Die Gartenlaube (1898)/Heft 12
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Die arme Kleine. Eine Familiengeschichte von Marie von Ebner-Eschenbach (5. Fortsetzung) | 357 | |
Die Bronze in der plastischen Kunst. Von Dr. G. Klaussen. Mit Abbildungen | 364 | |
Das deutsche Blindenheim Tsau-kwong in China. Mit Abbildungen | 367 | |
Der kleine Lauscher. Gedicht von Fritz Döring. Mit Abbildungen. | 368 | |
Antons Erben. Roman von W. Heimburg (11. Fortsetzung) | 368 | |
Erdbeeren. Von Richard von Strele | 375 | |
Ueber Lungeschwindsucht und Höhenkurorte. Von Professor Dr. Liebermeister-Tübingen | 376 | |
Blätter und Blüten: Das letzte Gastmahl der Girondisten. (Zu dem Bilde S. 384 und 385.) S. 383. – Ein geschecktes Reh. Von G. Hentze. (Zu dem Bilde S. 386.) S. 383. – Das Raimund-Denkmal in Wien. Von Moritz Necker. (Zu dem Bilde S. 361.) S. 386. – Fantasia. (Zu dem Bilde S. 361.) S. 386. – Milchmarkt am Singel zu Amsterdam. (Zu dem Bilde S. 373.) S. 386. – Benjamin Vautier †. (Mit Bildnis.) S. 387. – Heimfahrt. (Zu dem Bilde S. 377.) S. 387. – Gebirgsbach. (Zu unserer Kunstbeilage.) S. 387. – Der Krieg um Cuba. (Mit Abbildungen.) S. 387. – II. Quittung für das Rittershaus-Denkmal. S. 388. | ||
Illustrationen: Das Ferdinand Raimund-Denkmal in Wien. Von Franz Vogl. S. 357. – Fantasia. Von Chr. Speyer. S. 361. – Abbildungen zu dem Artikel „Die Bronze in der plastischen Kunst“. Der Guß. S. 365. Die Herstellung der Wachsmodelle. In der Ciselierwerkstatt. S. 366. – Abbildungen zu dem Artikel „Das deutsche Blindenheim Tsau-kwong in China“. Die Johanniterschwester Martha Postler. Das Gebäude des Blindenheims. S. 367. – Der kleine Lauscher. Von C. Fröschl. S. 369. – Milchmarkt am Singel zu Amsterdam. Von H. Herrmann. S. 373. – Heimfahrt. Von Hans Bachmann. S. 377. – Wohnt hier die Hexe? Von P. Kohlschütter. S. 381. – Das letzte Mahl der Girondisten. Von L. Flameng. S. 384 und 385. – Ein geschecktes Reh. Von M. Schneider. S. 386. – Benjamin Vautier †. S. 387. – Castillo del Morro am Eingang des Hafens von Havanna. S. 387. Admital Cervera. Kommodore Sampson. Ansicht von Havanna. S. 388. |
Cigarrenkasten als Behälter zum Paketmachen. Eine größere Cigarrenkiste wird gründlich von dem ihr anhaftenden Papier gesäubert; dann schneidet man aus dem Holz eines zweiten Kastens für die Längsabteilung, die zum Aufbewahren des Pinsels, Federhalters und des Siegellacks dient, ein Brettchen und zwei kleine, welche die Tinten- und Gummiflasche abteilen. In das übriggebliebene Hauptfach kommt ein Knäulchen Bindegarn, ein Kästchen mit Zündhölzchen und Nägel. Eine Schere und Hammer vervollständigen die kleine Einrichtung.
Auf der Innenseite des Deckels werden Paketadressen und Etiketten vermittelst zweier Gummibänder festgehalten. Mit kleinen Messingscharnieren wird der Deckel mit dem Kasten verbunden und vorn am Kasten und Deckel ein kleiner Verschluß angebracht. Um demselben nun auch ein ansehnliches Aeußeres zu geben, brennt man auf die Außenseite des Deckels irgend ein hübsches Muster. M. R.
Reste von geblümtem Möbelstoff, Damast, Jute oder Cretonne, wie sie in jedem größeren Möbel- oder Teppichgeschäft erhältlich sind, eignen sich noch zur Verwendung für allerlei hübsche Dinge, zum Beispiel Deckchen über einen Flickkorb. Solche Stoffproben werden gewöhnlich zu ganz billigem Preis abgegeben. Die in den Stoff eingewebten Blumen und Ornamente werden mit hübschen Woll- und Seidenresten bestickt; teils nur mit Stielstich umzogen, teils mit Platt- und Füllstichen überarbeitet. Ein paar Stiche in Goldwolle erhöhen den Effekt der Stickerei. Als Futter dient ein Stück Satin in beliebiger Farbe. Die Kante des Deckchens besetzt man mit einer schmalen Bordüre, die hauptsächlich in den Farben der Stickerei gehalten ist. Solche Deckchen sind ein Schmuck für den Korb, dessen wenig schöner Inhalt sich so leicht damit verbergen läßt.
Die Knöpfe der Kissenbezüge leiden bekanntlich durch die Wäsche am meisten. Die jetzt überall gebrauchten Wringmaschinen brechen sie entzwei, manche springen beim Bügeln ab oder waren schon vorher durch den Gebrauch locker geworden und finden sich nach der Wäsche einfach nicht mehr vor. Bei hübschen großen Perlmutterknöpfen ist ein solcher Verlust nicht ganz unbeträchtlich. Man beugt ihm am besten vor, indem man für jedes Kissen ein starkes Leinenband als Verschluß herrichtet und den Kissenbezug auf beiden Seiten nur mit Knopflöchern versieht. Auf das Band näht man dann starke Knöpfe recht fest in den gehörigen Entfernungen an, nimmt aber den Zwischenraum reichlich, weil das Band in der Wäsche noch eingeht. Zu jedem Kissen richtet man zwei solche Bänder her, deren eines rein im Wäscheschrank verwahrt wird. Sie brauchen erst nach Monaten gewaschen zu werden, falls sie mit Perlmutterknöpfen benäht sind; übersponnene Weißzeugknöpfe erfordern öfteren Wechsel. Diese Knopfleiste ist den vielfach gebrauchten Doppelknöpfen von Bein vorzuziehen, weil diese eben auch sich allmählich vermindern und trotz des Suchens nicht mehr zum Vorschein kommen. Hat man aber einmal die hier beschriebene Vorrichtung an allen Betten gemacht, dann hört die Knöpfenot vollständig auf und die Kissen sind jederzeit in Ordnung.
Gehäkelte Fransen werden manche Damen hier und da schon selbst „erfunden“ und angewandt haben. Sie sind sehr dauerhaft, sehen immer schön glatt aus und können in jeder Farbe, Stärke und Länge hergestellt werden. Für Uebergardinen zum Beispiel empfiehlt sich dicke Kastorwolle, für Tischdecken Baumwolle. Man häkelt die Fransen entweder in die abschließenden Luftmaschenbogen irgend eines gehäkelten Gegenstandes, oder häkelt zunächst aus einer entsprechend langen Reihe von Luft- und Stäbchenmaschen ein Band, an welches man die Fransen direkt anschließt. Das gehäkelte Band wird dann angenäht. Die Fransen selbst beginnt man mit einer festen Masche, häkelt hierein eine Reihe Luftmaschen, die noch einmal so lang ist, als die Franse werden soll, hebt die letzte Luftmasche wieder nach oben in eine feste Masche, so daß sich eine Schlinge bildet, welche man mit den Fingern zusammendreht, und beginnt dann von neuem.
Strümpfe mit abtrennbarem Fuß. Wer gerne gewebte Strümpfe trägt, wird mit Freuden den Strumpf begrüßen, welchen die Firma Max Bergmann in Chemnitz unter dem Namen „Triumph“ in den Handel bringt: einen Strumpf mit abtrennbarem Fuß, der das unangenehme und teure Anweben unnötig macht. Das Bein und der Fuß sind selbständig abgebordet nur mit zwei Touren verbunden, die, wenn der Fuß schadhaft geworden, durchschnitten werden. Die Fäden werden gut ausgezupft, hierauf Röhre und neuer Fuß mit überwendlichen Stichen auf der linken Seite zusammengenäht. Die Ersatzfüße sind auch für gewöhnliche Strümpfe verwendbar, wenn man letztere über der Ferse abschneidet, mit dem den Füßen beigegebenen Faden umhäkelt und hierauf in der beschriebenen Weise mit dem Fuß verbindet.
Serviertischchen. Ein ganz leichtes kleines Möbel zum Abstellen, bei Mahlzeiten im Freien, läßt man sich im Rohen vom Tischler zusammennageln, die Füße unten durch Leisten verbunden, die Platte einfach glattgehobelt. Nach dieser schneidet man aus Leinen eine viereckige Decke und die als Lambrequin herabhängenden Seitenteile; der geschweifte Rand wird aufgezeichnet, die nach außen abschließenden Ornamentformen unterlegt man ziemlich dicht mit Kettenstich und festonniert sie mit grober Baumwolle vor dem Ausschneiden; die inneren Teile des Musters sind leichter zu halten, der gekreuzte schwedische Stich ist dazu verwendbar.
Die Ecke ist nach der Schmalseite zu dieselbe, die Mittelfigur bleibt da weg; eine farbige Ziernaht verbindet die vier Teile an den Ecken und das Mittelstück mit den Seitenteilen. Das Gestell kann dunkel gebeizt oder mit englischem Lack angestrichen werden. Ein Brettchen zum Aufklappen läßt sich leicht seitwärts anbringen, zwei Scharniere an dessen unterer Seite und zwei Metallkettchen oben am Tischfuß einzuhaken, sind dazu nötig. Mit Hilfe des englischen Lacks läßt sich auch irgend ein altes Tischchen zu einem eleganten Ziermöbel umgestalten. J.
Bilderrahmen mit Filigranarbeit. Ein in Rahmenform zugeschnittenes Brettchen wird mit dunklem Sammet überzogen und an der Kontur mit einer Reihe kleinster, rundköpfiger Ziernägel besetzt, welche hinwieder durch eine schmale Linie von Gold- oder Silberbronze von dem Mittelfeld getrennt werden, so daß sich eine breite Abschlußleiste bildet. In der Mitte schneidet man den Sammet ovalförmig aus, jedoch etwa 2 cm kleiner als der Ausschnitt für das Bild beträgt, und klebt den überstehenden Sammetrand nach Umschlagen auf die Rückseite dortselbst mit Leim fest. Hiernach formt man aus gedrehtem und krausem Filigrandraht einige Blumen und Blätter, arrangiert diese an einem etwas stärkeren Draht zu Figuren und befestigt sie mit einigen Ziernägeln. Bei Verwendung von Gold- und Silberdraht, also zweifarbiger Darstellung der Zieraten, wird der Eindruck der Arbeit noch erhöht.
Gestickte Kragen und Manschetten. Die immer noch sehr beliebten Sommerblusen werden dieses Jahr viel mit umgelegtem Leinen- oder Batistkragen und -Manschetten getragen. Diese umgeschlagenen Streifen hübsch und haltbar auszuschmücken, empfiehlt sich die alte englische Weißstickerei mit ihren zierlichen Bogenmustern in Verbindung mit etwas lichtem Stiel- und Plattstich, und zwar in einer neuen Anwendung – mit verschiedenfarbiger Waschseide ausgeführt, was die Wirkung sehr erhöht. Ist zum Beispiel das Ausnähen der kleinen Löcher hellrot ausgeführt, so wird der äußere Festonrand vielleicht olivgrün und die verbindenden Stiele zwischen den ausgenähten Formen ebenfalls, nur etwas heller. Auch eine einzige Farbe in drei Abstufungen wirkt schön. Das Muster muß sorgfältig der Form des Kragens angepaßt sein und nach vorn mit einer hübschen Ecke abschließen.
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Halbheft 12. | 1898. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Die arme Kleine.
(5. Fortsetzung.)
Der von Joseph verheißene Brief traf endlich ein. Er war aus Sidney und seine Ankunft verursachte einen förmlichen Aufruhr in Velice. Sie hatte schon Sensation gemacht auf dem Postamt im nahen Marktflecken, wo Kaspar, der nach ländlichem Brauche das Amt des Nachtwächters und des Boten bekleidete, ihn in Empfang nahm.
„Aus Australien, am Ende gar vom jungen Herrn Joseph,“ sagte die Frau Expeditorin. „O, wenn ich um die Marken bitten dürft’ für meine Tochter!“
„Aus Australien!“ Viele Leute hörten es und Kaspar fühlte plötzlich Flügel an den mit schweren Halinas belasteten Beinen (es war Winter) und lief und behielt eben noch Atem genug, um
[358] jedem, dem er begegnete, zuzurufen: „Brief aus Australien, Brief vom jungen Herrn Joseph!“
Er zog mit einem Geleite Neugieriger zum Schlosse, Hanusch und der Wenzi vom Schullehrer folgten ihm sogar hinein. In der Halle trafen sie Elika und ihre Brüder Ball spielend und riefen alle zugleich: „Brief aus Australien! Brief vom Herrn Joseph!“
Leopold und Elika schrieen auf. Franz brachte nur einen heisern Laut hervor und wurde kreidebleich, wie damals bei der großen Rauferei. Doch schob er die Schwester ungeduldig fort, die voll Besorgnis fragte, was ihm sei. – Nichts war ihm, den Brief Josephs sehen wollte er, wissen, was drin stand. Wie ein Löwe stürzte er auf Kaspar los, entriß ihm die Posttasche und stürmte keuchend die Treppe hinauf zu seinem Vater.
„Da! da!“ brachte er wie ein halb Erstickter hervor und legte die Tasche vor Herrn von Kosel hin, der sich eben mit Ordnen von Zeitungen beschäftigte.
Nun kam auch Elika. Sie hatte Herrn Heideschmied, und Herr Heideschmied hatte seine Frau und diese hatte Apollonia gerufen. Leopold war in den Sibyllenturm gelaufen, um die Tanten herbeizuholen. Das Zimmer Kosels füllte sich und in dem Kopetzkys liefen die Hausleute zusammen, und auf dem Gange standen Kaspar und seine Gefolgschaft.
Hanusch schrie plötzlich: „Wenn er um mich schreibt, steig’ ich zu ihm hinauf auf die See!“ und machte einen Purzelbaum.
Charlotte las den Brief Josephs vor. Er lautete:
„Lieber Vater! gute Tanten! Brüder! Elika!
Alle, alle meine Lieben!
Wie geht es Euch? mir geht es gut. Ich habe viel zu thun und lauter Sachen, die ich gern thue. Ich meine immer, daß ich in Velice nicht gewußt habe, wie lieb ich Euch habe, und doch wünsche ich Euch nicht hierher, das Leben hier wäre nichts für Euch, aber für mich ist es das rechte.
Lieber Vater, verzeih mir meine Flucht und befiehl mir nicht, daß ich zurückkomme, schreibe mir, lieber Vater, daß Du es mir nicht befiehlst. Ich könnt’ ja nicht gehorchen.“
„Das Blut,“ sprach Kosel und Renate fiel klagend ein:
„Joseph! Joseph! So etwas sollte er nicht sagen, der geliebte Junge.“
Charlotte las weiter: „Ich kann nicht studieren, lieber Vater, lieber Herr Heideschmied, und wenn einer wie ich bin einmal sagt: Ich kann nicht, dann muß man es ihm glauben. Es ist auch ganz unvernünftig, von allen zu verlangen, daß sie sich hinsetzen und dasselbe lernen sollen. Es können auch nicht alle dasselbe essen. Dem einen schlagt das ...“
„Schlägt,“ berichtigte Herr Heideschmied. Charlotte ließ sich nicht unterbrechen.
„Dem andern jenes an, und nie gilt’s als Schande für den Magen, wenn er eine Speise nicht vertragt …“
„Verträgt,“ flüsterte Herr Heideschmied.
„Aber ein Gehirn haben, das andere Nahrung braucht als der Schulrat ihm vorschreibt, das ist eine Schande, und Schande vertrag’ ich nicht. Leichter noch die Trennung von zu Hause. So bin ich fort. Ich bin viel weiter als Sidney, kann aber noch nicht schreiben, wo ich bin, erst in ein paar Jahren sollt Ihr es erfahren.“
„In Jahren?“ – Renate unterdrückte einen Ausruf des Schmerzes, Thränen traten ihr in die Augen. Elika kam heran, drückte ihr Gesicht an das der Tante und sagte ihr ins Ohr:
„Wir haben ihn gut lieb, wir zwei!“
Am Schlusse seines Briefes bat Joseph alle, ihm den Kummer zu verzeihen, den er ihnen durch seine Flucht gemacht hatte, er bat sie, sich jetzt schon anf seine Rückkehr zu freuen, wenn er auch nicht viel gescheiter heimkommen werde als er gegangen sei, denn mit dem Lesen sähe es schlecht aus. „Gedrucktes kommt mir selten zu Gesicht, höchstens hier und da eine alte Zeitung . . .“
„Eine Zeitung?“ sagte Kosel, „die hätte er wohl schicken können. Es wird gewiß eine sein, die in Sidney erscheint,“ fuhr er nach reiflicher Ueberlegung fort, „und wahrscheinlich in englischer Sprache. Es wäre merkwürdig, wenn er schon englisch lesen könnte. Freilich, in Neusüdwales muß er es lernen, weil er sich sonst den Engländern nicht verständlich machen kann.“
Apollonia staunte: „Nein, daß der gnädige Herr das wußte. Ja, was der nicht wußte! Also englisch ist es dort, wo Joseph ist. Und ob es wohl so Häuser hat wie bei uns, das Sidney?“
„Viel größere, was denkst du denn, Poli,“ belehrte sie Leopold. „Sidney ist der größte Handelsplatz von ganz Australien und hat einen wundervollen Hafen, in den Tausende von Schiffen einlaufen, beinahe eine halbe Million Einwohner, eine Universität …“
„Die Joseph nicht beziehen wird,“ seufzte Heideschmied.
„Und giebt’s dort auch Kirchen?“ fragte Apollonia.
„Natürlich, und sogar einen anglikanischen Bischof.“
„Und einen katholischen Erzbischof,“ sagte Renate.
Ganz zuletzt sandte Joseph auch einen Gruß an Tante Luise. Er hatte noch ein paar Worte hinzugefügt, sie aber unleserlich gemacht.
Von seiner Lebensweise sprach er vorläufig nicht. Im nächsten Briefe sollte es geschehen.
Er wiederholte seine Bitte, ihn nicht zurückzurufen, weil er nicht gehorchen könnte. Nur eines möge Gott verhüten, man möge ihm nicht schreiben müssen: Elika ist krank und sehnt sich nach dir. Wenn es aber so wäre – will ich es wissen … Gott behüt’ uns davor, aber ich will es wissen …“
Elika verstand ihn wohl, es hieß: Wenn sie sich allzu sehr nach mir sehnt, krank wird aus Sehnsucht, dann komme ich zurück, so schwer es mir wird, komme ich …
Sie hatte die Macht, ihn zurückzurufen, es lag in ihrer Hand … Was niemand vermochte, vermochte sie. Wer mehr kann als andere, ist der schwach? … Zum erstenmal in ihrem Leben fragte sie sich: Bin ich denn wirklich eine arme Kleine?
Unter den vielen Briefen an Joseph, die am nächsten Tage unter der von ihm angegebenen Adresse eines Handlungshauses in Sidney auf die Post geschickt wurden, war auch einer von Luise und einer von Elika. Sie schrieb:
„Lieber guter Joseph!
Den besten Dank sage ich Dir hiermit, Joseph, daß Du glücklich angekommen bist, und gesund bist und zufrieden, ich bin auch gesund und zufrieden. Wir denken immer an Dich und erzählen uns von Dir. Und ich meine immer, Du wirst ein großer Feldherr werden und die Engländer besiegen, und mich zu Dir rufen und wir geben den Negern ihr Land zurück, werden ihre Könige, gewöhnen ihnen das Menschenfressen ab und machen sie zu guten Menschen. Du wirst die kleinen Buben und ich werde die kleinen Mädchen erziehen. Franz aber glaubt, daß Du lieber Viehzucht treiben willst. Wir lesen immer von Australien und ich studiere mit den Brüdern, und Herr Heideschmied sagt: ‚Leopold und Franz unterrichte ich; Elika lernt.‘ O lieber lieber Joseph! bleib’ nur gesund und schreib’ uns oft und sehr viel. Wir werden Dir auch alles schreiben. Leider, lieber Joseph, hustet Deine arme Tacki, und ich muß Dich vorbereiten, daß Du sie kaum mehr am Leben finden wirst, wenn Du erst in einigen Jahren wiederkommst. Ich frage sie nicht mehr: Wo ist dein Herr, Tacki? Sie wird zu traurig davon. Die Kuh von Tante Luise hat ein schönes Kalb bekommen, das schreibt sie Dir aber selbst. Leopold ist mit dem Falben gestürzt. Gleich schreibst Du, wo Du bist, Nichtsnutziger! O, Joseph, ich hab’ Dich lieb, ich bet’ für Dich alle Abend mit Tante Renate in der Kapelle und in der Früh’ in meinem Bett. Ich bete auch immer, daß ich gesund bleibe und mich nicht zu stark nach Dir sehne.
Lieber guter Joseph!
mein ganzes Herz liegt auf diesem Blatt Papier,
ich siegel’s ein und schick’ es Dir.
Deine Dich liebende Elika.“
Um diese Zeit war’s, daß Apollonia sich als Heldin zeigte. Sie machte Elika den Uebergang aus der Kinderstube ins Gouvernantendepartement so leicht als möglich. Langsam entwöhnte sie ihren Pflegling von all den kleinen Diensten, die sie ihm bisher geleistet hatte.
Sie zog sich unauffällig von ihm zurück und forderte die feinfühlige Frau Heideschmied bei jeder Gelegenheit selbst auf, ihre Stelle einzunehmen.
Die erste Nacht aber, in der Elika nicht mehr unter ihrer [359] Obhut, sondern unter der der Erzieherin schlafen ging und – o Glück! in einem großen Bette – brachte Apollonia am leeren kleinen des Kindes weinend und betend zu.
Uebrigens blieb alles unverändert, es wurde nicht ein Sessel von der gewohnten Stelle gerückt. Herr von Kosel kam wie sonst zur bestimmten Nachmittagsstunde, setzte sich in seine Ecke und blickte in den Gruftgarten hinab. Apollonia nähte oder stickte Garnierungen für die weißen Kleider aus schwerem oder leichtem Stoff, die Elika trug.
Manchmal unterbrach sie sich in ihrer Beschäftigung und machte im stillen Betrachtungen über ihren Herrn. Die Leute lachen über ihn, weil er fast immer nachdenkt und nur selten redet. Wär’s nicht eher zum Lachen, wenn er fast immer reden und nur selten nachdenken thät?
Einmal, als er ihr besonders verträumt vorkam, bemühte sie sich, ihn zu zerstreuen, und begann von ihrer gemeinsam verlebten Kindheit und Jugend zu sprechen, und wie gescheit das gewesen war von der gottseligen Frau Mama, daß sie Apollonia noch zu rechter Zeit aus dem Hause entfernt hatte: „Ich dumme Gans hätte mich am Ende gar in Sie verliebt, gnädiger Herr, wie so viele im Schloß und im Dorf. Ja, es ist nicht anders! Am Sonntag in der Kirchen war alle Andacht weg, da haben sie sich gedrängt und gestoßen, um nur recht weit vorzukommen und Hinaufschauen zu können ins Oratorium, wo Sie waren mit der gnädigen Mama und den lieben Tanten.“
„Ach geh’, Poli!“ sagte Kosel und war doch etwas geschmeichelt. „Das bildest du dir ein. Ich habe nie etwas davon bemerkt.“
„Sie nicht! O, Sie gewiß nicht! Sie waren viel zu unschuldig dazu. Aber die gnädige Mama, die schon, und hat auch mit dem Herrn Pfarrer darüber gesprochen. Und der hat die Eltern von die Mädeln verwarnt, und die waren wütend und gar die jungen Burschen und die Männer, und ich glaub’ immer, viel von der Feindschaft der Leut’ gegen das Schloß stammt von daher.“
Mit den letzten Worten hatte Apollonia alles verdorben. Die heitere Stimmung, in die es ihr gelungen war, Kosel zu bringen, verwandelte sich in eine melancholische. Er seufzte schwer, und bange Ahnungen stiegen in ihm auf.
Wohin sollte diese Feindschaft noch führen? Durch Thätlichkeiten hatte sie sich seit längerer Zeit nicht mehr geäußert, aber sie gärte dumpf und verborgen weiter und der Schullehrer nährte sie. Fortwährend wurden Klagen beim Bezirksgericht eingereicht und waren meist lächerlich und sinnlos.
Einige Weiber, die man zum „Roßhaarzupsen“ aufgenommen hatte, schwuren hoch und heilig, daß ihnen im Amtshause vergiftetes Bier geschänkt worden war. Die Quelle, die den Teich im Schloßgarten speist und durch Bauernfelder läuft, war in neue metallne Röhren gefaßt worden. Sie erregten die größten Bedenken. Es wurden ihnen allerlei für den Boden und Getreidewuchs schädliche Eigenschaften angedichtet. Unten im Dorf hatte der Blitz eingeschlagen, weil Herr von Kosel oben auf seinem Schlosse einen Wetterableiter stehen hat – einen Ins-Dorf-Hinableiter. Dieser Hinableiter muß weg, und die Röhren müssen weg, und es wird geklagt, und weil’s in einem geht, auch gleich wegen des vergifteten Biers!
Herr von Kosel begann an den Velicern zu verzweifeln und mit dem Gedanken an eine Auswanderung nach Neusüdwales zu spielen. Seinem Sohne ging es dort gut, warum sollte es nicht ihnen allen dort gut gehen?
Nach langer Zeit hatte Joseph sich entschlossen, zu gestehen, daß er bei Levin Bornholm war. Auf der Besitzung seines Freundes, vier Tagereisen weit von Sidney. Er bat die Tanten, sich deshalb ja nicht zu beunruhigen, ja nicht zu glauben, daß Bornholm einen schlechten Einfluß auf ihn nehme. O nein! Levin sei nicht roh wie die meisten Squatter, er behandle seine Untergebenen streng aber gerecht und sorge für sie. Bornholm hatte Herden von Tausenden von Schafen und führte einen großartigen Wollhandel. Joseph genoß sein Vertrauen schon so sehr, daß ihm die Leitung einer Karawane übertragen worden war, die aus vielen mit Wollballen beladenen mit je zwanzig Ochsen bespannten Wagen bestand. Einen davon kutschierte das Weib des Ochsentreibers. Nun planten sie eine Reise mit wissenschaftlichen Zwecken, Bornholm und er, und diese Art der Wissenschaft zu dienen ließ Joseph sich gefallen.
Ach, seine Geschwister begleiteten ihn im Geiste durch die märchenhaften Wälder, durch die Riffe, die Buchten, über die Flüsse Australiens. Sie erlegten mit ihm giftige Schlangen, kultivierten Menschenfresser und kannten sich alle drei in der Geographie des fernsten Weltteils besser aus als in der ihres eigenen Vaterlandes. Herr Heideschmied, der Franz eines Abends auf die Pracht des Sternenhimmels aufmerksam machte und auf das feurige Blinken Arkturs, erhielt von ihm die Antwort:
„Was kümmert mich Ihr Sternenhimmel und Ihr Arktur, wenn ich nicht das Südliche Kreuz sehen kann!“
Elika hatte um Josephs willen noch eine schwere Stunde zu bestehen gehabt. Sie war in dem Augenblick in ihr ehemaliges Zimmer getreten, in dem Apollonia beim Aufräumen des Schrankes die erbrochene Sparbüchse gefunden hatte. An diese Sparbüchse hatte die Kleine gar nicht mehr gedacht, und eine schreckliche Ratlosigkeit ergriff sie, als die Wärterin ihr möglichst schonend mitteilte, daß alles Geld, das der gute Papa und die guten Tanten ihr geschenkt hatten, gestohlen sei.
„Nein, nein, nicht gestohlen!“ rief Elika und fuhr mit beiden Händen nach ihrem Kopf. „Poli, ich bitte dich, ich bitte dich … glaub’ nur nicht, daß es gestohlen ist …“
„Nicht gestohlen – aber fort. Wer hat’s genommen? Du selbst? Elika!“
„Ich – ich …“ Was thun? Wenn sie sagte, wem sie das Geld gegeben hatte, was mußte sie dann nicht alles sagen? Daß sie gewußt hatte um Josephs Flucht und sie hätte verhindern können, und gewiß – sollen! die Leute wecken, ihm nachsetzen, ihn einholen lassen … Nein und hundertmal nein, das sagt sie nicht – Poli kann ja nicht schweigen, die Kinder hatten es schon oft erfahren: nie ganz schweigen, höchstens halb und halb, wenn man sie „fürchterlich“ bittet. Elika fleht also und beschwört:
„Frag’ mich nicht! frag’ nicht! Ich hab’s verschenkt, mehr sag’ ich nicht, lieber sterben!“
Guter Gott, da war das Kind wieder da mit seinem Sterben! Wenn einem das Kind nur damit nicht käme, das hält man ja nicht aus. Und verschenkt also, der Engel – alles, was er hatte, verschenkt? Und will nicht einmal sagen, wem er aus der Not geholfen hat. O der gute Engel!
„Lob’ mich nicht!“ … Im Ton des tiefsten Schmerzes stieß die Kleine es hervor, und Apollonia erschrak über ihre Aufregung und suchte sie zu beschwichtigen und beteuerte, daß sie schweigen und auch nie wieder fragen werde, wohin das Geld des guten Engels gekommen sei.
In derselben Nacht aber hatte Apollonia von Joseph geträumt, war plötzlich aus dem Schlafe aufgefahren und dann lange wach gelegen. Und allerlei war ihr „vorgegangen“. Etwas höchst Merkwürdiges – und geradezu wunderbar, daß es ihr nicht früher zum Bewußtsein kam. Jetzt mit einem Mal stand es vor ihr. Damals in der Nacht, in der Joseph entfloh, hatte ein herzzerreißender Schrei Apollonia geweckt. Die Kleine stieß ihn aus: „Joseph!“ rief das Kind. Sie hatte gewußt, was geschah, eine Ahnung hatte es ihr gesagt, ein zweites Gesicht. Sie hatte den Bruder gesehen, sich aus dem Hause stehlen, in Nacht und Sturm des Weges ziehen, und ihn gerufen voll Todesangst! Und was sie gelitten hatte durch ihr unheimliches Traumleben, hatte sich am nächsten Morgen in ihren Zügen ausgesprochen; es war jedem aufgefallen. Apollonia beeilte sich, ihre spät gemachte Entdeckung der Tante Renate mitzuteilen. Diese meinte:
„Es kann auch Zufall sein; ich glaube, daß Sie nicht davon sprechen sollten.“
Aber zwei Geheimnisse auf einmal bewahren konnte Apollonia nicht, das war zuviel von ihr verlangt. Wenigstens Frau Heideschmied mußte sie sich anvertrauen, und doch auch der Frau des Kochs, mit der sie besonders innig befreundet war. Und die schwieg nicht, die erstaunliche Thatsache kam im ganzen Hause herum. Man setzte hinzu, schmückte aus, und bald war Elika von dem Nimbus einer kleinen Hellseherin umgeben.
Sie betete viel und heiß, mit exaltierter Frömmigkeit. Sie [360] fühlte sich im Gebete, unter der unmittelbaren Einwirkung des höchsten Wesens, von Schauern der Ehrfurcht und Glückseligkeit durchrieselt im Bewußtsein seiner Nähe.
Sie hatte Augenblicke süßer, wonniger Begeisterung. Besonders abends im Oratorium der Schloßkapelle, wenn sie ruhesehnend und schon etwas schläfrig dort kniete neben Tante Renate auf dem verschossenen Sammet des Betstuhls und ihren Gutenachtgruß an den lieben Gott sprach. Sie hatte ihn selbst „gedichtet“. „Meine Gedanken flattern mit müden Schwingen, aber zu Dir. Die Augen meiner Seele sind verschleiert, schauen aber aus nach Dir!“
Durch die hohen Fenster blinkten die Sterne, und ein andres Sternlein, das ewige Licht in seiner geschliffenen Krystallschale, grüßte zu ihnen hinauf. Elika lieh ihm Worte: „Das Flämmchen spricht zu euch Sterne, es sagt: Euer Licht hat der Finger Gottes entfacht, das meine die Andacht der Menschen, unsterblich sind wir beide.“
Wenn der Mond einen verklärenden Lichtstrahl herein warf und ihn ruhen ließ auf dem großen Engel, der mit entfalteten Flügeln über dem Altare schwebte, ein goldenes Kreuz in der ausgestreckten Rechten, da hefteten Elikas Augen sich wie gebannt auf ihn, da meinte sie, dem Blick der seinen zu begegnen, ihr wendete er sein schönes Angesicht zu und hielt ihr das Zeichen des Heiles entgegen. Seine stummen Lippen sprachen nur ihr vernehmbare Worte himmlischer Liebe und geheimnisvoller Verheißungen.
Ihren Brüdern erzählte sie nichts von ihren Entzückungen beim Gebete. Sie hatte kein Mitteilungsbedürfnis über die Vorgänge in ihrer tiefsten Seele. Ihre Brüder hingegen sagten ihr alles, was ihnen durch die Köpfe und die Herzen flog, sie war die Vertraute ihrer Zukunftspläne. Leopold, der seine Studien immer noch etwas von oben herab betrieb, aber die Prüfungen glanzvoll bestand, wollte Staatsmann werden und das Vaterland aus allen Wirren erlösen. Franz gedachte sich der Landwirtschaft zu widmen. Ihm machte das Lernen fortwährend große Schwierigkeiten, doch gelang es der sieghaften Lehrkunst Heideschmieds, ihn durch die Schulen zu quetschen.
Dem Einfluß seiner eigenen biedern und sympathischen Persönlichkeit verdankte der Junge auch etwas. Die Gesichter der strengsten Professoren am Gymnasium heiterten sich auf, wenn er sorgenvoll dreinschauend erschien, tief und ehrerbietig grüßte und mit heroischer Anstrengung seinen Denkapparat in Bewegung setzte. Jedes einzelne seiner hellen, kurzgehaltenen Haare strebte empor und schien um Beistand zum Himmel zu rufen. Falten bildeten sich auf der breiten, vorspringenden Stirn, die Augen glänzten, die Flügel der kurzen Nase zitterten und der Mund, der liebe, schöne, unschuldige Mund öffnete sich, die Spitze der Zunge kroch schüchtern hervor und benetzte die glühenden trockenen Lippen. Und die Antwort, die der prüfende Professor unfehlbar auf seine erste Frage erhielt, lautete:
„– Ja – ja – ja – ja – ja!“
Wenn man ihn aber nur mit einer kleinen Nachhilfe auf den rechten Weg wies, ihm nur Mut machte, dann ging’s, dann holperte er weiter und trug immer Censuren davon, die er, streng genommen, nicht verdient hätte, und nur erhielt, weil die Herren Professoren erwarteten, es werde im nächsten Jahre besser gehen.
Seit einiger Zeit war übrigens der starke blühende Junge ein Sorgenkind geworden. Der Arzt hatte ein Herzleiden bei ihm konstatiert und dringend empfohlen, ihn vor Gemütsaufregungen und vor heftiger körperlicher Anstrengung zu bewahren. Möglichst unauffällig; er selbst brauchte den Grund des unbehaglichen Gefühls, das er oft haben mußte, nicht zu kennen. „Man schiebt alles aufs Wachsen,“ meinte der Arzt, „und wenn er einmal glücklich über die Entwicklungsjahre hinausgebracht ist, haben wir viel gewonnen.“
In aller Gemächlichkeit verdiente sich Leopold sein Zeugnis der Reife und sollte bald nach Wien auf die Universität kommen. Ein Glück, nach dem er sich das ganze Jahr hindurch heiß gesehnt hatte. Selbständig sein, endlich selbständig, endlich sein eigener Herr! Es ging ihm ja gut zu Hause, und er liebte die Seinen, aber die Unabhängigkeit ist doch das Schönste, und ein Mann wird man nur draußen in der Freiheit, in der Welt!
Der Tag der Abreise war schon bestimmt und je näher er kam, eine um so größere Ungeduld erfaßte den Jüngling. Er fing an, die Stunden zu zählen … doch – er zählte und rechnete ohne Elika. Die arme Kleine wurde immer trauriger, immer blasser. Frau Heideschmied, ihre begeisterte Verehrerin und unterthänige Sklavin, hörte sie des Nachts in ihrem Bette schluchzen. Sie sekundierte im stillen. Der Schmerz des Kindes war ihr Schmerz, Elikas geringste Verstimmung brachte sie um alle Freudigkeit, Elikas geringstes Unwohlsein schien ihr der Beginn einer schweren Krankheit, und sie beunruhigte mehr als einmal die Tanten mit der Versicherung:
„Mesdames, elle se meurt!“
Es kam so weit, daß Charlotte zu ihr sagte: „Verzeihen Sie mir, liebe Frau Heideschmied, aber Ihre Aengstlichkeit übersteigt schon die Grenzen – des Unvernünftigen.“
Indessen machte der Trübsinn, in den Elika versank, als der Augenblick der Trennung von Leopold mehr und mehr heranrückte, dem ganzen Hause Kosel und allen, die zu ihm gehörten, große Sorge.
Die Kleine sprach nicht von dem bevorstehenden Abschied, man sah aber, daß sie an nichts anderes dachte. Sie bat ihren Bruder nicht ein einziges Mal, daß er ihr das Opfer bringen möge, dazubleiben; wenn sie aber mit ihm sprach, klang ein leiser Vorwurf aus ihrem Tone, und aus ihren Augen fluteten ihm solche Wogen des Leids entgegen, daß er es nicht aushielt, daß er sich vorkam wie ein Verbrecher, wie ein Schwestermörder, und nach schwerem Kampf mit sich selbst eines Morgens erklärte: „Ich hab’ es mir überlegt, ich bleibe. Das erste Jahr Jus kann ich am Ende auch in Velice durchmachen.“
Elika dankte nicht mit Worten, aber sie lebte wieder auf, sie entzückte ihre Brüder, erheiterte das ganze Haus mit ihrer lieben Munterkeit, die in alle Herzen eindrang wie mildes, lauteres Licht.
„Jetzt bist du wieder nett,“ sagte Leopold zu ihr, und sie antwortete: „Weil ich glücklich bin.“
„In einem Jahr geh’ ich aber doch,“ sprach er nach kurzer Ueberlegung mit Festigkeit.
„Ach was – in einem Jahr!“ – Er wußte wohl, was das heißen sollte: Geh’ du nur in einem Jahr! Mir thut’s dann nicht mehr weh. Ich bin dann nicht mehr da.
Sie sah oft danach aus, als ob sie in einem Jahr nicht mehr da sein sollte, und plötzlich, ohne sichtbare Veranlassung, war das blasse Alabastersäulchen in ein frisches rosiges Mädchen verwandelt, das von Lebenslust sprühte und, schwimmend und rudernd, reitend und pferdelenkend, mit ihren Brüdern wetteiferte an Geschicklichkeit und Kühnheit.
Im Gegensatz zu ihrer früheren Lernfaulheit war sie jetzt von einem fieberhaften Wissensdurst ergriffen. Sie hatte zu oft auf ihre Frage: Warum? die Antwort erhalten: Weil Gott es so eingerichtet hat, um nicht endlich zu der weiteren Frage: Warum hat Gott es so eingerichtet? zu gelangen.
Sie fühlte sich immer etwas beleidigt, wenn ihr erwidert wurde, darüber ließen sich höchstens Vermutungen anstellen, die aber selten das Rechte träfen. In die Absichten Gottes einzudringen, vermag kein menschlicher Verstand. Das glaubte sie einmal nicht! Tante Renate, die so fromm ist, der Herr Pfarrer, der ein Priester ist, werden doch die Absichten Gottes kennen. Sie wollen ihr nur nicht sagen, was sie wissen, sie finden sie noch zu jung, zu kindisch. Nun, wenn die Menschen ihr allerlei verheimlichen, und Versteckens mit ihr spielen, nimmt sie ihre Zuflucht zu Büchern. Bücher sind offenherzig, die braucht man nur aufzuschlagen und sie geben uns großmütig und freimütig ihren ganzen Reichtum.
Und jetzt war keines der Bücher ihrer Brüder mehr vor ihr sicher; sie studierte mit glühendem Eifer und eisernem Fleiße wochen- und manchmal sogar monatelang, aber – einmal das, einmal jenes, und Heideschmied prophezeite ihr:
„Ihr Wissen wird immer Stückwerk bleiben, Elika.“
[361]
[362] Seit Joseph fort war, hatte sie sich mit großer Innigkeit an Luise geschlossen. Ihr kam vor, daß diese junge Tante sie ungemein zu schätzen wußte und ein Verständnis für sie habe, das den Großtanten fehlte. Besonders Renate, deren Leben eine lange Uebung in der Selbstbeherrschung gewesen war, sah die Launen, denen Elika sich hingab, ihr Schwanken von einem äußersten zum andern als etwas höchst Beklagenswertes und als einen Freibrief auf alle möglichen zukünftigen Leiden an.
Einige Wochen vor ihrem dreizehnten Geburtstag erbat sich die Kleine als liebstes Geschenk die Erlaubnis, vierzehn Tage ganz allein bei Luise in Vrobek zubringen zu dürfen. Apollonia packte einen Koffer, und schon geraume Zeit vor der Uebersiedlung hielt Elika ihre Bekannten im Dorfe und die Arbeitsleute im Garten an und sprach mit großem Ernste:
„Wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte vor meiner Abreise, sage ich Ihnen also heute Lebewohl.“
Man fand das herzig und rührend und die wenigsten versäumten, sie ihrer Hingebung zu versichern. Beim wirklichen Abschied empfahl sie ihren Brüdern, sie morgen, und den Tanten, sie spätestens übermorgen zu besuchen. Ueberhaupt solle nur ja täglich jemand aus Velice hinüberkommen, sich nach ihr zu erkundigen.
Dann fuhr sie fort und lehnte sich aus dem Wagen und winkte mit dem Taschentuche, so lange auch nur die Spitze eines Rauchfangs vom Schloßdache zu erblicken war. Sie fühlte einen großen Trennungsschmerz und kostete ihn aus mit Hochgenuß.
Im raschen Trabe war der Weg längs der Parkmauer zurückgelegt worden, nun ging es den Berg hinunter, zwischen zwei Reihen alter Apfelbäume. Ihre Früchte waren schon abgenommen. Es war ein gutes Obstjahr gewesen. Zu Hügeln aufgeschichtet lagen Aepfel, Pflaumen und Nüsse auf den Feldern und daneben die Wächter im leichten oder schweren Branntweinrausche.
In einer Viertelstunde war die größere Hälfte der Reise zurückgelegt, Valahora kam in Sicht.
„Du! Du!“ rief Elika ihre Tante an, „schau hin. Bartolomäus hat alle Fenster aufgemacht. Was heißt denn das? was geschieht ihm denn? Dem muß was sein, daß er sich entschließt, die Fenster aufzumachen. … Oder,“ unterbrach sie sich plötzlich und eine helle fliegende Röte stieg ihr ins Gesicht, „lüftet er, weil er seinen Herrn erwartet? … Luise – wenn Bornholm käme, käme Joseph mit …“ Sie konnte nicht weiter sprechen, ihr Atem versagte.
Luise nahm sie in die Arme: „Mache dir keine falschen Hoffnungen. Joseph denkt noch nicht an die Heimkehr. Das sieht man ja aus seinen Briefen.“
In Vrobek kam Elika sich doch ein wenig vor wie eine verwunschene Prinzessin. Es war alles gar so einfach; das Zimmer, in dem Luise sie neben dem ihren einquartiert hatte, wie jenes weißgetüncht und spärlich eingerichtet. Am Abend brachte die Tante sie zu Bette und blieb bei ihr, bis der Kleinen die Augen zufielen. Aber sie hatte einen unruhigen Schlaf, eine Deckenrutschung fand statt und Elika erwachte im blanken Hemdchen, fröstelnd, zähneklappernd. Da dachte sie sogleich, daß sie Fieber habe, malte sich rasch und lebhaft die ganze Traurigkeit eines Sterbens in der Fremde aus und schlief, wieder fest in ihre Decke gehüllt, sanft und ruhig bis zum Morgen. Als aber Luise kam, um ihr beim Ankleiden behilflich zu sein, und fragte, wie sie geschlafen habe, antwortete sie: „Elend!“ und glaubte es.
Im Laufe des Vormittags kam Besuch aus Velice, am Nachmittag unternahmen Luise und Elika einen Spaziergang nach dem Walde von Valahora.
„Wir sollten auch ins Schloß,“ meinte die Kleine. „Es ist dort hübsch gruselig. Man glaubt, jetzt und jetzt wird man in das schreckliche Zimmer des Blaubart kommen. Aber man kommt nur in ganz natürliche Zimmer mit alten Kanapees und Sesseln.“
„Woher weißt du das?“ fragte Luise. „Du warst nie in Valahora; es ist euch ja verboten, hinzugehen.“
– Nun – – sie gingen doch. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraute sie’s der Tante an. Neulich erst waren sie dort gewesen, hatten auf der Promenade Herrn und Frau Heideschmied gesagt: Spazieren Sie nur weiter, wir kommen schon nach, wir wollen nur die Hunde im Forsthaus besuchen, und waren nach Valahora gelaufen.
„Eine Lüge, Kind!“
„Nur eine halbe, nur eine viertel! Wir haben wirklich Hunde besucht, die schlimmen Wolfshunde von Herrn Bornholm, die Kinder von Jedén und Dva. Uns thun sie aber nichts. Und Bartolomäus, der so bös’ ist, thut uns auch nichts. Er nimmt mich und trägt mich im ganzen Haus herum, wenn ich will. Du wirst sehen, wie lieb mich der hat, der alte Bartolomäus.“
Sie plauderte eifrig, sie suchte Luisens Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie hatte längst etwas bemerkt, das die Tante nicht bemerken sollte. Im „Wetterwinkel“ stiegen Wolken auf, die von Zeit zu Zeit ein fahles Leuchten durchzuckte. Der übrige Himmel schimmerte in feurigem Blau, die Sonnenstrahlen stachen und brannten. Wenn ein so schreckliches Gewitter käme wie an dem Tage, an dem Joseph das Haus verließ! Im Wald möchte sie von ihm überrascht werden, sich aber früher verirrt haben, die Nacht im Freien zubringen müssen. Das wäre eine Wonne! Das wäre! Herrlich stellte Elika es sich vor. In Australien würde Joseph erschrecken, wenn er davon erführe.
Sie hatten die Anhöhe überschritten, die er zu umgehen pflegte, wenn er Luise heimbegleitete, und hinter der er dann am Gartengitter wieder zum Vorschein kam, um ihr ein allerletztes Mal Lebewohl zu sagen. Eine breite Allee von Linden- und Kastanienbäumen führte durch schöne, gute Felder, die einst zu Vrobek gehört hatten und dann vom Ankömmling aus Schweden erworben worden waren, bis zum Walde.
An seinem Saume standen uralte Eichen. Kolosse mit riesigen Stämmen, schrundig und grau. Einige, schon wipfeldürr, reckten trotzig ihr stolzes Geäst; andre, vom Blitz zerspellt und zu Tod verwundet, entfalteten noch an jungen Zweigen einen dunklen Blätterreichtum. Die Bäume ringsum, knorrige Linden, die Birke, die Jungfrau des Waldes, Buchen und Erlen schienen ehrfurchtsvoll zurückzuweichen vor dieser greisen Majestät. Nur niederes Gebüsch drängte sich in ihre Nähe und Schlingpflanzen krochen an ihr hinauf mit kleinen grünen Füßchen und sogen ihr Parasitenleben aus ihrer Rinde.
Er war schön, der von jeglicher Forstkultur verschont gebliebene Wald, in dem die Natur frei und ungehindert ihre göttliche Willkür walten lassen durfte. Steile, steinige Halden, von Wasserfäden durchrieselt, schilfumkränzte, dunkle Weiher, üppige Wiesen wechselten mit dicht wucherndem Gebüsch, düstre Nadelholzbestände, durch die man hinschritt wie auf einem Teppich von Atlas, mit Abhängen und Anhöhen voll Wurzeltrieben und Brombeersträuchen.
Die wunderbare Stille des Waldes, die lebendige Stille, in der das winzige Insektenvolk lautlos sein geschäftiges Wesen treibt, wurde manchmal durch Vogelgezwitscher unterbrochen und durch ein Huschen und Flattern …
„Schau, ein Hase! … Schau, Rebhühner!“ … flüsterte Elika. „Und dort im Gebüsch, schau nur, ein Reh!“ …
„Ich habe keine Ahnung, wo wir sind,“ sagte Luise, etwas unruhig geworden. Elika behauptete, sich vortrefflich auszukennen, sie würden nun gleich auf einen Fußsteig kommen, auf dem man in ein paar Minuten zum Schloß hinaufgelange. Der Fußsteig zeigte sich aber nicht, vielmehr wurde der Wald dichter, unwegsamer, und plötzlich fuhr heulend und pfeifend ein Windstoß über die Wipfel. Die schlanken Bäume bogen sich, die mächtigen widerstanden, aber wie eine grollende Klage tönte es herab von ihren Kronen.
Luise wollte umkehren, den Weg nach Hause getraute sie sich zu finden: „Eilen wir!“ rief sie, „es steigt ein Gewitter auf.“
„Es ist schon da!“ erwiderte Elika. „Hast du den Blitz gesehn? … Und der Himmel über uns ganz schwarz!“ …
Mit unglaublicher Schnelligkeit war es heraufgestiegen. Wie dunkle, kompakte Massen türmten sich die Wolken, aus denen Feuerpfeile blendend niederschossen. Unmittelbar beinahe folgte ihnen ein dumpfes schweres Rollen. Wenige Sekunden nur noch zwischen Blitz und Donner; das Gewitter stand senkrecht über dem Wald. Eine unbeschreibliche, atembeklemmende Spannung lag in der Luft. Noch fiel kein Tropfen Regen, und dieser wilde harte Kampf der Elemente glich einem ungeheuren und thränenlosen Schmerz.
[363] „Nur heraus aus dem Walde! nur ins Freie, wir wollen zurück,“ sagte Luise in peinlicher Angst um das ihr anvertraute Kind.
Dieses Kind aber, dieses unberechenbare, war von einem Uebermutsrausche erfaßt: „O nein! weiter wollen wir. Wir sind ganz nah’ von Valahora, sag’ ich dir, Tante. Der nächste Blitz wird es uns zeigen.“
Wieder lief sie voran, stieß aber plötzlich einen Schrei aus und taumelte. Einen Augenblick war alles rings um sie von grellem Licht blendend erleuchtet, der Boden zitterte. Mit hartem, knatterndem Gedröhn war ein Wetterstrahl an der höchsten Tanne herunter in die Erde gefahren.
„Um Gottes willen, Elika!“ Luise stürzte auf sie zu und riß sie an sich: „Es ist nichts … nichts geschehen … bist nur erschrocken, du arme Kleine!“
„Nur erschrocken, die arme Kleine,“ antwortete statt der noch Sprachlosen spöttisch eine tiefe Männerstimme. Bornholm trat auf die beiden zu. „Kommen Sie heraus aus dem Wald. Was haben Sie beim Gewitter im Wald zu suchen?“ Er wendete sich und winkte ihnen, zu folgen.
Zwei Hunde sprangen herbei; zwei Freunde, Jedén und Dva. Sie tupften mit den Nasen an die Hände und an das Kleid Elikas und wedelten diskret mit den Schwänzen. Die Freude des Wiedersehens laut zu äußern wagten sie nicht. Ihr Herr war da.
„Es ist Herr Bornholm,“ flüsterte die Kleine kaum hörbar, und Luise fühlte den zarten Körper, den sie an sich gepreßt hielt, erbeben. „Ich erkenn’ ihn an seinen Hunden … O Jesus! Vielleicht ist Joseph auch mitgekommen.“ Sie erhob die Stimme so laut sie konnte: „Herr Bornholm, ist Joseph auch gekommen?“
„Nein,“ erwiderte er, ohne sich umzusehen.
Sie waren auf dem Fußpfad angelangt, den Elika vorhin gesucht hatte und der zwischen hohem Gras und niederem Gebüsch steil zur Burg hinaufführte.
In Güssen strömte jetzt der Regen nieder; das Gewitter grollte weiter und ein Wirbelsturm fegte den Wandernden kalte Duschen abwechselnd in den Rücken und ins Gesicht. So gut es ging, suchte Luise die Kleine vor dem Unwetter zu schützen, hüllte sie in ihr Tuch, spannte ihren Sonnenschirm über sie aus und kämpfte wacker mit dem Sturm, der sich seiner bemächtigen wollte. Es gelang ihm. Der Schirm flog über Bornholm hin und schlug ihm beinahe den Hut vom Kopfe. Er wendete sich lachend:
„O weh! das schützende Dach ist fort; jetzt zerfließt das Zuckerpüppchen.“
Im Hof wurden sie von Bartolomäus empfangen. Sein mürrisches Gesicht verwandelte sich in ein bestürzt mitleidiges, sobald er Elika erblickte. Viel Worte machte er nicht, aber er nahm sie in die Arme und trug sie das steinerne Treppchen hinauf in den Gang.
„Is naß und kalt wie Fischerle, arme Kleine,“ sagte er, „und weint.“
„Weil sie einen Spaziergang im Regen hat machen müssen,“ versetzte Bornholm.
Elika bäumte sich auf: „Weil Joseph nicht gekommen ist!“ Mit einem Schrei rangen die Worte sich aus ihrer Kehle: „Weil Sie ihn dort gelassen haben, allein bei den Menschenfressern. Das ist schlecht von Ihnen!“
Sie schluchzte, sie umklammerte den Hals des alten Bartolomäus und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.
Levin blieb ganz ungerührt. „Was glauben Sie denn, kleine Person?“ sagte er. „Wenn Sie glauben, daß Joseph einen Beschützer braucht, irren Sie, er ist selbst ein Beschützer.“
„Sie werden uns von ihm erzählen, Herr Bornholm,“ fiel Luise ein, „wir bitten darum. Wir fragen aber auch: wollen Sie uns Gastfreundschaft gewähren, bis der Regen aufgehört hat?“
„Selbstverständlich, Fräulein von Kosel. Ich weiß, daß Sie es sind,“ beantwortete er ihren erstaunten Blick. „Joseph hat Sie mir sehr treu geschildert.“
Er stieß die Thür seines Zimmers auf und schloß sie hinter den Eingetretenen.
Bartolomäus legte die Kleine vorsichtig auf den Diwan, und während Luise ihr das durchnäßte weiße Kleidchen, die Schuhe und die Strümpfe auszog, holte er einen dicken Plaid Bornholms herbei, in den Elika gewickelt wurde. Sie weinte noch immer. Ganz leise jetzt, aus tiefstem, schwerverwundetem Herzen, in dem echt kindlichen ätzenden Schmerz, der einem Gefühl von gräßlicher Verlassenheit entspringt: – Was wissen sie von mir, diese Erwachsenen, die so hart sind, so dumm und keinen Trost geben – und nichts können als nur sagen: „Weine nicht.“
„Weinen S’ nicht,“ wiederholte Bartolomäus zum zehntenmal. „Was weinen S’ denn?“
„O Bartolomäus, mein Guter,“ erwiderte Elika und brach, als sie zu sprechen begann, in neues Schluchzen aus, „rufe Herrn Bornholm … Er soll mir wenigstens … wenigstens … von Joseph erzählen … O Bartolomäus, mein Guter, ich werde sterben und werde meinen Joseph nicht wiedersehn!“
Das war zu viel für den Alten; er nahm das Kleidchen, die Schuhe und die Strümpfe, würgte etwas von „Herd“ und „trocknen“ hervor und verließ das Zimmer.
Luise kniete bei Elika nieder: „Hast eine arge Enttäuschung gehabt, arme Kleine. Weine dich aus; das ist gut. Wird es bald gut sein? Was meinst du? … Wie deine Augen rot sind! … und wie deine Lippen brennen!“ Sie wischte ihr mit dem Taschentuche die Thränen vom Gesicht, drückte ihre kühle Wange an den Mund Elikas, küßte und herzte sie, die sich ihre Liebkosungen in Gnaden gefallen ließ und immer nur zwischen zwei – nun doch schon trockenen – Schluchzern seufzte:
„Wann kommt denn Herr Bornholm?“
Der Ersehnte erschien endlich. Einen Augenblick blieb er auf der Schwelle stehen, mit der Miene eines Menschen, der einen unangenehmen Eindruck empfängt; trat an den Tisch am Fenster und legte eine Speerspitze und ein hölzernes Kampfmesser zu den Waffen, die sich dort befanden.
Wie bös’ der ist! Es verdrießt ihn, daß wir uns hier so häuslich eingerichtet haben, dachte Luise und sprach: „Wir werden Ihre Güte nicht mißbrauchen, Herr Bornholm. Wir wandern bald heim. Der Regen hat, scheint mir, fast aufgehört.“
„Schwer zu konstatieren von hier aus,“ er deutete nach dem Fenster mit den wenig durchsichtigen Butzenscheiben. „Aber warum setzen Sie sich nicht?“
Luise nahm Platz in einem großen, altmodischen Fauteuil und Levin ihr gegenüber auf der Lehne des Diwans, bis zu der die Füßchen Elikas lange nicht reichten.
„Was hat Joseph mir sagen lassen?“ fragte sie. „Er hat mir gewiß etwas sagen lassen und dem Papa und allen.“
„Durch mich hat er Ihnen nichts sagen lassen,“ erwiderte Bornholm und schlug gemächlich ein Bein über das andre. „Wir haben eine Partie ins Innere des Landes gemacht und uns vor ungefähr sechs Wochen getrennt. Ich war damals noch nicht entschlossen, nach Europa zu reisen.“
Während er sprach, ließ er Luise nicht aus den Augen. Sein Blick glitt an ihr herab, von dem zerknitterten, weißen Krägelchen, das den Hals eng umschloß, an dem übereinfachen, dunkelblauen Perkalkleide, das bespritzt und feucht in schlaffen Falten an ihrem zierlichen Körper herunterhing, bis zu den beschmutzten Schuhen, auf denen er hartnäckig haften blieb.
Wieder glaubte sie sich entschuldigen zu sollen: „Ja, ja, ich seh’s, mein Kleid trieft, meine Schuhe haben arge Spuren auf dem Fußboden hinterlassen. Bartolomäus wird mich verwünschen. Verzeihen Sie nur, Herr Bornholm.“
„Was denn?“ unterbrach er sie. „Was liegt denn daran? Aber Ihnen läuft Wasser aus den Schuhen. Wollen Sie so nach Hause gehen?“
„Ohne weiters.“
„Keine Angst vor Erkältung?“
„Nicht die geringste.“
Elika bemeisterte schwer ihre Ungeduld während dieses Zwiegesprächs. „Erzählen Sie von Joseph, Herr Bornholm!“ rief sie mit dringendem Flehen. „Erzählen Sie!“
Er wendete den Kopf zu ihr und sagte gleichgültig: „Ich bin ein schlechter Erzähler, kleine Person.“
[364] „So erzählen Sie schlecht, aber erzählen Sie doch … Was thut er? Hat er Pferde und Hunde? Wie ist er angezogen? was bekommt er zu essen?“
„Hat er Ihnen denn das alles nicht geschrieben? So oft ich ihn in seiner Wohnung finde, finde ich ihn schreibend, und jedesmal sagt er: ‚Ich schreibe nach Hause‘.“
„Das ist etwas ganz andres, was er schreibt und was einer erzählen kann, der bei ihm war … Also, Herr Bornholm! ... Also!“ …
Ihr Drängen langweilte ihn, er verbarg es nicht. Die Antworten, die er auf ihre Fragen gab, wurden immer karger, jeden Satz ließ er sich mühsam erpressen. Sie hielt lange stand, ihre Ausdauer, ihre Geduld bewährten sich. Endlich aber waren sie doch erschöpft. Die sanften, schutzflehenden, um Liebe werbenden Augen der armen Kleinen sprühten Zornesfunken, ihre bleichen Wangen flammten, sie bäumte sich auf und stieß in unbezwinglicher Empörung die Worte hervor:
„Sie sind bös’! Ich glaube, daß Sie ein böser Mensch sind, der andern alles zuwider thut.“
Levin Bornholm, der Klotz, beantwortete ihre heftige Anklage mit einem unpassenden: „Je nun.“ Der Angriff, den er erfahren hatte, machte ihm keinen Eindruck. Er sah Elika nicht einmal aufmerksamer an als früher, und als er sich wieder zu sprechen bequemte, sprach er zu Luise: „Sie haben nicht nur keine Angst vor nassen Füßen, Sie haben auch keine vor übler Nachrede.“
Luise machte große Augen zu dieser unerwarteten Apostrophe: „Da irren Sie. Ueble Nachrede wäre mir sehr unangenehm.“
„Und trotzdem setzen Sie sich ihr aus?“
„Wodurch?“
„Dadurch, daß Sie hierher kommen, zu mir, den die öffentliche Meinung verfemt.“
„Not bricht Eisen – ich bitte abermals um Verzeihung, Herr Bornholm,“ sagte sie und sah ihn dabei mit einem sehr lieben Lächeln an.
Ihm war, als offenbare sich ihm eine Seele voll lauterer Heiterkeit, und eine verdrießliche Regung ergriff ihn. Wie beschränkt und gedankenlos muß man sein, um heiter sein zu können, überhaupt – und nun gar Die! Ist arm wie ein Digger und steht allein wie die Chamberssäule … „Haben Sie je von der Chamberssäule gehört?“ sprach er plötzlich und mußte selbst lachen über das Unmotivierte der Frage, mit der er da hereinplatzte.
„Ich nicht,“ erwiderte Luise; er kam ihr jetzt entschieden etwas verrückt vor.
„Aber ich!“ Elika hatte sich allmählich von ihrem Zornesanfall erholt und mischte sich ins Gespräch: „Sie steht am Finkefluß und ist ein Monolith und das allerletzte Ueberbleibsel von einem Gebirge.“
„Richtig, kleine Person. Hat Joseph Ihnen das geschrieben?“
„Nein, ich hab’s gelesen. Joseph hat zuletzt von der Regenzeit geschrieben. Die kommt ja bald, nicht wahr, Herr Bornholm?“ Warte, dachte sie, jetzt erwisch’ ich dich, jetzt wirst du mir doch erzählen! „Die Regenzeit muß traurig sein. Was thut Joseph während der Regenzeit, Herr Bornholm?“
Er nannte sie im stillen eine schlaue Katze und antwortete obenhin: „Nun, allerlei.“
„Ich glaube,“ führ sie fort, „daß er die seltenen Pflanzen trocknen wird, die er auf der ‚Landpartie‘ mit Ihnen, die eine große Reise war, gesammelt hat, Orchideen und Stackhousien und solche Sachen, und ich glaube, daß er auch kleine Tiere und Vögel ausstopfen wird, was sehr grauslich ist. Finden Sie nicht auch, Herr Bornholm?“
„Wie man’s nimmt. Ein Squatter hat vom ‚Grauslichen‘ andere Begriffe als Sie.“
„So ist er ein Squatter? Er ist doch kein Squatter. Das sind Sie, und er ist nur bei Ihnen in der Home-station.“
„Sehen Sie, Sie wissen alles. Wozu fragen Sie?“
Nun genug! Sie wollte ihn nicht mehr fragen, gar nicht mehr, es lohnte nicht der Mühe. Die Antworten, die er gab, waren zu einsilbig und läppisch. Sie wünschte sich fort von Valahora, auf zehn Meilen, auf hundert Meilen.
Wie eine kleine Mumie hatte sie dagelegen und zog nun mühsam einen Arm nach dem andern aus seiner festen Umhüllung. Ihr weißes Hälschen kam zum Vorschein, schmal und zart wie das eines siebenjährigen Kindes. „Der Plaid kratzt mich,“ sagte sie, „er ist so grob.“
„Wie sein Eigentümer, meint die ‚arme Kleine‘,“ ergänzte Bornholm, richtete die Worte aber nicht an sie, sondern an Luise.
„Gehen wir, Tante,“ sprach Elika und ihrer starken Willenskraft gelang’s, ihrer Stimme einen reinen und sichern Klang zu geben. „Das Gewitter ist vorbei und der Regen macht mir nichts. Bitte, rufe Bartolomäus, er soll mir meine Schuhe bringen.“
Levin stand auf. „Das besorg’ ich.“ Er sah zum Fürchten streng und unwirsch aus und ging mit großen Schritten der Thür zu, und sogar der Anblick seines breiten Rückens hatte etwas Bedrohliches.
Bartolomäus kam herein, das Kleid Elikas und ihre Strümpfe auf dem Arm; in der Hand ihre Schuhe, die er Luisen entgegenhielt: „Anziehn kann nicht, sind sie naß,“ verfügte er.
Nach einigem Protestieren mußte das Kind sich bequemen, wohleingepackt in dem groben Plaid, von ihrem alten getreuen Eckart nach Hause getragen zu werden.
Die Karawane überschritt schon den Hof, als Bornholm aus dem Gang auf die offene Treppe trat. Er hatte sich doch noch verabschieden wollen bei Fräulein von Kosel. Sie war recht sympathisch, trotz ihrer lächerlich verzärtelnden Affenliebe für das kleine Ungetüm von Nichte.
Aber die Gäste hatten Eile, sein Haus zu verlassen, sie schlugen ein rasches Tempo an. Zuerst Bartolomäus mit seiner leichten, sorglich getragenen Bürde. Der bissige Kettenhund in eine Wartefrau verwandelt – sehr lächerlich! – dann Luise, dann die Jungen Jedéns und Dvas, bellend, jappend, sich zeitweise überkugelnd.
Das Gewitter vergrollte langsam, der Regen hatte aufgehört. Luise erhob den Kopf und sah zum Himmel empor, an dem sich einzelne helle Streifen zeigten. Dann, schon im Begriff, um die Ecke der Hofmauer zu biegen, blickte sie zurück, bemerkte Bornholm und nickte ihm freundlich grüßend zu.
„Keine Schönheit und auch nicht mehr ganz jung. Ungefährliche Nachbarschaft. Aber danken hättest du dürfen für ihren Gruß, australischer Rüpel,“ sagte sich Levin.
(Fortsetzung folgt.)
Die Bronze in der plastischen Kunst.
Unter den Rohstoffen, die zur Herstellung der Werke plastischer Kunst sich eignen, nimmt der Marmor unstreitig den ersten Platz ein. Seiner Verwendung sind jedoch Grenzen gezogen. Die verschiedenen Marmorarten zeigen sich gegen Einflüsse der Witterung mehr oder weniger empfindlich, und namentlich in dem rauheren Klima nördlicher Länder müssen Denkmäler aus Marmor während des Winters mit Schutzhüllen aus Holz umgeben werden, damit sie vor einem allzuraschen Verderben geschützt sind. So ist der Bildhauer bei uns auf einen Ersatz angewiesen, den am besten der Bronzeguß liefert. Freilich kann dieses Metall, das allzu oft in noch nicht ergründetem Eigensinn die erwünschte Patinierung verweigert, an ästhetischer Wirkung sich mit der leuchtenden Schönheit des lebendig gewachsenen Steins nicht messen. Aber es bietet wenigstens den Vorzug, daß das eherne Kunstwerk das ganze Jahr hindurch dem Auge des Beschauers erhalten bleiben kann. Da sich ferner die Verwendung des Marmors bei Monumenten, die über eine gewisse Größe hinausgehen, von selbst verbietet, so ist der [365] Gebrauch der Bronze in der plastischen Kunst seit den ältesten Zeiten bei allen Völkern geschätzt worden.
Nächst dem Gold und Silber ist das Kupfer dasjenige Metall, das den Menschen am frühesten bekannt war und von ihnen in Krieg und Frieden benutzt wurde. Später erst erhielt man durch Legierungen des Kupfers mit Zinn die sogenannte echte Bronze, welche einem ganzen Zeitalter menschlicher Entwicklung den Namen gegeben hat. Die ältesten Bronzedenkmäler, kolossale Statuen des Buddha, finden sich am Altai und in Indien. Die Bronzen in Aegypten, sowie im nördlichen und östlichen Europa, das durch den Handel der Phönicier mit den alten Kulturländern am Mittelmeer in Beziehungen stand, zeigen im wesentlichen dasselbe Material wie die asiatischen. Für das homerische Zeitalter ist neben der Verwendung des reinen Kupfers zu Waffen und Geräten wohl auch schon der Gebrauch der Bronze anzunehmen; ihre höchste Bedeutung aber erhält diese für die Kunst des klassischen Altertums. Die Sitte, einem verdienten Menschen Bildsäulen zu besonderer Ehrung zu errichten, stammt von den Griechen. Wie verbreitet sie war, davon können wir uns nur schwer eine rechte Vorstellung machen. Soll doch allein Lysippus, der Bildhauer Alexanders des Großen, 1500 Statuen geschaffen haben, alle von nicht geringem Kunstwert, und darunter manche von stattlicher Größe. So war nach Plinius ein Apoll 30 Ellen, ein Jupiter 40 Ellen hoch, und der Sonnenkoloß zu Rhodos, von Chares, einem Schüler des Lysippus, gefertigt, hatte eine Höhe von 70 Ellen. Alle diese Bildwerke sind aus echter Bronze hergestellt, wie sie in ganz ähnlicher Mischung heute noch zum Geschützguß benutzt wird. Die Mysterien von Samothrake sollen unter anderm die Geheimnisse enthalten haben, welche angewandt wurden, um die Bildung des schädlichen Zinnoxyds bei der Bereitung zu verhindern. Ein Zusatz von Zink, der seitdem für die Statuenbronze üblich geworden ist, findet sich erst von der Zeit Julius Cäsars an.
Während der Stürme der Völkerwanderung und der folgenden kriegerischen Jahrhunderte fand die antike Bronzefabrikation eine Zufluchtsstätte in Byzanz. Von da kam sie im 9. Jahrhundert nach Deutschland. Zu den bemerkenswerten Arbeiten des 11. Jahrhunderts gehören die Thüren am Münster zu Aachen sowie an den Domen zu Mainz, Augsburg und Hildesheim. Hier, am Fuße des Harzes, nahm die Kunst einen neuen Aufschwung: die Erze des Rammelsberges bei Goslar lieferten das Material. Zu besonderer Blüte gelangte der Bronzeguß durch die Familie Vischer in Nürnberg. Peter Vischers Sebaldusgrab ist ihr berühmtestes Werk. Und selbst das Leid des Dreißigjährigen Krieges vermochte die Errungenschaften der Technik nicht zu vernichten. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts goß Johann Jacobi nach Schlüters Modell das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten für die Lange Brücke zu Berlin. In neuerer Zeit knüpfen sich die größten Erfolge des deutschen Bronzegusses u. a. an die Leistungen von Stiglmayer und Miller in München, Howaldt in Braunschweig, Burgschmiet in Nürnberg, Stotz und Pelargus in Stuttgart, der Gießerei Lauchhammer und zum guten Teil an den Namen Gladenbeck. Zwei Fabriken seines Zeichens giebt es jetzt in Friedrichshagen bei Berlin, die ursprüngliche alte, jetzt Aktiengesellschaft, und ein neueres Unternehmen, die Gießerei zweier Söhne des alten Gladenbeck. Ein Besuch der letzteren gab die Anregung zu dieser Betrachtung. Dort sind auch die Bilder aufgenommen, welche unser Text erläutert.
Es ist ebenso unterhaltend wie belehrend, durch diese Anlagen zu wandern, in denen Kunst und Gewerbe sich zu innigem Bunde die Hand reichen, und zu beobachten, wie nach dem vergänglichen Gipsmodell des Bildhauers allmählich das wie für die Ewigkeit geschaffene Werk des Bronzegießers entsteht. Auf dem untenstehenden Bilde ist man beschäftigt, die Gipsmodelle, wie sie vom Bildhauer stammen, für die Formen herzurichten. Die große Statue im Vordergrunde stellt den norwegischen Dichter Björnson dar.
Man hat zwei Methoden zur Herstellung der Form für den Guß: das Wachsschmelzverfahren und die Sandformerei, von denen wir hier nur die erstere zu berücksichtigen haben. Im Altertum war die primitivste Art die, daß man ein massives Wachsmodell herstellte und dieses dann mit Lehm oder einem anderen geeigneten Material in dicker Schicht umgab, wobei man ein paar Kanäle offen erhielt. Die erhaltene Masse trocknete und erhitzte man so lange, bis durch Ausschmelzen des Wachses ein Hohlraum entstanden war, in den man das flüssige Metall eingießen konnte. Dies mußte nach Erkalten naturgemäß die Form des ursprünglichen Wachsmodelles zeigen. Hierbei ergab sich jedoch der Nachteil, daß der Gegenstand massiv gegossen wurde. Das war bei größeren Werken unmöglich, sowohl der Kosten wie des Gewichts wegen. So suchte man schon im Modell ein festes Inneres herzustellen. Nach Benvenuto Cellini formte man im Mittelalter ebenso wie im Altertum zunächst aus Lehm über [366] einem Eisengestell einen sogenannten Kern, welcher in roher Gestalt dem zu schaffenden Modell ähnlich, aber in seinen Ausdehnungen kleiner war.
Auf diesen Kern trug man Wachs in der Stärke, die das Metall später haben sollte, auf und arbeitete hierin freihändig das Modell vollständig aus. Das so vorbereitete Modell wurde nun mit der Formmasse umgeben, in welcher sich die negative Form des Denkmals abdrückte. Es blieben nur die Wachsstangen sichtbar, durch deren späteres Wegschmelzen die Zuflußlöcher für das Metall und die Ventile für die ausströmende Luft, die „Windpfeifen“, entstanden. Wurde das Wachs jetzt ausgeschmolzen, so entstand zwischen dem Kern und der Form ein leerer Raum für das einzugießende Metall. Dies Verfahren hatte den Nachteil, daß mit dem Schmelzen des Wachses und dem Zerschlagen der äußeren Form auch stets das Original-Wachsmodell verloren ging, so daß der Künstler, wenn der Guß nicht gelang, noch einmal von vorn anfangen mußte. Auf diese unvollkommene Weise ist die oben erwähnte Bildsäule des Großen Kurfürsten gegossen, und noch in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts arbeitete Rigetti in Neapel nach dieser Methode. Heute setzt man nicht mehr das Original aufs Spiel, sondern man macht über ihm zunächst eine Gipsform oder elastische Form, in welche man das flüssige Wachs eingießt. Nachdem eine schwache Schicht an den Wänden der Form erstarrt ist, gießt man es wieder aus. Dies so gewonnene hohle Wachsmodell dient nunmehr für den Bronzeguß, während das Original erhalten bleibt. Unser obenstehendes Bild zeigt die Herstellung solcher Wachsmodelle, die man, um sie besser handhaben zu können, in einzelne Teile zerlegt hat. Im Mittelpunkte sieht man einen Arbeiter beschäftigt, das flüssige Wachs in das Formstück einzugießen. Im Hintergrunde rechts macht sich ein anderer an den vorstehenden Eingußröhren, von denen oben die Rede war, zu schaffen, während links vorn ein dritter an dem Modell eines Löwenkopfes Besserungen vornimmt.
Nachdem die Gußform fertiggestellt worden ist, wird sie in der Gießgrube eingedämmt, das heißt fest in Sand eingestampft. Ueber ihr wird ein vierseitiges Becken aufgemauert, in dem sich die Löcher für die Zuflußkanäle und die Windpfeifen befinden. „Wohl, nun kann der Guß beginnen!“ Handelt es sich um besonders große Stücke, so benutzt man den Flammofen; bei kleineren Güssen wird das Metall in Graphittiegeln geschmolzen. Hat man den Ofen bis zur Rotglühhitze gebracht, so setzt man zunächst die Kupferbarren ein, und erst, wenn diese geschmolzen sind, fügt man das Zink und endlich das Zinn hinzu, während man mit einem Kehrbaum aus grünem Holz die Bestandteile zu mischen sucht. Als das beste Verhältnis für Bildsäulen und Gußwaren überhaupt giebt d’Arcet an: 82 Kupfer, 18 Zink, 3 Zinn und 11/2 Blei. Der alte Gladenbeck nahm früher Kupfer 89,55, Zink 7,46, Zinn 2,99.
Ist der Zapfen aus dem Ofen gestoßen, so bricht das flüssige, weißglühende Metall wie eine feurige Schlange hervor und nimmt seinen Weg durch einen Kanal zu dem über der Form befindlichen Becken. Noch sind die Oeffnungen der Zuflußkanäle geschlossen, da tönt das Kommando des Meisters: „Die Birne auf!“ – und lautlos stürzt die glühende Lava in die Tiefe der Form. Aus den Windpfeifen aber rauscht es auf, und im nächsten Augenblick schießen lange blaue Feuersäulen aus ihrem Munde. Noch immer rollt neues Metall nach dem Kessel und immer verschwindet es wieder, endlich bleibt es stehen, sein Spiegel erhebt sich, die Form ist voll und der Guß ist vollendet. Auf unserm oberen Bilde auf S. 365 sieht man nicht den großen Flammofen in Thätigkeit. Das Metall ist in Graphittiegeln geschmolzen worden, und jetzt sind die Arbeiter beschäftigt, aus einem solchen Tiegel, den sie mittels einer großen eisernen Stange handhaben, die flüssige Bronze in die Zuflußkanäle der eingedämmten Form einzugießen.
Etwa zwei bis drei Tage nach dem Guß hebt man die Form aus der Dammgrube heraus. Die Form selbst wird zerschlagen und der Guß durch Absägen der erkalteten Zuflußkanäle sowie durch Beizen mit Säuren und Ciselieren hergerichtet. Das untenstehende Bild führt uns in die Ciselierwerkstatt. Hier ist man gerade dabei, die Kolossalstatue Kaiser Maximilians, des „letzten [367] Ritters“, welche für das Vestibül des Reichstagshauses bestimmt ist, fertig zu stellen. Die reich geschmückte Rüstung in all ihren Feinheiten wiederzugeben, ist der Guß doch nicht imstande. Da muß denn mit Meißel, Feile und Grabstichel nachgeholfen werden. Im allgemeinen aber lieben die Bildhauer von heute diese Nacharbeit des Ciseleurs nicht. Sie haben den Wunsch, den Guß möglichst getreu nach dem Original unverändert zu erhalten.
Die einzelnen Gußstücke, wie man sie auf unserem zuletzt erwähnten Bilde sieht, müssen natürlich genau aufeinander passen. Später werden sie so fest zusammengenietet, daß schließlich auch das schärfste Auge von einer Naht nichts mehr erkennen kann. Dann ist endlich das ganze Kunstwerk fertig, dem Meister zum Lobe, dem Beschauer zur Freude.
Die großen Schwierigkeiten, die mit der Bildgießerei verbunden sind, erklären es zur Genüge, warum der Preis der Bronzen verhältnismäßig hoch ist. Für den „Hausgebrauch“ ist deshalb eine Erfindung mit Freuden zu begrüßen, welche den Besitz geschmackvoller Gebilde der Plastik, wenn auch nicht der Allgemeinheit, so doch einem größeren Kreise ermöglicht: die Erzeugnisse aus galvanisch bronziertem Zinkguß sind heute mit dem Auge von denen aus Bronze kaum noch zu unterscheiden. Dadurch, daß es ferner gelungen ist, ein Verfahren zu erfinden, durch welches man große Originalstücke auf rein mechanischem Wege beliebig verkleinern kann, sind die Denkmäler aller Zeiten zum Zimmerschmuck geworden. Für monumentale Zwecke aber wird die Bronze nach wie vor der einzige ernste Konkurrent des Marmors bleiben.
Das deutsche Blindenheim Tsau-kwong in China.
An bestimmten Tagen des Jahres begeben sich die Chinesen in feierlichen Aufzügen zu den Gräbern ihrer Ahnen. Dort beten sie und bringen Opfer dar. Allerlei Hausgeräte und Kleider aus Papier, eigens für diesen Zweck angefertigtes Papiergeld, Früchte, Thee und Reis werden verbrannt, und während der Opferrauch mit dem Winde emporsteigt, glauben die Heiden, daß die Seelen der Verstorbenen im Jenseits in den Besitz aller der Dinge, die symbolisch verbrannt werden, gelangen. Ein naiver Aberglaube, aber er hat seine dunklen Schattenseiten. Das Opfer ist nach der Meinung des Volkes nur dann wirksam, wenn es von einem männlichen Nachkommen dargebracht wird. Seelen derjenigen, die ohne Söhne gestorben oder deren Geschlechter erloschen sind, gelangen nicht in den Besitz der ihnen so nötigen Dinge. Sie leiden im Jenseits bittere Not, hungernd und bettelnd treiben sie sich herum und rächen sich dafür an den lebenden Menschen, indem sie über diese allerlei Unheil verhängen.
Dieser heidnische Glauben ist eine der wichtigsten Ursachen des Elends, unter dem so viele junge Mädchen in China seufzen. Der Chinese wünscht sich Knaben zu Nachkommen, und werden sie ihm versagt und dafür Töchter geboren, so verfolgt er diese mit seinem Haß. So kommt es, daß in China zahllose Mädchen gleich nach ihrer Geburt getötet oder ausgesetzt werden, um elend umzukommen oder in Sklaverei zu geraten.
Die christlichen Missionäre haben sich frühzeitig dieser herzlos verstoßenen Kinder angenommen. In Deutschland wurde bereits im Jahre 1850 eine Frauenmission in China und die Gründung eines Findelhauses in Hongkong angeregt. Die junge Gattin des Missionärs Neumann unterzog sich dieser schwierigen Aufgabe. Die Mission blühte auf, und im Jahre 1861 konnten die Schwestern in ein eigenes Haus einziehen, dem sie den Namen „Bethesda“, d. h. Gnadenhaus, gaben. In dieser Anstalt werden die von ihren Eltern verleugneten Töchter zu nützlichen Gliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen, zu Lehrerinnen für Missionsanstalten ausgebildet oder, wenn es ihr Wunsch ist, in ihrem 18. bis 20. Lebensjahre an christliche Chinesen verheiratet. Mitten in ihrer menschenfreundlichen Thätigkeit fanden die Missionäre und Schwestern Gelegenheit, noch ein anderes Elend kennenzulernen, dem ein Teil der unglücklichsten Töchter des Reiches der Mitte ausgesetzt ist.
In China giebt es sehr viele Blinde. Mangelhafte Gesundheitspflege, Unreinlichkeit und Unwissenheit der chinesischen „Aerzte“ sind schuld daran, daß dort so viele Menschen schon in frühester Kindheit das Augenlicht einbüßen. Das Los der Blinden ist überall schwer, aber grausam gestaltet sich das Dasein der blinden Mädchen in China. Für die erblindeten Männer wird noch in gewisser Hinsicht gesorgt; für sie werden von der Regierung Unterkunftshäuser errichtet; der blinde Mann schlägt sich auch sonst durch das Leben als Bettler oder als Wahrsager, denn blinde Wahrsager werden in diesem abergläubischen Lande besonders hoch geschätzt. Wehe aber dem erblindeten Mädchen! Zahllose Familien suchen sich der unnützen Wesen, die weder zur Heirat noch zur Arbeit taugen, zu entledigen. Vermögende Familien schicken ihre erblindeten Töchter in Nonnenklöster, ärmere aber pflegen sie an sogenannte Sklavenhälterinnen zu verkaufen. Diese Megären erziehen ihre Opfer zu öffentlichen Sängerinnen und zwingen sie mit unerbittlicher Härte zu lasterhaftem Lebenswandel. – Für diese beklagenswerten Blinden trat Schwester Luise Cooper aus Hildesheim mit besonderer Wärme ein. Sie hatte an der Findlingsmission in Hongkong gewirkt, mußte aber wegen gebrochener Gesundheit im Jahre 1886 nach Deutschland zurückkehren. Hier setzte sie ihre Kräfte ein, um die Gründung eines Asyls für blinde Chinesenmädchen zu ermöglichen. In einer Schrift „Aus der deutschen Mission unter dem weiblichen Geschlechte in China“, deren Ertrag zum Besten der blinden Chinesinnen bestimmt ist und die bereits in dritter erweiterter Auflage (Darmstadt, C. F. Wintersche Buchdruckerei) vorliegt, schilderte sie klar und ergreifend die traurige Lage ihrer Mitschwestern; im Jahre 1890 rief sie in Hildesheim den ersten „Frauen- und Jungfrauenverein für China“ ins Leben und gab den Anstoß zu einer Bewegung, [368] die schließlich darin gipfelte, daß in Hongkong ein deutsches Blindenheim für chinesische Mädchen errichtet wurde.
Zur Leiterin desselben wurde die Johanniterschwester Martha Postler aus Schwanebeck erwählt. Sie war durch einen kurzen Aufenthalt in einer deutschen Blindenanstalt einigermaßen auf ihren Beruf vorbereitet und reiste am 4. Oktober 1896 von Hildesheim ab, um zuerst als Pensionärin in dem Findelhause Bethesda die chinesische Volkssprache zu erlernen und sich in die dortigen Sitten einzuleben.
Am 15. September 1897 zog Schwester Martha in das neue Blindenheim ein, das den Namen Tsau-kwong, d. h. „Kommet zum Licht“ erhielt. Das schöngelegene Haus, das unsere Abbildung auf S. 367 wiedergiebt, wurde für 77 Mark monatlich gemietet. Es besteht aus vier Räumen; dazu gehört noch ein Nebengebäude mit guten Chinesenwohnungen, Küche u. dergl. und ein Stück Gartenland mit einem Spielplatz für die Kinder.
Schwester Martha hat gegenwärtig sieben blinde Mädchen bei sich. Das Bestreben der Mission geht dahin, die blinden Mädchen nicht nur zu verpflegen, sondern auch zur Arbeit zu erziehen, daß sie im Schutze der Anstalt später ihren Lebensunterhalt sich selbst verdienen können. Wer würde nicht den opferfreudigen Schwestern im fernen Ostasien Glück bei ihrem edlen Werke von Herzen wünschen? Möge auch Tsau-kwong blühen und gedeihen und immerdar dem deutschen Namen jenseit der Meere zur Ehre gereichen! E. P.
Der kleine Lauscher.
Himmel, durch so eine Ritze im Zaun,
Da kann man ja schöne Geschichten schaun!
Was könnt’ ich nicht alles zusammenschreiben
Ueber der Menschen Thun und Treiben!
Ach Gott und ich wüßte noch hundertmal mehr,
Wenn ich nicht gar so ein Kleinchen wär’!
Es ist zum Weinen: doch dann und wann
Hab’ ich die Ritze und reich’ nicht heran!
Seht selbst: wo bliebe denn heut’ mein Kopf,
Hätt’ ich nicht Bauer und Blumentopf?
Die Menschen – die Menschen! Ich sag’ es ja!
Mit rotem Kopfe sitzen sie da,
Reden nicht, singen nicht – ’s ist kurios,
Und das Mädel hat lauter Blumen im Schoß!
Was sollen denn nur die Blumen dabei?
Sie sind auch gar zu schüchtern, die zwei!
Man kann sich wirklich zu Schanden grämen:
Wenn die beiden doch endlich mal weiterkämen!
Potztausend, was seh ich? – Da bin ich gespannt!
Er nennt ihren Namen – er faßt ihre Hand?
Ueber und über erglüht ihr Gesicht,
Aber sich wehren – das thut sie nicht!
Und wie er nun selig die Hand ihr drückt,
Und wie er nun näher und näher rückt –
Es scheint, nun ward er sich wirklich schlüssig,
Da bin ich am Ende ganz überflüssig!
Nun wird es verdächtig – der erste Kuß – ?
Runter, mein Junge! Für heute Schluß!
Denn mag der erste ein Wagnis sein:
Die folgenden küssen sie von allein!
Fritz Döring.
Antons Erben.
(11. Fortsetzung.)
Anton kommt von Altwitz zurück, sehr bleich und still. Der Graf hat ihm mit aller möglichen Schonung eine Geschichte erzählt, wie sie in Monte Carlo wohl häufig vorkommen mag, die aber diejenigen, die daran beteiligt sind, bis zur Verzweiflung treiben kann. Soviel der Graf weiß, ist Frau Mohrmann, von Aegypten kommend, anfänglich in Gesellschaft eines mecklenburgischen Ehepaares gewesen und hat sich mit diesem an den Karnevalsfreuden in Nizza beteiligt in durchaus tadelloser Weise. Sie hatte im „Hotel d’Angleterre“ gewohnt mit ihrer Jungfer, und alle Welt hat – das weiß der Graf mit Bestimmtheit – es ganz natürlich gefunden, daß sie in Mentone Winteraufenthalt nahm, weil sie zeitweise von einer leichten Heiserkeit befallen wurde, die sie scherzhaft eine ägyptische Errungenschaft zu nennen pflegte, die aber jedenfalls älteren Datums ist. In diesem Hotel sei sie nach der Abreise von Herrn und Frau Mardeveld mit einer Madame Alexajewna Alabotschew und deren Sohn bekannt geworden; Madame habe über die tadellosesten Manieren und die prachtvollsten Brillanten verfügt, und Sergei Alabotschew sei ein stets liebenswürdiger und ehrerbietiger Kavalier gewesen. Die russischen Herrschaften schienen an ein splendides Leben gewöhnt zu sein und Frau Mohrmann habe mit ihnen auch in dieser Hinsicht gut harmoniert. Sie sei zwar reichlich mit Kasse versehen gewesen, sei einmal aber doch in Verlegenheit gekommen, als sie lebhaft wünschte, eine kleine Brillantnadel zu kaufen, die sie bei Gelegenheit einer Promenade in einem Schaufenster erblickte. Sergei Alabotschew, der bemerkte, wie Frau Mohrmann nach ihrer Börse suchte, habe ihr ebenso dringend wie liebenswürdig die seinige zur Verfügung gestellt, was nach einigen üblichen Phrasen auch angenommen wurde, und schließlich habe Sergei den scherzhaften Vorschlag gemacht, Frau Mohrmann solle versuchen, dieses geborgte Geld an der Bank wieder zu gewinnen, und sie habe zu diesem Zweck ein paar weitere Goldstücke von ihm entliehen. Frau Mohrmann, die schon des öfteren unter Mardevelds Leitung sehr vorsichtig spielte, habe eingewilligt, und man sei augenblicklich nach Monte Carlo gefahren.
„Sehen Sie, Mohrmann, wie’s so geht,“ hat der Graf weiter gesprochen, „wen der Teufel am Kragen kriegt, den hält er fest. Sie gewann, gewann sogar in den nächsten Tagen viel, um dann noch mehr zu verlieren. Na, man kennt das ja! Sie holte sich alles Geld, welches auf ihren Kreditbrief zu erheben war, verlor auch dies und saß dort mit der Aussicht, vor April kein Geld wieder zu bekommen, oder vielmehr, sie genierte sich, Ihnen mitzuteilen, wie es stand. Madame Alabotschew lachte sie aus, drängte ihr Geld auf, Frau Edith giebt natürlich einen Schuldschein, das heißt, sie unterschreibt Lebens- und Sterbenswegen irgend etwas, das näher zu prüfen ihr die Rücksicht auf die elegante Darleiherin verbietet. Sie bekommt nochmals ein Darlehen und unterschreibt wieder. Madame scherzt ihre Bedenken hinweg, unter Leuten aus der Gesellschaft sei das eben nichts als eine Form, und Frau Edith lacht auch. Eines Morgens aber kommt Madame sehr verlegen zu ihr und bittet sie mit tausend Entschuldigungen um das Geld, sie müsse plötzlich abreisen. Natürlich ist Frau Edith außer sich. Madame verlangt, sie solle telegraphieren an monsieur son mari. Frau Mohrmann erklärt, sie könne es nicht aus verschiedenen Gründen. Madame wird eisig und sagt, sie werde ihren Sohn schicken. Herr Sergei Alabotschew erscheint, ist anfangs sehr höflich, wird dann dringend und macht ihr schließlich – arme kleine Person – einen Vorschlag, den sie mit einer Ohrfeige beantwortet; er droht mit der Polizei und nun – Verderben gehe deinen Gang!
Frau Edith flüchtet mit Zurücklassung ihrer Kammerjungfer, ihrer Sachen, natürlich ungenügend gegen die eisige Tramontana geschützt, die sie bei dem atemlosen Lauf nach dem Bahnhofe [369] überfällt; kommt todkrank in Genua an, kann andern Tages nicht mehr das Bett verlassen und wird schließlich von Madame Alabotschew und Sohn vermittelst der Polizei aufgefunden. Zum Glück ist sie bewußtlos, zum Glück sind wir zufällig dort und gebrauchen zufällig denselben Arzt, den das Hotel requiriert hatte für die Kranke. Sie wissen das ja von meiner Frau. Ich konnte sie einer Besprechung mit der Behörde nicht entziehen, als sie zur Besinnung gekommen war. Das andere glaube ich in Ihrem Sinne – zu Ende geführt zu haben. Zu machen war nichts, das gemeine Volk war in seinem Rechte.“
„Wieviel, Herr Graf?“ hat Anton gefragt, nachdem er einen Dank gestammelt.
„Lieber Mohrmann –“ – der Graf ist ganz verlegen – „ich weiß, die Zeiten sind schlecht, für keinen schlechter als für Sie, der Sie ja den größten Wasserschaden von uns allen hatten. Sie wissen – ich – wenn’s Sie irgendwie geniert – ich brauch’s nicht so notwendig. – – Es ist immerhin – die kleine thörichte Frau – – aber so geht’s, die Sünden der Väter – – der alte Lothar Wartau war ja die tollste Spielratte, die Gottes Erdboden je getragen, und wenn so ein Geschöpfchen allein auf der Reise – – Ich bitte Sie, verzeihen Sie, ich kenne die Gründe nicht – ein Erziehungsinstitut wäre jedenfalls geeigneter gewesen – wie gesagt, lieber Mohrmann – ich –“
„Wieviel, Herr Graf?“ hat er noch einmal gefragt.
„Eh! bitte, erschrecken Sie nicht – fünfzigtausend Franken – ich bin überzeugt, sie hat kaum die Hälfte – –“
„Fünfzigtausend Franken!“
Anton hat kurz aufgelacht. „Ich danke Ihnen, Herr Graf, die Summe wird Ihnen übermorgen zur Verfügung stehen. Was Sie sonst noch gethan haben, das zu vergelten bin ich vorläufig nicht imstande, werde es Ihnen aber nie, nie vergessen, Ihnen und der hochverehrten Frau Gräfin nicht.“ Dann ist er wieder aufs Pferd gestiegen und heimgeritten. Fünfzigtausend Franken! Es geht rasch bergab – fünfzigtausend Franken! Weiter kann er nichts mehr denken. Und wieder packt ihn der Ekel, der Ekel vor seinem ganzen Leben, vor der leichtsinnigen, sterbenden Frau, vor sich selbst und vor seiner ganzen Umgebung.
Und daheim tritt ihm der Arzt entgegen, der alte wackere Freund von damals, nicht Ediths feiner Sanitätsrat, den sie sich sonst dreimal die Woche aus Leipzig kommen ließ, wenn ihr ein Fingerchen wehthat. Es hätte zu lange gedauert, bevor er eintreffen konnte, und Fräulein Tonette hat zufällig den Landarzt drüben bei Heines vorfahren sehen, wo ein Mädchen krank liegt. Und dieser sonst so polternde, derbe Mann bringt heute kein Wort heraus, als er dem Hausherrn die Rechte schüttelt.
„Na,“ sagt er zwischen vielem Räuspern, „wird ja wieder werden, aber Ruhe, Ruhe, viel Ruhe vorerst, später wollen wir sehen – vielleicht viel Nervöses dabei. Uebrigens, die Mutter hatte es auch, darum die Heulerei der alten Damen. Komme morgen früh wieder; gute Nacht, Mohrmann.“
Er kann nicht weiter sprechen und klopft nur dem großen Manne wie beruhigend auf die Schulter. „Sehen auch schlecht aus – nehmen Sie ein Phenacetinpulver, wenn Sie Kopfweh haben, und – wachen Sie nicht etwa bei ihr, es thut ihr und Ihnen nicht gut. Guten Abend noch einmal!“
Und drüben bei Frau Heine setzt sich der Arzt schwer in den Lehnftuhl des Hausherrn, die Hände auf den Stock gestützt, den er zwischen den Knieen hält. Die kleine Frau ist furchtbar aufgeregt und bestürmt den alten Herrn mit Fragen.
„Ist’s wahr, daß sie zurückgekommen ist? Herrgott, sie wollte sich, denke ich, nun endlich scheiden lassen? Wenigstens hofften wir es immer, damit nur Ruhe würde drüben. Nein, ist’s denn nur wirklich wahr, Herr Doktor – und krank dazu?“
Er nickt. „Unser Herrgott findet allemal einen Ausweg,“ sagt er vor sich hin.
„Was meinen Sie?“ erkundigt sich Frau Heine.
Und der alte Mann trinkt den Korn aus, den ihm die junge Frau gebracht hat, schüttelt sich gebührendermaßen dabei und steht auf. „Da braucht’s kein irdisches Gericht mehr, Frau Heine. Ist mein Wägelchen vorgefahren? Na, dann gute Nacht, und grüßen Sie Ihren Mann.“
Anton sitzt die halbe Nacht auf mit seinem Inspektor, und in aller Morgenfrühe rüstet sich dieser schon zu einer Reise und schimpft dabei immer halblaut vor sich hin.
„Natürlich ist’s wahr, daß alles Elend durch die Weiber in die Welt kommt! Herrgott, und so was, so was – wie dies wohl endet? Und drei Kinder dazu!“
Als sein neugieriges Frauchen ihn bittet, ihr doch um Gottes willen zu verraten, was denn außer der Krankheit noch geschehen sei, faßt er sie am Ohrläppchen und sagt: „Uebers Jahr sitzen wir wo anders – verstehst du? Uebers Jahr, da sind wir so weit.“
„Versteh dich nicht!“ antwortet sie mit ängstlichen Augen.
„Lieschen,“ spricht er, ihr Ohrläppchen frei gebend und den Arm um sie schlingend, „es ist auch nicht nötig, daß du es verstehst, wirst schon früh genug dahinter kommen. Aber das sage ich dir, der Mohrmann kann einen jammern bis in die Seele ’rein; was zu viel ist, ist zu viel! Und nun leb’ wohl, bist ein gutes Tierchen. Der barmherzige Gott bewahre meinen ärgsten Feind vor einem leichtsinnigen Weibe!“
Mit dieser orakelhaften Auslassung nimmt er seufzend Abschied und seine Frau blickt ihm kopfschüttelnd nach. Natürlich ist irgendwo irgendwas passiert mit der Gnädigen drüben – unterwegs; er hätt’s ihr doch sagen können? Nun sitzt sie da und vergeht vor Neugier.
Im Schlosse ist, sozusagen, das unterste zu oberst gekehrt. Tante Tonette und so viel andere Hände, wie aufzutreiben waren, wirtschaften einher, um der Kranken Erleichterung zu schaffen. Man hat den riesigen Saal geheizt und die halbe Orangerie aus dem Gewächshaus hinausgeschafft; die Aermste hat solch schrecklichen Lufthunger. Sie ruht halb sitzend im Bette, und ihre Hände zerren das spitzenbesetzte Nachtjäckchen von der armen kranken Brust, als drücke es dieselbe. Sie hat eine Angst vor dem Sterben, nicht zu sagen.
Die Poldi ist heute früh eingetroffen mit sämtlichen Sachen, die Edith unterwegs eingekauft hat, mit drei oder vier häuserhohen [370] Koffern, die Ediths Garderobe enthalten, und mit der quittierten Hotelrechnung, die Graf Altwitz noch bezahlt hat. Poldi ist auch auf seine Kosten hergereist. Tonette nimmt die Rechnung in Empfang und legt sie auf Mohrmanns Schreibtisch; auch dieses Geld muß bald zurückerstattet werden. Noch einen Blick auf die Schlußsumme wirft Tante Tonette, ehe sie Antons Zimmer verläßt – die Höhe des Betrags treibt ihr das Blut in die Wangen und sie sagt droben zu Poldi: „Das muß ja ein grauenhaft teures Hotel gewesen sein, das sind ja Unsummen!“
„Euer Gnaden, dös ist halt, weil gnä Frau alleweil die Leuteln zun Ess’n eing’lad’n hat.“
„Wär’ ich nur bei ihr geblieben!“ seufzt Tonette.
„Ach, an Gesellschaft hat’s nit gefehlt,“ meint die lustige Österreicherin, „die gnä Frau hat gar viel Bewunderer gehabt. Das arme Tschapperl, der Offizier von Berlin, hat absolut wollen, sie sollt’ sich wegen seiner scheiden lassen.“
Tante Tonette hört ganz erstarrt zu.
„Und nun so krank“ – fährt Poldi fort. „Du mei – so auf amal, wie ’ra Blitz is’s gekomme! Und ich mein’, zuerst hab’ i’s gemerkt, wie der Herr Hauptmann von Röben so plötzlich abg’reist ist. I glaub’ –“
Tante Tonette richtet sich hoch auf. „Sie haben gar nichts zu glauben, meine Liebe,“ sagt sie, „und ich bitte mir aus, daß Sie hier im Hause möglichst wenig von dem erzählen, was Sie ‚glauben‘, sonst ist’s besser – Sie gehen.“
„O mei! Euer Gnaden! I bitt’ schön, i red’ kan anzig’s Wörtel!“ stammelt das hübsche Mädchen, und als die alte Dame den Rücken gewendet hat, da murmelt sie: „Und wahr i’s doch, daß meine Dame bis über die Ohren verliebt war in den blonden Herrn. Du mei! I thu ihm’s nit verdenken, wann er endlich an Zorn kriegt, wann er merkt, daß sie ihn an der Nasen spazieren g’führt hat und gar nit g’dacht hat ans Ernst machen. – Was die thät mit so an armen Schlucker, sie, die selber so a Schloß hat. O du mein! Wär’ sie nur gesund, hier könnt’ mir’s schon gefallen.“
„Daß nur Anton nichts erfährt von dieser Geschichte,“ denkt Tonette und ahnt nicht, daß ihn dies kaum noch berühren würde.
Er geht ruhelos auf den Feldern umher, er kommt am liebsten gar nicht mehr ins Schloß während der nun folgenden Zeit. Tonette zerrt ihn täglich einmal nach dem Krankenzimmer; aus eigenem Antrieb es zu betreten, fällt ihm nicht ein. Wie hat er sonst so gern an ihrem Bette gesessen, ein liebevoller geduldiger Pfleger – damals, als die Kinder geboren waren! Jetzt kommt ihm alles unheilig, entweiht vor. Er hat wohl Mitleid mit ihr, aber er ist so weit entfernt von dem, was sein Herz bewegen sollte in dem Kranken– – wahrscheinlich in dem Sterbezimmer seiner Frau. Er erfüllt jeden ihrer Wünsche, selbst die weitestgehenden, wunderlichsten. Als sie aber mit ihrer verlöschenden Stimme fragt: „Du hast mir noch nicht verziehen?“ vermag er kaum zu antworten. Es ist ihm, als müsse er ersticken in dem riesigen Saal, in dem die verschiedensten Ruhelager für sie hergerichtet sind. Hier eines unter Palmen, dort nahe dem Kamin ein anderes, von einer spanischen Wand umgeben; am Fenster eine Chaiselongue und an der Wand das spitzenduftige Bett. Was zu beschaffen ist an erlaubten Leckereien wird ihr gebracht, Austern, Früchte, seltene kräftigende Weine. Und Poldi hat ihre schöne Herrin in duftiges spitzenbesetztes Weiß gehüllt, und die Augen haben noch nie so geglänzt, nie ist der Teint so weiß, so durchsichtig gewesen.
Sie schläft viel am Tage, nur die Nächte sind schlimm, wo der Husten sie peinigt, und dann redet sie irre und verlangt nach Anton, aber Tonette ruft ihn nicht.
Warum soll er hören, was sie spricht? Er darf es nicht hören.
Draußen ist der April gekommen und die Apfelbäume blühen wie seit Jahren nicht. Die Stimme Lothars schallt herauf aus dem Garten bis in Ediths Krankensaal, wo die ersten Veilchen duften. Sie hat sich während der letzten Tage sehr verändert, das Gesicht ist spitz geworden, die Augen sind unnatürlich groß. Sie hat nur noch einen Wunsch, sie will reisen. Tante Tonette verspricht es ihr: „Sowie du ein wenig kräftiger bist, Edith.“
„Hier erhole ich mich nicht, Tante.“ – Sie hat keine Ahnung, daß sie bald sterben muß: sie ist voller Hoffnung, voll brennender Sehnsucht nach dem Leben draußen. In Soden wird sie den dummen Husten sicher bald los, meint sie, nur von Wartau fort, von hier fort!
„Ja,“ sagt Tonette, „sobald es irgend geht.“
„Die Poldi kann immerhin schreiben an Worth.“ Seit sie Pariser Toiletten getragen, mag Edith keine andern mehr. „Dieses oder jenes Kleid ist für Soden noch modern genug, man ist in Paris gut um zwei Jahre Deutschland voraus.“
„Poldi wird schreiben, heute noch.“
„Anton soll kommen,“ fordert die Kranke dann.
Tante Tonette klopft unten an seine Thür; als sie eintritt, findet sie ihn im Gespräch mit einem Herrn, der ihr als Direktor Buchenberg vorgestellt wird. Anton bittet diesen um Entschuldigung und geht mit Tonette hinauf nach dem Krankenzimmer.
„Du mußt verzeihen, Edith,“ sagt er ein wenig aufgeregt, „lange Zeit habe ich nicht – Buchenberg ist unten; in zwei Stunden reist er wieder ab; es betrifft wichtige geschäftliche Sachen. Was wünschest du? Kann ich irgend etwas – –“
Sie hat nach seiner Hand gegriffen, es liegt ein Ausdruck trostloser Angst in ihren Augen. „Fort! Ich will fort – ich ersticke hier!“ flüstert sie.
Er sieht nieder auf das, was von der einst so reizenden, so heiß begehrten Frau noch geblieben ist, auf das abgezehrte mit dem gewaltigen Leiden ringende Geschöpf und setzt sich, von einer plötzlichen Ahnung erfaßt, auf den Rand ihres Bettes. „Sobald es geht, Edith.“
„Bringe mich hin – nach Soden –,“ stößt sie hervor, „morgen, bitte, morgen!“
„Ja, wenn du es wünschest.“
Es ist, als ob sie ruhiger wird. „Du bist sehr gut,“ sagt sie leise, kaum vernehmbar, indem der Kopf zurückfällt. Ein paarmal ringt sie heftig nach Atem; er stützt sie, hält sie in den Armen, und während dieser bangen Minuten sinkt ihr Kopf gegen seine Brust wie der eines müden Kindes. Ein unverständlicher Laut kommt noch einmal und nun ist es still, ganz still. Durchs Fenster fliegt ein kleiner Vogel, kreist ein paarmal unter dem Deckengemälde und sucht dann wieder das Freie, wie erschreckt vor der unheimlichen Nähe des Todes.
Aus dem Garten drunten jubelt noch immer Lothars Stimme und Blütenduft umschmeichelt das wachsbleiche schöne Gesicht, das der große Mann mit dem leicht ergrauten Haar eben vorsichtig wieder in die Kissen zurückgelegt hat. Nun steht er vor der Toten mit schlaff herunterhängenden Armen und starrt sie an. Ein tiefer Seufzer hebt seine Brust, sein Auge bleibt trocken.
Wie Tante Tonette ahnungslos ins Zimmer tritt, kann er nur eine Handbewegung nach der Entschlafenen machen, zu sprechen vermag er nicht, und als sie lautweinend vor dem Bett niederstürzt, geht er hinaus, die Treppe hinunter, in den Garten, nimmt seinen Jungen auf den Arm und trägt ihn in die Laube, in die sprossende Buchenlaube am Ende des Parkes. Er hat nur stumme heiße Liebkosungen für das Kind, als wolle er ihm irgend etwas abbitten. Der Kleine sieht ihn erschreckt an und fängt an zu weinen; Anton nimmt ihn wieder empor und geht ins Schloß, in sein Zimmer, wo Direktor Buchenberg in größter Unruhe sitzt und auf ihn wartet.
„Seine Mutter ist eben gestorben,“ sagt Anton, den dunklen Lockenkopf des Jungen an sich pressend, „verzeih’ nur, Buchenberg, wenn ich nicht –“
„Aber, ich bitte dich, alter lieber Kerl, Herrgott, ich hatte ja keine Ahnung,“ stammelt fassungslos der Freund.
Anton hat ihm die Hand überlassen, nun entzieht er sie ihm und wehrt stumm und hastig ab, daß der andere betroffen schweigt. Erst als Anton ein paarmal, noch immer das Kind auf dem Arm, im Zimmer auf und ab gegangen ist, bleibt er wieder vor dem Direktor stehen.
„Siehst du, Buchenberg,“ beginnt er.
Doch der unterbricht ihn, noch immer ganz außer sich: „Und daß ich dir gerade heute solch unangenehme Nachricht ins Haus tragen muß, Anton – Herrgott, ich hatte ja keine Ahnung! Ich drücke mich natürlich sofort, ich denke, es wird sich schon noch ein paar Tage hinhalten lassen mit Sybel – wenn du wieder ruhiger bist, schreibe es mir nur, ich komme wieder, Anton.“ Und dabei schüttelt er immer und immer wieder die freie Hand des Freundes.
[371] „Ich bin ganz ruhig, Buchenberg, setze dich doch,“ erwidert Anton, „es ist ja auch nicht viel mehr zu reden, gar nicht viel – wenn’s wahr ist, was du sagst, dann ist’s ja soweit, dann geht’s bergab mit der Sache. Sybel hat recht, wenn er sich rückwärts konzentriert; ich möcht’s auch thun, wenn ich nur könnte, wenn ich nicht so tief drin säße. Ich muß es nun abwarten oder in Sybels Stelle einrücken, das heißt, ihm seine Rechte und die Prioritäten abkaufen. Und das kann ich nicht, kann ich nicht, selbst wenn ich wollte. Ich wüßte auch keine Seele mehr, die mir das Geld dazu borgt, noch dazu angesichts des Konkurrenzunternehmens, das ja riesenhaft wird. In Gottesnamen mag Sybel die Prioritäten verkaufen an wen er will, ich kann’s nicht aufhalten, ich nicht mehr!“
Direktor Buchenberg greift nach seinem Hut. „Na, dann leb’ wohl, Anton, ich meinte es nur gut.“
„Leb’ wohl! Ich weiß, daß du es gut meinst, aber wie du mich hier siehst, bin ich nichts mehr wie ein Bettler, und ob ich mich je wieder herausreißen werde – ich weiß es nicht. Leb’ wohl, Buchenberg!“
Buchenberg steht noch ein Weilchen und sieht sich den Mann an, der im Sofa sitzt neben seinem Kinde, dessen Lockenköpfchen er mechanisch streichelt. Er will ihm noch ein paar gute Worte sagen, aber es würgt ihm etwas in der Kehle. Unbeschreiblich leid thut ihm der große Mensch dort. Er weiß, daß jedes Wort wahr ist, das Mohrmann gesprochen hat, er sieht es ja auch, die nagenden Sorgen liegen zu deutlich ausgeprägt auf seinem Gesicht, sprechen aus dem rasch ergrauten Haar.
„Adieu, Anton!“ murmelt er noch einmal, dann geht er und trifft vor der Thür auf zwei weinende, in Schwarz gekleidete alte Damen, die beiden Fräulein v. Wartau, die mit Anton sprechen wollen wegen des Begräbnisses und der dazu gehörigen Feierlichkeiten. Anton hat ihren Eintritt beinahe überhört, er hält das Kind wieder auf seinen Knieen und rührt sich nicht, als die Tanten seiner verstorbenen Frau sich ihm nahen.
Wie Tonette von dem Trauergottesdienst anfängt und fragt, ob der Saal schwarz ausgeschlagen werden soll, erhebt er sich und geht zum Geldschrank.
„Hier ist alles, was ich noch habe,“ sagt er bitter und legt fünfhundert Mark hin, „ich wollte die Leute damit lohnen morgen, aber sie müssen warten. Nehmen Sie es und besorgen Sie alles im Sinne der Verstorbenen, Sie wissen wohl, wie sie es gern gehabt hätte.“
Verstört entfernt sich Tonette. Josepha aber kommt zu ihm und legt ihre zitternde Hand auf seine Schulter.
„Steht es so schlimm?“ fragt sie leise.
Er nickt, und mit einem kurzen nervösen Auflachen fügt er hinzu: „Sie starb zur rechten Zeit, Baronesse.“
Wieder einmal Herbst, Spätherbst! Zu Bärenwalde auf dem Rödershof sitzt die Frau in ihrer Stube vor dem Nähtisch und hält Ruhestunde während der Dämmerung. Sie ist heimgekommen von dem Felde vor ein paar Minuten, der Wind hat ihr die Backen rot gefärbt und um sie herum ist ein Hauch von Kälte und Frische, der ihren Kleidern entströmt. Neben ihr im Vogelbauer wiegt sich schläfrig der Kanarienvogel, im Ofen knistert das Feuer; Christel genießt die schönste Stunde ihres Tages.
Sie legt den Kopf an die Polster zurück und sinnt; es ist immer dasselbe. Als ob ein Frauenherz an etwas anderes denken kann als an das, was es einst so ganz ausgefüllt hat, und wäre ihm dies auch entrissen! Sie hat sich allmählich so an dieses „Erinnern“ gewöhnt, daß sie ungeduldig wird, wenn eine Störung kommt, und träten auch diejenigen ein, die ihr die liebsten Menschen sind. Sie denkt eben an Wartau, sie malt sich das Leben Antons aus und tröstet ihn, sie redet ihm zu, der Frau nicht mehr im Groll zu gedenken, sie streichelt die mutterlosen Kinder. Keine Spur von Bitterkeit blieb in Christels Seele, seitdem sie ihn wiedersah, so vergrämt und versorgt. Als sie den Tod Ediths erfuhr, weinte sie bitterlich; er hat sie ja doch sehr geliebt. Sie war ja zuletzt wieder in Wartau, und jedes Mißverständnis wird angesichts des drohenden Todes hinweggelöscht sein zwischen ihnen – er wird sie innig betrauern.
Mit keinem Menschen hat sie über den Todesfall gesprochen.
Schwester Louischen, die den Wendlandt heiratete, ist freilich an dem Tage, da Christel die Traueranzeige in der Zeitung las, mit dem Kinderwagen und dem Würmchen zu ihr gekommen, so um nichts und wieder nichts, und hat allerlei zu reden gehabt, erwartend, daß Christel etwas sage darüber, aber vergebens. Christel that ihre Arbeit wie immer und ihre geröteten Augen – die waren vom Rauch in der Küche; die Aprilsonne hätte gerade so mächtig auf die alte Esse gedrückt, daß der Rauch sich nicht hinauswagte in die blaugoldene Frühlingsluft und lieber in die Küche geflüchtet wäre.
Frau Louischen konnte in der Miene der Schwester kein einziges Zeichen gewahren, das irgend eine Hoffnung verriet. In ihrem Gehirn aber hatte die Todesnachricht gleich eine ganze Reihe von Möglichkeiten erstehen lassen, die ihr keinesweges sehr erfreulich waren. Herrgott – nein – das fehlte gerade noch jetzt, wo die Christel eben wieder zu etwas gekommen ist! Louischen, oder vielmehr ihr Kind, haben freilich nicht nötig, auf eine Erbtante zu rechnen, aber sie sieht auch anderseits gar nicht ein, warum man nicht an allerhand Möglichkeiten denken soll, denn gebrauchen kann der Mensch immer Geld. Jedenfalls hat sie seit dem Tode der Frau Mohrmann Nr. 2 ihre Schwester mit doppelter Aufmerksamkeit beobachtet.
Heute kommt Louischen wieder einmal in Begleitung des Kinderwagens und bricht in den Frieden von Christels schönster Stunde ein mit hochrotem Kopfe und fliegendem Atem. Der leichte Wagen wird rasch über die Stubenschwelle gestoßen und durch die tiefe Dämmerung schallt es geradezu triumphierend:
„N’ Abend! Na, was sagst du denn dazu, Christel? Ich hab’s ja immer behauptet, so muß es kommen!“
Christel ist emporgefahren. „Ums Himmels willen, Louise, was giebt’s denn? Ist was geschehen?“
„Brauchst kein Licht zu machen, ich kann den ganzen Salm auswendig und wenn du noch nichts weißt, werd’ ich’s erzählen. Siehst du, wenn du nur Lust hast, kannst du dir Wartau wieder kaufen. Die Herrlichkeit dort ist zu Ende!“
„Wartau? Mohrmann verkauft Wartau?“ stößt sie hervor. „Das ist nicht wahr!“
„Nun, Robert lügt doch sonst nicht, und der schreibt’s. – Er hat mit Wendlandt wegen des ‚kleinen Anto‘ zu korrespondieren gehabt, der Junge will ja, glaube ich, partout Oekonom werden anstatt zu studieren – wird sich wohl auf die Thronfolge im Rödershof einüben wollen.“
„Robert schreibt’s?“ fragt Christel tonlos, die gehässige Anspielung auf den Neffen überhörend.
„Jawohl, Robert schreibt’s!“ wiederholt Louischen und setzt sich neben den Kinderwagen, den sie unaufhörlich hin- und herschiebt, obgleich das Kind sich völlig ruhig verhält.
„Wie ist das möglich?“ fragt Christel, „was schreibt denn Robert darüber?“
„Na, das soll wohl gar ein Wunder sein? Im Hochmut ein Rittergut kaufen, dann Erben haben wollen dafür, die Frau, die alles mit erarbeitet und erschuftet hat, zum Teufel jagen, um eine Vornehme zu heiraten, die das mühsam Erworbene durchbringt mit Putzen, Reisen und Festegeben, und“ – jetzt lacht sie laut und höhnisch – „nun hat er die Erben, aber nichts mehr ihnen zu hinterlassen! So mußte es kommen, das habe ich ihm immer gegönnt, dem Wichtigthuer, dem Klugschnacker.“
Christel ist zurückgesunken in ihren Stuhl, sie rührt sich nicht; die Hände hat sie krampfhaft ineinander gefaltet, die Augen starren durch das Fenster in die beginnende Dunkelheit hinaus.
„Na ja, ich sagte schon zu Wendlandt vorhin,“ schallt Louischens Stimme wieder, „es rächt sich eben alles. Nun kann er wieder eine Inspektorstelle annehmen, und das wird auch nicht so eins zwei drei gehen; einem verkrachten Gutsbesitzer, dem traut doch keiner, denn wer sein Eigenes nicht verwalten konnte, wie wird der da mit fremdem Gute umgehen? Und dazu die Kinder auf dem Halse, drei Stück! Robert schreibt, es sei ein Jammer, der Mann thue ihm zu leid. – Unsinn! Mir thut er gar nicht leid, nicht im mindesten, er hat’s ja nicht anders gewollt. – Nun ist übermorgen der Termin, und die Heine hat Robert erzählt, sobald verkauft ist, ziehen die beiden alten Fräulein in ihr Stift – wo sollen sie denn auch hin? – und er sucht eine Stelle. Sie habe sich angeboten, vorläufig die Kinder [372] zu verpflegen, bis er ein Unterkommen gefunden hat, aber da kann die lange sitzen mit den Würmern.“
„So schlimm wird’s wohl nicht werden,“ bemerkt Christel jetzt ruhig, „Wartau hat seinen Wert und dann das Flußspatwerk –“
„Hat gefälligst auch Pleite gemacht, so gut wie Pleite!“
„Ist ja unmöglich!“ stößt Christel hervor.
„Lies doch die Zeitung! Die Aktien kriegst du für umsonst, die Engländer, die die neuen Werke bauen, haben sie so gedrückt; werden wohl kaufen jetzt, weiter wollen sie nichts. Die Gesellschaft hat ja doch die Dummheit begangen mit dem Bahnbau, und dabei sind sie alle geworden, da ist nichts mehr zu holen. Und wenn ein Gut sub hasta, oder wie sie das nennen, versteigert wird, na da –“
„Was? Subhastiert?“ schreit Christel entsetzt, „Wartau subhastiert?“
„Lies doch den Brief, da hast du ihn!“ antwortet Frau Wendlandt und wirft ein Papier auf den Tisch, „ich muß ohnehin hinüber, mein Mann kommt von der Stadt zurück. Siehst du, Christel, ich bin gewiß nicht schadenfroh, aber ich sage – –“
Das Rollen des Kinderwagens übertönt ein Aufschluchzen der gequälten Frau dort am Fenster.
„Na, Gute Nacht, Christel! Komme doch auch mal mit vor! Du thust so schrecklich vornehm, Wendlandt sagt es auch – na, schlaf wohl!“
„Gute Nacht,“ sagt Christel, kaum fähig, zu sprechen; ihr ist so wirr und wüst im Kopfe. Wartau subhastiert! Wie ist’s denn möglich, wie ist’s möglich! Sie durchlebt alles noch einmal – den Tag, an dem er kaufte. Wie war er stolz, der Mann, als er ihr verkündete „Wartau ist jetzt mein!“ Sie entsinnt sich aller Einzelheiten, ihrer bedrückten Stimmung, als habe sie geahnt, daß dieses Wartau ihr Glück vernichten werde. Sie erinnert sich, wie sie zu Pastors und zur Mutter gelaufen war, um dies Ereignis zu verkünden, erinnert sich, wie sie dann neben Anton in das Schloß übersiedelte, in dem sie ihn verlor, wo ihr Glück vernichtet wurde! Das schöne Geschöpf steht vor ihren Äugen, das ihn hinweg lockte von ihr, das sein Verderben wurde, das nun tot ist und nicht mehr zu erleben braucht, wie er als Bettler hinunter geht von Wartau. – Wie muß ihm zu Mute sein? Wie mag er es tragen? denkt sie, und was wird er anfangen?
Und sie springt empor und geht mit großen hastigen Schritten durch die Stube, als müsse sie die Thüre öffnen und geradeswegs aus dem Hause schreiten, unaufhaltsam bis nach Wartau. Dann steht sie und fühlt, daß ihr das Blut siedend in die Wangen steigt – sie ist ja geschieden von ihm! Was würde er denken, wenn sie jetzt käme und sagte: Gieb mir die Kinder – ich bin einsam und traurig, ich will sie erziehen und bewahren, bis du neuen Grund gefaßt hast? Würde er nicht glauben müssen, daß sie – –
Mutlos kehrt sie ins Zimmer zurück. Sie hat ja keinen, keinen Nebengedanken, nur die Sorgen will sie ihm erleichtern, aber – es geht nicht, es geht nicht! Tot würde sie sich schämen, könnte er glauben, sie wollte seine Liebe wieder.
Mit zitternden Fingern macht sie Licht. Sie muß sich zusammenraffen, muß stark sein; der Mann, die Kinder, sie sind ihr nichts mehr, dürfen ihr nichts mehr sein als fremd, ganz fremd.
Christel schleppt sich ein paar Tage weiter an ihrer erzwungenen Resignation, sie bringt es sogar fertig, zu Louischen zu sagen, mit ganz eigentümlich harter Stimme zu sagen: „Ja, lieber Gott, ich kann ihm doch nicht helfen?“ Worauf Louischen zu ihrem Gatten bemerkt: „Na, gottlob, sie ist vernünftig geworden! Ich hatte schon Angst, ihre Großmütigkeit würde uns einen neuen Streich spielen und sie sich die Kinder holen und eines Tages den Vater dazu. Zuzutrauen wär’s ihr; sie ist ja reinweg auf den Knieen vor ihm herumgerutscht, als sie noch seine Frau war.“
Nein, Christel ist ganz vernünftig, Christel arbeitet und spart und schafft; nur die Dämmerstunde fürchtet sie mit ihren Erinnerungen, aber sie macht sich dann draußen Arbeit.
Weihnacht zieht vorüber, der Sylvester und das Neujahr. Am Dache des Rödershofes hängen prachtvolle glitzernde Eiszapfen. Der „kleine Anto“ – der Gymnasiast führt noch immer diesen Namen – ist auf Ferienbesuch bei Christel gewesen; er will von der Schule abgehen und wirklich Landwirt werden. Der hat nun, veranlaßt durch Tante Louise, in Christels Gegenwart allerlei erzählt.
Wartau hat ein neugeadelter Herr von Salamonsky gekauft mit allem, was drin und dran, der ganzen Einrichtung, und doch hat das Geld kaum gereicht, Mohrmanns Verbindlichkeiten zu lösen. Uebrig geblieben sei natürlich nichts. Ohne die Kunstgegenstände, namentlich die alten fast unbezahlbaren Uhren, Gemälde etc., die gerichtlich immer hoch taxiert waren – Dresdner Sachverständige hatte man zugezogen – würde er noch mit Schulden vom Hofe gegangen sein. Der Herr von Salamonsky beabsichtigt, nur im Sommer acht Wochen lang in Wartau zu wohnen, sonst in Berlin, und die wertvollsten Gegenstände aus dem Schlosse werden nach seinem palastartigen Hause in Berlin geschafft. Heine ist noch Inspektor, aber lange will er nicht mehr dort bleiben, und der Baron hat die Bemerkung fallen lassen, die bisherige Lotterwirtschaft dürfe so nicht weiter gehen.
Lotterwirtschaft! Klein Anto ist förmlich empört: „Jeder Mensch weiß, daß Mohrmann Unglück hatte und dann – die verstorbene Frau!“
„Wo ist er denn jetzt?“ hat Frau Louischen gefragt.
„Ich weiß nicht, Tante,“ ist die Antwort gewesen. „Welche sagen, er sei in Ungarn, und andere, in Amerika.“
„Das muß doch Frau Heine wissen?“
„Ich habe sie nicht gefragt,“ entschuldigt sich Anto, „ich war ja aber auch nicht daheim seit dem Herbst.“
„Na, sind denn die Kinder bei ihm oder bei Heines?“
„Ich glaube, bei Heines, ich weiß es aber nicht genau. Der Vater könnt’s doch gewiß sagen, wenn Tante Louischen ihm darum schreiben will.“
„Na, mir ist’s egal,“ meint Frau Wendlandt, „und andern Leuten ja wohl auch,“ und dabei schielt sie zu Christel hinüber.
Die sitzt schweigend und näht. Sie sieht sehr blaß aus seit der letzten Zeit und hat oft rote Ränder um die Augen. Die Gegenwart der Schwester, die so ganz und gar nicht harmoniert mit ihr, ist eine wahre Qual für sie. Sie hat sich nicht gefreut, als Wendlandt um Louischen freite. Die Schwester ist ihr unsympathisch, das herbe, berechnende Wesen derselben beengt und beklemmt sie unsagbar.
Es giebt eben Menschen, die immerfort in die Verhältnisse ihrer Nächststehenden einzureden haben. Schlimm, wenn dieser Nächste eine alleinstehende Frau oder ein Mädchen, noch schlimmer, wenn sie arm ist, denn dann wird sie hier- und dorthin gestoßen, wird beständig vorwurfsvoll angesprochen und ihre Kräfte werden ausgenutzt wie die eines Lasttieres. Am allerschlimmsten aber ist’s, wenn die Unglückliche sich eines gewissen Wohlstandes erfreut; dann ist sie die Zielscheibe aller möglichen und unmöglichen Spekulationen, sie ist schlechterdings nur für die lieben erwartungsvollen Verwandten auf der Welt, die sie beobachten, ihr Thun und Lassen bekritteln, jeden Pfennig, den sie ausgiebt, bereden; kurz, eben weil sie allein steht, muß sie in den Augen dieser egoistischen, zum Teil sehr kleinlich denkenden Leute noch froh sein, daß ihre Kräfte, ihre Zeit, ihr Geldbeutel doch zu etwas gut sind, nämlich dazu, jenen das Leben zu versüßen. Und wehe ihr, wenn sie sich daran erinnert, daß auch sie eine Persönlichkeit ist, daß sie eigene Wünsche, eigenen Geschmack, eigenen Willen besitzt, dann fallen sie rücksichtslos über die Unglückliche her, die lieben Nächststehenden. Da ist sie dann verrückt, verschroben, unvernünftig! „Wir sind ja da, sie hat uns ja, was will sie denn eigentlich? Sie soll nur ihr Geld zusammensparen, denn wir haben Kinder! Diese Kinder zu lieben, dazu ist sie verpflichtet!“ Und diese Kinder sind darauf dressiert, eine Tante anzusehen als ein von Gott dazu erschaffenes Wesen, für sie zu sorgen und zu arbeiten, denn sie hat ja von Rechts wegen sonst niemand, für den sie schaffen darf, nicht einmal für sich selbst.
Louischen erbaut förmliche Romane auf Christels erarbeitetes kleines Vermögen und Louischen sagt ärgerlich zu dem jungen Anto: „Na, du kommst dir wohl gar schon vor wie der Majoratsherr hier? Da sind andere auch noch; mein kleiner Erich hat gerad’ dasselbe Recht wie du – daß du es weißt.“
Und der anständige Junge antwortet ganz empört, daß er
[373][374] mit keinem Gedanken bis jetzt an den Rödershof gedacht habe, und dreht ihr den Rücken zu.
Christel merkt das kaum, sie kann sich in solche Gesinnungen nicht hineindenken. Sie giebt so gern, es ist ihr so selbstverständlich, daß die Pastorskinder eine Hilfe an ihr haben; sie giebt, weil sie geben muß, es liegt so in ihr. Daß man schon an ein „Dereinst“ denkt, an die Zeit, wo sie ihre Augen zuthun wird, das ahnt sie nicht; sie fühlt sich so jung noch und so kräftig.
An einem recht windigen Abend zu Anfang des Februar kommt Louischen mal wieder an mit einem Briefe aus Wartau. Sie korrespondiert fleißig mit der Nichte, die des Pastors Haushalt jetzt führt; sie kann sich vor Neugier nicht lassen, sie muß doch wissen, wie es in Wartau steht, wo Mohrmann geblieben ist, und ob seine Kinder noch immer bei Heines sitzen. Nun bringt sie acht Seiten voll Neuigkeiten. Sie ist gleich nach dem Essen fortgelaufen und hat eine Magd mit der Wartung ihres Kleinen und den Vater mit der Oberaufsicht über die andern betraut.
Ihr Gesicht glüht ordentlich, als sie sagt: „Nu hör’ nur mal, Christel – nein, wie ich gelaufen bin – vorhin habe ich den Brief gekriegt, konnte ihn aber erst jetzt lesen. Die Heines sind ja schon vor vier Wochen Knall und Fall fort von Wartau und wohnen in Dresden. Er, der Grobian, hat sich mit dem jungen Herrn von Salamonsky erzürnt; na, das Maul konnte er nie halten, ich habe mich schon über ihn geärgert, als er noch Inspektor bei Mohrmann war – der reine Flegel!“
Christel sitzt bei der Lampe und bessert Wäsche aus. Sie hat zuerst erschreckt aufgehorcht, jetzt fliegt ein Lächeln um ihren Mund. Woher Louischens ungünstiges Urteil über Heine stammt, weiß sie. Die hatte ihre Netze mal sehr angelegentlich nach dem tüchtigen fleißigen Mann ausgeworfen, aber der „Grobian“ verstand nicht oder wollte nicht verstehen und holte sich seine kleine freundliche Frau aus einer anderen Gegend, das Gute, das so nahe lag, verschmähend.
Louischen hat vielleicht dieses flüchtige Lächeln gesehen und verstanden, denn sie zerrt mehrere Briefblätter so hastig und ärgerlich aus dem Umschlag, daß sie zerreißen, und sucht nach den Zeilen, die Heine an den Pastor richtet. „Na, von vorn brauche ich ja den ganzen Salm nicht zu lesen,“ beginnt sie, „das Interessante für dich kommt erst auf der zweiten Seite, hör’ bloß mal:
,– – Wir haben uns ja, wie oben gesagt, vorläufig hier eine kleine Wohnung gemietet, in der Vorstadt Striesen, und ich hoffe bestimmt, in nicht allzulanger Zeit wieder eine Thätigkeit zu finden. Meiner Frau macht die Pflege der Kinder ja auch viel Freude, aber – – Und nun kommt eine bange Frage, verehrter Herr Pastor –: hierorts herrscht augenblicklich eine heftige Scharlachepidemie, die schon manches Opfer gefordert hat unter den Kleinen. Seit drei Tagen ist der böse Gast auch in unser Haus eingekehrt; über uns im vierten Stock und drunten im Souterrain sind Kinder erkrankt an der unheimlichen Seuche, und manche haben sogar noch Diphtherie dabei. Meine Frau und ich, wir wissen vor Angst um unsere anvertrauten drei nicht was thun, und ich habe schon Mitteilung gemacht an die beiden alten Fräulein von Wartau, erhielt auch von Fräulein Josepha ein paar mit zitternder Hand geschriebene Zeilen des Inhalts, daß sie weiter nichts thun könne, als Gott zu bitten, die Kinder zu beschützen. Ihre arme Schwester habe – wohl vor Kummer und Herzeleid – vor kurzem ein schweres Nervenleiden bekommen, so, daß sie fast ganz gelähmt sei, und sie, Fräulein Josepha, wäre ebenfalls so schwach, daß sie nur mit Not und Mühe die Pflege der Kranken versehen könne. Eine andere Zuflucht für die Kleinen wisse sie nicht, denn Frau von Lattwitz sei ihrem nach Metz versetzten Gatten gefolgt, und wer solle die Kinder so weit hinbringen? Endlich, die Gräfin Altwitz sei in diesem Winter zu kränklich, so daß man nicht daran denken könne, sie mit den Kindern zu belästigen –
Nun dachten wir in unserer Angst, ob Sie, Herr Pastor, nicht aus christlicher Barmherzigkeit die Würmer eine Zeit lang hinnehmen möchten, bis wir über diese Epidemie hinaus sind? –“
Louischen hat das letzte mit erhobener Stimme gelesen. „Wie findest du das bloß?“ fragt sie, sich unterbrechend, „da soll Robert, oder vielmehr Klärchen, sich mit den Kindern des Mannes befassen, der solchen Jammer über dich und uns alle gebracht, der dich fortgejagt hat!“
„Das that er nicht!“ sagt Christel eigentümlich gepreßt, „ich bin von ihm gegangen.“
„Na, klaube nur nicht an dem Wort herum,“ antwortet Frau Louise scharf, „am Arm hat er dich freilich nicht genommen und dich über die Schwelle gestoßen, er hat dich aber moralisch ’nausgeworfen, und das ist nun mal ganz dasselbe.“
Christel schweigt, aber auf ihrem Gesichte wechseln Röte und Blässe, sie ist kaum fähig, weiter zu hören.
„So, nun kann ich aber das weitere sparen, das sind nur noch ein paar höfliche Redensarten, Komplimente und Bitten, um Robert einzufangen,“ setzt Louischen hinzu. „Ich will jetzt gleich mal die betreffende Stelle in Klärchens Briefe suchen, die von Roberts Antwort an Heine berichtet. Also höre:
‚Vater hätt’s mir gewiß gern erlaubt,‘ schreibt das junge Mädchen, ‚die Kinder für einige Zeit in Pflege zu nehmen, aber unsere Jüngsten sind gar nicht munter, und außerdem wurden in Wartau auch mehrere Diphtheritisfälle gemeldet. Sonst wäre der gute Vater gern bereit gewesen, das Liebeswerk zu thun – –‘“
Hier bricht die Vorlesende ab und sagt: „Na, das mußte er ja nun versichern, so’n paar Redensarten vom guten Werke, von christlicher Liebe, das gehört sich für einen Pastor; ich freue mich nur, daß Robert nicht darauf hereingefallen ist. Eine zu harmlose Idee von Heine! Mich wundert es aber doch, daß er sich nicht auch an dich gewendet hat.“
Christel schweigt und starrt an der Schwester vorüber, auf ihrem Gesicht liegt jetzt ein eigenes Leuchten. „Entschuldige einen Augenblick,“ bittet sie nach einem Weilchen, indem sie aufsteht. Sie geht zur Stubenthür, öffnet diese und ruft nach dem Knecht. Louischen hört den schweren Tritt des Mannes über die Steinfliesen der Flur kommen, und dann die Stimme Christels: „Karl, die Braunen vor den Kutschwagen; in einer halben Stunde fahren Sie mich nach der Station! Der Zug geht doch um neun Uhr nach Dresden?“
„Jawoll, um neun Uhr, Frau.“
„Na, dann sputen Sie sich, Karl!“
„Jawoll, Frau!“
Christel kommt zurück und geht an ihrer Schwester vorüber, ohne sie zu beachten, ins Schlafzimmer, dann kehrt sie zurück, öffnet den Schreibtisch, nimmt Geld heraus und verschließt den Schlüsselkorb. „Sei nicht böse, Louischen,“ sagt sie, „ich mach’ mich nur zurecht, ich reise.“
Frau Wendlandt ist aufgestanden und in ihrem scharf geschnittenen Gesicht spiegeln sich Erstaunen und heller Zorn über die Anstalten ihrer Schwester. „Du wärst, weiß Gott, so albern und holst dir die Wärgels,“ sagt sie auf gut Sächsisch.
„Hast du etwas dagegen einzuwenden?“ fragt Christel ruhig.
„Nun, ich dächte doch! Wenn du das nicht selber fühlst – –“
„Wir fühlen beide sehr verschieden,“ meint Christel und stellt ihren Fußsack auf die Ofenbank, damit er etwas anwärmt.
„Ja, das kann sein – ein bissel mehr Stolz habe ich denn doch als du.“
„In diesem Falle habe ich keinen Stolz, fände es auch unrecht, wenn ich ihn hätte.“
„Du willst gewiß die Epidemie in Bärenwalde einschleppen? Na adje – fürs erste sind wir geschiedene Leute, ich setze meine Kinder nicht der Gefahr aus, sich hier den Tod zu holen.“
„Das kann ich dir gar nicht verdenken, Louise; leb’ wohl!“
Christel hängt sich den mit Hamster gefütterten einfachen Pelzmantel um, und als das Mädchen hereinkommt, beginnt sie diesem einige Aufträge zu erteilen. „Die Gaststube oben soll tüchtig geheizt werden, und morgen gegen mittag werde ich wieder hier sein, wahrscheinlich nicht allein.“ Und ob Marie auch klagen werde über ein wenig mehr Arbeit?
„Aber warum denn, Frau? Ich thu’s gern.“
Christels Gesicht ist so verändert, so getaucht in freudige Erwartung, daß das Mädchen sie ganz erstaunt ansieht, während Louischen, mit spöttischem Lächeln, die Hände unter die Schürze gesteckt, noch dasteht. „Man erlebt Wunder und Zeichen,“ sagt sie, „wenn Mutter das wüßte, im Grabe drehte sie sich um.“
Christel antwortet nicht, sie hat’s gar nicht gehört: Louischens Gehässigkeiten rauschen so an ihr vorüber, sie kennt sie und achtet nicht mehr darauf. Karl knallt draußen mit der Peitsche, zum Zeichen, daß er vorgefahren ist. Christel will ihrer Schwester [375] die Hand geben, aber die dreht sich achselzuckend um und verläßt vor ihr das Haus. Gut, daß Christel nicht hört, was die Schwester auf der einsamen Dorfstraße für halblaute Reden hält, sie würde außer sich sein; „eine alberne, verliebte Person!“ das ist noch das wenigste, was sie sagt. Und daß man die Kinder holt in der Hoffnung, der Vater werde nachkommen, das ist bei Louischen unumstößliche Thatsache. „Sie ist imstande, das zweite Mal – er kann ja gar nicht besser thun – sie arbeitet für ihn und die fremde Brut, so ein dummes Schaf!“
Und Christel fährt in den windigen Februarabend hinein, als gehe sie zu einem Feste; mit derselben Empfindung, die sie als Kind hatte vor der Christbescherung. Seine Kinder holen können! Ein paar Wochen hindurch die kleinen weichen Körperchen hegen und pflegen dürfen! Die runden lieben Gesichter sehen, sich anlächeln lassen – wie wundervoll!
Arme kleine Frau Heine – wie sie sich wohl ängstigen mag – so anvertrautes kostbares Gut! – Warum hat man nicht gleich an sie gedacht? Ja so – ja – man will ihr doch nicht wehthun, man hält sie für schrecklich kleindenkend. Ja, ja, er hat ihr wehgethan, den größten Schmerz ihres Lebens hat sie durch ihn erlitten, aber sie kann nicht hassen, sie kann nicht, und jetzt, wo er so unglücklich ist – –. Mögen die Leute sagen, was sie wollen, seiner Kinder darf sie sich annehmen mit gutem Gewissen!
„Morgen mittag um elf Uhr sind Sie wieder hier, Karl, und so viel Tücher und Decken, als ich habe, soll Marie in den Wagen thun,“ befiehlt sie, auf der Station angelangt.Christel kommt nach zweistündiger Eisenbahnfahrt in Dresden an und sucht trotz der späten Stunde Doktor Konring auf, dessen liebenswürdige Frau sie ganz verwundert, aber voll Jubel empfängt. „Ich wußte ja,“ sagt Christel, „daß Sie heute noch nicht schliefen, es ist Herrn Doktors Skatabend; hätte ich die Fenster dunkel gesehen, wäre ich in ein Gasthaus gegangen.“
„Die Partie muß gleich zu Ende sein,“ erzählt Frau Doktor, während sie Christel in ihrem netten Wohnzimmer aus dem schweren Mantel hilft, „aber nun sagen Sie mir – was um alles in der Welt treibt Sie zu nachtschlafender Zeit nach Dresden?“
„Darf ich mit der Erklärung nicht warten, bis der Herr Doktor da ist?“ bittet Christel und trinkt ein wenig von dem dargebotenen Punsch.
„Aber versteht sich, und er wird gleich kommen.“
In der That verabschieden sich die Herren sehr bald und der überraschte Hausherr steht Christel gegenüber. „Der Tausend!“ sagt er, die stattliche Erscheinung musternd: „Frau Christel, da oben im Rödershof giebt’s wohl einen Jungbrunnen? So habe ich Sie ja kaum in der ersten Zeit Ihrer Ehe gesehen?“
„Nun berichten Sie aber,“ mahnt die Hausfrau.
Und Christel erzählt. Der Doktor geht mit unhörbaren Schritten auf dem Teppich einher. „Ja, ja!“ wirft er ein, „eine regelrechte Epidemie – und da wollen Sie – – ?“
„Sie werden’s nicht falsch beurteilen?“ bittet die große blonde Frau mit dem guten Gesicht und den angstvollen Augen.
Der Doktor nimmt ihre beiden Hände: „Ich – Sie falsch beurteilen? Das glauben Sie ja selber nicht! Nein, nein, folgen Sie nur Ihrem Herzen – es ist ungewöhnlich, aber es ist gut, was es Ihnen da eingiebt. Nehmen Sie die armen Dinger mit, Frau Christel, und lassen Sie die Leute reden, was sie wollen!“
Die Frau Doktor ist stumm geblieben. Als sie ein halb Stündchen später Christel in das Logierstübchen begleitet, sagt sie leise: „Sie lieben ihn noch immer!“
Christel dreht sich hastig um und streckt ihr die gefalteten Hände entgegen; die Thränen in ihren Augen flehen um Schonung.
„Verzeihen Sie,“ bittet die junge Frau, „aber wäre es denn so unnatürlich? Wäre es denn eine Schande? Kann man dafür?“
Christel antwortet nicht, sie ist ganz fassungslos.
„Was Sie thun wollen, thut nur eine Frau, die nie aufgehört hat zu lieben. Gute Nacht, Frau Christel!“
Und Christel löscht ihr Licht, als wolle sie ihre Thränen vor sich selber verstecken. „Nie aufgehört zu lieben!“ sagt sie vor sich hin und nickt dazu.
Alle Rechte vorbehalten.
Erdbeeren.
Die Erdbeere ist uns allen eine liebe alte Bekannte von Kindesbeinen an. Wir haben sie selbst gesucht im sonnenlichtdurchsponnenen Walde, wir haben sie frisch vom Strauche genossen, eine nach der andern, wir haben sie an Halmen gleich Korallen aneinandergereiht oder in Sträußchen gebunden auf den Hut gesteckt; aber noch einen Fundort der Erdbeeren gab es für uns, zwar auch in einem Walde, aber nicht in dem von Birken und Buchen – im deutschen Märchen- und Sagenwalde.
Wie leuchteten der Kinder Augen, wenn Mütterchen in dämmernder Stube uralte Geschichten erzählte von dem Brüderlein und Schwesterlein, die auf die Beerensuche gingen und nun plötzlich einem Riesen, einer holdseligen Frau gegenüberstanden, wohl gar der Mutter Gottes selbst. In der Gegend von Männerstadt legt der Storch im Walde eingeschlafenen Kindern Goldperlen und die schönsten Erdbeeren in die Hand. In Tirol helfen die saligen Fräulein den Kindern Erdbeeren sammeln und pflücken so schnell, daß in einer Viertelstunde alle Körbchen gefüllt sind. Vom Laurathal bei Schlier erzählt man: Einmal verirrte sich im Walde, da, wo Fräule Laura gehen soll, ein Kind. Auf einmal kam ein warmes Lüftchen und es war da so grün und blühend wie im Frühling. Es sei gerade gewesen wie im Paradiese. Erdbeeren seien dagestanden in Hülle und Fülle und das Kind pflückte nach Herzenslust. Fräule Laura sei in diesem Garten schneeweiß spazieren gegangen. – Die Huzulen der Bukowina fabeln von der Dokia, welche durch die Stiefmutter gezwungen wurde, Erdbeeren zu suchen, ehe noch der Frühling gekommen. In einem Harzer Märchen helfen einem armen Stiefkinde Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist mitten im Schnee einen Korb voll dicker Erdbeeren pflücken. Auch die Erdweibchen in Effingen treten hilfreich auf. In Baisingen heißt es: „Waren Kinder im Walde und sammelten Erdbeeren. Da kam Christus der Herr und fragte: ‚Kinderchen, was habt ihr da?‘ – Sie sagten: ‚Nichts!‘ – Sagte Christus: ‚Nun soll es auch nichts sein!‘ Und seitdem sättigen die Erdbeeren nicht mehr.“ Und dieselbe Geschichte erzählt man an vielen, vielen Orten. Auch der Dichter Scheffel kannte sie, drum läßt er den St. Gallner Abt zu Hadwig, der Schwabenherzogin, sagen: „Das Studium der Wissenschaft ist dem jungen Menschen kein Zwang, kein lästiger, es ist wie Erdbeeren, je mehr man genießt, desto größer der Hunger!“
Die Erdbeere war als wildwachsende Pflanze längst bekannt, und schon in alter Zeit gehörte es zu den Freuden der Kinderwelt, in die Erdbeeren zu gehen. Schon ein Minnesänger jubelt:
„set, dô liefen wir ertbern suochen
von den tannen zuo der buochen
über stock und stein –
der wîle daz diu sunne schein.“
Und im „Ruodlieb“ tragen die Kinder die roten Beeren in selbstgeflochtenen Weidenkörbchen heim. In den Karpathen der Bukowina fertigen die Beerensammler Tüten aus abgeschälter Tannenrinde an, ein Verfahren, von dem auch Rückert weiß: „Und die Tanne oder Linde giebt geduldig ihre Rinde, wenn die Näpfe fehlen.“ In dem finnischen Nationalepos „Kalewala“ spricht die Birke:
„Oft schon kamen zu mir Verlass’nem,
Zu mir unglückseligem Baum,
In den Tagen des Frühlings Kinder,
Knaben und Mädchen nahten sich,
Schnitten mit Messern meine Rinde,
Ritzten meine saftige Haut.
Böse Hirten an Sommertagen
Nahmen mir mein schimmerndes Kleid,
Schnitten Becher daraus zum Trinken,
Oder Körbchen zu Beeren gar.“
Aus Tannenzweigen flechten die Kinder an der Semmeringbahn ihre Erdbeerkörbchen, die sie den Reisenden zum Kaufe anbieten. In der Chronik der Grafen von Zimmern liest man: „So haben die edelleut von Dalburg, genannt die kemmerer, ein [376] hof zu Wormbs, da ist inen järlichs ein rath schuldig, uf den pfingsttag zwen rumpf uß ainer rinden gemacht, mit erpör zu geben und mueß die rumpf krom sein; mer ist inen der rath alda zu überantworten zwen new krum hefen mit kromen deckeln, auch voller erpör.“
Auf dem Königsstuhle zu Rhense nahm der Bürgermeister an einem Sommertage Erdbeeren als Abgabe in Empfang.
Wie beliebt die Erdbeere beim Volke ist, das ersehen wir auch aus den verschiedenen Rätselfragen und Redensarten, die von ihr im Schwange sind, und nicht nur bei den Deutschen. So sagen z. B. die Zigeuner: „Was ist das? Ein Mütterchen sitzt im Grünen, wackelt schläfrig mit dem Kopfe und hat eine rote Haube auf?“ – Das schweizer Rätsel lautet: „’s stot ame Reili, uf-em-e Beili und lot trolle en fürrote Chnolle.“ Aehnlich in Schwaben:
„’s sitzt etwas amme Rainle,
Es wackelt ihm sein Beinle,
Vor Angst und Not
Wird ihm sein Köpfle feuerroth.“
Seit dem 16. Jahrhundert ist die Erdbeere eine Kulturpflanze geworden. Da wurden die amerikanischen Erdbeeren nach Europa gebracht. Die Amerikaner sind auch heute noch hervorragende Erdbeerzüchter, und es soll in Amerika nichts Seltenes sein, wenn ein einziger Farmer täglich 500 bis 800 Quart auf den Markt bringt. Nach England kamen die amerikanischen Erdbeeren im Jahre 1629, nach Frankreich 1715, nach Deutschland erst später. Zu den besten Erdbeeranlagen gehören im Inselkönigreiche die von Aberdeen. In ungeheurem Maßstabe wird die Erdbeerkultur in der Umgebung von Paris betrieben, namentlich in Bagnolet. Von der virginischen oder Scharlacherdbeere, von der Ananas- und der Chile-Erdbeere stammen die unzähligen Abarten der Gartenerdbeeren. Auch die Walderdbeere wurde in die Gärten versetzt, wo sie zwar protziger, aber nicht geschmackvoller wurde. In Hohbergs „Kuchelgarten“ (1682) lesen wir über die Gartenerdbeeren:
„Es werden Erdbeer auch allhier nicht übel stehen,
Wo sich das Erdreich mag mit seinem Grund erhöhen,
Die Pröpstling sonderlich, dadurch der Mund erfrischt.
Das Herz erquicket wird, ganz rot, weiß untermischt;
Man pflanzet Erdbeerberg’; ihr viel’ sie also setzen,
Daß wie ein Weingebürg ihr Anblick kann ergetzen,
Getheilet spannenweit, auf Stäblein angemacht,
Fein angebunden dran und etwas hoch gemacht.“
Duftender und schmackhafter als die Gartenerdbeere ist jedenfalls die Walderdbeere. In seinen „Spätfrüchten“ singt Adolf Pichler:
„Sind wir denn so arm im Norden,
Haben gar nichts wir zu bieten?
Mit des Südens schönsten Blumen
Wagen’s unsre Alpenblüten.
Neben Pfirsichen und Trauben,
Deiner Villa Stolz und Ehre,
Möcht’ ich fast noch höher preisen
Das Arom der Walderdbeere!“
Die Erdbeere ist keine eigentliche Beerenfrucht; was wir als Beere ansehen, ist der fleischig und saftig gewordene Fruchtboden, in welchen die kleinen Trockenfrüchte eingeteilt sind, jene kleinen unscheinbaren Nüßchen, welche den Fleischkörper bedecken. Diese Nüßchen und die aus dem Wurzelstocke entspringenden, stets neue Wurzeln treibenden langen Ausläufer sind die Fortpflanzungskörper unserer Pflanze. In erster Linie haben wir die Arten Fragaria vesca L., die gewöhnliche Walderdbeere, und Fragaria collina Ehrh., den Bresling, ins Auge zu fassen. Sie sind es, welche in den Holzschlägen, an Rainen und Waldrändern wachsen, von armer Leute Kindern eingesammelt und uns in die Städte gebracht werden. In neuester Zeit wurde das Beerensuchen an vielen Orten als Forstfrevel mit Strafen belegt; ein Fürstenbergisches Dekret vom Jahre 1746 bestrafte übrigens das Beerensammeln bereits mit einem Reichsthaler Geldbuße oder mit dreitägiger und dreinächtiger Beturmung.
Unter den Beerensammlerinnen giebt es manchen Aberglauben. So bekränzen die Beerengängerinnen des Brockens die sogenannte Brautklippe, wenn sie in einem Sommer zum erstenmal zu derselben kommen, und glauben dadurch das ganze Jahr hindurch Glück im Auffinden der Beeren zu haben. Erdbeerenopfer kommen nach Jahn in Böhmen vor und nach Höfler opferte man den drei Jungfrauen, die in unterirdischen Gängen singen, drei Aehren oder man band den Kühen Körbe von Erdbeeren und Alpenrosen zwischen die Hörner „für die Fräulein“.
Die Frage, wie man die Erdbeeren genießen soll, wurde von Feinschmeckern vielfach erörtert.
Georg Hesekiel behauptet einmal, es gehe nichts über Erdbeeren, welche mit dem Saft einer süßen Orange befeuchtet sind. Erdbeeren in Burgunder tischt Dido bei Blumauer dem Aeneas auf. Bei Brillat-Savarin liest man, ein Gelehrter habe alle Zubereitungsarten übertroffen, indem er die gelbe Schale der Orange zufügt, die er mit Zucker abreibt. Bei den Göttermahlen auf dem Berge Ida sollen die Erdbeeren auf diese Weise zubereitet gewesen sein. Und Mörike schreibt in seinem Gedicht „Versuchung“:
„Wenn sie in silberner Schale mit Wein uns würzet die Erdbeer’n,
Dicht mit Zucker noch erst streuet die Kinder des Walds:
O wie schmacht’ ich hinauf zu den duftigern Lippen, wie dürstet
Nach des gebogenen Arms schimmernder Weiße mein Mund!“
Schimper ist für Wein und Zimmet.
Vossens Luise trägt „spanische Erdbeeren mit sahniger Milch“ auf. Das ist alter deutscher Brauch.
Gevatter Märten, in dem gleichnamigen Gedicht in kurhessischer Mundart, ladet die Kasseler Kurfürstin ein:
„Se muß zusaa’n, uns emol zu besuchen
Up ’ne suure Melch un Erdbeeren blos.“
In Karl Becks Dichtung „Meister Gottfried“ heißt es: „Ich bringe Weizenbrot und fetten Rahm, sie taugen stets zur Erdbeer wundersam!“ Daher auch die Redensart „Die Erdbeeren mit der Milch hinabschlucken!“
Daß die Erdbeeren auch in der Volksmedizin eine Rolle spielten, mag noch zum Schluß erwähnt werden. In der Schweiz giebt es sogar Erdbeerkurorte, z. B. Felsenegg-Churwalchen, Eigenthal. Der alte Linné hat mit Erdbeeren sein Zipperlein kuriert.
Ueber Lungenschwindsucht und Höhenkurorte.[1]
Ich möchte es heute unternehmen, Sie aufzurufen zum Kampf, zum Kampfe gegen einen Feind, der der gefährlichste ist unter allen, die der Gesundheit und dem Leben des Menschen nachstellen. Es ist dies die Tuberkulose und insbesondere die Lungenschwindsucht. In Deutschland tötet sie Jahr für Jahr weit mehr als 100 000 Menschen. Die Verheerungen dieses Feindes sind größer als alle Verluste, die in unserer Zeit im Kriege vorkommen. Pest, Cholera und andere furchtbare Seuchen giebt es doch nur zu gewissen Zeiten und in beschränkter Ausdehnung; die Tuberkulose wütet anhaltend unter uns und verlangt viel größere Opfer. Und sie tötet die Menschen gerade in der Lebensperiode, in welcher sie der Allgemeinheit am meisten nützen könnten. Wenn man alle Todesfälle zusammenrechnet, die bei Menschen im arbeitsfähigen Alter, etwa zwischen dem 15. und 60. Lebensjahre, vorkommen, so zeigt sich, daß ein volles Drittel der Tuberkulose erliegt. Wahrlich, der Kampf gegen einen solchen Feind ist es wert, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen.
Die Tuberkulose hat von je her unter allen Kulturvölkern bestanden. So weit die Geschichte zurückreicht, berichtet sie uns von dem Vorkommen der Lungenschwindsucht. Aber es wäre
[377][378] unrichtig, wenn man glauben wollte, die Krankheit müsse notwendig überall vorkommen, und sie sei von allem Anfang an über die ganze Erde verbreitet gewesen. Bei den Negern im Innern von Afrika hat es, wie uns Livingstone und andere Forscher berichten, keine Tuberkulose gegeben, bevor sie mit den alten Kulturvölkern in Berührung kamen; erst durch diese haben sie, noch ehe sie der Vorteile der Kultur teilhaftig geworden sind, die Tuberkulose und viele andere Schäden der Civilisation erhalten. Die Indianer in Amerika haben, bevor die Weißen eingedrungen waren, keine Tuberkulose gekannt; jetzt trägt zu ihrem Aussterben auch diese Krankheit in hohem Maße bei.
Die eigentliche Ursache der Lungenschwindsucht und der Tuberkulose überhaupt, der Tuberkelbacillus, ist erst seit dem Jahre 1882 bekannt. Es ist eines der vielen unvergänglichen Verdienste von Robert Koch, daß er uns die Natur und die Wirkungsweise der Tuberkelbacillen deutlich dargelegt und gezeigt hat, daß sie die einzige und ausreichende Ursache der Tuberkulose sind, daß es ohne diese Bacillen keine Tuberkulose giebt. Diese Bacillen sind kleine Lebewesen, bestehend aus länglichen Stäbchen, die so klein sind, daß sie nur mit bewaffnetem Auge gesehen werden können, nur bei den stärksten Vergrößerungen, die uns das Mikroskop liefert. Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung machen von ihrer Größe, wenn ich anführe, daß man 300 bis 400 davon der Länge nach aneinanderlegen müßte, um nur die Länge eines Millimeters zu erhalten. Diese unscheinbar kleinen Lebewesen sind der Feind, der so furchtbare Verheerungen anrichtet und den es zu bekämpfen gilt. – Nachdem man ihn genau kennengelernt hatte, lag es nahe, zu denken, es werde nun nicht allzuschwer sein, ihn abzuwehren oder zu vernichten. Viele Aerzte haben sich damals solchen Hoffnungen hingegeben. Sie sind enttäuscht worden: die Menschen sterben nach wie vor an Tuberkulose.
Und doch können wir sagen, daß die bessere Erkenntnis schon Früchte getragen hat. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland an Tuberkulose sterben, ist zwar immer noch erschreckend groß, aber sie ist im Vergleich zu der Bevölkerung in den letzten 10 Jahren merklich zurückgegangen. In den meisten großen Städten ist die Sterblichkeit an Tuberkulose beträchtlich geringer geworden, als sie vor 10 oder 20 Jahren war. Älso der Kampf ist keineswegs aussichtslos, und wir dürfen erwarten, daß, wenn jeder an seinem Teil das Seinige thut, noch große Erfolge erreicht werden.
Welches sind nun die Maßregeln, durch die wir hoffen dürfen, die Tuberkulose mit Erfolg zu bekämpfen? Ich werde hier nur die allgemeinen Gesichtspunkte vorführen, um nachher auf einen besonderen Punkt, die Wirkung der Höhenkurorte, näher einzugehen.
Krankheiten zu verhüten, ist eine lohnendere Aufgabe, als Krankheiten zu heilen. Deshalb legen wir Aerzte den größten Wert auf die Vorbeugungsmaßregeln. Wir suchen die Entstehung der Krankheit zu verhüten. Zunächst ist dafür zu sorgen, daß die Verbreitung der Tuberkelbacillen in der Umgebung möglichst verhindert werde, damit sie nicht, mit anderem Staub eingeatmet, in die Lungen von gesunden Menschen gelangen. Es muß deshalb der Auswurf von Lungenkranken, in dem die Bacillen zu Millionen und Milliarden vorhanden sind, aufs sorgfältigste desinfiziert oder vernichtet werden, weil er sonst in eingetrocknetem Zustande dem übrigen Staub sich beimischen kann.
Uebrigens braucht der Gesunde nicht besonders ängstlich zu sein bei dem Verkehr mit Lungenkranken. Wenn die Gefahr der Übertragung auch nur annähernd so groß wäre wie z. B. bei Pocken, Masern, Scharlach, so müßten ja alle Aerzte schwindsüchtig werden. Der Mensch ist nicht besonders empfänglich für Tuberkulose und jedenfalls viel weniger als die zu Uebertragungsversuchen benutzten Kaninchen oder Meerschweinchen. Der gesunde Mensch verfügt über ausgedehnte Schutzvorrichtungen, vermöge deren die Bacillen, die etwa in den Körper eingedrungen sein könnten, unschädlich gemacht oder wieder ausgeworfen werden. Wenn aller Staub, den wir mit der Luft einatmen, wirklich bis in die Lunge gelangte und dort liegen bliebe, dann würden wohl bei den meisten Menschen die Lungen bald ganz vollgestopft sein. Der größte Teil des Staubes bleibt, wenn wir durch die Nase atmen, schon in den vielfachen Ausbuchtungen an dem dort vorhandenen Schleim haften, ein anderer Teil schlägt sich an der inneren Wand des Kehlkopfes, der Luftröhre und ihren Verzweigungen nieder. Und dort ist die Schleimhaut ausgekleidet mit sogenanntem Flimmerepithel, dessen mikroskopisch kleine Wimpern in anhaltender Bewegung sind, durch die sie alles, was auf der Schleimhaut liegt, allmählich wieder nach oben fördern, so daß es nachher mit einem leichten Hustenstoß ausgeworfen werden kann. Wenn wir viel Ruß eingeatmet haben, z. B. bei einer langen Eisenbahnfahrt, so ist noch einige Zeit nachher der Schleim aus der Nase oder aus dem Kehlkopf schwarz gefärbt. Und wie dieser Ruß, so werden auch die etwa eingeatmeten Tuberkelbacillen wieder entfernt. Auch die Bacillen, die etwa mit den Speisen in den Magen gelangen, werden durch den Magensaft, wenn er normal beschaffen ist, unschädlich gemacht. Und wenn ein Arzt etwa bei einer Operation oder bei einer Sektion durch eine zufällige Verwundung am Finger sich infiziert, so entsteht in den meisten Fällen nur eine örtliche Störung, ein sogenannter Leichentuberkel, der lange örtlich bleiben kann ohne weiteren Nachteil. Die Reaktion der lebendigen Gewebe verhindert das Eindringen der Bacillen in den übrigen Körper.
Anders freilich verhält es sich bei Menschen, die schon vorher an gewissen Lungenkrankheiten gelitten oder die durch angeborene Schwäche, durch besondere Krankheiten oder infolge von Entbehrungen und Not einen Teil ihrer Widerstandsfähigkeit eingebüßt haben. Sehen Sie sich im Walde um oder im Obstgarten! Welches sind die Bäume, die durch Flechten und andere Schmarotzer besonders schwer geschädigt werden? Es sind vorzugsweise die wenig lebenskräftigen oder anderweitig kranken, während die in frischem fröhlichen Wachstum begriffenen sich als weit mehr widerstandsfähig erweisen. Auch beim Menschen wird durch alles, was seinem Gedeihen förderlich ist, die Widerstandsfähigkeit erhöht, sowohl im allgemeinen als auch gegen die Tuberkulose, so durch eine gute Konstitution, eine gute Ernährung, eine gesunde Lebenshaltung, eine erfreuliche Thätigkeit, und auch durch eine gewisse Abhärtung gegen Erkältung und gegen andere Schädlichkeiten.
Wenn wir dagegen von einem Menschen wissen, daß er aus irgendwelchen Gründen mehr als andere zur Erkrankung an Tuberkulose geneigt ist, so müssen wir ihn schon behandeln, bevor es zur Tuberkulose kommt; auch eine bloße Disposition zu Tuberkulose bedarf einer sorgfältigen vorbeugenden Behandlung.
Was aber ist zu thun, wenn die Krankheit schon vorhanden ist, wenn in der Lunge bereits Tuberkelbacillen sich angesiedelt haben?
Offenbar würde es am nächsten liegen, ein Mittel anzuwenden, welches die Tuberkelbacillen töten könnte, ohne dem Kranken wesentlich zu schaden. Man hat vielfach nach solchen Mitteln gesucht, und man thut gewiß recht, wenn man noch weiter sucht; aber gefunden hat man ein solches bisher nicht. Die Anwendung von Jodoform, von Zimmetsäure, von Kreosot, von Arsenik und anderen Mitteln ist für manche Fälle ganz zweckmäßig; aber sie sind nur selten imstande, in den Mengen, in denen sie ohne Schaden angewendet werden können, die Bacillen zu vernichten. Auch die Einspritzung von Kochschem Tuberkulin ist in einzelnen Fällen nützlich; aber auf die übertriebenen Hoffnungen, welche man im Anfang an seine Anwendung knüpfte, ist bekanntlich bald eine große Enttäuschung gefolgt; auch dadurch werden die Bacillen nicht vernichtet. Es giebt bisher kein specifisches Heilmittel gegen die Tuberkulose, und auch die neueren Forschungen haben uns kein Rezept geliefert, welches die Krankheit beseitigen könnte.
Aber sind wir deshalb ohnmächtig der Krankheit gegenüber? Eine solche Meinung wäre gänzlich unrichtig. Wir können die Tuberkulose nicht direkt besiegen, wohl aber indirekt, indem wir sorgfältig die Wege verfolgen, welche die Natur selbst bei der Heilung einschlägt. Es ist dies die Methode, deren wir uns bei den meisten Krankheiten bedienen. Der Arzt bildet sich nicht ein, daß er die Krankheiten heile: er weiß, daß die Natur die Heilung besorgen muß. Ohne die natürlichen Hilfsmittel wäre der Arzt machtlos; seine Kunst besteht nur darin, daß er die natürlichen Heilungsvorgänge zu unterstützen und zu leiten versteht, daß er [379] die Kranken in Verhältnisse bringt, unter denen die Heilung am leichtesten möglich ist.
In früheren Zeiten hat man gewöhnlich die Lungenschwindsucht für unheilbar gehalten; und es war dies annähernd richtig, wenn man unter Schwindsucht nur die sehr weit vorgeschrittenen Fälle verstand; die werden auch gegenwärtig nur selten geheilt. Anders aber ist es bei den Anfängen der Krankheit. Wir wissen jetzt ganz sicher, daß in unzähligen Fällen die Tuberkulose wirklich zur Heilung gelangt. Wir finden bei Menschen, die an ganz anderen Krankheiten oder die in hohem Alter gestorben sind, nicht selten die Narben oder andere Ueberbleibsel einer geheilten Tuberkulose der Lunge oder auch anderer Organe. Es ist wohl nicht zu weit gegangen, wenn man annimmt, daß eine Lungentuberkulose, wenn sie frühzeitig erkannt und sorgfältig behandelt wird, wenn ferner der Kranke in der Lage ist und sich auch dazu versteht, alles zu thun, was für die Heilung notwendig ist –, daß sie dann in der Mehrzahl der Fälle geheilt wird. Die Heilung erfolgt gewöhnlich in der Weise, daß in der Umgebung des Krankheitsherdes ein festes Narbengewebe sich bildet, durch das der Krankheitsherd ringsum abgekapselt und fest eingeschlossen wird, so daß die darin enthaltenen Bacillen auf den übrigen Körper nicht mehr einwirken können, sondern unschädlich werden oder auch allmählich zu Grunde gehen.
Die wirksame Behandlung der Tuberkulose wendet sich in der Regel nicht direkt gegen die Tuberkelbacillen, sie ist vielmehr eine indirekte, man könnte sie auch eine diätetische nennen oder ein Naturheilverfahren.
Dabei ist die Aufgabe des Arztes eine außerordentlich wichtige, aber auch eine schwierige; um sie erfüllen zu können, ist außer den allgemeinen Kenntnissen von dem Wesen der Krankheit und den natürlichen Heilungsvorgängen von der größten Bedeutung ein möglichst frühzeitiges Erkennen der ersten oft unscheinbaren Anfänge der Krankheit, eine genaue Feststellung ihres Sitzes und ihrer Ausdehnung, außerdem aber auch in jedem Falle eine sorgfältige Berücksichtigung der eigentümlichen Konstitution und der besonderen Körperbeschaffenheit des einzelnen Kranken und eine richtige Beurteilung der natürlichen Hilfsmittel, über die seine Lunge und sein ganzer Organismus noch verfügt.
Unter den Maßregeln, die gegen die schon bestehende Krankheit anzuwenden sind, kommen in erster Reihe wieder diejenigen in Betracht, welche die Widerstandsfähigkeit des Kranken erhöhen. Ein Kranker, der zu schwach ist, um den Kampf mit dem Feinde zu bestehen, kann oft noch zum Siege geführt werden, wenn es uns gelingt, ihn ausreichend zu kräftigen. Ueber die Art, wie dies auszuführen sei, möge eine Andeutung genügen. Bekanntlich besteht eine der auffallendsten Folgen der Lungenschwindsucht in der stetig fortschreitenden Abmagerung, und diese Abmagerung leistet wiederum dem Fortschreiten der Tuberkulose Vorschub; je schlechter die Gewebe des Körpers ernährt sind, desto weniger werden sie den zerstörenden Wirkungen der Bacillen widerstehen können. Wenn es uns dagegen gelingt, die Ernährung zu verbessern und den ganzen Körper zu kräftigen, so ist zu erwarten, daß alle seine Teile eher imstande sein werden, gegen die zerstörende Wirkung der Krankheitserreger sich zu behaupten und endlich sogar sie zu überwinden. Und in der That ist ja, wie allgemein bekannt, bei einem Menschen mit beginnender Lungenschwindsucht ein Zunehmen des Körpergewichts und eine allgemeine Zunahme der Körperkräfte ein Zeichen, das zu erfreulichen Hoffnungen berechtigt.
Wie eine solche allgemeine Kräftigung zu erreichen sei, darauf will ich hier zunächst nicht näher eingehen; es kommt dabei vorzugsweise an auf eine zweckmäßige Anordnung der ganzen Lebensweise und auf eine dem Zustande des Kranken vorsichtig angepaßte Ernährung. In letzterer Beziehung sei daran erinnert, daß eine Bevorzugung der eiweißreichen Nahrungsmittel, wie Fleisch und Eier, nicht die Wirkung hat, einen mageren Menschen fett zu machen, sondern daß dabei eher, wie die bekannten Erfahrungen mit der Bantingkur zeigen, die entgegengesetzte Wirkung eintritt.
Außer der Erhöhung der Widerstandsfähigkeit besteht eine zweite und ebenso wichtige Aufgabe darin, den Kranken und insbesondere seine Lungen vor anderweitigen Schädlichkeiten zu schützen. Es giebt viele Fälle von beginnender Lungenschwindsucht, bei denen nicht die Tuberkelbacillen das schlimmste sind. Der Bacillen würde sich der Kranke vielleicht noch erwehren; sie könnten durch Naturheilung abgekapselt und unschädlich gemacht werden, wenn nicht anhaltend noch andere Schädlichkeiten auf die Lunge einwirken würden, die teils die weitere Ausbreitung der Bacillen in der Lunge befördern, teils an ihrer zerstörenden Wirkung sich beteiligen. Von solchen Schädlichkeiten führe ich an Erkältungen, durch welche Katarrhe und kleine Lungenentzündungen entstehen, in deren Gebiet die Weiterverbreitung der Bacillen erleichtert ist, dann aber ferner auch die Einatmungen von Staub, die in ähnlicher Weise wirken. Mit dem Staub werden zugleich noch mancherlei kleine mikroskopische Lebewesen oder deren Keime eingeatmet, verschiedenartige Bakterien und Kokken, und die schon kranke Lunge kann sie nicht mehr hinausbefördern. Viele von diesen Mikrobien sind freilich unschädlich, aber es sind darunter auch solche, deren Ansiedelung in der Lunge höchst nachteilig wirkt, indem sie die weitere Ausbreitung der Tuberkelbacillen erleichtern und vorbereiten, oder indem sie selbst zur Zerstörung der Lunge beitragen. Die schlimmsten Fälle von Lungenschwindsucht sind die, bei denen es sich um eine Mischinfektion handelt, bei denen außer den Tuberkelbacillen auch noch verschiedenartige andere Krankheitserreger in der Lunge ihre verderbliche Wirkung ausüben.
Wie wollen wir den Kranken vor solchen Schädlichkeiten schützen und besonders vor den schlimmen Mischinfektionen? Wie wollen wir es einrichten, daß er eine möglichst staubfreie und bakterienfreie Luft einatmet, ohne dabei sich der Gefahr einer Erkältung auszusetzen?
Die Luft im Zimmer enthält immer Staub; wir sehen ihn deutlich, wenn ein einzelner Sonnenstrahl eindringt. Also muß der Kranke sich möglichst viel im Freien aufhalten. Aber die staubige Stadt- oder Landstraße ist noch gefährlicher. Einigermaßen staubfrei ist nur die Luft auf der See, im Walde und auf ausgedehnten Wiesenflächen. Außerdem ist in unserem Klima während des größten Teils des Jahres die Witterung nicht so, daß der Kranke viel im Freien sein könnte. Der Winter ist schon schlimm; aber wenn Schnee liegt, ist wenigstens die Luft rein, und die Kälte an sich ist für den Kranken nicht schädlich, wenn er ausreichend bekleidet ist. Herbst und Frühling sind meist noch gefährlicher als der Winter.
Darum soll der Kranke, der während des Sommers in der Heimat oder in der Nähe an einem staubfreien Ort, etwa im Walde oder in mäßiger Höhe im Gebirge, sich aufhalten kann, für den Herbst, den Winter und den Frühling, wenn es möglich ist, ein günstigeres Klima zum Aufenthalt wählen. Das Fortgehen vom Hause, die sogenannte Luftveränderung, hat ja auch noch so viele andere günstige Wirkungen: der Kranke ist damit aus seinen Geschäften entfernt, er ist allen den mannigfachen geselligen Verpflichtungen enthoben, er hat wirklich Muße und kann ganz seiner Gesundheit leben.
Den klimatischen Kurorten hat man von je her bei der Behandlung der Lungenschwindsucht eine große Bedeutung beigelegt. Schon im Altertum wurden die Schwindsüchtigen von Rom nach Aegypten geschickt; dabei war die damals noch lange dauernde Seereise eher von günstiger Wirkung. Und noch heutigestags bewährt sich die Wirkung des Aufenthalts im Süden bei zahlreichen Kranken. Wenn sie auch an den oberitalienischen Seen, an der Riviera oder in Sicilien nicht, wie mancher vielleicht erwartet hatte, den ewig heiteren Himmel finden, so können sie doch viel mehr, als es zu Hause möglich wäre, sich der freien Luft erfreuen. Besonders ein dauernder Aufenthalt im Süden ist für den vom Norden kommenden Schwindsüchtigen günstig. Ich kenne Aerzte, Apotheker, Kaufleute, die mit schon vorgeschrittener Lungenschwindsucht nach Sicilien, Tunis, Aegypten, Palästina ausgewandert sind, sich dort einen Wirkungskreis gegründet haben und sich seit Jahrzehnten dort einer guten Gesundheit erfreuen.
Auch der Aufenthalt an der See und besonders längere Seereisen sind von günstiger Wirkung. Außer der Reinheit der Luft kommt dabei vielleicht auch noch ihr Salzgehalt in Betracht, wie er sich bei unruhiger See z. B. bei dem, der eine Brille trägt, durch den Beschlag derselben mit kleinen Salzkrystallen deutlich macht. Freilich ist eine Reise mit unseren Schnelldampfern gewöhnlich so bald zu Ende, daß der Kranke kaum über die Unannehmlichkeiten der Seekrankheit hinauskommt und keinen großen Nutzen davon hat. Mehr zu empfehlen würde es sein, wie es [380] auch schon in größerem Maßstabe projektiert wurde, während längerer Zeit mit einem Dampfer etwa im Mittelmeer Spazierfahrten zu machen.
Großes Aufsehen in ärztlichen und in anderen Kreisen hat es erregt, als seit der Mitte der 60er Jahre die Höhenkurorte in Wettbewerb traten mit den südlichen Kurorten. Es war zunächst das mehr als 1500 Meter hoch liegende und von noch höheren Bergen umgebene Thal Davos in Graubünden, welches als Kurort für Schwindsüchtige empfohlen wurde, und zwar nicht nur als Sommerkurort – im Sommer hatte man schon früher die Kranken ins Gebirge geschickt –, sondern vorzugsweise als Winterkurort. Von dem Winter in Davos erhält man eine gute Vorstellung, wenn man die von dem dortigen Kurverein für jeden Monat ausgegebenen Wetterkarten betrachtet. Während der Monate Dezember, Januar, Februar ist die mittlere Tagestemperatur nur selten über dem Gefrierpunkt, und Temperaturen von 24° unter Null sind nicht selten. Wie sollte in einem so eisigen Klima ein Schwindsüchtiger gedeihen, den man sonst nach dem warmen Süden zu schicken pflegte? Es war gewiß berechtigt, wenn dagegen die schwersten Bedenken erhoben wurden. Viele Aerzte haben sich lange gesträubt gegen die Anerkennung der Heilwirkungen des Hochgebirges, und manche haben davon auch jetzt noch keine richtige Vorstellung. Aber alle Bedenken sind überwunden worden durch die Thatsache, daß wirklich viele Schwindsüchtige von dort gebessert oder selbst dauernd geheilt zurückkommen.
Ich kann aus eigener Erfahrung über eine große Reihe von Fällen berichten, die ich vor dem Aufenthalt in Davos oder einem andern Höhenkurort und dann nachher wieder untersucht habe und ich kann sagen, daß die Kranken im Durchschnitt dort während des Winters sich bedeutend besser befunden haben, als es zu Hause zu erwarten gewesen wäre.
Wie ist die günstige Wirkung des Höhenklimas zu erklären? Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht, und die Erklärung ist nicht ganz einfach. Es ist nicht ein einzelner Umstand, etwa ein specifischer Einfluß des Höhenklimas, worauf die Wirkung beruht. Man hat Meerschweinchen, die man in Berlin durch Impfung tuberkulös gemacht hatte, nach Davos geschickt; wie zu erwarten war, sind sie dort ebenso zu Grunde gegangen wie die, die in Berlin geblieben waren. Vielmehr ist bei der Heilwirkung des Höhenklimas eine ganze Reihe verschiedener Umstände zu berücksichtigen.
Zuerst war man auf den Einfluß des Höhenklimas aufmerksam geworden durch die schon seit längerer Zeit gemachte Beobachtung, daß oberhalb einer gewissen Höhe Schwindsucht unter der Bevölkerung fast gar nicht vorkommt. Die Höhe, in welcher diese relative Immunität gegen Tuberkulose beginnt, ist je nach dem Breitengrade verschieden. In den Tropen, z. B. in den Anden von Peru und Ecuador, hört die Schwindsucht erst auf bei einer Höhe von etwa 2000 Metern, in der Schweiz schon bei etwa 1000 Metern, in Mitteldeutschland bei etwas mehr als 500 Metern und im höheren Norden schon bei einer noch geringeren Erhebung. Wenn wir diese Immunität erklären könnten, so hätten wir damit vielleicht auch eine Erklärung für die Heilwirkung des Höhenklimas.
Unzweifelhaft beruht die Immunität des Hochgebirges zum Teil auf dem Umstand, daß dort die Bevölkerung weniger dicht ist als in der Ebene. Die Schwindsucht ist überhaupt durchschnittlich um so häufiger, je dichter gedrängt die Menschen zusammenleben, und es ist dies leicht verständlich bei dem ansteckenden Charakter der Krankheit. Aber dieser Umstand allein reicht nicht aus für die Erklärung. Man hat ferner darauf hingewiesen, daß die Lungen der Gebirgsbewohner, weil sie mehr geübt seien, auch kräftiger und widerstandsfähiger seien. Aber es kommt nicht selten vor, daß Leute aus dem Gebirge, wenn sie sich lange im Tiefland und namentlich in den großen Städten aufgehalten haben, dort an Lungenschwindsucht erkranken: sie sind durch ihre kräftigeren Lungen keineswegs geschützt. Wenn sie dann aber früh genug ins Gebirge zurückkehren, so werden sie gewöhnlich geheilt, und die Krankheit zeigt dann auch im Gebirge eine auffallend geringe Neigung zur Weiterverbreitung.
Von Bedeutung ist jedenfalls die dünnere Luft in der Höhe, der geringere Luftdruck. Das Barometer, das in Meereshöhe durchschnittlich auf 760 Millimeter steht, kommt in Davos nur wenig über 630 Millimeter, bleibt also etwa 130 Millimeter niedriger. Dieser Umstand ist von Wichtigkeit für die Atmung. Wir müssen, um die nötige Menge Luft in die Lungen zu bringen, in der dünneren Luft tiefer atmen, und daraus haben manche die günstige Wirkung des Höhenklimas erklären wollen, indem sie annahmen, daß die stärkeren Atembewegungen für die Lunge von Vorteil seien. Ich kann dieser Ansicht nicht zustimmen; vielmehr würde ich es eher für einen Nachteil halten, wenn die kranke Lunge genötigt wäre, sich mehr auszudehnen. Ich komme auf diesen Punkt noch zurück.
Von größerer Bedeutung ist vielleicht ein anderer Umstand, der in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Die Menschen, die in der Höhe leben, haben mehr rote Blutkörperchen als die Menschen im Tiefland. Und wer sich ins Hochgebirge begiebt, bei dem nimmt schon nach kurzer Zeit die Zahl der roten Blutkörperchen merklich zu; es gilt dies für Kranke ebenso wie für Gesunde. Der Gesunde hat im Tiefland in einem Kubikmillimeter Blut gegen 5 Millionen roter Blutkörperchen, im Hochgebirge steigt ihre Anzahl auf 6 oder 7 Millionen oder noch darüber. Die roten Blutkörperchen sind aber die Sauerstoffträger, sie vermitteln die Atmung; man kann deshalb sagen, daß ihre Zunahme einen zweckmäßigen Ausgleich darstellt gegenüber der dünneren Luft. Diese Vermehrung der roten Blutkörperchen ist sicher wesentlich beteiligt bei der Acclimatisation für den Aufenthalt in der Höhe. Sie ist aber ferner von Einfluß auf den Gesamtstoffumsatz, und wir können uns denken, daß sie wohl auch zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit und somit zur Heilung der Krankheit beitrage.
Um die ganze Heilwirkung des Höhenklimas zu verstehen, müssen wir nochmals auf das zurückkommen, was früher schon besprochen wurde. Wir haben gesehen, daß für die Heilung der Lungenschwindsucht hauptsächlich zweierlei erforderlich ist, nämlich einerseits eine Erhöhung der Widerstandsfähigkeit gegenüber den eingedrungenen Krankheitserregern und anderseits der Schutz gegen neue Schädlichkeiten und insbesondere gegen neue Krankheitserreger, durch die die Tuberkulose zu einer Mischinfektion werden würde. Diese beiden Erfordernisse für die Heilung liefert das Hochgebirge wie kein anderes Klima, und darauf beruht nach meiner Ansicht in der Hauptsache der günstige Einfluß der Höhenkurorte bei der Lungenschwindsucht.
Bekanntlich stellt sich bei den meisten Menschen, bei Gesunden wie bei Kranken, beim Aufenthalt im Hochgebirge ein vermehrter Appetit ein; sie nehmen mehr Nahrung auf, und bei vielen nimmt deshalb das Körpergewicht zu. Auf der anderen Seite ist aber auch der Verbrauch, der Gesamtstoffumsatz ein größerer, und deshalb ist die Zunahme an Körpergewicht meist nicht so groß, wie es der vermehrten Nahrungsaufnahme entsprechen würde. Aber gerade diese Steigerung des Stoffumsatzes entspricht einer gesteigerten Lebensenergie, und sie erhöht die Widerstandsfähigkeit. Wie sehr die Widerstandsfähigkeit abhängig ist von dem Gesamtstoffumsatz und der dadurch bedingten Lebensenergie, das wird am deutlichsten, wenn wir den äußersten Fall betrachten, wenn wir sehen, was geschieht, sobald der Gesamtstoffumsatz und damit das Leben ganz aufhört, in der Leiche: dann erhalten sofort die niederen Lebewesen, die überall und auch in unserem Körper verbreitet sind, die Kokken und Fäulnisbakterien, das Uebergewicht. Wir können deshalb sagen, daß der Mensch im allgemeinen um so mehr geschützt ist gegen alle Arten von Bakterien und auch von Krankheitserregern, je lebhafter sein Gesamtstoffumsatz und die davon abhängige Lebensenergie ist. Die Steigerung der Lebensenergie, die im Hochgebirge stattfindet, hat einen großen Anteil an den Heilwirkungen des Höhenklimas.
Auch das zweite Erfordernis für die Heilung, der Schutz gegen anderweitige Schädlichkeiten, wird im Hochgebirge erreicht in einer Weise, wie es anderswo nicht leicht möglich ist. Daß der Kranke aus seiner gewöhnlichen Lebensweise und aus allen anstrengenden Beschäftigungen und Verpflichtungen herauskommt, das hat der Höhenkurort gemein mit allen anderen Kurorten. Sein wesentlicher Vorzug besteht aber in der Reinheit der Luft. Besonders im Winter, wenn das Land weit und breit mit Schnee
[381][382] bedeckt ist, da ist keine Möglichkeit, daß im Freien schädlicher Staub vorhanden sei; der Kranke ist, so lange er in freier Luft sich aufhält, geschützt gegen alle schlimmen Wirkungen der Staubeinatmung. Namentlich ist die Luft frei von schädlichen Kokken und Bakterien. Man kann z. B. im Hochgebirge frisches Fleisch einfach an der Luft trocknen lassen, ohne daß es in Fäulnis übergeht. Dazu trägt freilich auch bei die dünnere Luft, der geringere Luftdruck, wodurch das Eintrocknen beschleunigt wird; und vielleicht ist diese eintrocknende Wirkung der Luft in manchen Fällen mit beteiligt an dem günstigeren Verlauf der Lungenkrankheit. Die Hauptsache ist aber, daß der Kranke gesichert ist gegen das Auftreten von Mischinfektionen, die so oft einen schlimmen Verlauf der Krankheit veranlassen. Und auch die etwa schon bestehenden Mischinfektionen können eher gebessert werden, weil die Bakterien keinen neuen Zuwachs erhalten.
Es sind ferner Erkältungskrankheiten im Hochgebirge seltener als in der Ebene, zum Teil deshalb, weil die mikroskopischen Krankheitserreger, die außer der Erkältung noch nötig sind, damit ein Schnupfen oder ein Lungenkatarrh entstehe, in der Luft nicht vorhanden sind. Der Kranke kann sich einigermaßen abhärten ohne die Gefahr, sich dabei eine Erkältungskrankheit zuzuziehen. Dabei kommt noch ein anderer Umstand in Betracht. Die örtlichen Luftströmungen, die Winde, die durch ungleiche Erwärmung des Bodens entstehen, und die oft viel schädlicher sind als die allgemeinen und verbreiteten Luftströmungen, fehlen im Winter in den Thälern des Hochgebirges fast ganz; denn eine bedeutende Ungleichheit in der Erwärmung des Bodens ist nicht möglich, weil der Schnee niemals über den Gefrierpunkt erwärmt werden kann.
Und nun noch ein wichtiger Punkt. Im Winter, wenn in des Thales Gründen uns der kalte Nebel drückt, dann ist häufig auf der Höhe der schönste Sonnenschein. Beim Aufenthalt in der Höhe liegen viele Wolken und Nebel, die im Tiefland die Sonne verdecken, unter uns. Und die Sonnenstrahlen, die nicht durch so viele Luftschichten hindurch zu gehen brauchen, haben eine viel kräftigere Wirkung. So erklärt es sich, daß im Hochgebirge, auch wenn das Thermometer im Schatten noch 10 Grad unter dem Gefrierpunkte steht, der Kranke in der Sonne spazieren gehen oder auch ruhig sitzen oder liegen kann, ohne von der Kälte zu leiden. In Davos kann sich der Kranke mehr im Freien aufhalten als an manchen südlichen Kurorten, und die freie reine Luft ist für ihn das wohlthätige Element. Die starke Sonnenbeleuchtung ist aber auch noch in anderer Weise von Vorteil. Pilze gedeihen nicht im Sonnenschein, und die meisten Kokken und Bakterien werden durch helles Sonnenlicht zerstört, und so trägt der Sonnenschein dazu bei, die Luft frei zu erhalten von schädlichen Mikroorganismen. Der Mensch aber gedeiht im Licht und im Sonnenschein, und so gehört die Sonne zu den wichtigsten Kurmitteln der Höhenkurorte.
Nachdem ich so die günstigen Wirkungen der Höhenkurorte bei Lungenschwindsucht dargelegt habe, möchte ich doch anderseits vor zu großen Erwartungen warnen. Nicht alle Kranke mit Lungenschwindsucht, die ins Hochgebirge geschickt werden, werden dort geheilt. Bei vielen ist die Krankheit schon zu weit vorgeschritten, andere können wegen äußerer Umstände den Aufenthalt nicht so lange fortsetzen oder so oft wiederholen, als es für die Heilung nötig wäre, bei anderen sind es innere Umstände, die die Heilung unmöglich machen, z. B. Mängel der Konstitution, die angeboren oder ererbt sein können, oder irgendwelche Krankheiten in anderen Organen des Körpers. Für manche Kranke ist das Hochgebirge überhaupt nicht passend. Dahin gehören zunächst alle, bei denen die Krankheit schon so weit gediehen ist, daß eine Heilung unmöglich ist. Ferner wird man im allgemeinen Kranke nicht hinschicken, so lange sie Fieber haben; doch kommt es vor, daß ein Fieber, welches von Mischinfektion abhängt, im Hochgebirge sich bessert. Aber auch dort gehört jeder Kranke, der Fieber hat, dauernd ins Bett; man soll ihn erst aufstehen lassen, wenn das Fieber vollständig aufgehört hat. Auch Kranke, die nicht noch einen gewissen Vorrat von Lebensenergie und Widerstandsfähigkeit haben, ertragen nur schwer einen so bedeutenden Klimawechsel; bei solchen kann eher noch ein südlicher Kurort in Frage kommen. Wo dagegen erst die Anfänge der Krankheit bestehen, und wo im übrigen die körperlichen Verhältnisse noch günstig sind, da kann von einer Kur im Hochgebirge eine vollständige Heilung erhofft werden. Es ist deshalb von so großer Wichtigkeit, daß schon die ersten Anfange der Krankheit richtig erkannt und behandelt werden. Aber auch wenn ein Kranker nicht vollständig geheilt, sondern nur wesentlich gebessert wird, so müssen wir dies als einen Erfolg bezeichnen. Viele Kranke, die in der Heimat bald zu Grunde gehen würden, kommen durch eine oder durch wiederholte Kuren im Hochgebirge so weit, daß sie nachher wieder jahrzehntelang mit Freudigkeit in ihrem Beruf thätig sein können, daß sie von ihrer Krankheit nur geringe Beschwerden haben und vielleicht ein hohes Alter erreichen.
Endlich aber darf nicht verhehlt werden, daß mit dem Aufenthalt an einem Höhenkurort auch Nachteile verbunden sein können, daß auf manchen Kranken dort Schädlichkeiten einwirken, die den Erfolg der Kur beeinträchtigen oder vereiteln, namentlich an einem Weltkurort wie Davos, wo im Winter weit mehr als 2000 Kurgäste gleichzeitig anwesend sind. Ich denke dabei weniger an die Gefahren, welche der Umgang mit so vielen Lungenkranken mit sich bringt; denn es wird gerade an solchen Kurorten so peinlich gesorgt für Reinlichkeit und für Desinfektion des Auswurfs, daß man dort vielleicht sicherer ist vor Ansteckungsgefahr als in der Heimat, wo doch auch Lungenkranke vorhanden sind.
Auch wird einem Kranken, der selbst schon Bacillen in der Lunge hat, der Verkehr mit Lungenkranken nicht weiter schaden, und Kranke, bei denen noch keine Bacillen nachgewiesen sind, schickt man ohnehin an Kurorte, die weniger von Schwindsüchtigen besucht werden. Ich denke vielmehr an die vielen Versuchungen, welche der Aufenthalt an einem solchen Weltkurort mit sich bringt, wo ein junger Mensch sich oft schwer entschließt, seine Lebensweise und sein ganzes Verhalten so einzurichten, wie es für die Heilung am besten sein würde. Viele Lungenkranke sind geneigt zu einer optimistischen Beurteilung ihres Zustandes; wenn es ein wenig besser geht, halten sie sich schon für nahezu geheilt, und einigermaßen leichtsinnige Leute glauben dann nicht mehr der Geselligkeit und dem Vergnügen entsagen zu müssen, sie beteiligen sich an Festlichkeiten und an mancherlei Veranstaltungen, die für die Lunge durchaus nicht heilsam sind. Man hat schon behauptet, daß mehr Lungenkranke an ihrem Temperament zu Grunde gehen als an ihrer Krankheit. Ich halte einen solchen Ausspruch für eine starke Uebertreibung, aber ich muß doch zugestehen, daß etwas Wahres zu Grunde liegt. Ueberhaupt, wenn es möglich wäre, mit einer gewaltsamen Kraftanstrengung die Krankheit zu überwinden, so wäre dies den meisten kranken Menschen angenehmer, als wenn dazu ruhiges Ausharren, lange dauernde Entsagung und Geduld erforderlich sind. Und so möchten auch manche Lungenkranke mit Gewalt ihre Lungen wieder in Ordnung bringen. Sie treiben sogenannte Lungengymnastik, Bergsteigen, Radfahren, Schlittschuhlaufen, Schlitteln und anderen Sport, bei dem die Atmung stark angestrengt wird. Es hat auch schon Aerzte gegeben, die bei Lungenkranken solche Gymnastik empfohlen haben. Und doch gehört keine tiefe ärztliche Wissenschaft, sondern nur der einfachste Verstand dazu, um zu begreifen, daß es für eine Lunge, in der Geschwüre vorhanden sind, nur schädlich sein kann, wenn sie häufig übermäßig ausgedehnt und gezerrt wird. Der Gesunde mag Gymnastik und auch Lungengymnastik treiben, der Kranke soll sich ruhig halten, und namentlich der Lungenkranke soll seine Lunge nicht mehr bewegen, als unbedingt nötig ist.
Solche Schädlichkeiten können nur vermieden werden durch ärztliche Aufsicht. Darum ist es erfreulich, daß an den Höhenkurorten immer mehr geschlossene, von Aerzten geleitete Anstalten entstehen, so in Davos, in Arosa, in Leysin im Waadtland – geschlossene Anstalten, in denen die Kranken unter strenger ärztlicher Aufsicht stehen. Aber die meisten derartigen Anstalten sind nur wohlhabenden Kranken zugänglich. Wir müssen es deshalb doppelt freudig begrüßen, daß jetzt in Davos eine deutsche Heilstätte begründet werden soll für minderbemittelte Kranke, die sonst nicht daran denken könnten, sich die Heilwirkungen des Höhenklimas lange genug zu nutze zu machen.
Nun aber haben manche gefragt, warum man denn im Auslande, in der Schweiz, eine solche Heilstätte errichten wolle, ob nicht die Kranken lieber in Deutschland bleiben sollten. Ein Teil der Heilwirkungen, welche das Hochgebirge der Schweiz liefert, ist auch im deutschen Mittelgebirge an den passenden Stellen vorhanden. Und es giebt ja auch in Deutschland Heilstätten [383] für Lungenkranke. Die Heilanstalt in Görbersdorf in Schlesien in einer Höhe von 560 Metern hat lange bestanden und gute Erfolge geliefert, bevor man daran gedacht hat, die Lungenkranken nach Davos zu schicken. Und ähnliche geschlossene Anstalten, die vortrefflich wirken, bestehen in Deutschland in großer Zahl. Man hat in den letzten Jahren in allen deutschen Staaten begonnen, auch für minderbemittelte oder ganz unbemittelte Lungenkranke Heilstätten und Heimstätten zu errichten; und auch dabei wird Württemberg nicht zurückbleiben. In Schömberg im Schwarzwald, etwa zwischen Liebenzell und Wildbad, in einer Höhe von 650 Metern, haben wir schon eine Anstalt, in der außer den wohlhabenden auch weniger bemittelte Kranke aufgenommen werden. Und der Verein zur Errichtung von Volksheilstätten für Lungenkranke in Württemberg, dem auch ich angehöre, ist eben im Begriff, mit einem Aufruf zu Sammlungen an die Öffentlichkeit zu treten.[2] Hoffen wir, daß es recht bald möglich werde, in Württemberg und in ganz Deutschland noch recht viele solcher Anstalten ins Leben zu rufen. Die Zahl der Lungenkranken ist so außerordentlich groß, daß die Heilstätten nicht zahlreich genug werden können; sie werden immer voll und übervoll besetzt sein. Und sie werden segensreich wirken, auch wenn sie nicht in so bedeutender Höhe liegen; die sorgfältige Pflege und die zweckmäßige ärztliche Behandlung wird manches ersetzen, was ihnen an natürlichen klimatischen Vorzügen abgeht. Und auch daran darf wohl erinnert werden: wenn es möglich wäre, einen großen Teil der Lungenkranken in solchen Heilstätten unterzubringen, so wäre dies nicht nur ein Vorteil für die Kranken, sondern auch für die Gesunden; die Schwindsucht würde sich weniger ausbreiten, sie würde bald weniger häufig werden.
Nun kann es nach allem, was ich heute ausgeführt habe, wohl keinem Zweifel unterliegen, daß eine Anstalt im eigentlichen Hochgebirge, in der Höhe von 1560 Metern, fast 1000 Meter höher als die Anstalten in Deutschland, doch noch viel günstigere Aussichten für die Heilung bietet. Es kommt ja vor, daß ein Kranker auch zu Hause geheilt wird. Es werden auch bei uns in gut geleiteten Anstalten gute Erfolge erreicht. Aber im Hochgebirge werden sie leichter und häufiger erreicht. Wer viele Kranke zu sehen bekommt, die aus den deutschen Heilstätten zurückkehren, und auch viele, die aus dem Hochgebirge zurückkehren, der überzeugt sich bald, daß im Hochgebirge die Heilungen und namentlich die dauernden Heilungen häufiger erreicht werden. Und für die unglücklichen Kranken ist doch gerade das beste gut genug. Darum wollen wir sorgen, daß recht bald in Davos eine deutsche Heilstätte für weniger bemittelte Kranke errichtet werden kann. Sie wird ja unter allen Umständen leider nur eine beschränkte Zahl von Kranken aufnehmen können, und sie wird unsere Volksheilstätten nicht überflüssig machen. Es gilt eben auch hier, das eine thun und das andere nicht lassen. Die werkthätige Menschenliebe wird ausreichen, um für beides die Mittel zu gewähren.
- ↑ Am 4. April dieses Jahres hat Professor Dr. Liebermeister in Stuttgart einen Vortrag zu gunsten einer in Davos zu errichtenden deutschen Heilstätte für minderbemittelte Lungenkranke gehalten. Wir sind in der erfreulichen Lage, diesen Vortrag zum Abdruck bringen zu dürfen und unsere Leser mit den Ansichten des so hochgeschätzten und berühmten Arztes über die Heilung der Lungenschwindsucht vertraut zu machen. Dieser Beitrag bildet eine wesentliche und lehrreiche Ergänzung der Artikel, die im Laufe der letzten Jahre über diese wichtige Frage des Gemeinwohls in der „Gartenlaube“ erschienen sind. D. Red.
- ↑ Der Aufruf ist inzwischen erschienen, und die Sammlungen nehmen einen erfreulichen Fortschritt. D. Red.
Blätter und Blüten.
Das letzte Gastmahl der Girondisten. (Zu dem Bilde S. 384 und 385.) „Die Revolution verschlingt wie Saturn ihre eigenen Kinder“ – nie hat sich dieser Ausspruch mehr bewährt als beim Untergang der Girondisten, dieser feurigen Vorkämpfer der politischen Freiheit, welche der „Bergpartei“ und ihrer Schreckensherrschaft im blutigsten Jahre der französischen Umwälzung zum Opfer fielen. Sie hatten ihren Namen von der Gironde, jener von der Garonne durchströmten weinreichen Provinz Südfrankreichs, der die meisten entstammten, darunter besonders die Advokaten aus Bordeaux Vergniaud, Guadet, Gensonné. Im Jahre 1791 wurden sie in die Gesetzgebende Versammlung gewählt, wo sie durch ihre Beredsamkeit eine führende Stellung einnahmen; in Paris schlossen sich die Anhänger des Journalisten Brissot und des späteren Ministers Roland an sie an. Gegen das Königtum führten sie einen leidenschaftlichen Kampf und haben im Verein mit den Jakobinern dessen Sturz herbeigeführt. Doch wiedergewählt in den Nationalkonvent, suchten sie vergeblich den von ihnen selbst entfachten Volksleidenschaften in die Zügel zu fallen. Nach schwungvollen Verteidigungsreden für den König stimmten sie doch selbst für seinen Tod, teils in der Ueberzeugung, die Berufung an das Volk werde diesen Beschluß wieder umstoßen, teils aus Furcht für ihr eigenes Leben. Dies schwankende Benehmen verschaffte der „Bergpartei“, dem unerbittlichen, aber konsequenten Robespierre und dem grimmen Marat, den sie vergeblich in Anklagestand zu setzen versuchten, den Sieg. Zweimal drangen die Pariser Volkshaufen in den Konvent und verlangten die Ausstoßung der Girondisten, das zweite Mal, am 31. Mai, mit Erfolg. Ein Teil hatte sich in die Provinzen gerettet und erregte diese zum Aufstand gegen den Pariser Pöbel. Doch die Energie des Konvents schlug alle diese Versuche zu Boden, durch welche der Untergang der in Paris gefangenen Girondisten nur beschleunigt wurde. Vor das Revolutionstribunal gestellt, wurden sie zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Als das Urteil verkündet wurde, zog einer der Verurteilten, Dufriche-Valazé, einen verborgenen Dolch aus dem Gewande und stach ihn sich ins Herz. In seiner rohen Grausamkeit beschloß jedoch das Gericht, daß dieser Selbstmord Valazé nicht vor dem Schafott retten dürfe. Die Leiche sollte das Schicksal der lebenden Genossen teilen. Sie wurde daher mit ihnen in das jetzt noch vorhandene große Gefängnis der Conciergerie gebracht, wo es den Verurteilten erlaubt wurde, ihre letzte Nacht gemeinsam zuzubringen. Bailleuil, ein Parteigenosse, dem es gelungen war, sich vor der Verurteilung in Paris zu verbergen, hatte seinen unglücklichen Freunden versprochen, ihnen das letzte Mahl im Kerker zu liefern, sei es, daß es ihrer Freilassung oder ihrer Hinrichtung vorausgehen sollte. Es gelang ihm, Wort zu halten, und so setzten sich die einundzwanzig Verurteilten in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1793 an eine festlich geschmückte und reich besetzte Tafel, neben der freilich die Bahre mit der Leiche Valazés stand, die mehr als alles andere die Festgäste daran mahnte, daß sie ihren eigenen Totenschmaus abhielten. Die Verurteilten hatten sich jedoch bereits völlig gefaßt und dachten nur daran, als Männer zu sterben und ihre letzten Stunden philosophischen Betrachtungen zu widmen. Die jüngsten unter ihnen, Ducos, Fonfrède und Antiboul, machten zwar den Versuch, in ausgelassener Fröhlichkeit dem Schicksal zu trotzen, aber Vergniaud, den auch hier seine feurige und zum Herzen gehende Beredsamkeit nicht verließ, bannte gar bald den künstlich angeschlagenen frohen Ton des Zechgelages und begann ein Gespräch über den Opfertod des Heilands und über die höchsten Ziele der Menschheit. Brissot prophezeite mit richtigem Blick in die Zukunft, daß die Erwürgung der Gironde die Rückkehr der Monarchie zur Folge haben werde. Gegen Morgen glaubten mehrere Tafelgenossen, daß sie dem Tode gefaßter entgegen gehen würden, wenn sie sich einige Stunden der Ruhe gönnten, und legten sich auf die den Wänden entlang angebrachten Matratzen. Die Mehrheit, dreizehn von einundzwanzig und darunter die bedeutendsten Führer, beschloß jedoch, sich gegenseitig wach zu halten, und setzte das Gespräch fort. Um zehn Uhr morgens erschienen die Sendboten des Tribunals, um die Opfer abzuholen, deren Namen der Reihe nach verlesen wurden.
Dies ist der Augenblick, den L. Flameng zum Gegenstand seines vortrefflichen, für das Museum des Luxembourg angekauften Gemäldes „Das letzte Gastmahl der Girondisten“ gewählt hat. Im Vordergrund des Bildes sehen wir neben dem Abhub der Tafel die aufgebahrte Leiche des Selbstmörders Valazé. An der Mitte des Tisches stehen nebeneinander die Führer Vergniaud und Brissot, der erstere mit aufgestemmten Händen und den beredten Mund zu einem letzten Protest geöffnet, der letztere in stummem unbeugsamen Trotze. Auf seine Schulter stützt sich stillgefaßt der lahme Slllery, der am Tage zuvor bei der Verkündigung des Todesurteils seine Krücken mit dem Ausrufe von sich geworfen: „Das ist der schönste Tag meines Lebens.“
Nur ein einziger Girondist ist haltlos zusammengeknickt. Wir sehen sein Gesicht nicht, dürfen aber annehmen, daß es Fonfrède ist, der sich in diesem Augenblicke seiner jungen Gattin und seiner kleinen Kinder erinnert. Sein neben ihm stehender Freund Ducos, der am Vorabend mit ihm heitere Witzworte zu wechseln versucht hatte, scheint auch einige Mühe zu haben, sich zu fassen, und ein dritter der jungen Generation bricht am andern Ende des Tisches in leidenschaftliche Verwünschungen aus. Es ist jener Boileau, der die Schwäche gehabt hatte, vor Gericht die Gironde zu verleugnen und sich als Mitglied des „Bergs“ zu bekennen, ohne dadurch sein Haupt retten zu können. Der ehemalige Bischof Fauchet ist als einer der ersten aufgerufen worden und wandelt in würdiger Fassung durch die Reihen der bewaffneten Schergen hindurch dem Gitterthore zu. Mit strenger Miene verliest der Kommissär seine Liste. Wie das irregeleitete Pariser Volk, betrachtet augenscheinlich auch er die Girondisten als Vaterlands- und Freiheitsverräter. Der Maler hat uns hier ein erschütterndes und historisch ziemlich richtiges Bild von den schrecklichen Folgen der Parteiwut und des von ihr entfesselten Bürgerkrieges gegeben, welchem so oft die edelsten Patrioten zuerst zum Opfer fallen. †
Ein geschecktes Reh. (Zu dem Bilde S. 386.) Das im Bilde vorgeführte märchenhaft ausschauende Reh, ein weibliches etwa 11/2 Jahre altes Tier (Schmalreh), wurde vor einiger Zeit auf einer Treibjagd bei Elbingerode im Harz erlegt und gehörte zu einem vier Stücke starken Sprunge; die anderen drei Rehe waren von normaler Färbung. Bei unserem Tiere sind die Stirn, die unteren Teile der Läufe und die große Platte auf der Seite von reinstem Weiß und zeichnen sich in scharfen Linien von der an den übrigen Körperteilen natürlichen Färbung der Decke ab. Auf der dem Beschauer nicht sichtbaren rechten Seite läuft die schneeweiße Platte unter dem Leibe entlang, bis hinter das Blatt, und verengt sich hier zu einem schmalen Streifen, welcher
[384][385] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [386] unweit des Rückens endet. Oberhalb der rechten Keule befindet sich ein schmaler, länglicher, weißer Fleck. Die Lichter (Augen) haben natürliche Färbung. Dagegen sind Nase und Oberlippe, die beim Reh sonst von sammetschwarzer Farbe sind und dem Gesichte desselben das ausdrucksvolle, reizende Ansehen geben, ebenfalls weiß, mit einem Schein in grau. Dadurch büßt das Gesicht an Schönheit ein und verliert etwas den Rehtypus. Die Schalen an den vier weißen Läufen – sonst schwarz – erscheinen graugescheckt, die Oberrücken (Oberklauen) ganz weiß.
Der Stand der Haare ist, sowohl an den Stellen, welche normale Färbung haben, wie auf den milchweißen Platten, durchaus gleichmäßig, und Abweichungen in der Struktur der weißen Haare sind dem bloßen Auge nicht sichtbar. Auch die äußere und innere Haut zeigt überall gleiche normale Farbe. Das durch die grelle weiße Färbung weithin sichtbare gescheckte Reh war natürlich in der Umgebung von Eibingerode bekannt und der erfolgte Abschuß desselben erregte allgemeines Bedauern. Der Besitzer hat es ausstopfen lassen.
Wenn die wunderbare Färbung dieses Rehes auch zu den größten Seltenheiten gebört, so ist sie als einzig dastehender Fall doch nicht zu bezeichnen. In den Sammlungen des Provinzialmuseums zu Hannover, in denen des Grafen Arco in München und der des Fürsten Pleß auf Schloß Pleß sollen präparierte gescheckte Rehe, und in der Sammlung des Fürsten Salm-Salm auf Schloß Anholt ein ausgestopfter ganz weißer Rehbock vorhanden sein. Ein Albino (vollständig weißer Rehbock mit roten Lichtern) führt unter dem Namen „Märchenprinz Mazzy“ im Zoologischen Garten zu Frankfurt am Main ein beschauliches Dasein. In Ermangelung einer weißen Ricke ist ihm eine ebenfalls abnorm gefärbte, glänzend schwarze Ricke beigegeben, die den Namen „Prinzessin Lulu“ führt und die im vorigen Jahre ein ebenfalls schwarzes Bockkitz gesetzt hat. – Außerdem sind noch bleifarbige und höchst selten silberfarbene Rehe beobachtet worden. G. Hentze.
Das Raimund-Denkmal in Wien. (Zu dem Bilde S. 357.)
„Brüderlein fein, Brüderlein fein,
Mußt mir ja nicht böse sein!
Scheint die Sonne noch so schön,
Einmal muß sie untergeh’n! …“
Dieses Lied wird gesungen allüberall, wo die deutsche Zunge klingt, und sein Dichter Ferdinand Raimund, der nicht bloß die Worte, sondern auch die Melodie dazu gefunden, lebt noch mit seinen dramatischen Märchen und Volksstücken auf allen deutschen Bühnen, insbesondere mit seinem „Verschwender“, aber auch mit seinem „Bauer als Millionär“, worin dieses Lied von der „Jugend“ gesungen wird, mit dem „Alpenkönig und Menschenfeind“, mit der kürzlich erst zu neuen Ehren gekommenen „Gefesselten Phantasie“. Dem Duft von Poesie und Schönheit, der auf Raimunds lebensvollen Allegorien und idealen Verkörperungen volkstümlicher deutscher Charaktere lagert, haben die Jahrzehnte nichts anhaben können. Sie sind unvergänglich. Ihm ist nun am 1. Juni d. J. in seiner Heimatstadt Wien, vor dem Deutschen Volkstheater, ein schönes Denkmal errichtet worden. Es ist zugleich das erste öffentliche Denkmal, das ein deutscher Schauspieler erhält; denn Raimund war nicht bloß der Dichter, sondern auch der erste und beste Darsteller seines Rappelkopf, Wurzel und Valentin. C. L. Costenoble, der bei der Erstaufführung des „Verschwenders“ zugegen war, schrieb am 15. März 1834 in sein Tagebuch: „So wie Raimund ist kein jetzt lebender Schauspieler ins menschliche Herz gedrungen, und keiner hat das Vermögen, das Aufgefaßte in so hoher Vollendung wiederzugeben.“
Der Wiener Bildhauer Franz Vogl hat nun diesen Dichter in kongenialer Weise aufgefaßt, indem er ihn so, von der Phantasie belauscht, die sein Genius und sein Dämon zugleich war, darstellte: mitten im Walde, von der schönen Natur umgeben, die Raimund so leidenschaftlich liebte, auf einer Bank ruhend, in stilles Sinnen träumerisch verloren. Nur aus der liebevollsten Vertiefung in das Gemüt und die Persönlichkeit des Dichters konnte diese originelle Auffassung entstehen. Sie wirkt daher auch ganz unmittelbar auf uns. Diesen Eindruck hatten auch die Preisrichter, als sie über die Entwürfe zu entscheiden hatten, die nach einer zum hundertsten Geburtstage Raimunds (1. Juni l890) ausgeschriebenen Preiskonkurrenz in größerer Anzahl eingelaufen waren. Vogls Entwurf erhielt den ersten Preis. Mit einem Aufwand von 32 600 Gulden wurde er in Laaser Marmor ausgeführt; aus einem der größten Marmorblöcke, die je nach Wien geschafft worden sind. Das nötige Kapital wurde durch Spenden von Kunstfreunden, an deren Spitze der Kaiser selbst mit einer Gabe von 2000 Gulden stand, und durch Musteraufführungen Raimundscher Werke aufgebracht. Besonders verdient ums Denkmal machten sich Geheimrat Nikolaus Dumba und Regierungsrat Dr. Karl Glossy, Obmann und Schriftführer des Denkmalkomitees.
Als Franz Vogl diesen ersten Preis errang, war er schon, ungeachtet seiner Jugend – er wurde am 4. April 1861 in Wien geboren – ein anerkannter Künstler. Seine Lehrzeit hatte er an der Wiener Akademie und dann im Atelier des Meisters Weyr durchgemacht. Als er 1885 bei der Konkurrenz für die plastische Ausschmückung des Deutschen Theaters in Prag einen Preis erhielt, wurde er selbständig. 1886 gewann er den ersten Preis in der Konkurrenz für die Ausschmückung des Deutschen Volkstheaters in Wien durch seine originelle Giebelgruppe (Bacchuszug); er hat sie dann mit noch vielen anderen Figuren, die das Haus schmücken, ausgeführt, und sein älteres Werk wird nun auf sein neuestes, das Raimund-Denkmal, herniederschauen. Auch für die Theater in Zürich und Wiesbaden war Meister Vogl hervorragend beschäftigt, und ganz jüngst noch hat er mit seinem anmutigen „Radl-Madl“ für den Wiener Bicycleklub eine rasch populär gewordene Figur geschaffen. Moritz Necker.
Fantasia. (Zu dem Bilde S. 361.) „Fantasia!“ Das ist ein Wort, bei dessen Klang der Orientale sich über des Lebens Notdurft hinwegsetzt. Den Blumenschmuck im Haar der Frauen, die Verzierungen an seinen Waffen nennt er „Fantasien“. Ebenso heißen Gesänge und Tänze der Alméen, und mit dem Namen der „Fantasia“ wird auch das Tummeln des Rosses, werden Scheinkämpfe der Reiter bezeichnet.
Am beliebtesten sind die letzteren bei den Arabern Nordafrikas. Jedes Fest, jedes besondere Ereignis wird von den Reiterscharen mit „Fantasien“ gefeiert. Unser Bild führt uns eine derartige „Fantasia“ vor.
Alt und jung strömt vor die Thore von Tripolis, denn durch die Straßen hat sich die Kunde verbreitet, daß eine Karawane aus dem fernen Sudan angekommen sei und daß der Gouverneur beschlossen habe, sie festlich zu empfangen. Auf dem Platze vor dem Thore steht die irreguläre Kavallerie, der Oberst in der türkischen Uniform vor der Front, in schnurgerader Linie. Erwartungsvoll schaut alles in die Ferne, bis auf dem nahen Höhenzuge eine Reiterabteilung erscheint: die Deputation der Karawane.
„Jalla ia Uled!“ („Auf Söhne!“) ruft nun der Oberst, und wie ein elektrischer Funke zuckt es durch die buntgewandeten Reiter und ihre Pferde. Im Sturme sprengt die Schar den Fremden entgegen. „Halt!“ – und eine dröhnende Salve grüßt die Wüstenreisenden. Mit Flintengeknall erwidern diese den Gruß und ziehen weiter, umsprengt von den Reitern, die ihre Kunststücke zeigen. Von Augenblick zu Augenblick wächst die Begeisterung. Empfangende und Empfangene bilden zuletzt vor der Stadt einen wirren Knäuel, aus dem Flinten- und Pistolenschüsse fallen, als ob eine Schlacht geliefert würde. „Jalla ia Uled!“ Jubelnde Rufe erschallen aus der Zuschauermenge, denn es wird ja die „Fantasia“ geritten, bei der dem Araber das Herz aufgeht.
So weit der Einfluß des Arabers und sein Roß gekommen sind, kennt man diese „Fantasia“. Sie wird auf den weiten Flächen vor den Thoren der Wüstenstädte geritten, und man kennt sie am Hofe der Sultane jenseit der Wüste in dem fernen Sudan. Freilich nicht immer sind die Reiter schmuck, die Rosse schön und edel – aber die Begeisterung bei diesem Festreiten bleibt immer dieselbe. *
Milchmarkt am Singel zu Amsterdam. (Zu dem Bilde S. 373.) Ein Stück holländischen Lebens führt uns der Maler in seinem Bilde vor. Wir blicken auf einen der alten Deiche an dem Singelkanal, der im fünfzehnten Jahrhundert die äußerste Grenze der Stadt bildete. Der Damm fällt nach dem Wasser zu schräg ab. Zwischen den beiden Häusern links zeigt sich der Eingang zu der alten schmalen Straße des Nieuwen Dijk, und im Hintergründe ragt die Kuppel der Neuen evangelisch-lutherischen Kirche empor. An dieser Stelle erscheinen die Bauern aus der Umgegend, um von hier aus ihre Milch in Karren zu ihren Kunden zu bringen. Es stehen täglich viele Hunderte der blau angestrichenen Kübel auf dem Markt und geben im Verein mit den blauen
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Kitteln der Bauern dem Platz ein charakteristisches Gepräge. Die Milch, die hier „verzapft“ wird, steht im Rufe einer besonderen Güte; sie kommt ja von den trefflichen holländischen Kühen, die auf den herrlichen Weiden der Niederlande prächtig gedeihen. *
Benjamin Vautier †. (Mit Bildnis.) Ein reichgesegnetes Künstlerschaffen, das im höchsten Sinne echt volkstümlich war, hat am 25. April einen jähen Abschluß erfahren: an diesem Tage ist in Düsseldorf, der Stätte seiner langjährigen, von Ruhm und Erfolg gleichmäßig begünstigten Wirksamkeit, der Maler Benjamin Vautier gestorben. Von Geburt ein Sohn der französischen Schweiz, hat Vautier von 1850 an mit wenigen Unterbrechungen andauernd in Düsseldorf gelebt, hier rang er sich aus seinen schüchternen Anfängen schnell und sicher zur vollen Meisterschaft empor, und im deutschen Volksleben, das er am Rhein wie am Neckar, im Schwarzwald wie in Westfalen mit dem gleichen liebevollen Verständnis studierte, haftete seine Kunst mit starken festen Wurzeln und in ihrem innersten Wesen. Zwei deutsche Maler waren es auch, die auf ihn den größten Einfluß ausübten: sein Lehrer Rudolf Jordan in Düsseldorf und Ludwig Knaus, der mit seinen ersten großen ländlichen Genrescenen gerade Aufsehen erregte, als Vautier noch Schüler von Jordan war.
Vautier kam am 27. April 1829 in Morges am Ufer des Genfer Sees als Sohn eines Pfarrers zur Welt. Die erste Kunstunterweisung empfing er bei einem Emailmaler in Genf, bei dem er Uhrgehäuse, Broschen u. a. zu malen hatte. Der Genfer Kunstmaler van Muyden wurde aber rechtzeitig auf das junge Talent aufmerksam; ihm hatte Vautier den Rat zu danken, der ihn nach Düsseldorf führte. Unter dem Eindruck der „Kirmeß“, der „Spieler“ und ähnlicher Bilder von Ludwig Knaus folgte er dessen Beispiel und ging nach Paris, um seine malerische Technik zu vervollkommnen. Hier entstand sein erstes größeres Genrebild „Die Kirchensänger“, das auf der großen Münchner Ausstellung von 1858 glänzende Ausnahme fand. Schon im Jahre vorher hatte er sich aufs neue in Düsseldorf niedergelassen, wo nun unter seinem Pinsel eine ganze Reihe größerer Bilder in schneller Folge hervorging, deren Stoffe sämtlich dem geselligen Leben des Volkes und der Familie entnommen waren. Die seltene Vereinigung von gemütvoller Auffassung mit kraftvoll scharfer Charakteristik, die in ihnen hervortrat, gewann diesen Bildern und den ihnen nachfolgenden Meisterwerken Vautiers eine außerordentliche Volkstümlichkeit, welche mit der Verbreitung Schritt hielt, die ihre Reproduktionen in allen Schichten der Bevölkerung fanden. Die „Gartenlaube“ hat sich angelegen sein lassen, an der Verbreitung der edlen Wirkungen von Vautiers Kunst immer regen Anteil zu nehmen; von seinen bekanntesten Bildern sind viele in den älteren und neueren Jahrgängen erschienen; wir erinnern an die lebensvollen, von feinem Humor durchwürzten Darstellungen „Ein neuer Weltbürger“, „Die Ueberraschung im Wirtshaus“, „Auf dem Standesamt“, „Ein Botaniker auf Reisen“, „Der teure Wein“, „Belauschte Werbung“. Auch direkt für den Holzschnitt hat Vautier gearbeitet. In seinen Illustrationen zu Immermanns „Oberhof“ und Auerbachs „Barfüßele“ finden sich alle Vorzüge seines liebenswürdigen Talents in reichster Fülle entfaltet; mit wunderbarer Anempfindungskraft ist er auf den Geist dieser echt poetischen Dorfgeschichten eingegangen, deren Gestalten heute so, wie er sie gezeichnet, im Volk weiterleben.
Heimfahrt. (Zu dem Bilde S. 377.) Abendfrieden liegt über dem See; leise nur plätschern die Wellen, welche der kräftige Ruderschlag der heimkehrenden Landleute erregt. Ueber die hohen waldbewachsenen Berge, die den Brienzer See umgeben, breitet die Dämmerung ihre Silberschleier. Durch die Stille aber tönt hell und jauchzend der Gesang der Kinder, welche der Abend mit Vater und Mutter und den älteren Geschwistern wieder vereinigt hat. Auf hoher Bergalm haben diese dort die letzten Tage zugebracht, um am schwindelnden Hange das Wildgras zu mähen. In mächtigen Bündeln ward es dann auf den großen geschmeidigen Karren geladen, den die schweizer Wildheuer mit ihrer Last so kühn und schnell hernieder ins Thal zu lenken verstehen. Am Ufer harrten ihrer die Kinder im Kahn. Und nun geht’s heim. Die frische Seeluft labt die von der schweren Arbeit im Sonnenbrand erhitzten Gesichter und Glieder. Und bald vereinigt froher Gesang die Alten mit den Jungen, welche oben auf dem gewaltigen Heuhaufen vergnüglich lagern … Ein freundliches Bild aus dem Volksleben der Schweizer, das in schöner Harmonie zu der Feierabendstimmung steht, welche die Landschaft beseelt!
Wohnt hier die Hexe? (Zu dem Bilde S. 381.) Ein tiefinniger Zusammenhang besteht zwischen unserer deutschen Märchenwelt und der poetischen Stimmung, die jung und alt im deutschen Walde ergreift. Es ist kein Zufall, daß die schönsten und beliebtesten der alten Volksmärchen, die sich durch die Jahrhunderte von Mund zu Mund vererbten, im Walde ihren Schauplatz haben. Als sie entstanden, gab es noch keine Städte, und das Volk, das im Schutz der Burgen das Feld bebaute, hatte mühsam den Boden dem Wald abzuringen, der oft ohne Unterbrechung ganze Länderstrecken bedeckte. Alles Schauerliche und Liebliche, was dem Menschensinne auch heute noch „der Wald erzählt“, fand damals poetischen Ausdruck in den Märchen vom Schneewittchen, vom Rotkäppchen, von Hänsel und Gretel und wie sie alle heißen. Daher wiederholen sich immer aufs neue alle wirklichen Vorgänge, welche diesen Märchen zu Grunde liegen. Und auch heute noch treibt es unbewacht spielende Kinder heimlich in den Wald, wenn sie erst einmal in dessen lauschigem Schatten Blumen gepflückt und Beeren gesucht haben. Sie aber begleitet die schlummernde Erinnerung an die gruselig schönen Waldmärchen, die gar schnell wach wird in den Kinderköpfen, wenn irgend ein befremdlicher Eindruck an eines derselben mahnt. So geht es auch den kleinen barfüßigen Mädchen auf unserem Bilde beim Anblick der einsamen düsteren Köhlerhütte. – „Wohnt hier die Hexe?“ – Sie werden nicht lange auf Antwort warten, sondern baldigst kehrt machen und nach Hause eilen, wo sie dann der Mutter mit fliegendem Atem erzählen, das Hexenhaus im Walde liege ganz in der Nähe.
Gebirgsbach. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die Touristen, die durch das schöne Kärnten wandern, verweilen gern in dem Marktflecken Eisenkappel. In diesem freundlichen Orte mit überwiegend deutscher Bevölkerung finden sie nicht nur gute Verpflegung, sondern auch reiche Gelegenheit zu allerlei schönen Ausflügen und interessanten Gebirgstouren. Von Eisenkappel, das etwa 20 Kilometer von der Südbahnstation Völkermarkt-Kühnsdorf entfernt ist, führt ein bequemer Weg zum Gipfel des 2141 m hohen Hochobirs, auf dem sich eine meteorologische Station befindet. Von seiner Höhe genießt man eine überaus malerische Aussicht; zwischen Bergzügen leuchten die Seen hervor und ziehen sich grüne Thäler mit zahlreichen Ortschaften.
Aber auch die nächste Umgebung von Eisenkappel ist reich an landschaftlichen Reizen. In das Thal von Eisenkappel münden vier Seitenthäler oder „Gräben“, der Loibnig-, der Lopein-, der Remschenniggraben und das Ebriachthal. Sie führen der Vellach klare, rauschende Gebirgsbäche zu und bieten in ihrem Verlaufe eine Fülle reizender, stets wechselnder Aussichten. In einem dieser Thäler, dem Loibniggraben, hat E. v. Lichtenfels das Motiv zu dem stimmungsvollen Bilde gefunden, das unsere Kunstbeilage im Holzschnitt wiedergiebt. *
Der Krieg um Cuba. (Mit Abbildungen.) Nach der Vernichtung der spanischen Flotte bei Manila ist auf dem Kriegsschauplatze bei den Philippinen ein Stillstand in den Operationen eingetreten. Kommodore Dewey hat nicht genügend Landungstruppen zur Verfügung; er ist darum nicht in der Lage, seinen raschen Sieg auszunutzen, und es wird noch einige Zeit vergehen, bis die erforderlichen Truppen von den Vereinigten Staaten eintreffen. So werden die nächsten entscheidenden Kriegsereignisse voraussichtlich auf dem westindischen Kriegsschauplatze stattfinden. Die Stellung der Spanier auf Cuba selbst scheint ziemlich fest zu sein. Der Ausbruch des Krieges hat das Ansehen der Regierung im Lande selbst gestärkt. Es wurde durch ihn das spanische Nationalbewußtsein geweckt; die Scharen der Aufständischen haben sich nicht vermehrt, wohl aber schließt sich die Mehrzahl der Bevölkerung um so entschiedener an den General Blanco, der als Oberbefehlshaber die Verteidigung der Insel leitet. Gleich beim Beginn der Feindseligkeiten sind an der Küste Cubas amerikanische Kriegsschiffe, die Flotte unter Befehl des Kommodore Sampson, erschienen, aber es gelang ihnen zunächst nicht, nennenswerte Erfolge zu erzielen. Havanna, die Hauptstadt der Insel, mit etwa 200000 Einwohnern, hat einen wohlgeschützten Hafen. Er besteht in einer Bucht, die zunächst eine schmale Einfahrt aufweist und sich dann kleeblattartig erweitert. Auf der westlichen Halbinsel zwischen der Bucht und dem Meere liegt die Stadt, deren Gesamtansicht unser Bild S. 388 wiedergiebt. Die Einfahrt in den Hafen wird durch starke Festungswerke verteidigt. An der Spitze der östlichen Halbinsel erhebt sich das Castillo del Morro mit einem Leuchtturm; südöstlich davon zieht sich längs der Hafeneinfahrt das Castillo de la [388] Cabana. Auf dem gegenüberliegenden westlichen Ufer beherrscht das Castillo de la Punta die Einfahrt, während am Strande nach dem offenen Meere zu eine Reihe von Batterien errichtet ist. Diese Befestigungen schützen die Stadt vor einem Flottenangriff; auf der Landseite ist sie durch einige Forts, wie Atares, Principe und San Juan, gedeckt. Die nordamerikanische Flotte unter Kommodore Sampson hat versucht, Havanna zu blockieren und hat auch mit den Forts Schüsse gewechselt, aber sie verließ bald den Platz, um weiter östlich zu operieren.
Es wurden Versuche gemacht, in den Häfen Matanzas und Cardenas kleine Truppenabteilungen und Munition für die Aufständischen zu landen. Die Spanier wiesen aber die Angriffe zurück, bei Cardenas wurde sogar das amerikanische Torpedoboot „Winslow“ schwer beschädigt. Ohne wesentlichen Erfolg verlief auch die Beschießung der Forts von San Juan auf der spanischen Insel Portorico. Von Wichtigkeit waren neuerdings die Bewegungen der spanischen Flotte unter dem Admiral Cervera, die quer durch den Atlantischen Ocean nach Amerika segelte. Ueber die Absichten ihres Führers wurden verschiedene Nachrichten verbreitet. Die einen behaupteten, sie werde sich gegen die Ostküste der Vereinigten Staaten wenden und dort bedeutende Häfen wie Boston oder New York zu bombardieren suchen. Wahrscheinlicher war eine andere Meldung, daß Admiral Cervera Cuba anlaufen werde. Die Amerikaner hatten gegen diese Flotte zwei Geschwader entsendet. Das eine, das sogenannte fliegende Geschwader unter Kommodore Schley kreuzte nördlich von den Antillen, während das zweite unter Kommodore Sampson die Blockade von Havanna aufgab und sich westwärts wendete, um Cervera zu begegnen und ihn zu einer Schlacht zu zwingen. Diese konnte aber nicht stattfinden. Das spanische Geschwader hat den Atlantischen Ocean ohne Unfall durchkreuzt; es ist zuerst bei der Insel Martinique gesehen worden; dann haben Schiffe, die zu ihm gehören, in La Guaira, dem Hafen der venezuelanischen Hauptstadt Caracas, Kohlen eingenommen, und schließlich ist Cervera über Curaçao und zwischen Jamaica und Haiti in den Hafen Santiago de Cuba an der Südküste von Cuba eingelaufen. Inzwischen haben sich die beiden eben erwähnten amerikanischen Geschwader vereinigt und werden wohl mit Nachdruck zu einem entscheidenden Angriff auf die spanische Flotte schreiten. Die amerikanische Flotte ist sowohl an Zahl der Schiffe als auch in der Ausrüstung der spanischen überlegen; es ist somit zu erwarten, daß Cervera, durch die Niederlage Montojos bei Cavite belehrt, den offenen Kampf nicht ohne weiteres annehmen werde. Voraussichtlich wird er den Hafen von Havanna zu erreichen suchen, um hier, unter dem Schutze der Forts und Strandbatterien, den Angriffen der Amerikaner besser widerstehen zu können.
II. Quittung für das Rittershaus-Denkmal. 58 Mk. 33 Pf. von dem deutschen Bäcker-Innungsverband „Germania“, Unterverband Westfalen in Bochum; 50 Mk. von Frau E. Farina in Köln; 100 Mk. von Carl Bremme in Barmen; 20 Mk. von Frau Friedr. Viefhaus in Barmen; 20 Mk. von Eugen Dicke in Barmen; 100 Mk. von Rob. Barthels in Barmen; 20 Mk. von Herm. Traine in Barmen; 20 Mk. von A. H. in Barmen; 5 Mk. von W. Idel in Wermelskirchen; 30 Mk. von A. Ultsch in Leipzig; 100 Mk. von H. Blank in Wetter a. d. Ruhr; 100 Mk. von F. W. Scheulen in Barmen; 20 Mk. von Rob. Huppelsberg in Barmen; 20 Mk. von Ernst Evertsbusch in Haspe; 100 Mk. von Geschw. N. in Barmen; 10 Mk. von Ad. Eickworth in Barmen; 5 Mk. von Rich. Hammer in Barmen; 100 Mk. von einem Westfalen in London; 20 Mk. von Fritz Lange in Barmen; 100 Mk. von Fr. Bayer in Elberfeld; 50 Mk. von Dr. C. Duisberg in Elberfeld: 100 Mk. von Landtags-Abg. Dr. H. Böttinger in Elberfeld: 5 Mk. von Rechtsanwalt Dr. L. Bruch in Mainz; 100 Mk. von Herm. Frese in Barmen; 50 Mk. von Carl Schlieper in Remscheid; 100 Mk. von F. W. Müser, k. Konsul a. D. in Brüssel; 8 Mk. von einer Abschiedsfeier in Barmen; 50 Mk. von
G. A. Schlechtendahl in Barmen; 10 Mk. von Fräulein Anna Aschenberg in Barmen; 30 Mk. von Carl Hugo Jäger in Barmen; 100 Mk. von
Frau Witwe Emil Blank in Leutesdorf; 20 Mk. von Dr. W. Stood in Barmen; 50 Mk. von Dr. Ed. G. Wittenstein in Barmen; 100 Mk. von
Fr. Wilh. Bölling in Barmen; 50 Mk. von Carl Vorwerk in Barmen; 30 Mk. von Frau Witwe F. W. Bölling in Barmen; 107 Mk. gesammelt
von Herm. Klinke in Altena; 5 Mk. von Paula Röttgen in Barmen; 50 Mk. von J. Alb. Schmidt in Barmen; 20 Mk. von Heinr. Overbeck in
Barmen; 100 Mk. von Adolf Vorwerk in Barmen; 20 Mk. von Frau S. H. in Kassel; 100 Mk. von Geh. Kommerzienrat Möllmann in Iserlohn;
100 Mk. von N. N. in Barmen; 25 Mk. von der Burschenschaft „Alemannia“ in Bonn; 300 Mk. von H. Brüninghaus Söhne in Barmen;
100 Mk. von E. Zinn & Hackenberg in Barmen; 100 Mk. von Wm. Weddigen in Barmen; 100 Mk. von Ferd. Bartels in Düsseldorf; 100 Mk.
von Fr. Herm. Rittershaus in Barmen; 100 Mk. von Jul. und Aug. Erbslöh in Barmen; 100 Mk. von Fr. Tillmanns & Komp. in Barmen;
100 Mk. von Friedr. Meese in Barmen; 100 Mk. von Alb. und E. Henkels in Langerfeld; 50 Mk. von Ferd. Mommer & Komp. in Barmen;
30 Mk. von Hugo Frowein in Barmen; 20 Mk. von Fr. Schauff sen. in Barmen; 20 Mk. von L. Feldheim in Barmen; 20 Mk. von Pfleiderer
& Wurm in Barmen; 20 Mk. von G. Mühlinghaus in Barmen; 20 Mk. von Hugo Asmann in Barmen; 20 Mk. von Scheib & Göcke in
Barmen; 10 Mk. von Wilh. Hollweg in Barmen; 20 Mk. von Johs. Bergmann in Barmen; 100 Mk. von Schwarzschild, Fischer & Komp. in
Barmen; 10 Mk. von Dr. Fr. Hartkop in Barmen; 10 Mk. von Ewald Halbach in Barmen; 5 Mk. von Oscar Halbach in Barmen; 30 Mk. von
Herm. Wahl in Barmen; 30 Mk. von Emil Linkenbach in Barmen; 30 Mk. von Hugo Tölle in Barmen; 20 Mk. von Gust. Ad. Dahl in Barmen;
20 Mk. von Rud. Dahl in Barmen; 20 Mk. von A. Wever in Barmen: 20 Mk. von Louis Lekebusch in Barmen; 20 Mk. von Rob. Kaiser in
Barmen; 10 Mk. von Bernh. Ackermann in Barmen; 100 Mk. von J. M. H. in Köln; 120 Mk. von sechs vergnügten Kaliforniern in Barmen;
100 Mk. von M. Hinsberg in Barmen; 50 Mk. von Theod. Hinsberg in Barmen; 100 Mk. von Rud. Engels in Barmen; 20 Mk. von Hch. Hardegen
in Barmen; 10 Mk. von Direktor Hartig in Barmen: je 3 Mk. von Oettel, Groth, Eckert, Ridder, Betzel, Schmalholz, Giesecke, Bäumer, Schlotke,
Jung, Vogelsang, Aeckersberg, Wenner, Bruckmann, Hussels, sämtlich Lehrer der Kunstgewerbeschule in Barmen, zusammen: 45 Mk.; 20 Mk. von Friedr. Cramer in Barmen; 20 Mk. von Wirkl. Geh.-Rat v. Oheimb in Holzhausen; 30 Mk. von C. Th. Stahl in Barmen; 50 Mk. von
Landtagsabgeordneten H. v. Knapp; 150 Mk. von Kommerzienrat Ph. Barthels in Barmen; 50 Mk. von Friedr. Weskott in Barmen.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
[388 a]
Die Holzmalerei findet jetzt wohl am meisten Anwendung bei der farbigen Ausschmückung von bereits mit dem Brennstift verzierten Gegenständen. Aber auch das besondere Verfahren der Imitation von Intarsien mittelst Holzmalerei wird von den Liebhaberkünstlern keineswegs vernachlässigt, so daß es wohl vielen unserer Leserinnen und Leser willkommen sein dürfte, auf die neuen Brand- und Holzmalereifarben des akademischen Malers Keilitz in Leipzig aufmerksam gemacht zu werden. Diese Farben sind für vorliegende Zwecke besonders präpariert und bieten gegenüber den sonst angewandten Beizen oder Wasserfarben längst ersehnte Vorteile. Die Manipulation mit den Beizen erfordert bekanntlich eine große Gewandtheit, und namentlich größere Flächen ein und derselben Farbe sind äußerst schwierig in einem reinen, gleichmäßigen Ton herzustellen, weil die Beizen, sobald sie auf eine etwa schon unter der Hand getrocknete Stelle geraten, dortselbst einen dunkleren Ton hervorrufen und bei ungenügender Präparation des Holzes allerlei häßliche Flecke, Wolken, Ränder erzeugen, die sich durch nichts beseitigen lassen.
Auch Wasserfarben ergeben keine gleichmäßigen Flächen, es fehlt ihnen obendrein jede natürliche Zartheit, sie sind zu deckend, und wenn man sie, um letzteres zu vermeiden, verdünnt, so verlieren sie hinwieder an Leuchtkraft und Tiefe des Tones ganz bedeutend. Die neuen Keilitzfarben jedoch lassen sich wunderbar geschmeidig auftragen, wahren die Lasur, das heißt den Durchblick des Holzes, auf alle Fälle, und behalten auch bei großer Verdünnung ihren Farbeneffekt vollkommen bei, ohne daß jemals die Arbeit als „gemalt“ erscheint. Im satten Auftrag zeigt sich vielmehr das Holz an den bemalten Stellen wie natürlich gefärbt, und im verdünnten Zustand wie „farbig angehaucht“, wodurch der Eindruck wesentlich schöner ist als bei Benutzung von Beizen oder Wasserfarben. Wir bringen die obenstehende Abbildung einer in Intarsiamanier gemalten Tischplatte.
Strickmuster für Kinderstrümpfe. Man stricke zuerst einen beliebigen Rand. Dann fünf Touren rechts, die nächste Tour strickt man 1 Masche links, 1 Masche rechts abgehoben mit vorgelegtem Faden, die folgende Tour 1 Masche rechts, die abgehobene links, jedoch bleibt der abgehobene Faden vorn liegen, dann wieder fünf Touren rechts etc. Sehr praktisch ist es, an den Strümpfchen Bänder anzunähen, um sie paarweise zusammenbinden zu können. Es erleichtert die Hantierungen beim Waschen und Aufhängen bedeutend; auch gehen die Strümpfe nicht so leicht verloren.
Zusammenlegbares Arbeitskörbchen für die Reise. Um sich ein hübsches und leicht einzupackendes Arbeitskörbchen für die Reise zu verschaffen, schneidet man aus steifem Karton ein als Boden dienendes Längenquadrat, das 12 zu 8 cm mißt, und vier abgeschrägte Seitenteile von 12 cm Höhe zu 17 cm Breite. Alle diese Stücke überzieht man mit Naturleinen und garniert überdies die vier als Korbwände gedachten Teile an drei Seiten mit einer Rüsche von farbigem Band. Dann näht man die vier Teile mit der ungarniert gebliebenen Seite fest an das Bodenstück und an die beiden oberen Ecken jedes Außenteils farbige Bindebänder (s. Abbildung).Werden nun die Seitenwände in die Höhe geklappt und mittelst der korrespondierenden Bänder durch Schleifen fest zusammengebunden, so entsteht ein sehr nettes, geräumiges Körbchen; als Handhabe dient ein hüben und drüben angenähtes, steifgefüttertes Band oder Borte. Um das Körbchen in den Koffer zu legen, bindet man einfach die Schleifen an den Ecken auf, klappt die Seitenteile nach unten und hat so einen völlig flachen Gegenstand. H. R.
Brünners Kippkessel. Jede Hausfrau kennt aus eigener Erfahrung die Schwierigkeiten, die mit der Entleerung und Reinhaltung eingemauerter Kochkessel verbunden sind. Flüssigkeiten müssen durch Einstürzen des Eimers herausgehoben und der Rest mittels des Scheuerlappens ausgewischt werden. Dabei werden natürlich die Kessel leicht beschädigt. Diese Unannehmlichkeiten werden durch einen neuen von der Firma Otto Brünner in Artern eingeführten Kippkessel völlig beseitigt. Der Herd desselben ist aus Gußeisen hergestellt und überall aufstellbar, wo ein Schornstein vorhanden ist. Eine Ausmauerung von Chamottesteinen und Asbestonit vermindert thunlichst die Wärmeausstrahlung. Der Kessel selbst ist aus Kupfertafeln von ebenmäßiger Wandstärke gearbeitet. Er wird in den Herdring eingehängt und kann zum Zwecke der Entleerung und Reinigung, wie unsere Abbildung zeigt, mühelos umgekippt werden. In Haus und Hof kann er zum Kochen von Wäsche, Wurst, Kartoffeln, Obst etc. dienen; auch läßt er sich durch Einsetzen eines durchbrochenen Einlagebodens und Anwendung eines festschließenden Deckels in einen Futterdämpfer umwandeln. So eignet er sich vortrefflich für Kleinbesitzer auf dem Lande, aber auch in den Städten dürfte seine Einführung in den Waschküchen von den Hausfrauen mit Freuden begrüßt werden.
Praktisches, einfaches Einmachen von Gemüsen. Die früher gebräuchliche, einfachste Konservierungsmethode junger Gemüse – besonders der auch in einfacheren Haushaltungen stets vorrätigen grünen Bohnen – in Salz läßt man jetzt mehr und mehr fallen; dringt doch die Einsicht in immer weitere Kreise, daß eingesalzene Gemüse, die später zum Genießbarmachen eines längeren Auswässerns bedürfen, viel ihrer Nährstoffe, besonders ihrer Nährsalze, wie auch Zucker- und Eiweißstoffe einbüßen und nahrhaft nicht mehr zu nennen sind. Deshalb greift man immer mehr beim Einmachen von Gemüsen sowohl wie auch Früchten zur Appertschen Methode: zum Einmachen in luftdicht schließenden Büchsen. Meist pflegt nur die erste Anschaffung dieser Büchsen und Gläser ein Hinderungsgrund für manche Hausfrauen zu sein, die Appertsche Einmacheweise anzunehmen. In diesen Fällen kann ich ihnen verraten, daß sie mit trockenen, tadellos sauberen, möglichst weithalsigen Flaschen in Verbindung mit neuen Korken ein gleich günstigen Ergebnis wie mit luftdicht schließenden Büchsen erzielen können. Man breitet ein sauberes Tuch auf einen Tisch, schneidet oder bricht die Bohnen oder enthülst die Erbsen und läßt sie einige Stunden auf dem Tuche liegen, damit sie abtrocknen. Darauf füllt man sie in die ganz trockenen sauberen Flaschen, verkorkt diese mit den neuen, vorher in kochendes Wasser gelegten, dann gut abgetrockneten Korken (am besten mit einer Korkmaschine!), bindet neuen, vorher ebenfalls in kochendes Wasser getauchten Bindfaden über die Korke und wickelt Heu um dieselben.
Die gefüllten Flaschen werden nun aufrecht nebeneinander in ein tiefes Geschirr gestellt, so daß sie sich nicht berühren (zur Vermeidung wickelt man am besten die ganzen Flaschen in Heu), gießt so viel Wasser in das Gefäß, daß die Flaschen bis zum Halse darin stehen, und bringt das Wasser langsam zum Sieden. Man läßt es eine Stunde langsam kochen und die Flaschen in ihm völlig erkalten. Dann entfernt man das Heu, versiegelt die Korke und stellt die Flaschen, bis oben mit feuchtem Sand umgeben, in den Keller. Das Gemüse schmeckt völlig frisch. He.
Aparte süße Speise. In den Küstenstädten, wo man allerhand tropische Früchte aus erster Hand erhält, wird man oftmals Gerichten begegnen, welche im Binnenlande unbekannt sind. Eine solche vorzüglich mundende Speise ist die folgende süße Feigenschüssel. Man nimmt dazu ½ kg Smyrnafeigen, bedeckt sie abends mit kaltem Wasser und läßt sie darin bis zum folgenden Morgen stehen. Dann setzt man die Feigen mit dem Wasser auf und kocht sie langsam weich. Man schneidet sie in Würfel, rührt nun ½ Flasche Wein mit dem Saft einer Citrone und 100 g Zucker heiß, fügt 10 g aufgelöste rote Gelatine hinzu und rührt die Masse, bis sie anfängt dicklich zu werden. Man mischt nun die abgetropften Feigenwürfel und ½ l steife Schlagsahne darunter, füllt die Creme in Krystallschüsseln und läßt sie erkalten. Kleine Löffelbiskuits werden in Streifen geschnitten, mit Aprikosenmus bestrichen und hiermit die Feigenspeise beim Anrichten sternförmig belegt. L. H.
Einfache Reinigung weißer Gesellschaftsstoffe. Reinwollene weiße Gesellschaftskleider und -Blusen, die, so hübsch sie an sich sind, doch im Tragen recht unpraktisch sich erweisen, weil sie allzuleicht schmutzen, werden von praktischen Hausmüttern deshalb nur seufzend fürs Töchterlein bewilligt: kostet ihre Reinigung doch im Laufe der Zeit kein geringes Sümmchen. Dieses kann die Hausfrau sparen, wenn sie die Reinigung der weißen Stoffe selbst vornimmt, und zwar auf folgende Art: Man nimmt Magnesia (die man in jeder Droguenhandlung kaufen kann) und verrührt sie in einer kleinen Schale mit Benzin, so daß ein Brei entsteht. In diesen Brei taucht man ein reines leinenes Tuch und reibt den Stoff sorgfältig damit ab. Eine gute Bürste wird vorher gereinigt, so daß sie tadellos sauber ist – wäre dies nicht der Fall, so würde man statt eines sauberen Kleidungsstückes ein grauschmutziges erhalten – und nun werden die Sachen damit einfach strichweise abgebürstet. Das leinene Tuch muß beim Verreiben öfter erneuert und auch zur Zeit immer nur wenig Benzinbrei angerührt werden, da der Benzin sich rasch verflüchtigt. Zu beachten ist auch noch, daß man der Feuergefährlichkeit des Benzins halber das Reinigen nicht bei Licht vornehmen darf.
[388 b]
Dominoaufgabe.
A, B, C und D nehmen je sechs Steine auf. Vier Steine mit 41 Augen bleiben verdeckt im Talon. B hat auf seinen Steinen 1 Auge weniger als C, aber 11 Augen mehr als D. Es wird nicht gekauft.
A hat:A setzt Fünf-Vier aus und gewinnt dadurch, daß er die Partie bei der fünften Runde mit Zwei-Fünf sperrt. Bei der zweiten Runde kann nur A ansetzen. D muß auch bei der dritten Runde passen. Die übrigbleibenden Steine haben bei den vier Spielern der Reihe nach 4, 17, 9 und 11 Augen.
Welche Steine liegen im Talon? Welche Steine behalten B und C übrig? Wie ist der Gang der Partie? A. St.
Rätsel.
Gar vielen Wesen ist
Versagt das, was ich meine;
Nimmst du ihm Kopf und Fuß,
So hat es kurze Beine.
Scherzrätsel.
Von einer Art Vertrag
Laß Kopf und Fuß verschwinden;
Was dann noch übrig bleibt,
Ach, das ist leicht zu finden.
Versteckrätsel.
In jedem der nachfolgenden sechs Sätze ist je ein Wort versteckt enthalten, das am Schlusse eines jeden Satzes näher bezeichnet wird.
- 1) Von Tennysons Dichtungen kann man als beste „Enoch Arden“ nennen. (Ein Gebirge.)
- 2) Ein normales Herz vollführt in einer Minute 70 bis 80 Schläge. (Eine Oper.)
- 3) Die spanische Armada unterlag im Jahre 1588 der britischen Seemacht. (Ein Feldherr.)
- 4) Die Maulwurfsgrille oder Werre ist ein schädliches Insekt. (Eine Nährpflanze.)
- 5) Die Steinkohle besteht aus Pflanzen- und Tierresten. (Ein Fürstenhaus.)
- 6) Ein rechter Winkel beträgt 90 Grad. (Ein männlicher Vorname.)
Sind alle sechs Wörter richtig gefunden, so nennen deren Anfangs- und Endbuchstaben, beide von oben nach unten gelesen, zwei kühne Forscher der Neuzeit.
Umstellungsaufgabe.
Jedes der nachstehenden 13 Wörter ist durch Umstellung seiner Buchstaben in ein anderes Wort zu verwandeln. Bei richtiger Lösung nennen alsdann die Anfangsbuchstaben der neugebildeten Wörter den Titel einer beliebten Oper.
1) Konrad, 2) Seil, 3) Peso, 4) Alwin, 5) Rose, 6) Lodi, 7) Amsel, 8) Asien, 9) Winde, 10) Radius, 11) Genua, 12) Helm, 13) Sense.
Oscar Leede.
Auflösung des Rätseldistichons auf dem Umschlag von Halbheft 11.
- Aden, Baden.
Auflösung der Skataufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 10.
I.
Im ersten Falle spielt der Spieler in Mittelhand Grand bei folgender Sitzung: gK, sK. im Skat;
- Vorhand: GZ., gO., g9, g8, g7, sZ., sO., s9, s8, s7 = 26,
- Hinterhand: e7, e8, e9, eO., eZ., rW., rD., r9, r8, r7 = 26,
wonach beide Gegner unverlierbares Null ouvert haben. Mittelhand verliert Grand und muß an jeden 48 bezahlen, denn es folgt:
1) g0., gD., rW. (– 16)
2) rD., sZ., rO. (– 24)
3) r7! g7, rZ. (+ 10)
4) eK.! eZ., gZ, (– 24),
womit die Gegner 64 Augen herein haben.
II.
Im zweiten Falle spielte der Spieler Rot-Solo bei folgender Kartenverteilung: Skat: rW., rD. (+ 13),
- Vorhand: eZ, e9, e8, gZ., gK., gO., g9, g8, g7, r9 = 27,
- Hinterhand: eO., e7, r8, r7, sZ., sK., sO, s9, s8, s7 = 20,
und verliert es sonach mit 8 Matadoren, weshalb er an jeden 90 bezahlen muß, denn der Gang des Spiels ist so:
1) gZ! gD., r8. (– 21)
2) sZ.! r9, sD. (– 21)
3) gK., sW.! e7. (+ 6)
4) gW., r7, g7. (+ 2)
5) eW., eO.!! g8. (+ 5)
6) eK.! sK., eZ. (– 18)
womit die Gegner 60 Augen haben. Hätte der Spieler, wie das erste Mal Grand gespielt, so hätte er es diesmal mit 4 Matadoren und mit Schneider (6 x 16 = 96) gewonnen, denn er giebt nur einen Stich auf eK. ab.
Auflösung der Schachaufgabe auf dem Umschlag von Halbheft 11.
1. T a 2 – a 3 K d 5 – e 4
2. D g 2 – c 2 + beliebig
3. c 3 – c 4, D d 3 ≠
A.
1. . . . . g 4 – f 3:
2. D g 2 – g 6 beliebig
3. D g 6 – d 3, e 4, e 6 ≠
Auf 1. . . . . K d 5 – c 4 folgt 2. D g 2 – e 2 + K c 4 – d 5, 3. D e 2 – d 3 ≠; alle andern Gegenzüge von Schwarz erledigt die Drohung 2. S f 3 – g 5 + nebst 3. D g 2 – a 2, e 4 ≠. Der schwächste Gegenzug 1. . . . . e 5 – e 4 ermöglicht schon 2. D g 2 – a 2 ≠.
Auflösung des Bilderrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 11.
- Ein einziger Stein bringt oft viele zum Rollen.
Auflösung des Rätsels auf dem Umschlag von Halbheft 11.
- Lachs, Luchs. Hahn, Huhn. Hammel, Hummel.
Auflösung des Scherzrätsels auf dem Umschlag von Halbheft 11.
- Fl – und – er.
Auflösung des Homonyms auf dem Umschlag von Halbheft 11.
- Bogen.
[Werbung des Verlags Ernst Keil's Nachfolger und von 2 weiteren Firmen (für den amerikanischen Markt?) - hier nicht abgebildet.]