch eine kleine Weile und blickte mit prüfendem Ernst auf Schweikers Hände. Dann nickte er befriedigt, wischte die fetten Finger über die Hüften, fuhr mit dem Kuttenärmel vom Nacken herauf über die schweißbetropfte Glatze und sprang über die Matte hinweg auf Eberwein zu, flink und hopsend wie ein Ball, der im Spiel getrieben wird. Bruder Wampo hatte Schwung in den kurzen Beinen, trotz seines Bäuchleins.

„Sei gegrüßt, Herr!“ rief er mit strahlendem Gesicht.

„Gott zum Gruß, Bruder!“ erwiderte Eberwein lächelnd. „Ich sehe, Du bist schon fleißig bei der Arbeit.“

„Freilich, freilich, es schreien doch alle Mägen schon, am lautesten der meinige. Aber saget, Herr, war’t Ihr droben? Wie schaut es aus, unser Landl? Wirklich so, wie uns Pater Meginhart aus der Salzaburg geschrieben: ‚eine wüste Einöde, ein Tummelplatz der wilden Tiere, ein Wohnort der Drachen‘?“

„Von einer ‚wüsten Einöde‘ hab’ ich nichts entdeckt. Unser Land ist blühend in Schönheit und gesegnet von Gottes Hand. Aber,“ fügte Eberwein scherzend bei, „mit den Drachen mag es wohl seine Richtigkeit haben. Einem bin ich begegnet!“

Wampos Aeuglein wurden starr, und mit hurtiger Hand schlug er ein Kreuz über das erschrockene Gesicht. „Herr des Himmels – er hat Euch doch nicht angeblasen mit seinem Gifthauch? Aber nein, nein, sonst stündet Ihr ja nimmer da vor mir, gesund und lebendigen Leibes!“ Er schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. „Saget, saget, wie hat er denn ausgeschaut? Halb wie der Teufel und halb wie Fisch und Vogel? Gelt?“

„Nein, Bruder, ein klein wenig anders. Unten wie ein Pferd und oben wie ein Weib; zwei Köpfe hat er gehabt, sechs Füße und zwei Arme, vier Hufe und zehn Finger, eine schwarze Mähne und rotes Lockenhaar, zwei dampfende Nüstern im einen Gesicht und eine Nas’ im andern …“ Eberwein konnte nicht weiter sprechen, er mußte lachen.

Da schien auch in Bruder Wampos Oberstübchen das Verständnis aufzudämmern. „Ach, Ihr …“ brummte er schmollend. „Aber jetzt kommt, Herr, ich hab’ schon ein Plätzlein für Euch ausgesucht im schönsten Moos und im besten Schatten.“

Eigel ließ sich nieder, wo er stand. Eberwein folgte dem Bruder und blickte mit suchenden Augen umher. „Wo ist Waldram?“

„Ins Holz ist er hineingegangen, wo’s still und finster ist. Beim Feuer war’s ihm zu lustig.“

„Und Herr Friedrich von Haunsperg?“

„Er ist auf dem Wege zurückgeritten bis zum anderen Bach, an dem wir vorbeigezogen. Wie wir dahergekommen sind und Ihr seid nicht dagewesen, hat er gemeint, der Kohlmann hätt’ die Abred’ falsch verstanden und Ihr wärt auf demselben Wege herunter, auf dem Ihr hinaufgestiegen seid.“

„Man muß ihm Botschaft schicken.“

„Wohl wohl, das besorg’ ich schon. Setzt Euch nur!“

Bruder Wampo hatte das Ruheplätzchen für Eberwein prächtig gewählt: zu Füßen einer Fichte, in schwellendem Moos und dicht am Ufer der Ache, deren krystallene Wellen mit sachtem Gemurmel um die grauen Steine spielten. „Hier ist gut sein!“ lächelte Eberwein und streckte tiefatmend die Glieder.

Bruder Wampo hopste geschäftig hinweg, und gleich darauf schwang sich einer der beiden Kriegsknechte aufs Pferd und trabte durch den von zitternden Lichtern erfüllten Wald davon.




3.

Als Wampo zum Feuer zurückkehrte, saß Schweiker breit auf der Erde und quirlte langsam den Bratspieß zwischen den flachen Händen, während einer der Knechte das Aufgießen besorgte.

„Ja was ist denn? Was machst denn da?“

Mit rotem Gesicht und verlegenen Augen blickte Schweiker zu Wampo auf. „Ich weiß nicht … ich muß wohl ein lützel herb zugegriffen haben, da ist mir die Kurbel in der Hand geblieben!“

[24] „Natürlich! Wo so ein Pratzl hingreift, da halt’t kein Holz nimmer stand.“

„Ich hätt’s ja wieder gemacht,“ stotterte Schweiker, „aber ich hab’ mich nicht getraut, daß ich den Spieß rasten laß’.“

„Du Unglücksmensch! Hast mir am End’ gar den Braten schon verbrennen lässen?“ Erschrocken beugte sich Wampo über das kreisende Rippenstück; doch er atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank! Aber lang hätt’s nimmer gedauert, so wär’ das Unglück fertig gewesen. Gieb her!“ Geschäftig schob er mit dem Ellbogen den Bruder beiseite und übernahm wieder die Sorge für den Braten. Schweiker erhob sich, ließ den Kopf hängen und ging davon.

Eberwein saß in Sinnen vertieft und blickte mit träumerischen Augen über die sonnige Matte hinweg oder nieder in das Spiel der Wellen. Da klang vom höheren Bergwald her eine singende Mädchenstimme, hell und jauchzend. Eberwein hob lauschend den Kopf, schaute gegen den Wald hinauf und dann hinüber zu Eigel. Der Kohlmann nickte und deutete über die Schulter, als wollte er sagen. das ist sie schon, da kommt sie! Immer näher klang die Stimme, und die Worte des Liedes wurden verständlich:

„Ich hab’ ein’ trauten Liebgesell,
Heija!
Der ist als wie der Wind so schnell,
Heija!
Und wenn ich reit’ auf grüner Au,
In Wald und tiefen Klüften.
Zieht hoch er über mir im Blau
Und grüßt mich aus den Lüften.
Heia ho! Mein Edilo,
Mein weißgefleckter Falke!

Es lag sein Horst weiß nicht, wie weit,
Heija!
Doch kennt er nicht das Heimeleid.
Heijn!
Und fliegt er noch so hoch und frei,
Mein Wink beruft ihn schnelle;
So minnet er mich fest und treu,
Recht wie ein Trautgeselle.
Heia ho! Mein Edilo,
Mein weißgefleckter Falke!“

Ein heller Jauchzer endete das Lied. Das Knacken brechender Aeste ließ sich im Wald vernehmen, gedämpfter Hufschlag näherte sich, und zwischen weichendem Gezweig erschien der Rappe, welcher Wazemanns Tochter trug. Von der Trense des Pferdes troff der Schaum, und in weißen Flocken hing ihm der Schweiß an Hals und Flanken; eine braune Bärendecke mit niederbaumelnden Tatzen verhüllte den Sattel, auf welchem Recka ruhte; auf der einen Seite hing die Beute des Morgens, der Bartgeier, mit verwirrtem Gefieder und schwankenden Flügeln vom Sattelknopf herab, auf der anderen Seite stak in einem ledernen Köcher der kurze dickbesehnte Stahlbogen mit den gefiederten Pfeilen. In knappen Falten floß das graue Wollkleid, welches schmucklos die stolze schöne Gestalt umschmiegte, bis auf den Schuh hinab, an dem der silberne Stachel blitzte. Ein kleines grünes Käpplein mit einem Büschel zarter Reiherfedern bedeckte – nicht das Haupt, nur den Scheitel und verschwand fast unter dem üppigen Gelock des rotschimmernden Haars und zwischen den zausigen Ringeln, die um Stirn und Schläfe zitterten. Blätter und kleine Reiser hingen im Haar verstrickt, und das unhöfliche Gezweig des Waldes hatte dünne rote Linien auf die halbentblößten Arme gezeichnet. Auch über die eine Wange ging ein roter Strich, wie mit einer Nadel gerissen. doch er störte nicht die Schönheit des Gesichtes, sondern erhöhte nur den kühnen Ausdruck dieser Züge und stimmte so gut zu diesem trotzigen Mund und den dunkel blitzenden Augen.

Eberwein hatte sich erhoben und blickte halb verwirrt und halb in unmutiger Strenge auf das schöne Weib. Recka hatte, von dem Anblick der Mönche überrascht, jählings die Zügel des Pferdes angezogen; hastig glitten ihre Augen über die Gruppe der Männer, über die flackernden Feuer und über die Saumtiere, die auf der Matte weideten. Dann lachte sie. „Bei meiner Mutter Friderun! Sind die Untersberger Raben ausgeflogen? Oder –“ ihr Blick haftete auf Eberwein, „oder bist Du von den Kutten eine, die meinem Vater sein Land nehmen wollen? Mir meinen Wald, meine Jagd und meine Freude?“

Eine dunkle Röte färbte Eberweins Stirne. „Jagen magst Du, wo und wann es Dir beliebt. Der Wald ist frei und hat Wege für jedermann. Deinem Vater aber kann nicht genommen werden, was nicht sein eigen ist.“

„Nicht sein eigen?“ lachte Recka, als hätte sie einen guten Scherz gehört. „Haha! Mein Vater und meine Brüder werden die Ohren spitzen, wenn sie solche Weisheit hören!“

„Nie war Dein Vater dieses Landes Herr! Wer gab es ihm? Wer hat ihn belehnt mit diesen Bergen? Wo steht das Recht geschrieben, das er sich anmaßt?“

„In seiner Faust! Und laß Dich warnen, Mönch! Das ist eine Schrift, die noch keiner gern gelesen hat!“

Eberwein richtete sich auf. „Ich werde sie öffnen, diese Faust, und werde finden, daß alles in ihr geschrieben steht, nur nicht ein Wort des Rechtes. Nie war Dein Vater mehr als ein Diener seiner gräflichen Herrin, welche dieses Landes Geschick in die Hand der Kirche legte, in meine Hand. Ich komme nicht, um Deinen Vater zu verjagen; er mag, als mein erster Diener, auch fernerhin bleiben, was er gewesen, der Spisar dieser Landmark. Doch wird er sich der Ordnung fügen, die ich aufrichte. Gerechte Buße wird er leisten für jedes Unrecht, das er begangen, und dem Greuel und Laster ein Ende machen, das seine Söhne hinaustragen aus ihres Vaters Haus.“

Recka erblaßte; es schien, als wollte sie sprechen, doch sie fand nicht Worte, während Eberwein weiter sprach mit flammender Kraft der Rede. „Erkennen soll er, daß der Aermste in der Hütte mir wert ist als Gottes Geschöpf und meines Landes Kind, das meinen Schutz genießt und meine Liebe. Sicherer Friede und freundliches Glück soll gedeihen unter meinem Stab, und frohe Zeit soll Einkehr halten unter jedem Dach. Will Dein Vater mir helfen bei diesem Werk, dann soll mir sein Dienst willkommen sein. Doch leistet er mir Widerstand, krümmt er einem meiner Leute nur ein Haar, reißt er wider Recht nur einen Strohhalm von eines Bauern Dach – so ist er gewesen, was er war, ich lösche seinen Namen, und sein Wort und Wille soll in meinem Land ein Rauch sein, den der Wind verwehte. Bringe Deinem Vater diese Botschaft – das läßt ihm Eberwein Frymann sagen, der erste Propst im Berchtersgadem.“

Eberwein schwieg; die Knechte hinter ihm sahen sich mit erstaunten Gesichtern an, Schweiker machte zwei Fäuste und hing mit leuchtenden Augen an dem Pater, sogar Bruder Wampo hatte seines Amtes am Feuer so weit vergessen, daß der Braten eine verdächtig braune Kruste bekam. Eberwein fühlte seine Hand ergriffen – der Kohlmann kniete neben ihm. „Eigel,“ stammelte der Mönch, „steh’ auf, wir Menschen sollen nur knien vor Gott.“

„Nein, Herr, auch vor der Lieb’!“ Eigel erhob sich, und vor Eberwein zurücktretend mit einem Lachen, als wären ihm die Thränen nahe, murmelte er in seinen weißen Bart. „Wären nur alle da gewesen! Hätten’s nur alle hören können! Aber laufen will ich, was mich meine Füß’ tragen, und ausschreien will ich’s von Haus zu Haus!“ Er packte seinen Stab, und ohne zu denken, daß man seiner Dienste noch bedürfen könnte, eilte er quer durch den Wald davon.

Reckas Rappe trippelte mit bebenden Hufen und warf, knirschend die Trense beißend, immer wieder den Kopf empor – er hatte den Stachel gefühlt. Schwankend, mit dem Körper jeder zuckenden Bewegung des Pferdes folgend, saß Recka im Sattel, sie nagte an den Lippen, zornig blitzten ihre Augen und in ihrer Hand zitterte die Gerte, die sie im Wald gebrochen hatte. Dann lachte sie plötzlich, und während sie alle Kraft gebrauchte, um die Unruhe des Pferdes zu bändigen, rief sie Eberwein mit spottendem Klang der Stimme zu: „Das war wohl die erste Predigt, die Ihr in Eurem neugebackenen Sprengel gehalten, Herr Propst? Aber sagt mir doch … soviel ich weiß, gehört zu einem Propst ein Kloster wie zum Reiter ein Roß. Wo steht denn Euer Kloster? Ich seh’ es nirgends. Habt Ihr’s vielleicht in der Kutte stecken wie die Katze im Sack? Heraus damit! Ihr seht doch, wie mich die Neugier plagt!“

„Spotte nur,“ erwiderte Eberwein mit schwer erkämpfter Ruhe, „Du und die Deinen, Ihr werdet mein heiliges Haus noch sehen, sicher gebaut auf einen Fels. Noch steht es in Gottes Hand. Doch über Jahr und Tag soll die Glocke rufen von meines Klosters Dach, und ihre Stimme soll freundlich klingen allen Guten.“

„Ach so,“ unterbrach ihn Recka lachend, „und bis dahin werdet Ihr fasten und beten: ‚komm’ uns zu Hilfe, o Herr!‘ … und geduldig warten, bis der liebe Gott so gefällig ist und trägt Euch das Kloster auf der Hand herunter und stellt es hin auf das Flecklein, auf dem es Euch passen möcht’ – mitten hinein in meines Vaters Land.“ Sie lachte hell auf.

Da klang hinter ihr eine zornige Stimme von schneidender Schärfe. „Weh’ Dir, Du hast Gott gelästert!“

[25]

Die Villa d’Este in Tivoli.
Nach einem Gemälde von E. Kanoldt.

[26] Reckas Lachen verstummte, betroffen wandte sie das Gesicht, dabei am Zügel reißend, daß der Rappe sich bäumte.

Pater Waldram war unter den Bäumen hervorgetreten, eine hagere Mönchsgestalt, finster das Antlitz, die Lippen welk und erloschen, schlaff und fahl die Wangen und brennende Augen in tiefen bläulichen Höhlen. Er faßte das Kreuz, das an einer Schnur von Holzperlen an seinem Gürtel hing, hob es mit gestrecktem Arm empor und kam auf Recka zugeschritten. „Sieh dieses Zeichen an! Es ist das Zeichen des Gottes, der Dein frevelndes Wort gehört und der auf Dich sein Gericht herniederschicken wird mit flammenden Blitzen und stürzenden Bergen…“

Recka erhob die Gerte – doch mit beiden Händen mußte sie die Zügel fassen, um nicht die Herrschaft über das immer ungestümer sich gebärdende Pferd zu verlieren. Zornig rief sie: „Schafft mir diesen Narren weg, mein Pferd verträgt seinen Anblick nicht!“

„Schmähe nur!“ eiferte Waldram, „Du sollst noch erkennen, welche Weisheit in diesem Zeichen wohnt. Hier! Sieh’ es an und zittere! Seiner wirst Du gedenken an dem Tag, an welchem diese höllische Schönheit abfällt von Deinem Leib wie faulende Rinde vom Baum. In Ekel wird sich verwandeln jeder Reiz, mit dem Du mein Auge quälst, nach Dir greifen wird die rächende Hand und wird Dich niederziehen…“

Mit zuckenden Fingern griff Waldram nach Reckas Gewand, doch im gleichen Augenblick stand Eberwein an seiner Seite, den Arm des Eiferers umklammernd. „Mäßige Dich, Waldram! Du weißt nicht, was Du redest… und nicht, zu wem…“ Er konnte nicht weiter sprechen – mit beiden Händen mußte er Waldram hinwegreißen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, von den schlagenden Hufen des scheuen Pferdes getroffen zu werden.

War es die Erscheinung und das Gebaren Waldrams gewesen oder das plötzliche Herbeitreten Eberweins, was die volle Wildheit des Pferdes entfesselt hatte… mit fuchtelnden Hufen, schäumend und mit schmetterndem Gewieher stieg es in die Luft, drehte sich im Kreis und flog mit tollen Sätzen hinaus in die Wiese. Die Saumtiere flüchteten ins Gebüsch, schreiend rannten die Knechte auseinander, und Bruder Wampo warf im ersten Schreck den Spieß mitsamt dem Braten über die Schulter und sprang in den Wald hinein.

Mit erblaßtem Gesicht, die Lippen eingekniffen, die Augen blitzend unter den gefurchten Brauen, saß Recka im schwankenden Sattel, mit dem Aufgebot aller Kräfte gegen die Wildheit des Pferdes kämpfend. Doch der Rappe schien Zügel und Stange nicht mehr zu fühlen. Bald mit zuckenden Hinterfüßen ausschlagend, dann wieder sich bäumend, bald mit vorwärtsstürmenden Sätzen, dann wieder mit jähen Seitensprüngen, raste das Pferd auf der Wiese hin und her; jetzt kam es dem Ufer zu nah, unter seinen Hufen wich der Grund – um nicht zu stürzen, sprang es in den Bach, tollte darin umher, daß Roß und Reiterin fast verhüllt wurden vom aufspritzenden Wasser – dann wieder stand es mit jähem Sprung am Ufer. Recka wankte im Sattel, ein leiser Schrei zitterte von ihren Lippen, und während sie schon zu sinken drohte, stürmte das scheue Pferd dem Wald entgegen.

Doch als es den Saum erreichte, dicht vor den ersten Bäumen, brach es jählings in die Kniee, als hätt’ es ein Blitzschlag niedergeworfen. Sigenot, der Fischer, den niemand kommen sah, hatte mit eisernem Griff die Zügel gefaßt. Nun that er einen Ruck mit der Faust – das Pferd erhob sich und stand, keuchend und zitternd an allen Gliedern. „Da bin ich zu rechter Zeit gekommen!“ rief Sigenot lachend zu Recka hinauf, welche den festen Sitz im Sattel wieder fand. „Sonst hätt’ es Dir gehen können wie König Davids Sohn, von dem mir der alte Hiltischalk erzählt hat, daß er mit dem Goldhaar hängen blieb an den Aesten …“

„Gieb die Zügel frei!“ stieß Recka mit bebender Stimme hervor, „ich dank’ Dir nicht für diesen Griff!“

Wie ein Wolkenschatten ging es über das sonnverbrannte, männlich schöne Gesicht des Fischers. Doch ruhig blickten die klaren lichtbraunen Augen zu dem Mädchen auf. „Ich hab’ nicht gefragt um Dank – ich hab’ ein scheues Roß gesehen und hab’s zur Ruh’ gebracht!“ Er ließ den Zügel fahren und trat zurück.

In zorniger Gereiztheit, ohne noch den Blick zu wenden, stieß Recka den Stachel in die Flanke des Pferdes. Keuchend machte das Tier einen Sprung und schoß davon, dem schmalen Wege folgend, der zwischen Bäumen verschwand. Vor dem Gezweig sich duckend, haschte Recka mit zurückgreifendem Arm das flatternde Haar und wand es um den Hals.

Verstummt, doch immer noch mit erhobenem Kreuz, stand Waldram da und starrte der Entschwindenden nach. Eberwein wandte sich zu ihm, eine Wolke des Unmuts auf der Stirn. „Ich wollte, Dein Uebereifer hätt’ uns diesen Auftritt erspart!“

Waldram ließ den Arm sinken, wandte langsam die Augen auf Eberwein, und ein trockenes Lächeln glitt über die welken Lippen „Sieh zu, ob Du Besseres wirkst mit Deiner Lauheit! Wir beide verstehen uns nicht – in Dir ist der Menschen Zweifel und Schwäche, in mir ist Gottes ewiger Zorn.“

„Darüber wollen wir nicht rechten,“ erwiderte Eberwein ernst. „Doch merke Dir, Waldram, ich will hier bauen, nicht zerstören!“

Wortlos, mit versteinertem Lächeln, kehrte Waldram sich ab und trat in den dunklen Schatten der Bäume.

(Fortsetzung folgt.)




Eine Schatzkammer deutschen Humors.
Gedenkblatt zum fünfzigjährigen Jubelfeste der „Fliegenden Blätter“.

Wer sich lebhaft vergegenwärtigen will, welch ein nationales Gut Deutschland an den „Fliegenden Blättern“ besitzt, die jetzt das Jubelfest ihres halbhundertjährigen Bestehens, den Beginn des hundertsten Bandes in jugendlicher Frische feiern, der möge nur den Versuch machen, sie aus den Erinnerungen seines Lebens wegzudenken, von den vielen heiteren Stunden an, wo man daheim und auf Reisen die wohlbekannten rötlichen Bogen stets zuerst zur Hand nimmt, bis in ferne Jugendzeiten zurück, wo man Verwandte, die sie hielten, mit Vorliebe besuchte, um nach den notdürftigsten Begrüßungsworten sofort über den Stoß der „Fliegenden“ herzufallen! Die Lücke würde gar zu groß sein und durch keines der anderen Witzblätter gefüllt werden, denn was den „Fliegenden Blättern“ das eigenartige Gepräge und den bleibenden Wert verleiht, das ist eben die Vermeidung der politischen Satire mit ihren dem Tage dienenden und rasch vergänglichen Effekten. Abgesehen von den Jahren, da die Wellenkreise der Revolution alles erfaßten, hielten sich die „Fliegenden Blätter“ stets und halten sich noch abseits von Politik, – auf dem großen Gebiet der menschlichen Thorheiten und Schwächen, die bekanntlich im Laufe der Zeiten nur das Kleid wechseln. Deshalb ist die Betrachtung der ältesten Nummern heute noch eben so ergötzlich wie im Jahre 1844, wo sie von dem Münchener Freundespaar, dem Xylographen Kaspar Braun und dem Verleger Friedrich Schneider, ohne alle Reklame in die Welt gesetzt und sofort von ganz Deutschland aufs beifälligste begrüßt wurden. Spiegelte sich ja doch in ihnen der echte Münchener Humor, die Verbindung von harmloser Lustigkeit und treffender Satire, begleitet von einem romantisch-poetischen Hauch, welcher sich schon in der bis zum heutigen Tag unveränderten Titelvignette deutlich ausspricht und, obgleich jetzt nicht mehr so stark betont wie in jenen vormärzlichen Zeiten, doch durchaus nicht aus dem Zusammenhang des Ganzen entschwunden ist.

Eisele und Beisele.

Wie viele Dahingegangene steigen vor dem innern Auge auf beim Durchblättern jener alten Bände! Da ist zuerst Kaspar Braun selbst, der höchst talentvolle Zeichner und Holzschneider, welcher im Anfang die Illustration des Blattes so ziemlich allein besorgte und nur an technischer Bildung, nicht an komischer Kraft hinter seinen berühmtesten späteren Zeichnern zurücksteht. Eisele und Beisele, die unsterblichen Reisenden, sind sein Werk, [27] Wühlhuber und Heulmaier, sowie die köstlichen Charakterfiguren aus dem Jahr achtundvierzig mit abgerissenen Hosen und wilden Demokratenbärten, deren einer dem mitleidig mit Brot und Wurst nahenden Wohlthäter die tiefempfundene Antwort giebt: „Hunger hawwe mer keen, edler Volksfreund, awwer Dorscht, viel Dorscht!“

Nach Franzosien, nach Franzosien,
Wo die Rebellion ging losigen,
     Reißt es meine Jünglingsbrust,
Wo die Marselljäse strotzet,
Wo der Flüchtling friedlich trotzet
     Seiner Menschlichkeit bewußt –
Dahin, Alter, laß mich ziehn!

Nach Neuyorkien, nach Neuyorkien
Sollst du jetzt das Geld mir borgigen,
     Wo die Ware stumm sich kreuzt,
Wo genest der Europarier,
Wo der letzte Proletarier
     Sich in seid’ne Tücher schneuzt –
Dahin, Alter, laß mich ziehn!

Nach dem Rheine, nach dem Rheine
Wandr’ ich wieder, wenn ich weine,
     Wo des Teutschen Vaterland!

Teutscher Wein und teutsche Eichen!
Wo sich Volk und Fürsten reichen
     Ihrer Hände Hochverband! –

Dahin, Alter, werd ich ziehn!

Aus Eichrodts „Wanderlust“.
Die „Fliegenden Blätter“ standen damals auf konservativem Standpunkt und versäumten keine Gelegenheit, die demagogische Seite der achtundvierziger Revolution, ihre Volksredner und Freischärler lächerlich zu machen, aber die Redaktion war gut deutsch gesinnt und bewies dies durch manches Blatt voll bitter schmerzlicher Satire auf die Zustände der Zeit. Manchem der älteren Leser werden noch die geistreichen politisch-allegorischen Zeichnungen von Dyk in Erinnerung stehen, welche das Bundestagselend drastisch beleuchteten, sowie die, mit denen der hochbegabte Maler- und Musikdilettant, daneben k. Oberceremonienmeister Graf Pocci in der Figur des „Staatshämorrhoidarius“

Der Staatshämorrhoidarius.
„Aber Herr Federmayer, habe ich Ihnen nicht schon einmal diese moderne Schreibart untersagt?“

die kleinstaatliche reaktionäre Bureaukratie aufs unbarmherzigste verhöhnte. Wer von den Jungen die köstlichen Bilder des sorgenvollen Bureautyrannen nicht gesehen hat, kennt doch seinen zum Gattungsnamen gewordenen Titel. Es ist aber sehr der Mühe wert, seinethalben die alten Bände nachzuschlagen und die unvergleichlichen Ansprachen des Gefeierten an sein Personal (z. B. an den zum Leichtsinn neigenden Schreiber Federmayer) im Original nachzulesen.

Das hochreaktionäre Ministerium Reigersberg nahm derartige Scherze übel und ließ mehrmals das Blatt mit Beschlag belegen. Hierauf erschien darin an erster Stelle eine ernsthafte Erklärung, welche die Verlegung der „Fliegenden Blätter“ „ins Ausland“ verkündigte, da durch die wiederholten Konfiskationen die rechtzeitige Versendung zu sehr beeinträchtigt werde.

Und siehe! die ganze Gesellschaft der Titelzeichnung trug Turbane, ebenso alle im Blatt dargestellten Figuren: die „Fliegenden Blätter“ waren in die Türkei ausgewandert. Ein Bild zeigt den Redakteur Braun als Türken krank im Bette liegend, während ihm ein heilkundiger Anhänger des Propheten den betreffenden Artikel des Preßgesetzes in Gestalt eines großen Knödels eingiebt. Dann veranschaulicht Pocci in einer von Mutwillen sprühenden Bilderfolge die Uebersiedlung des Staatshämorrhoidarius mit Bureau und Akten nach Stambul; der leichtsinnige Jüngling Federmayer hat sein Haupt mit einem Fez geschmückt, während sein Chef unter einem Riesenturban würdevoll zur ersten Audienz beim Sultan schreitet etc. etc. Die „Fliegenden Blätter“ hatten die Lacher auf ihrer Seite und hinfort unterblieb die Konfiskation.

Aus Illes Zeichnungen zu Eichrodts Biedermaierliedern.
„Des Herrn Pfarrverweser Samuel Schlotterbeck Abschied von Kürnbach.“

Anfang der fünfziger Jahre erschien auch die „Wanderlust“ von Ludwig Eichrodt, der mit einem an Scheffel mahnenden Humor das damalige Auswanderungsfieber lyrisch verwertete, von Braun mit köstlichen Humor illustriert. Scheffels erste Gedichte stehen gleichfalls, wenn auch ohne Namen des Autors, in jenen Jahrgängen. Besonders ergötzlich sind die nachmals nicht in „Gaudeamus“ aufgenommenen Abenteuer des Bruder Straubinger. Der seiner Zeit viel citierte Vers:

„Zu Madras in dem Hindostan
Kehrt’ ich bei einer Kneipe an,
Gung hinein und schrie:
Ist keiner von Böblingen hie?
Nein, aber von Ellwangen! rief ganz hinten ein alter Brahmine.“

war auf einen studienhalber nach Indien gegangenen schwäbischen Philologen gemünzt. Und nachdem die Frankfurter Erlebnisse mit dem Reichskommissar, der „hernach behauptete, Gestalten gesehen zu haben“, und die Wiener Revolution abgehandelt sind, schließt der Erzähler seinen Bericht mit den wehmütigen Zeilen:

„Und jetzt nach diesen Leiden all
Sitz’ ich am Niagarafall
Und denk’ bei dem Schaum:
O du schöner Traum
Von der deutschen Einheit im Jahr achtundvierzig!“


Adagio. Von W. Busch.

[28] Wie lang ist die Reihe der hervorragenden Männer, die damals in der Redaktionsstube am Dultplatz aus und eingingen, heute aber sämtlich unter der Erde ruhen! Schwind mit seinen reizend graziösen „Liebesliedern“ und anderen Zeichnungen, die er in Zeiten, wo es mit sonstigen Bestellungen übel aussah, gern für Braun und Schneider machte; Spitzweg, der liebenswürdige Humorist, Heider, der Schöpfer von Petermanns Jagdabenteuern, Feodor Dietz, sogar C. Piloty und außerdem noch eine lange Reihe von Freunden und Genossen! Auch die Novellen, Gedichte, Schwänke und Märchen würden, wenn sie nicht anonym wären, zum Teil hervorragende Namen der damaligen Litteratur aufweisen: Franz v. Kobell, Trautmann, Ludw. Steub, Alfred Meißner, E. Geibel, F. Bodenstedt, Martin Schleich, Märzroth u. a. sind darin vertreten, auch Levin Schücking mit einer poetischen und von dem früh verstorbenen Muttenthaler in großem Stil illustrierten Geschichte „Drei Freier“, worin eine schöne stolze Augsburgerin drei schauerliche Nachtfahrten thut mit dem Ewigen Juden, dem Wilden Jäger und dem Fliegenden Holländer. Die Jugend von heute liebt solche Geschichten nicht mehr, aber welch grausiges Entzücken empfanden wir darüber mit sechzehn Jahren!

Ein Schwerenöter. Von H. Schlittgen.
„Bin famoser Laune, Herr Lieutenant. Nach der Auslegung meines Traumbuches soll mir heute etwas sehr Angenehmes begegnen!“ – „Sollte das nicht bereits durch meine Begegnung in Erfüllung gegangen sein?…“

Zwei von den allerältesten Mitarbeitern indessen leben heute noch und liefern gelegentlich ihren Beitrag: Carl Stauber, der Erfinder und Zeichner des „Herrn Blaumeier und seiner Frau Nanni“, einer der produktivsten von allen, der mehr als 6000 Illustrationen im ganzen lieferte, und Eduard Ille, der so durchaus eigenartige Humorist, der die Biedermaierlieder von Ludwig Eichrodt durch seine köstlich echten Urgroßvaterbilder schnell volkstümlich gemacht hat und überall, wo seine unverkennbare Handschrift steht, als Maler-Poet hervorleuchtet. So vor allem in der Festnummer 1000 vom Jahre 1864, worin Kaulbachs bekanntes Reformationsbild mit wahrhaft genialem Humor parodiert ist.

Ein fiedeles Gefängnis. Von A. Oberländer.
Ein unter dem Verdachte des Diebstahls verhafteter Landstreicher wird in der Sitzung freigesprochen und ihm vom Richter eröffnet, daß er sofort entlassen werde. „O, bitt’ schön, Herr Gerichtshof“, sagt der Vagabund, „dürft’ ich nicht noch einen Tag im Arrest bleiben! In unserer Zelle sitzt auch ein Schneider; der hat mir schon vier Touren von der Française g’lernt, und ich möcht’ halt jetzt die fünfte auch noch lernen!“

Von Mitte der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre war etwas wie Ermüdung und Niedergang in Text und Illustrationen der „Fliegenden Blätter“ zu spüren, um diese Zeit aber erschien als Vorbote einer neuen Aera das erste Blatt von W. Busch. In ganz kurzer Zeit war er eine anerkannte Größe und seine den „Fliegenden Blättern“ entnommenen lustigen Unglücksbilder befanden sich in aller Hand. Die von Braun und Schneider verlegten „Münchener Bilderbogen“ [29] sicherten ihnen eine ungeheure Verbreitung. Eines der schönsten, „Adagio“ aus der Bilderreihe „Der Virtuos“, findet sich unter unseren Abbildungen.

Und nun ging es mit Macht einer neuen Blütezeit zu, denn nun erstanden in ununterbrochener Folge die bedeutenden Zeichnertalente: Oberländer, Harburger, W. Diez, Erdmann Wagner, Albrecht, Bauer, Flashar, Bechstein, Grätz, Mandlik, Meggendorfer, Hengeler, v. Nagel, Schlittgen, E. und R. Reinicke, Steub, Stuck, Zopf, Gehrts, H. Vogel, Simm u. a., deren Beteiligung schon Anfang der siebziger Jahre das Blatt zu glänzender Höhe hob und ihm seither den ersten Rang unter den humoristischen Blättern verschafft hat.

Ein gewissenhafter Wirt. Von E. Harburger.
Wirt: „So, Du willst also Hausknecht bei mir wer’n?“ – Sepp: „Ja!“ – Wirt: „Na, dann schmeiß’ mich ’mal ’naus, damit i’ seh’, ob D’ Dei G’schäft auch verstehst!“

Vor allem leuchten Oberländers Bilder hervor. Was er macht, ob afrikanische Wüstenlöwen oder deutsche Musensöhne, ob phantastische Traumerscheinungen oder Randzeichnungen aus dem Schreibheft des kleinen Moritz, Bilder aus dem Soldaten- oder aus dem Vagabundenleben, wie das unvergleichliche „Fidele Gefängnis“, überall ist er ein Künstler ersten Ranges, ein Krösus an glänzenden, tiefsinnigen und hinreißend komischen Einfällen, wie Deutschland niemals zuvor einen besessen hat, noch gleichzeitig einen zweiten besitzt. Auch Harburger ist ein Meister der Charakteristik; seine Trinker, Wirte und Hausknechte scheinen nicht minder frisch aus dem Leben aufs Papier gebracht als die Professoren, Dichter und Schauspieler und sind doch geistgeboren wie jedes echte Kunstwerk. Ohne geniale Schöpfergabe wäre es nicht möglich, so die Einzelfigur als Typus des Standes und Charakters darzustellen, wie dies Harburger stets in unvergleichlicher Weise versteht. Der „gewissenhafte Wirt“ und sein Hausknecht in spe liefern dafür den besten Beweis. Es würde viel weiter führen, als der diesen kurzen Betrachtungen gewidmete Raum erlaubt, noch alle anderen glanzvollen Leistungen einzeln hervorzuheben: Vogels reizend poetische Märchenbilder, Schlittgens eigenstes Gebiet des eleganten Militärlebens neben den auch von E. Wagner, R. Reinicke, Flashar und Zopf so vorzüglich geschilderten Salonscenen und häuslichen Ereignissen. Ein getreues Bild unserer modernen Gesellschaft sieht uns aus diesen kleinen Meisterwerken entgegen, deren viele von einem außerordentlichen Reiz der Zeichnung und Charakteristik sind. Ebenso verhält es sich mit den prächtigen Reiterbildern von Nagel und W.Diez; hier wird der spaßhafte Einfall immer von einer ganz ernsthaften Kunst begleitet, die augenblicklich wohl ein Lächeln des Humors zeigt, aber nie zur Karikatur wird. Herzerfreuend und zwerchfellerschütternd dagegen behandeln diese, nächst Oberländer, die Meister E. Reinicke, Steub, Grätz, Bechstein, Hengeler und manche andere; es ist geradezu unmöglich, dem plötzlichen Eindruck dieser Soldaten- und Bauernbilder zu widerstehen.

Ueber der Betrachtung des so wertvollen künstlerischen Teils darf aber nicht vergessen werden, welch eine Summe von Geist und Humor auch in dem Text, oft nur in einigen Zeilen der Unterschrift, niedergelegt ist. Der bloße Wortwitz, dessen Pointe im Aussprechen liegt, ist so gut wie ausgeschlossen, es sind meistens vortrefflich komische Einfälle, oft auch solche, welche die Vorstellung im Leser durch eine rasche Gedankenfolge erzeugen, ohne sie direkt auszusprechen, und deshalb um so unwiderstehlicher wirken.

Ansteckendes Beispiel. Von Th. Grätz.

Unter dem anspruchslosen Titel „Gedankensplitter“ stehen häufig Sätze von so hoher Vortrefflichkeit, daß sie in sehr berühmten Aphorismensammlungen zu glänzen verdienten. Eine Fülle von ausgezeichneten humoristischen Einfällen giebt ferner der bekannte Naturforscher v. Miris in seinen gelehrten Abhandlungen. Und welche Heiterkeit erregt „Mikado“ mit seinen unwiderstehlichen sächsischen Balladen!

[30] Man kann wohl sagen, so wie die Bilder der „Fliegenden Blätter“ das äußere Leben der deutschen Nation spiegeln, so ist der – bekanntlich von überallher beiströmende – Text als Gradmesser des deutschen Humors in allen seinen Schattierungen zu betrachten. Und da wird man, trotz des vielgehörten Jammers über Nervosität und „Decadence“, sich nur freuen können, wieviel prächtige Laune, wie viel guter und schlechter Witz heute noch in Deutschland gedeiht und per Post in das große Haus am Maximiliansplatz befördert wird. Dort liegt dann der Redaktion die schwere Aufgabe ob, das Massengeschiebe zu sichten und das Brauchbare herauszufinden. Sie thut aber nicht allein das: sie hält zielbewußt an dem alten Kurs fest und giebt dadurch der großen Vielheit die bestimmende Richtung und den unveränderten Charakter. Längst sind die Väter Schneider († 1864) und Braun († 1877) ihren ersten Mitarbeitern gefolgt, oder die Söhne führen das von ihnen überkommene Werk im alten Geist, wenn auch mit neuen Mitteln, aufs glücklichste weiter. Julius Schneider ist Chefredakteur und teilt sich mit Kaspar Braun jun. in die eigentliche Hauptarbeit, Hermann Schneider, selbst ein Maler von Ruf und Bedeutung, steht an der Spitze der künstlerischen Abteilung und pflegt den Verkehr mit den zeichnenden Fachgenossen, sein eigener Stift ist indessen nur selten in den Blättern vertreten.

So wie es für den einzelnen Menschen charakteristisch ist, was er lächerlich findet, so auch für ein humoristisches Blatt. Und da sieht man denn die „Fliegenden Blätter“ heute, wie im Jahr ihres ersten Erscheinens, im launigen Kampf gegen Schwindel, Hochmut, Großthuerei, Roheit, Eitelkeit, Blasiertheit und soziale Lügen aller Art. Als neuer Ton ist hinzugekommen die scharfe Satire gegen das moderne Evangelium der gemeinen Prosa und des Schmutzes in Kunst und Litteratur. Was bei dessen Autoren für unmöglich gilt: amüsant zu sein ohne Anstößigkeiten, das vollbringen die „Fliegenden Blätter“ siegreich jahraus jahrein; ihr Text ist so sittlich rein, daß ihn ein heranwachsender Mensch ruhig lesen darf, und so belustigend, daß die Alten und Erfahrenen stets aufs neue darüber lachen.

Die Verbreitung des Blattes ist außerordentlich und noch in fortwährender Zunahme begriffen. Den äußeren Erfolg braucht man ihm also zum Jubiläum nicht mehr zu wünschen, nur den Fortbestand der geistigen und künstlerischen Kräfte, welche Mitarbeiter und Redaktion zu einem festgeschlossenen Ganzen vereinigen auf dem gesunden natürlichen Münchener Boden, der auch mitgenannt werden muß, wo es sich um die Ursachen eines so glänzenden Gedeihens handelt.

Die „Fliegenden Blätter“ stehen heute an hervorragender Stelle unter den guten geistigen Mächten unseres Volkes und mögen noch lange dort stehen bleiben! R. Artaria.     




Die Sprengstoffe der Neuzeit.
Von C. Falkenhorst.

Ein halbes Jahrtausend hindurch war das Schießpulver, jene Mischung aus Salpeter, Kohle und Schwefel, der einzige Sprengstoff, der zu Bedeutung gelangt war. Allerdings liest man hin und wieder in alten Büchern kurze Mitteilungen über neue Knallkompositionen. Die „Goldstudien“, denen man in früheren Zeiten mit großem Eifer oblag, führten z. B. zur Entdeckung einer explodierenden Goldverbindung, die schon im 15. Jahrhundert als aurum fulminans oder aurum tonitruans (blitzendes oder donnerndes Gold) beschrieben wurde. Es ist dies das Goldoxyd-Ammoniak, ein grünliches Pulver, das wir heute „Knallgold“ nennen und das schon bei der leisesten Berührung mit größter Heftigkeit explodiert. Im Jahre 1648 berichtete ferner Glauber über eine „Komposition, welche fulminieret gleichwie ein aurum tonitruans“; es handelt sich dabei um das „Knallpulver“, eine Mischung von Salpeter, kohlensaurem Kali und Schwefelblumen, die, an der Luft erhitzt, selbst in geringer Masse mit äußerst heftigem Knall sich entzündet. Derartige Entdeckungen und Erfindungen blieben jedoch Jahrhunderte hindurch vereinzelt und wenig beachtet. Erst die moderne chemische Wissenschaft, deren Anfang in das Ende des vorigen Jahrhunderts fällt, sollte auch auf diesem Gebiete einen ungeahnten und, wie die Ereignisse der jüngsten Zeit lehren, nicht immer erfreulichen Aufschwung bringen.

Die ersten Chemiker versuchten alsbald, das alte Pulver zu verbessern. Lavoisier und Berthollet kamen auf den Gedanken, den Salpeter durch das chlorsaure Kali zu ersetzen, aber der Versuch mißlang, die Pulverfabrik von Essenne flog in die Luft und viele Arbeiter kamen dabei um. Immerhin war ein neues äußerst heftig explodierendes Gemenge bekannt geworden. Im Jahre 1788 stellte Berthollet ein dem Knallgold ähnliches Präparat her, das „Silberoxyd-Ammoniak“, aber dieser Stoff war für praktische Zwecke völlig untauglich, da er mit furchtbarer Gewalt explodierte, selbst wenn man ihn nur mit einer Feder unter Wasser berührte.

Einen anderen Weg schlugen der Engländer Howard und der Italiener Brugnatelli ein. Jenem gelang es im Jahre 1799, diesem im Jahre 1802, neue Explosivstoffe herzustellen, indem sie Metallverbindungen mit Salpetersäure behandelten. Howard erfand das „knallsaure Quecksilberoxyd“ und Brugnatelli das „knallsaure Silberoxyd“. Das waren nicht mehr explodierende Gemenge, sondern chemische Verbindungen, die bei ihrem Zerfallen eine weit größere Kraft als das alte Schießpulver entfalteten. Das Brugnatellische Knallsilber zersetzt sich indessen so leicht schon bei geringer Reibung, daß ihm nur ein beschränktes Verwertungsgebiet vorbehalten blieb. In äußerst kleinen Portionen wird es zur Herstellung von Spielereien wie Knallbonbons und Knallerbsen verwendet. Weit wichtiger wurde das etwas beständigere Knallquecksilber von Howard. Wegen der furchtbaren Heftigkeit mit der es explodiert, konnte es an Stelle des Schießpulvers nicht verwendet werden; nur in sehr geringen Mengen dient es als treibende Füllung in den Patronen der sogenannten „Floberts“ oder Zimmerpistolen. Die Leichtigkeit, mit welcher es durch Schlag zersetzt wird, brachte aber die Techniker auf den Gedanken, es als Zündmittel für das Pulver zu verwerten. Im Jahre 1815 verfertigte der englische Büchsenmacher Josef Egg die ersten Zündhütchen, die mit Knallquecksilber gefüllt waren und zunächst bei den Jägern, dann bei den Heeresverwaltungen Beifall fanden, so daß um das Jahr 1840 die alte Steinschloßflinte durch das Perkussionsgewehr in Europa völlig verdrängt war. Es bedeutete dies einen großen Fortschritt, denn nun war das Infanteriefeuer unabhängig von Wind und Wetter und anderen Zufälligkeiten. Mit dieser Errungenschaft schließt ein Abschnitt in der Geschichte der Explosivstoffe ab – die Knallpräparate sind in ihrer Eigenschaft als Zünder heute noch allgemein in Anwendung.

Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts geschah in der Forschung ein neuer Schritt von größter Tragweite, und wieder war es die Salpetersäure, welche unter der Hand des Chemikers neue Sprengstoffe entstehen ließ. Im Jahre 1846 erfand Schönbein in Basel die Schießbaumwolle und bald darauf den Knallzucker; ein Jahr später stellte der Italiener Sobrero in dem Laboratorium von Pelouze in Paris das Nitroglycerin her. Der Schießbaumwolle wandte man sofort eine lebhafte Aufmerksamkeit zu; sie sollte als Sprengmittel das alte Pulver verdrängen, aber sie zersetzte sich zu leicht und führte zu Selbstentzündungen von so furchtbarer Wirkung, daß ihre Verwendung lange Zeit hindurch beschränkt war. Das Nitroglycerin blieb anfangs als Sprengmittel unbeachtet, es wurde nur von einigen Aerzten als Heilmittel gegen Nervenleiden versucht. In der neuesten Zeit wird es von amerikanischen Aerzten sehr warm als Rettungsmittel bei Kohlendunst- und Leuchtgasvergiftungen empfohlen. Man soll den Betäubten kleine Mengen, 1/2 bis 1 Milligramm, in das Blut einspritzen. Erst im Jahre 1862 fand der schwedische Ingenieur Alfred Nobel den Mut, Nitroglycerin in größeren Mengen anzufertigen und es als „Sprengöl“ in alle Welt zu versenden. Die Folgen dieses Vorgehens blieben nicht aus. In Stockholm, Hamburg, Aspinwall, San Francisco und an anderen Orten fanden so entsetzliche Explosionen statt, daß die Einfuhr des schwedischen Sprengöls überall verboten wurde.

Nobel sah sich dadurch veranlaßt, auf Mittel zu sinnen, durch welche die zufälligen Entzündungen des Sprengöls auf dem Transporte, während der Aufbewahrung und der Handhabung verhütet werden könnten. Es gelang ihm auch in der That im Jahre 1866, die Verwendung des Nitroglycerins gegen früher [31] bedeutend gefahrloser zu gestalten. Er tränkte die sehr poröse Kieselguhr- oder Infusorienerde, wie sie bei Oberlohe in Hannover vorkommt, mit Nitroglycerin und erhielt so eine Masse, die er „Dynamit“ nannte. Dieses Verfahren wurde bald nachgeahmt; anstatt der Kieselguhr mischte man andere Körper mit dem Nitroglycerin, so z. B. Randanit, eine Kieselerde, die sich in Puy de Dòme in Frankreich findet, Asche der Bogheadkohle, Tripolith, Alaun, schwefelsaure Magnesia etc., und so kamen verschiedene Sorten Dynamit in den Handel.

Als Vorzüge eines guten Dynamits wurden folgende angegeben: es sollte gegen Stoß unempfindlich sein, bei Berührung mit brennenden Körpern mit ruhiger Flamme abbrennen und nur dann explodieren, wenn man es mit einem Zünder in Verbindung brachte, der Knallquecksilber enthielt, und diesen abfeuerte. Die Erfahrung hat nun gelehrt, daß durch geeignet starke Knallquecksilberzünder das Dynamit mit Sicherheit zur Explosion gebracht wird, daß es aber unter Umstanden auch infolge anderer Einflüsse explodieren kann. Seine Unempfindlichkeit gegen Schlag und Stoß ist keine unbedingte. Es ist zwar nicht gelungen, lose zerstreutes Dynamit zur Explosion zu bringen, wenn man mit Eisen auf Holzunterlage schlug, wohl aber wenn der Schlag mit Eisen gegen Stein oder mit Eisen gegen Eisen geführt wurde. In gepreßtem Zustande, in festen Behältern geht es infolge eines kräftigen Schlages immer los.

Angezündet, verbrennt das Dynamit wohl mit ruhiger Flamme, aber nicht immer verläuft der Vorgang in harmloser Weise. Oft, namentlich wenn größere Mengen des Sprengstoffes beisammen lagern, ist die Erhitzung der noch nicht von der Flamme angegriffenen Teile derart, daß die ganze Masse in die Luft fliegt. Darum ereignen sich auch so furchtbare Unglücksfälle, wenn Brände Dynamitlager erreichen, wie dies kürzlich in Santander der Fall war.

Ein großer Feind des Dynamits ist die Kälte. Das Nitroglycerin ist eine ölige, gelbliche Flüssigkeit, die bei etwa + 8° C. erstarrt. Wird es im Dynamit infolge der Abkühlung fest, so trennt es sich von der Kieselguhr oder dem anderen Aufsaugungsmittel. Im gefrorenen Zustande läßt sich das Dynamit schwieriger zur Entzündung bringen, taut es aber auf, so geschieht es mitunter, daß das Sprengöl in die Kieselguhr nicht wieder eindringt, sondern in freien Tröpfchen sich in oder neben dieser ansammelt. Eine solche Dynamitpatrone birgt alsdann alle Gefahren des reinen Nitroglycerins in sich und kann bereits platzen, wenn man sie zufällig auf die Erde fallen läßt.

Schließlich ist das Dynamit der Gefahr der Selbstentzündung unterworfen. Nach kürzerer oder längerer Zeit neigt es zur Zersetzung, und wenn diese einen gewissen Grad erreicht hat, so explodiert die Masse selbst bei einem leisen Stoß, wie z. B. dem Zufallen der Thür zu dem Raume, in welchem sie aufbewahrt wird. Diese Zersetzung tritt besonders leicht bei denjenigen Sorten von Nitroglycerin ein, welche bei der Fabrikation nicht genügend gereinigt wurden und noch Spuren von Säure enthalten.

Das sind die wichtigsten Schattenseiten des gewaltigen Sprengmittels. Sie wurden geraume Zeit und werden noch heute von Technikern und Arbeitern nicht genügend gewürdigt, und viele Unglücksfälle sind wohl auf Rechnung eines strafwürdigen, fahrlässigen Umgangs mit einem so gefährlichen Körper zu setzen.

Trotz aller Unglücksfälle war jedoch das Dynamit in vielen technischen Betrieben dem alten Pulver so überlegen, daß es in großen Mengen hergestellt wurde. Zu Anfang der achtziger Jahre verfertigte die Gesellschaft Nobel allein in ihren europäischen Anstalten gegen 8 Millionen und in den amerikanischen gegen 4 Millionen Kilogramm Dynamit im Jahre.

Je nach dem Gehalt des Dynamits an Nitroglycerin unterschied man stärkere und schwächere Sorten; Dynamit Nr. 1 enthielt z. B. 75%, Dynamit Nr. 2 50% Nitroglycerin. In den zuerst fabrizierten Sorten war das Nitroglycerin der alleinige Explosivkörper; Kieselguhrerde, Asche etc. beteiligten sich nicht bei der Sprengarbeit. Diese Gruppe nannte man darum Dynamite „mit neutraler Basis“. Bald aber wollte man die Kraft des Dynamits noch übertreffen und löste das Sprengöl in Stoffen auf, die auch ihrerseits explodierten und so die Wirkung erhöhten. Man mengte das Nitroglycerin mit Holzkohle und Salpeter und nannte den Sprengstoff „Sebastine“. Aus einer Mischung von Minenpulver und Nitroglycerin setzte man das „Herkulespulver“ zusammen. Durch Kombination mit chlorsaurem Kali schuf man einen weiteren höchst gefährlichen Sprengkörper. Das waren Dynamite „mit aktiver Basis“, und ihre Zahl stieg von Jahr zu Jahr. Am weitesten ging wiederum Nobel, der die beiden gewaltigsten Sprengmittel, Nitroglycerin und Schießbaumwolle, vereinte. Er löste das Sprengöl in einer Art besonders zu diesem Zwecke hergestellten Kollodiums auf und erhielt so eine gelatine- oder gummiartige Masse, die als „Sprenggelatine“ in den Handel gebracht wurde und die alten Dynamite zu einem großen Teil verdrängte. Weniger gefährlich als diese, unempfindlich gegen das Wasser, entfaltet sie fast die Wirkung des reinen Sprengöls. Die Sprenggelatine hat auch zum Teil das alte Pulver ersetzt; denn indem man ihr Kampfer beigab, konnte man sie derart zähmen, daß sich aus ihr das neue rauchschwache Schießpulver bereiten ließ.

Wie groß aber auch die Fortschritte in der Erzeugung von Sprengmitteln sein mögen, wie sehr die Menschheit ihrer auch für die Kulturarbeit bedarf, zufriedenstellend sind die Leistungen der Techniker und Chemiker noch lange nicht. Diese dämonischen Gewalten sind noch nicht genügend gebändigt; wer mit ihnen arbeiten muß, wer sie herstellt, befördert oder verwendet, ist zu sehr den schlimmsten Zufällen preisgegeben. Die Gefahr einer plötzlichen Explosion schwebt über jeder Sprengstofffabrik, über jedem Dynamitlager. Die furchtbaren Unglücksfälle, die noch immer sich ereignen, sind darum für die Forscher ein Sporn, in das Wesen der Explosivstoffe noch tiefer einzudringen. Man spricht von Sprengmitteln der Zukunft, die, nicht minder gewaltig in ihrer Wirkung als die besten der heutigen, dennoch völlig gefahrlos angefertigt, verfrachtet und aufbewahrt werden könnten; nur unter ganz besonderen, im gewöhnlichen Laufe der Dinge nicht vorkommenden Bedingungen sollen sie zur Explosion gebracht werden können. Ob dieses Ideal eines Sprengmittels jemals erreicht werden oder immer ein Traum der Erfinder bleiben wird? Wer weiß es? Man sagt, daß in der Technik nichts mehr unmöglich ist, und die Arbeiten der Pioniere der Wissenschaft bewegen sich in Bahnen, die Erfolg versprechen.

Es handelt sich dabei durchaus nicht um Herstellung neuer nitrierter Körper, wie die Schießbaumwolle und das Nitroglycerin es sind; alle anderen ähnlichen chemischen Verbindungen, die man hergestellt hat, sind in gleichem Maße unbeständig, leicht zersetzlich, und die Herstellung aller ist mit Gefahren verbunden. So verhält es sich auch mit der Pikrinsäure, jenem schönen gelben Farbstoff, den Woulfe bereits im Jahre 1771 gewann, indem er Salpetersäure auf Indigo einwirken ließ. Lange Zeit wurden diese Säure und ihre Salze zum Färben von Wolle und Seide benutzt, ohne daß man über sie besonders Klage zu führen gehabt hätte. Da ereignete sich im Jahre 1869 die entsetzliche Katastrophe am Sorbonneplatz in Paris, wo durch die Explosion von pikrinsaurem Kali ein ganzes Häuserviertel in die Luft flog, und seither wurde die Verwendung dieser Stoffe zu Färbezwecken bedeutend eingeschränkt.

Bei den Versuchen, die unbändigen Explosivstoffe zu zähmen, hat man tiefere Einblicke in das Wesen der Explosionsvorgänge gewonnen. Während eine gewöhnliche brennende Zündschnur sofort die Explosion von Knallquecksilber verursacht, vermag sie dieselbe bei gutem Dynamit nicht auszulösen; aber das Dynamit explodiert sofort, wenn es durch die mit Knallquecksilber gefüllte Zündpatrone erschüttert wird. Es giebt eine Stufenleiter in der Beständigkeit der Explosivstoffe, und durch Steigerung der Hitze oder der Erschütterung vermag man Körper explodieren zu lassen, die sonst gar nicht als Explosivstoffe gelten, deren Herstellung, Fortschaffung und Aufbewahrung völlig gefahrlos ist. Man hat Gemenge solcher Stoffe zur Explosion gebracht, wenn man sie durch Patronen aus Dynamit erschütterte. Die Wirkung stand der des Dynamits nicht nach, der Vorteil aber war der, daß eine derartig zusammengesetzte Sprengladung nur zum zwanzigsten Teile – in den Zündpatronen – aus dem gefährlichen Explosivstoff bestand und daß diese Patronen erst im letzten Augenblick mit der an und für sich ungefährlichen übrigen Masse in Berührung gebracht zu werden brauchten. Das bedeutet eine große Verminderung der Gefahr einer vorzeitigen Entzündung.

Neuerdings ist der berühmte Chemiker Pictet mit einem Sprengstoff hervorgetreten, der in seiner Wirkung die bekannten Dynamite übertreffen und sich zugleich derart zähmen lassen soll, daß er auch als Schießpulver verwendet werden könnte. Und doch soll seine Herstellung völlig gefahrlos sein, er soll niemals durch Zufall sich entzünden; erst durch die Hitze von 800 Grad C., welche vom elektrischen Strom geliefert wird, kann er zur Explosion gebracht werden.

Die Zusammensetzung der neuen Sprengstoffe wird noch geheim gehalten. Es ist wohl möglich und sogar wahrscheinlich, daß nach sorgfältiger Prüfung auch diese neuesten Erfindungen [32] ihre Mängel verraten werden; man darf ja nicht vergessen, daß es sich bei ihnen um erste Versuche handelt. Sie eröffnen einen neuen Abschnitt in der Geschichte der Explosivstoffe. Während bis jetzt das Bestreben sich geltend machte, möglichst große Wirkungen zu erlangen, und während man sich dabei mit einem gewissen, aber nicht genügenden Grade von Gefahrlosigkeit begnügte, wird jetzt der Hauptnachdruck eben auf Erzeugung möglichst gefahrloser Sprengstoffe gelegt. Hoffen wir, daß die Lösung dieser Aufgabe gelingen, daß die furchtbare Gewalt der Explosion vom menschlichen Geiste ebenso wie einst der Dampf gebändigt werde!

Gelingt dies, dann wird die Sprengtechnik einen ungeahnten Aufschwung nehmen und die gewaltigen Kräfte der chemischen Verbindungen, die bei Explosionen sich entwickeln, werden nicht nur vorwiegend zu Zerstörungswerken, sondern auch zu aufbauender Arbeit verwertet werden können. Man hat ja bereits nicht nur den Gedanken ausgesprochen, sondern auch praktisch versucht, durch Sprengstoffe Maschinen zu bewegen. Wir möchten an den interessanten Versuch Trouvés erinnern, der vor kurzem einen aus Aluminium geformten Vogel eine Strecke weit durch die Lüfte fliegen ließ. Die Maschine, welche die Flügel des Vogels bewegte, wurde durch das Explodieren revolverartig aneinander gereihter Sprengpatronen getrieben. In den Explosivstoffen schlummern die gewaltigsten Kräfte; mit ihrer Hilfe schleudern wir heute unsere eisernen Kriegsgeschosse bergehoch – ein Dichter alter Zeiten hätte eine solche Leistung keinem sterblichen Helden, nur einem Kriegsgotte zugetraut. Wer weiß, ob nicht dereinst, von gebändigten Explosivstoffen getrieben, Flugmaschinen durch die Lüfte schwirren werden?

Allerdings, in diese Hoffnung auf die siegende Kraft des Menschengeistes mischen sich düstere Sorgen. Alle Vervollkommnungen, welche die Wissenschaft ersinnt, um die Sprengstoffe zu immer nützlicheren Hilfsmitteln der menschlichen Kultur zu machen, sie bedeuten zugleich eine Verschärfung der Waffe, deren sich frevelhafte Verbrecher nur zu gerne und mit steigender Häufigkeit bedienen. In ihren Händen wird der Stoff, der die Schätze der Erde erschließt, der dem Verkehr der Völker freie Bahnen schafft, zur Höllenmaschine, die Tod und Zerstörung ausstreut. Und die Wissenschaft ist frei, keine Macht der Welt wird es verhindern können, daß auch ein Schurke im verborgenen Winkel über denselben Problemen brüte, denen der für das Höchste begeisterte Forscher in seinem Laboratorium nachsinnt. Unsere Staatsgewalt kann nur die Anfertigung der Sprengstoffe wie den Handel damit aufs schärfste beaufsichtigen und den überführten Verbrecher die ganze Strenge des Gesetzes fühlen lassen. So bleibt uns nur das Vertrauen, daß das feste, auf tausendjährige Arbeit gegründete Gefüge unserer Kultur auch durch die verbrecherischen Anschläge einer Handvoll verworfener Gesellen nicht werde ins Wanken gebracht werden können und daß eine unermüdliche, zielbewußte Fortarbeit an der Hebung des allgemeinen Lebensloses auch diesen Ausgeburten menschlicher Roheit den Boden entziehen werde.




Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.
(1. Fortsetzung.)


Sonnig und freundlich, ein kleines blühendes Eiland, lag das Gärtchen des Kapitäns Leupold da. Eben fing der Flieder an, aufzubrechen, die Schneeballen hatten dicke Knospen, der Goldregen war schon voll entfaltet. Die Wege zwischen den sorgsam gepflegten Blumenstücken waren sauber mit Kies bestreut und frisch geharkt, die Muscheln um die Beete hübsch geordnet. Im Hintergrund des Gärtchens, zwischen zwei hohen Fliederbüschen, stand eine weißgestrichene Bank; dorthin steuerte der alte Kapitän seinen Gast. Als sie saßen, holte Leupold seine kurze Kalkpfeife aus der Brusttasche und zündete sie an. Kamphausen sah aufmerksam den blauen Ringelchen nach, wie sie aufstiegen und sich in der klaren Luft zerteilten.

„Kapitän.“ begann er endlich, „wie geht’s Deinen Verwandten?“

Der Angeredete hob die buschigen Brauen.

„Seit wann interessieren Dich die? Wie soll’s ihnen gehen! Die Schwester liegt da und wartet auf den Tod, und der Schwager ist verzweifelt und kann das Gut nicht halten, was er auch anfängt. So geht’s denen!“

„Ich weiß, ich weiß!“ murmelte Albrecht, im Gegensatz zu seiner soeben gestellten Frage; er sah sehr niedergeschlagen aus. „Und die Kinder?“

„Der Junge besucht mich zuweilen – hat keine Ahnung davon, wie’s zu Hause steht, spricht von Mamas baldiger Genesung und ist felsenfest in dem Gedanken, er werde ’mal das väterliche Gut übernehmen. Nichts anderes als den Landwirt im Kopf, nichts anderes als das Familiengut! Ganz wie sein Alter! Das Mädel –“

Kamphausen richtete sich gerade auf, über seine männlichen Züge ging es wie ein Leuchten. „Isolde!“ sagte er ganz leise.

„Thu’ mir den Gefallen und gieb ihr nicht den verrückten Namen! Isolde – das war ein tolles Frauenzimmer mit Liebestränken – hab’ die Oper ’mal in Hamburg gesehen. Als der Junge geboren wurde, schlug ich vor, ihn Tristan zu nennen – heutzutag’ soll doch alles stilvoll sein – aber nein, das wollten sie nicht, Armin mußt’ er heißen. Na, wir haben ja ein befreites Deutschland auch ohne diesen jungen Helden! Das Mädel ist übrigens noch die Vernünftigste von allen, läßt sich wenigstens bloß ‚Ilse‘ rufen. Eitel wird sie natürlich auch sein –“

„Das glaube ich nicht, trotzdem ihre Schönheit ihr ein Recht dazu giebt,“ schaltete Kamphausen rasch ein.

Der alte Kapitän rauchte sehr scharf und sah seinen Gefährten mit einem sonderbaren Seitenblick an. „Schön, sagst Du? Ja, ja, sie hat’s von der Elisabeth. Sonst aber gleicht die Ilse ihrer Mutter wenig. Das Mädel ist ’was für sich, kerngesund an Leib und Seele, kein Stück Wachs, das man kneten kann, wie man will. Der Mann, der die ’mal bekommt, kriegt keine Puppe, sondern ’nen wirklichen Menschen. Bin übrigens neugierig, wen sie ’mal heiraten wird!“

„Mich!“ sagte Kamphausen kurz und fest.

Leupold fuhr herum und musterte den Sprecher mit einem langen Blick vom Kopf bis zum Fuß. „Wen?“ wiederholte er lauter.

„Mich!“ entgegnete Albrecht noch einmal, ebenso kurz und fest.

Der Alte sprach zunächst kein Wort, er wiegte nur sachte den Kopf hin und her.

„Siehst Du, Kapitän, deshalb bin ich ja hier. Ich wollte Dir sagen, wie das alles so gekommen ist –“

„Und ich will kein Wort davon hören, kein Sterbenswort! Heiraten? Du? Ist das erhört? Kaum zu Brot gekommen, und nun schon Weibergedanken! Genau wie bei Deinem Vater – der konnte auch nicht früh genug in sein Verderben.“

Albrecht ließ ihn nicht weiterreden; er stand auf und sah von seiner vollen stattlichen Höhe auf den eifernden alten Mann herab. „Ich will Dir etwas sagen, Kapitän! Du bist der beste Freund meines verstorbenen Vaters gewesen, hast meine Mutter unterstützt und Dich stets auch meiner angenommen – ich bin Dir sehr viel Dank schuldig, das hab’ ich immer empfunden, hab’ mich bemüht, Dir Ehre zu machen, und gedenke das weiter zu thun. Aber das Glück, das mein Vater an seiner Ehe gefunden hat, lass’ ich nicht antasten, und ob ich selbst heiraten will oder nicht und wen ich heiraten will, das geht mich allein an. Wenn ich Dir freiwillig von der Sache rede, so geschieht das in dem Glauben, daß Du Anteil nimmst an meinem Glück.“

Der alte Leupold war auch aufgestanden. „Du sprichst hübsch deutlich, Kapitän, das muß man Dir lassen! Was Du aber eben gesagt hast – richtig ist es schon gewesen. Mir hätt’ einer kommen sollen und mich warnen oder zurückhalten, als ich … aber ’s ist egal, lohnt nicht, davon zu reden. Und Dein Alter, wie ich dem in seine Heiratspläne dreinreden wollte, wurd’ borstig wie’n Stachelschwein; fehlte bloß noch, daß er blank zog und mir mit dem Messer auf den Leib rückte.“

„Du siehst also, Kapitän –“

„Ich sehe, daß die sogenannte Liebe ’n gewisses Stadium von Verrücktheit bedingt; erlaube, daß ich diese Ansicht behalte!“

„Bitte! Mir liegt nichts ferner, als Dich beeinflussen zu wollen. Nur mußt Du auch mir meinen Kopf lassen. Wie hoch ich in anderen Dingen Deinen guten Rat schätze, weißt Du.“

[33]

 Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Willkommen!
Nach einem Gemälde von Th. Kleehaas.

[34] „Hm! Aber nun erzähl’ doch mal! Die Ilse! Da schlag’ doch Gott den Teufel tot! Wo in aller Welt hast Du sie denn eigentlich zu sehen bekommen?“

„Hier bei Dir war’s, im vergangenen Herbst. Wir saßen in Deinem Achterdeck und Du erzähltest eben vom Kampf mit einem Känguruh, das einen von Eurer Schiffsmannschaft in Lebensgefahr gebracht hatte – erinnerst Du Dich dessen nicht?“

„Des Känguruhs wohl, aber nicht der Ilse – nimm’s nicht übel!“

„Rührt mich nicht, Kapitän! Also sie kam herein und ich fand sie so schön, daß ich sie wie ein Wunder anstarrte und, glaub’ ich, zu grüßen vergaß. Dann stelltest Du uns einander vor –“

„Ich? Sollte ich mich wirklich so sehr vergessen haben?“

„Ich bat Dich -“

„Aha! Batest mich! Dann mag’s sein!“

„Wir unterhielten uns nun – das heißt, was wir eigentlich miteinander sprachen, das könnte ich jetzt nicht mehr sagen.“ Albrechts gebräuntes männliches Gesicht bekam einen weichen Ausdruck, während er halb die Augen zudrückte, als sähe er nach innen.

„Schadet nichts,“ tröstete der Alte. „Wird doch lauter dummes Zeug gewesen sein. Wär’ das erste Mal, daß es sich gelohnt hätte, mit ’nem Frauenzimmer zu reden! Na, was weiter?“

„Ich begleitete Deine Nichte dann noch zu dem Gasthof, in dem sie mit ihrem Vater abzusteigen pflegt. Der Freiherr befand sich noch in der Stadt, und so promenierten wir ein wenig im Garten; dabei sprachen wir viel von Dir.“

„Sehr gütig! Hattet Ihr nichts Besseres zu reden?“

„Nein! Isolde -“

„Nenn’ sie nicht bei diesem fürchterlichen Theaternamen! Sag’ ‚Ilse‘!“

„Ilse also hält sehr viel von Dir.“

„Sehr verbunden! Wär sie nicht zufällig ein Frauenzimmer, ich würd’ auch ’was von ihr halten. Aber so! Und weiter?“

„Schließlich kam ihr Vater. Ilse stellte mich vor und ich that mein möglichstes, ihn für mich einzunehmen, allein ich merkte sofort, daß ich ihm nicht gefiel.“

Leupold ließ sein hartes kurzes Lachen hören. „Kann ich mir denken! Wie könnte meinem hochgeborenen Herrn Schwager der Pate und Pflegesohn des alten Kapitän Leupold gefallen! Ein Mensch, der sagt, was er denkt, ein Mensch, der auf dem Wasser zu Hause ist und kein Familiengut besitzt!“

„Ich ließ mich das nicht anfechten, sondern kündigte ihm in höflichster Form meine Absicht an, in den nächsten Tagen auf dem Gut meinen Besuch zu machen. Er nahm das sehr frostig auf. Trotzdem bin ich dann dort gewesen und hab’ meinen Besuch ausgeführt, aber es waren sehr unerquickliche Stunden für mich. Der Baron empfing mich nicht freundlich. Er mochte merken, aus welchem Grunde ich kam, und that alles, um mich abzuschrecken. Er ließ mich mit Ilse keinen Augenblick allein und war sehr unwillig, als ein Pferdehändler gemeldet wurde, mit dem er längere Zeit zu unterhandeln hatte. Inzwischen führte Isolde mich in den Park. Es war ein schöner sonnengoldener Herbsttag –“ Kamphausens Stimme war immer leiser geworden, jetzt verstummte sie ganz; die Erinnerung hielt ihn gefangen, er vergaß, daß er erzählen wollte.

„Schöner alter Park, nicht?“ schaltete Leupold ein.

„Ja.“ antwortete der junge Mann selbstvergessen, „es war schön. Wir gingen durch den ganzen Park über die Waldwiese bis zum Meer –“

„Hübsche Strecke das! Und mein Herr Schwager amüsierte sich unterdessen mit dem Pferdehändler? ’ne nette Geschichte!“

„Und angesichts der See, die meine Heimat ist, sprach ich mit Isolde!“

„Lange besonnen habt Ihr Euch nicht, Kapitän, das muß ich sagen! Sprachst mit ihr! Und sie sagte natürlich gleich Ja?“

„Nicht gleich, sie hatte Bedenken; aber am Ende gab sie mir doch ihr Wort.“

Leupold maß seinen jungen Freund mit einem sprechenden Blick. „Kann’s ihr nicht verdenken!“ stand darin zu lesen.

„Wir kamen überein, unsere Verlobung einstweilen geheim zu halten. Noch hatte ich ja meine Beförderung nicht. Vor allem galt es, Zeit zu gewinnen, die kranke Mutter vorzubereiten, das Vorurteil des Vaters nach und nach zu besiegen –“

Der Alte lachte auf. „Bin verteufelt neugierig, wie Ihr das Ding anstellen wollt! Vorurteil besiegen! Was ’n richtiges Vorurteil ist, mein lieber Kapitän, das läßt sich ganz einfach nicht besiegen, und wenn Du Dich auf den Kopf stellst! Mein Herr Schwager will nicht umsonst Vater einer schönen Tochter sein. Was denkst Du? Der wird sich frei nach Wallenstein seinen Eidam auf Europas Thronen suchen oder wenigstens unter Leuten, die einem Thron nahestehen!“

„Der Baron ist ein zärtlicher Vater und liebt seine Tochter –“

„Natürlich, mein Sohn! Weil er aber auch sich selbst liebt, wird er ihr sagen, Du bist jung, Kind, kennst die Welt und Dein eigenes Herz noch nicht. Steh’ ab von der phantastischen Liebesgeschichte mit dem Seemann, der Dir ein so unsicheres gefahrvolles Los bietet, laß Deinen klugen alten Vater für Dein Glück – und nebenbei auch für sein eigenes! – sorgen.“

„Ilse wird niemals ihr Lebensglück und das meinige zum Opfer bringen!“

„Schön! Also sie wird nicht. Dann bin ich bloß neugierig, zu erfahren, wie die Sachen jetzt stehen.“

„Wie sollen sie stehen? Wir sind verlobt miteinander, aber das, was anderer Leute Glückseligkeit ist, die Brautzeit, das bringt uns nur Sehnsuchtsqualen und Enttäuschungen. Nicht einmal Ilses Mutter haben wir in unser Geheimnis einweihen können – sie ist seit Monaten viel zu angegriffen, hätte keine ruhige Stunde mehr, wüßte sie, daß ihr Liebling die Verlobte eines Seemanns sei. Der Freiherr selbst hat sein schroffes Benehmen noch gesteigert, eine Werbung von mir um die Hand seiner Tochter wäre die bare Unvernunft. So heißt es denn: warten, sich gedulden! Geduld! Ein schönes Wort für einen leidenschaftlich liebenden Mann, der nun auf ein volles Jahr scheiden, einer ungewissen Zukunft entgegengehen soll.“

„Hm! Und Du hast das Mädchen, die Ilse, in der Zwischenzeit nur selten gesehen?“

„Sehr selten, fast nur von weitem. Die Briefe oder vielmehr die ängstlich hingekritzelten Zettelchen, die sie mir auf allerlei Umwegen zukommen ließ, bestellten mich da und dorthin, ins Theater, in ein Konzert, in irgend einen Laden. Da hab’ ich sie denn gesehen – gesprochen eigentlich nie, denn kann man das Sprechen nennen, wenn man sich kaum die Gelegenheit zu einem geflüsterten Liebeswort, zu einer hastig hingeworfenen Frage zusammenzustehlen vermag? Auch sie leidet, das weiß ich, aber sie ist ein Weib, ist fügsamer, geduldiger als unsereins, und sie hat ihre Eltern, ihren Bruder, Freundinnen … ich hab’ nur sie! Nur sie!“ Er furchte seine Stirn und schaute stumm und finster vor sich hin.

„Und was soll nun werden?“ fragte Leupold endlich.

„Was werden soll? Abschied natürlich! Aber ehe wir uns vielleicht auf immer trennen, wollten wir Dich bitten, Kapitän, hier bei Dir uns Lebewohl sagen zu dürfen.“

„Hier bei mir?“

„Ja, bei Dir! Ich wüßte nicht, wie wir es sonst anfangen sollten, uns ungestört zu sehen. In acht Tagen geht die ‚Nixe‘ vom Kriegshafen ab, am zwölften muß ich dort sein; heute haben wir den siebenten Mai. Isolde wird es einrichten können, in diesen fünf Tagen einmal zur Stadt zu kommen, mit ihrem Vater natürlich, denn allein läßt er sie nie hierher. Er wird es ruhig zugeben, daß Isolde Dich wieder einmal besucht, um Dir Nachrichten und Grüße von Deiner Schwester zu bringen. Kapitän, Du mußt uns dies letzte schmerzliche Glück noch gönnen!“

„So? Muß ich?“

„Du thust es, Kapitän, nicht wahr?“

„Zum Teufel, ja! Obgleich mir die ganze Verlobungsgeschichte in der Seele zuwider ist! Wenn ich’s nicht thäte, fingt Ihr beiden am Ende etwas ganz Verrücktes an. Also zu – genießt Euer ‚schmerzliches Glück‘!“

„Ist das der Segen, den Du uns zu unserer Verlobung giebst?“

„Von mir ist überhaupt nicht zu verlangen, daß ich meinen Segen zu irgend einer Verlobung gebe, sei sie, wie sie wolle! Und vollends bei ’nem Seemann. Ein Seemann soll ledig bleiben, darf nicht ’ne ganze Familie mitreißen in sein Leben voll Angst und Gefahr. Und die Ilse … na, einerlei, ’s ist nichts mehr zu machen! Rennt Euch getrost die Köpfe ein!“

„Du wirst auch gestatten, daß ich meine Briefe an Isolde [35] unter Deiner Adresse hierherschicke, und wirst mir Nachrichten von ihr vermitteln?“

„Neue Ehre! Bureau für Liebesbriefe!“ Der Galgenhumor sprühte dem alten Seebären nur so aus den Augen. „Sonst noch etwas gefällig? Steh’ zu Diensten!“

„Nur das eine noch: daß Du alles, was in Deiner Macht steht, dazu thust, Ilse in der Treue zu mir zu bestärken. Ich vertraue ihr ganz, aber sie ist ein zartes Mädchen und wird um meinetwillen dem Ansturm der ganzen Familie standhalten müssen. Sorge Du dann dafür, Kapitän, daß sie da nicht allein steht, sprich für mich, handle für mich, sieh zu, daß sie fest und treu bleibt –“

Er kam nicht weiter. Der alte Kapitän legte seine Hand schwer auf die Schulter seines Gastes und lachte – ein schneidendes, beinahe böses Lachen war’s. „Wenn man Dich so ansieht, man sollt’s nicht glauben! Sechs Fuß Höhe, einige dreißig Jahr’ alt und ’n gut Stück Welt gesehen, kein Dummkopf – und dabei so kindisch wie ein achtjähriger Schuljunge! Will ’nen andern zum Hüter eines Frauenzimmers machen! Und der andere heißt Erich Leupold! Wenn das nicht zum Lachen ist!“

Albrecht schüttelte die Hand des Alten mit einer raschen Bewegung von seinen Schultern ab und richtete seine stattliche Gestalt zu ihrer ganzen Höhe auf. „Ich muß annehmen, Du willst mich verletzen, Kapitän! Wodurch ich das verdient habe, weiß ich nicht. Wir zwei, Du und ich, sehen die Welt aus verschiedenen Augen an – und laß’ mich Dir bekennen, daß ich lebhaft wünsche, sie niemals mit Deinen Augen zu sehen!“

„Amen! Das ist auch mein Wunsch! Und faß’ mein Lachen nicht tragisch auf, Albrecht! Nimm Du den alten Leupold, wie er nun ’mal ist, und ich will den jungen Kamphausen meinerseits auch nehmen, wie er ’mal ist – mit heimlicher Brantschaft und allem, was drum und dran hängt. Also kommt und nehmt Abschied voneinander bei mir, solang’ Ihr wollt, schickt mir Eure Liebesbriefe und degradiert mich zum Liebesboten – ich will alles thun, obgleich ich mir so ’was nicht hätt’ träumen lassen. Und wenn während Deiner Abwesenheit Deine Auserwählte zu mir kommt, dann will ich sie willkommen heißen und sogar mit ihr von Dir reden. Zufrieden?“ Der Alte hielt seine breite kurze Hand hin.

„Zufrieden, Kapitän! Ich danke Dir! Aber verzeih’, daß ich jetzt gehen muß! Du erhältst noch Nachricht, wann ich mich mit Isolde bei Dir treffe. Gehst Du auch gleich ins Haus zurück?“

Ja, der Alte that das. Und während Kamphausen seinem Hund pfiff und durch die sonnige Schiffstraße davonging, schritt Leupold durch seine „Kabinen“ bis ins „Achterdeck“, stellte sich, breit aufgepflanzt, die Hände in den Rocktaschen vergraben, vor das Bild der büßenden Magdalena und musterte das schöne Weib mit so herausforderndem Hohn, als sollte es aus dem Rahmen treten und vor ihm Rechenschaft ablegen über alles, was es gesündigt hatte.




3.

Schön und sommerlich warm war der junge Tag heraufgestiegen. So festlich sah er aus, als wüßte er genau, daß er ein Maientag sei; mit lachendem Grün geschmückt, trug er stolz auf dem Haupt die goldene Strahlenkrone. Und die Lerchen stiegen mit trillernden Jubellauten empor, als fühlten auch sie die Auferstehungswonne in der kleinen Vogelbrust; schwirrend flogen die Schwalben um die altersgrauen Dachfirste und Türme von Schloß „Perle“, wo sie den bequemsten Unterschlupf fanden. Im Schloß schien noch alles zu schlafen. Der alte charakteristische Steinbau lag da, so plump und trotzig, wie Herr Hans Gottfried, der erste Baron Doßberg, ihn anno Domini 1586 erbaut hatte, mit den stillosen Seitenflügeln und dem breiten hübschen Altan, den die Nachkommen angefügt hatten. Die zwei runden Ecktürme mit kleinen, in Blei gefaßten Fensterscheiben wuchsen rechts und links an dem langgestreckten Mittelbau empor, und über das ganze Bild war eine Flut von Epheu und Kletterrosen ausgegossen, als hätte selbst das alte Schloß ein Festgewand übergeworfen.

Eines Steinwurfs Weite davon, jenseit der Rampe, stand zwischen hohen Kastanien- und Ahornbäumen ein freundliches, altmodisch aussehendes Gebäude, das Haus des Verwalters. Bis vor kurzem hatte hier der „Administrator“ mit seiner alten Mutter gehaust, ein feiner Herr, der einen ansehnlichen Gehalt bezog, in seinem Fach auch eifrig und tüchtig war. Aber die Verbesserungen und Anschaffungen, die nach seiner Ansicht gemacht werden mußten, konnten nicht zustande kommen, weil es am Besten fehlte, an Geld – schließlich reichten die Mittel des Freiherrn nicht einmal mehr aus, dem Administrator seinen Gehalt zu zahlen, und da der junge Mann zudem die Tollkühnheit besaß, sich leidenschaftlich in Ilse zu verlieben, so mußte man ihm kündigen; seitdem stand das hübsche Haus leer.

Unter der breiten Thür des Schlosses, deren hohes Gesims das in Stein gemeißelte Wappen der Doßbergs trug: zwei auseinanderklaffende Muschelschalen, in deren einer eine große Perle ruhte – zeigte sich die hohe kräftige Gestalt eines Mannes mit grauem Haupt- und Barthaar. Er hatte ein gut geschnittenes Aristokratengesicht mit einem auffallenden Zug von Weichheit, ja beinahe von Schwärmerei um Augen und Lippen. Ein angehender Fünfziger, alles in allem eine angenehme vornehme Erscheinung. Baron Hans Gottfried von Doßberg – er war es – trug eine leichte Schirmkappe, Sporenstiefel mit hohen Schäften und eine Reitpeitsche unter dem Arm. Er ging bis zur Rampe vor, hob den Knopf der Peitsche an seine Lippen und pfiff. Aus einem der Ställe kam ein gutgewachsener Bursche in feuerroter Jacke gelaufen und stellte sich in strammer Haltung vor seinem Herrn auf. „Du kannst das Pferd satteln!“

„Zu Befehl!“

Früher hatte es fünf, sechs solcher Rotjacken in den Ställen drüben gegeben, und wenn es geheißen hätte, man solle „das Pferd“ satteln, so wäre das ein ganz unverständlicher Befehl gewesen, denn damals hatte man eine reiche Auswahl. Jetzt verfügte der Baron nur noch über einen starkknochigen Braunen, der sich weder durch Schönheit noch durch Rasse, sondern einzig und allein durch Kraft auszeichnete, so daß er imstande war, seinen Herrn vormittags durch Wald und Feld zu tragen und nachmittags noch „in der Wirtschaft“ Dienste zu thun.

Doßberg stand, in Gedanken verloren, an der Rampe und klopfte in regelmäßigen Pausen mit seiner Reitpeitsche gegen die hohen Stiefel. Seine Brauen waren finster gefurcht und sein Blick sah trübe. Da klirrte hinter ihm ein Fenster; hastig wandte er sich um, und seine Augen glänzten. Kein Wunder das! Die, welche goldhaarig, rosig wie ein Abbild des frischen Maimorgens selbst, im Rahmen des steinernen Bogenfensters erschien und ihm zulächelte – das war ja seine Jugend, sein Sonnenschein, sein Glück.

„Guten Morgen, Papa!“ Die frische junge Stimme klang gedämpft, wie in Besorgnis, jemand zu stören.

„Guten Morgen, Ilse! Wie ist’s gegangen?“

„O, ganz gut – ganz leidlich! Mama hat eine ruhige Nacht gehabt und ist vorhin noch ein bißchen eingeschlafen; ich denke, sie kann es wagen, heute ein Stündchen aufzustehen. Himmlisches Wetter! Ein wunderbarer Mai!“ Unter dem leichten weißen Morgenkleid hob sich die junge Brust in tiefen wohligen Atemzügen und die warmen dunklen Augen leuchteten.

„Kommst Du nicht heraus, Ilse?“

„Kann nicht! Muß Mamas Erwachen abwarten! Du reitest aus?“

„Ja, und weit! Ich bleibe ziemlich lange fort. – Mamsell hat mir einen Bissen Frühstück mitgegeben.“

„Vielleicht triffst Du Armin unterwegs. Der ist schon eine ganze Weile fort; er war leise wie eine Maus an unserer Thür, mir Guten Morgen zu sagen. Der arme Schlingel ist ganz unglücklich darüber, daß der Pony so faul und steif und bockbeinig geworden ist in seinem hohen Alter. Kauf’ ihm einen neuen, Papa!“

Es zog wie ein Wolkenschatten über des Barons freundliches Gesicht. „Ich muß fort,“ sagte er hastig, „dort kommt Philipp mit dem Braunen!“

„Warte noch eine Sekunde! Ich hab’ was für Dich!“

Aus dem Fenster flog eine schöne frische Malmaisonrose, so geschickt geworfen, daß sie dem Baron gerade auf die Mütze fiel. Er dankte mit einer anmutigen Handbewegung. „Adieu, Burgfräulein!“

„Adieu, Herr Burggraf!“

Das Fenster wurde geschlossen, die helle Gestalt verschwand. Mit einem Seufzer steckte Doßberg die Rose in sein Knopfloch. Dann bestieg er sein Pferd und trabte rasch hinaus in die lachende Landschaft.

(Fortsetzung folgt.)


[36] ----

Blätter und Blüthen.


Etwas von der Kolportage. Ein großer Teil unseres deutschen Publikums denkt bei den Worten „Kolporteur“ und „Kolportage“ nur an dunkle Gestalten, welche die Hintertreppen auf und ab steigen und unreifen Jünglingen, naiven Kindermädchen oder sensationslüsternen Küchenfeen irgend ein von Blut und Grausen erfülltes Machwerk in unbestimmt vielen Lieferungen aufschwatzen. Diejenigen unserer Leser, welche unter anderem auch die „Gartenlaube“ durch den Kolporteur erhalten, wissen es besser, und in der That ist es ein großer Irrtum, anzunehmen, daß der Kolportagebuchhandel hauptsächlich oder gar ausschließlich mit dem sogenannten „Schauerroman“ sich abgebe. Vielmehr bestehen mindestens 90 Prozent der durch Kolportage im weitesten Sinne vertriebenen Litteratur aus durchaus guten volkstümlichen Zeitschriften und Büchern, großen und kleinen Sammelwerken, Atlanten u. dgl. m. Es giebt in Deutschland verkehrsarme Gegenden, in denen der Kolporteur und vielleicht noch der Buchbinder die einzigen Vermittler litterarischer Erzeugnisse bilden, die also, wenn man den Kolporteur aus ihrem wirtschaftlichen Getriebe striche, von jeder Berührung mit dem litterarischen Leben der Nation so gut wie vollständig ausgeschlossen würden. Und nicht bloß hier, auch in Landesteilen mit besser entwickeltem Verkehr, mit vielen und guten Sortimentsbuchhandlungen, spielt der von Haus zu Haus wandernde Kolporteur wie der buchhändlerische Geschäftsreisende eine Rolle von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Der größte Teil der gewerblichen Fachzeitschriften, Vorlagensammlungen und technischen Bücher aller Art würde ohne persönliches Angebot überhaupt nicht verkauft werden; denn die Leute, für welche diese Werke bestimmt sind und welche daraus Nutzen ziehen sollen, kommen selten oder nie dazu, einen Buchladen aufzusuchen, um sich mit neuen Erscheinungen aus ihrem Fache zu versorgen, ja sie erhalten vielfach gar keine Kenntnis von deren Vorhandensein. Lediglich der Kolporteur ist es, welcher sie darauf aufmerksam macht und dadurch zur Hebung der gewerblichen Leistungsfähigkeit ein wesentliches Teil mit beiträgt.

Endlich beruht die Billigkeit so vieler großer, schöner und gediegener Zeitschriften, Nachschlagewerke etc. nur auf dem durch die Mitwirkung des Kolporteurs geförderten Massenabsatz.

Unter diesen Umständen hieße es das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn man um vereinzelter Mißstände willen den ganzen Kolportagebuchhandel lahmlegen, ja vernichten wollte. Und es giebt Leute, welche darauf ausgehen und ihren Bestrebungen schon wiederholt, und auch jetzt wieder in Abänderungsanträgen zur Deutschen Gewerbeordnung Ausdruck verliehen haben. Sie möchten gerne den Vertrieb von Schriftwerken außerhalb der Buchläden aufs äußerste erschwert und die Ausübung des Reise- und Kolportagebuchhandels von der Prüfung der Bedürfnisfrage durch die zuständige Behörde abhängig gemacht sehen. Was wäre aber die Folge, wenn sie ihr Ziel erreichten? Nicht bloß würden zahlreiche fleißige und gewissenhafte Angehörige des Kolporteurgewerbes außer Brot gesetzt, auch der ganze deutsche Buchhandel und weiterhin die ihm in die Hände arbeitenden Geschäfte der Papierfabrikanten, Buchdrucker, Buchbinder, Holzschneider etc. kämen aufs schwerste zu Schaden, das deutsche Volk aber ginge eines regsamen Vermittlers von Wissen und Bildung verlustig. Gegen den schwindelhaften und unsittlichen Kolportagebuchhandel giebt es bereits Gesetze; den ehrlichen und anständigen lasse man in Frieden seines Amtes walten!

Die Villa d’Este in Tivoli. (Zu dem Bilde S. 25.) Wenige Stunden östlich von Rom liegt hoch über dem Ufer des in wilden Fällen zu Thal stürzenden Anio das weltberühmte Tivoli, das alte Tibur, zu dessen Glanz Sage, Geschichte und Natur je ihr reichlich bemessenes Teil beigetragen haben. Da steht noch der alte Sibyllentempel, da zeigt man die Villa des Maecenas, des Dichterfreundes, und die seines Schützlings Horaz; drüben vermutet man in alten Bauresten ein Landhaus des Quintilius Varus, der im Teutoburger Walde verblutete, und hüben dehnen sich die weiten Anlagen der Villa Kaiser Hadrians, in der ein vielerfahrener Weltbeherrscher seinen ganzen Kunstsinn auslebte. Aber auch spätere Zeiten haben mitgebaut an Tivolis Ruhm; und das schönste, was sie schufen, ist die Villa d’Este im Westen des Städtchens, in der einst ihr Erbauer, der Kardinal Ippolito d’Este, mit Ariost, dem Dichter des „Rasenden Roland“, wandelte. Die Kunst der Renaissance hat Italien viele prächtige Paläste und Parkanlagen geschenkt, aber wenige können sich an Schönheit der Formen, an poetischem Zauber der Erscheinung mit der Villa d’Este messen. Unser Bild von Edmund Kanoldt gewährt einen Einblick in diese Herrlichkeiten und deutet auch durch die Gestalt des Geistlichen im Vordergrund den Stand des heutigen Besitzers an: es ist der Kardinal Hohenlohe, der Bruder des kaiserlichen Statthalters in den Reichslanden.

Winterabend.
Nach einer Originalzeichnung von A. Heide.


„O lieb, so lang Du lieben kannst!“ Von allen Liedern Freiligraths hat keines so sehr alle Herzen gewonnen wie dies Mahnlied der Liebe, bei dessen seelenvollen Tönen noch manches Auge sich feuchten wird, wenn die meisten Lieder unserer Tage verklungen sind. Eine Mitteilung darüber, wie die herrlichen Verse entstanden sind, verdient darum mit Fug und Recht, für die Mit- und Nachwelt gebucht zu werden. Ich verdanke sie Herrn Wilhelm Aufermann, Rentner in Wiesbaden, der in jungen und späten Jahren viel mit Freiligrath verkehrte. Er erzählte mir jüngst im Wiesbadener Ratskeller Folgendes: „Es mag 1841 gewesen sein, als ich mit Freiligrath in Limburg an der Lenne im Bentheimer Hof zusammentraf (Limburg hat den Beinamen „das westfälische Heidelberg“). Ich kam von Iserlohn und die beiden anderen Freunde, nämlich Ludwig Elbers und von Eynern, von Barmen. Wir saßen fröhlich bei einer Bowle und huldigten den neuen Poesien des an jenem Abend besonders gut aufgelegten Dichters. Plötzlich kam ein Mißton in die Gesellschaft, weil Freiligrath in seiner überschäumenden Jovialität zu derb gegen Elbers’ Aufbruch protestierte. Diesen rief die Pflicht nach Barmen zurück, und somit verletzten ihn Worte wie „Pedanterie“ etc. Er lief erzürnt weg und blieb auch am folgenden Tage noch kalt, als Freiligrath ihn in Barmen aufsuchte. Da nahm dieser schließlich Abschied mit den Worten: „Nun wohl, wenn Du mit mir nichts mehr zu thun haben willst, so behalte dieses Blatt zum Andenken!“

Kaum aber hatte Elbers die ersten Strophen gelesen, so eilte er Freiligrath nach und rief: „Komm her, alter Freund!“ Eine herzliche Umarmung endete den Zwist. – In später Nacht hatte der Dichter die Mahnung seines Gewissens gespürt und das in Verse gebracht, was so tief, so rein menschlich jedes Herz berührt. Eben weil die Ursache eine so harmlose, die Folge aber, der Verlust eines Freundes, so bitter war, sang der Dichter sein ergreifendes Mahnlied, treue Liebe nicht zu verletzen. Gelegenheitsgedichte sind manchmal die besten. Nicht grübelndes Nachsinnen, sondern tiefe Reue hatte dem edelgesinnten Dichter die Strophen eingegeben:

Und wer dir seine Brust erschließt,
O thu’ ihm, was Du kannst, zu lieb!
Und mach’ ihm jede Stunde froh
Und mach’ ihm keine Stunde trüb!

Und hüte Deine Zunge wohl;
Bald ist ein böses Wort gesagt!
O Gott, es war nicht bös gemeint –
Der andre aber geht und klagt.“

Friedrich Fischbach.     

Willkommen! (Zu dem Bilde S. 33.) Wer möchte nicht gern der Gast sein, der in diesem lebenslustigen Kreise, an diesem schmackhaft besetzten Tisch so freundlich willkommen geheißen wird? Verführerisch sticht das gebratene Ferkelchen in die Nase, appetitliche Knödel tauchen im Hintergrunde auf, ein tüchtiger Trunk und ein ordentlich Stück Brot dazu fehlen auch nicht – für einfache gesunde Menschen gewiß genug der leiblichen Genüsse! Und wenn die Essensstunde zugleich die Zeit der Erholung, des gemütlichen Ausgleichs nach regsamer Arbeit sein soll, so wird sie an diesem Tische, unter diesen urwüchsigen Menschenkindern nicht umsonst verplaudert werden. Th. Kleehaas, der Maler unseres Bildes, liebt es, seine Bauern und Aelpler von der heiteren Seite zu fassen; seine Kunst hat etwas von der frischen Dirne, die uns mit freundlichem Lächeln einlädt, Platz zu nehmen an dem Tische, der mit guten Dingen besetzt ist.


Kleiner Briefkasten.

Langjähriger Abonnent in Kasan. Geht nicht! Die „Gartenlaube“ bringt nur Originalbeiträge, keine Uebersetzungen!

R. P. in Schwandorf. Die „Römischen Tagebücher“ von Ferdinand Gregorovius, die Sie nicht erhalten konnten, sind jedenfalls nur vorübergehend vergriffen gewesen, da schon eine zweite Auflage erschienen ist.


Inhalt:


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Gewand.