Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens

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Autor: Paul Laband
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Titel: Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens
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aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Siebzehntes Hauptstück: Grenzlande und Kolonien, 91. Abschnitt, S. 203−213
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[203]
Siebzehntes Hauptstück.


Grenzlande und Kolonien.




91. Abschnitt.


Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens.
Von
Exzellenz Wirklichem Geh. Rat Dr. Paul Laband,
o. Professor der Rechte an der Universität Strassburg.


Das Reichsgesetz vom 9. Juni 1871 über die Vereinigung von Elsass und Lothringen mit dem Deutschen Reich bestimmte im § 2, dass die Verfassung des Deutschen Reichs in Elsass und Lothringen am 1. Januar 1873 in Wirksamkeit trete. Dieser Termin wurde auf den 1. Januar 1874 verlegt; doch wurden einzelne Abschnitte der R.V. schon vorher in Geltung gesetzt. Hierdurch wurde in die Verfassung von Elsass-Lothringen ein Gegensatz gebracht, welcher die Quelle vieler Schwierigkeiten der Praxis und Theorie war und dem staatsrechtlichen Zustande Elsass-Lothringens den Charakter des Provisoriums aufdrückte. Denn die Reichsverfassung setzt Staaten mit einer eigenen, von der Reichsgewalt verschiedenen Staatsgewalt voraus, welche hinsichtlich aller der Zuständigkeit des Reichs nicht unterliegenden Angelegenheiten Autonomie, Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit haben. Diese Teilung der Zuständigkeit und der ihr entsprechenden Hoheitsrechte (Staatsgewalt) ist für den Begriff des Bundesstaats das wesentliche Merkmal. Der Begriff des Reichslandes steht dazu im diametralen Gegensatz; er beruht gerade darauf, dass es für das Reichsland keine besondere, von der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt gibt, dass die Reichsgewalt die volle Staatsgewalt ist, dass ihre Zuständigkeit nicht auf gewisse Angelegenheiten beschränkt ist, dass es keine Landesangelegenheiten gibt, welche nicht Reichsangelegenheiten wären. Eine wirkliche, nicht bloss formelle, Geltung der Reichsverfassung hätte daher erfordert, dass das Reichsland zu einem Staat gestaltet, d. h. eine vom Reich verschiedene, in ihrem Kompetenzkreise dem Reich gegenüber selbstständige Staatsgewalt geschaffen worden wäre. Die Einführung der Reichsverfassung hatte aber zunächst die entgegengesetzte Wirkung; sie schloss die Bildung selbständiger, vom Reich unabhängiger Organe der Landesregierung aus. Da alle Angelegenheiten des Reichslandes Reichsangelegenheiten waren, so erstreckte sich die Zuständigkeit der Organe und Behörden des Reichs auf sie. Kaiser, Bundesrat, Reichstag, Reichskanzler nebst dem Reichskanzleramt und Reichsjustizamt, Reichsoberhandelsgericht, Rechnungshof übten Funktionen aus, welche in den Bundesstaaten den Landesbehörden obliegen. Die Reichslandseigenschaft und der Gegensatz gegen die Bundesstaaten [204] traten dadurch in ein helles Licht. Nur in einer Beziehung, nämlich hinsichtlich der Finanzwirtschaft, wurde das Reichsland vollkommen den Bundesstaaten gleichgestellt, da man sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, dass das Reich die finanziellen Hilfskräfte Elsass-Lothringens zu seinem Vorteil ausbeute. Die Organisation des Reichs war aber nicht zur vollen Regierung eines Landes eingerichtet und genügend, sondern sie bedurfte einer Ergänzung durch Behörden, welche die dem Kaiser übertragene Staatsgewalt über Elsass-Lothringen zur Ausübung und Verwirklichung brachten. Der Organisation des Reichs musste eine Organisation der Landesverwaltung hinzugefügt werden durch Behörden, welche den in den Bundesstaaten bestehenden Behörden entsprachen. Das Reichsgesetz vom 23. Dezember 1871 regelte die Einrichtung der Verwaltung, zum Teil unter Anschluss an die bestehende (französische) Behördenorganisation. Während die Zuständigkeit des Reichs nach der Verfassung auf die Beaufsichtigung und Gesetzgebung über die im Art. 4 der R.V. aufgezählten Angelegenheiten und die Verwaltungsbefugnisse auf einzelne, wenig zahlreiche Ressorts beschränkt war, hatte das Reich in Elsass-Lothringen daneben die gesamte Zuständigkeit, welche nach der R.V. den Bundesstaaten geblieben war. Daraus ergab sich die Unterscheidung von Reichs- und Landesgesetzen, von Reichs- und Landesbehörden und Beamten, von Reichs- und Landesvermögen, von Reichs- und Landesschulden und wenngleich die Reichsregierung und die Reichslandsregierung im Kaiser und seinem Reichskanzler eine gemeinsame Spitze hatten, so waren sie doch tatsächlich von einander getrennt und praktisch namentlich durch die finanzielle Sonderwirtschaft des Reichslandes so scharf geschieden, dass die theoretische Identität von Reichsgewalt und Reichslandsgewalt ganz in den Hintergrund treten musste. Obwohl die Verwaltung des Reichslandes ein dem Kaiser und dem Reichskanzler unterstellter Zweig der Reichsverwaltung war, so hatte sie doch teils wegen der dem Oberpräsidenten delegierten umfassenden Befugnisse, teils wegen der von den Reichsfinanzen abgezweigten Landesfinanzwirtschaft das Gepräge einer der Reichsverwaltung gegenüber stehenden Staatsverwaltung. Die Verfassung von Elsass-Lothringen enthielt daher in sich selbst einen Gegensatz; das Grundprinzip war und blieb die Eigenschaft des Reichslandes, die volle und unbeschränkte Staatsgewalt des Reichs, welche das Reich durch den Frankfurter Frieden erworben und ungeschmälert behalten hat; die Konsequenzen dieses Grundprinzips aber waren abgeschwächt und umgebogen und die Einführung der R.V. selbst schien als das Ziel der Entwicklung die Umwandlung des Reichslandes in einen Bundesstaat in Aussicht zu stellen.

In dieser Richtung fielen die Wünsche der Bevölkerung und die Tendenzen der obersten Landesbehörde zusammen. Die Bevölkerung, d. h. diejenigen Personen, welche sich zu deren Führern aufgeworfen hatten und nicht durch gänzliche Fernhaltung von jeder politischen Teilnahme gegen die Zugehörigkeit zum Reich protestierten, verlangte „Autonomie“, d. h. die Regelung der Landesangelegenheiten durch besondere und unabhängige Organe, also Beseitigung der Zuständigkeit des Reichskanzlers, Bundesrats und Reichstags in Landesangelegenheiten, Errichtung eines Landesministeriums, welches einem Landtage verantwortlich und somit der Majorität desselben genehm und gehorsam ist und nach dessen Beschlüssen und Anträgen der Kaiser nach der Vorstellungsweise des Parlamentarismus die Staatsgewalt auszuüben hat. Die Erfüllung dieser Wünsche hätte die Folge gehabt, dass alle politisch wichtigen und einflussreichen Ämter im Lande, so weit möglich, mit Personen besetzt worden wären, welche bereits vor dem Kriege in Elsass-Lothringen ansässig waren oder von solchen abstammten, unter Ausschluss der aus den deutschen Bundesstaaten Eingewanderten. Man erfand dafür das Schlagwort „Elsass-Lothringen den Elsass-Lothringern.“ Es ist nicht nötig, die weiteren Folgen einer solchen Besetzung der massgebenden Ämter näher auszuführen.

Die obersten Landesbehörden standen solchen Wünschen zwar fern; aber sie fühlten sich durch die Abhängigkeit von den Reichsbehörden und vom Bundesrat und Reichstag beengt und in der Führung der Regierungsgeschäfte behindert. Die Zuständigkeit des Bundesrats schloss eine Einmischung des preussischen Staatsministeriums mittelbar in sich, da die Instruktion der preussischen Bundesratsbevollmächtigten von ihm beschlossen wurde. Die elsass-lothringische Regierung stand daher unter dem Druck der preussischen, z. B. in Schul- und Universitätsangelegenheiten und anderen Verwaltungszweigen, dessen Beseitigung ihr gewiss erwünscht gewesen wäre. An Meinungsverschiedenheiten und Reibungen zwischen dem Oberpräsidenten und dem Reichskanzler [205] oder dem Staatssekretär des Reichskanzleramts für Elsass-Lothringen fehlte es auch nicht und obwohl der Oberpräsident die Verhältnisse des Landes und die Bedürfnisse der Verwaltung aus unmittelbarer Anschauung und Erfahrung kannte und in vielen Fällen gewiss besser würdigen konnte als die Reichsbehörden in Berlin, so war doch seine Stellung dem Reichskanzler gegenüber die schwächere, teils weil er dem Reichskanzler untergeordnet war, teils weil dieser Mitglied des Bundesrats und des preussischen Ministeriums war und den unmittelbaren Vortrag beim Kaiser hatte. Es war begreiflich, dass der Oberpräsident eine Stärkung seiner Position anstrebte.

Das Mittel, welches er zu diesem Zwecke anwandte, erschien anfangs sehr harmlos, führte aber sehr bald eine eingreifende Umgestaltung der Verfassung des Reichslandes und den Sturz des Oberpräsidenten selbst herbei. Durch den Allerhöchsten Erlass vom 29. Oktober 1874, also kaum 10 Monate nach dem Inkrafttreten der Reichsverfassung, wurde nominell der Reichskanzler, in Wahrheit der Oberpräsident, ermächtigt, „um die Verwaltung bei der Vorbereitung der Landesgesetze durch die Erfahrung und Sachkunde von Männern beraten zu sehen, welche durch das Vertrauen ihrer Mitbürger ausgezeichnet sind, in Zukunft Entwürfe von Gesetzen über solche Angelegenheiten, welche der Reichsgesetzgebung durch die Verfassung nicht vorbehalten sind, einschliesslich des Landeshaushalts-Etats, einem aus Mitgliedern der Bezirkstage zu bildenden Landesausschusse zur gutachtlichen Beratung vorzulegen, ehe sie den – – zuständigen Faktoren der Gesetzgebung zur Beschlussfassung zugehen“. Auch durfte die gutachtliche Äusserung jener Versammlung über Verwaltungsmassregeln allgemeiner Bedeutung, welche nicht gesetzlich der Beratung oder Beschlussfassung der Bezirkstage unterliegen, vernommen werden. Die zur Beratung bestimmten Vorlagen gingen dem Landesausschusse durch den Oberpräsidenten zu, welcher den Sitzungen beiwohnen und sich durch Kommissare vertreten lassen durfte. Der Oberpräsident und seine Vertreter mussten auf Verlangen jederzeit gehört werden. Die abzugebenden Gutachten, welche die Beschlüsse der Plenarversammlung und die Begründung derselben, sowie die in der Minderheit gebliebenen Ansichten, enthalten sollten, wurden in beglaubigter Ausfertigung dem Oberpräsidenten durch den Vorsitzenden zugestellt.

Durch die Bildung des begutachtenden Landesausschusses wurde weder an dem reichsverfassungsmässigen Wege der Landesgesetzgebung, noch an der Zuständigkeit des Reichskanzlers und der Reichsämter eine Veränderung bewirkt; aber der Oberpräsident konnte seine Vorschläge und Anträge durch Beifügung eines zustimmenden Gutachtens des Landesausschusses gegenüber den vom Reichskanzleramt oder dem Preussischen Ministerium erhobenen Bedenken wirksam unterstützen. Die Entwicklung schritt aber schnell weiter fort. War erst eine Körperschaft zur Beratung von Landesangelegenheiten aus Männern gebildet worden, „welche durch das Vertrauen ihrer Mitbürger ausgezeichnet sind“, so war damit der Grundgedanke einer Vertretung der elsass-lothringischen Bevölkerung gegeben und es konnte nicht ausbleiben, dem Landesausschuss die regelmässigen Rechte einer Volksvertretung beizulegen. Schon nach Verlauf von kaum 2½ Jahren durch das Reichsgesetz vom 2. Mai 1877 wurde bestimmt, dass bei den Landesgesetzen für Elsass-Lothringen, einschliesslich des Landeshaushalts-Etats die Zustimmung des Reichstags durch die Zustimmung des Landesausschusses ersetzt werden kann. Es wurde zwar die Erlassung von Landesgesetzen im Wege der Reichsgesetzgebung vorbehalten; aber es war dies nur ein Notbehelf, von dem nur Gebrauch gemacht werden sollte, wenn es sich darum handelte, einen unberechtigten Widerstand des Landesausschusses oder eine Budgetverweigerung desselben zu brechen. Bei der Haltung der Majoritätsparteien des Reichstages war auch die Aussicht gering, dass ein vom Landesausschuss abgelehntes Gesetz vom Reichstage angenommen werden würde, wenn dies nicht wegen dringender Interessen des Reichs geboten schien. Für den regelmässigen Weg der Landesgesetzgebung, die Feststellung des Landeshaushaltsetats und die Rechnungsprüfung und Entlastung war der Reichstag ausgeschaltet und der Landesausschuss an seine Stelle getreten. Damit hatte der letztere die wichtigsten und wesentlichsten Rechte einer Volksvertretung erhalten. Mit dieser Stellung des Landesausschusses war es nun aber unverträglich, dass die obersten Verwaltungsbehörden für die Landesangelegenheiten, der Reichskanzler und das Reichskanzleramt für Elsass-Lothringen und das Reichsjustizamt ihren amtlichen Wohnsitz in Berlin hatten. Mit dem Landesausschuss verhandelten lediglich der Oberpräsident und die Räte des Oberpräsidiums als seine Kommissare, die [206] Entscheidung in allen Sachen aber hatte der Reichskanzler; er hatte die Landesgesetze und kaiserl. Verordnungen gegenzuzeichnen und er trug die parlamentarische Verantwortung dem Reichstage, nicht dem Landesausschuss, gegenüber. Die räumliche Trennung zwischen dem Landesausschuss in Strassburg und den obersten Regierungsbehörden in Berlin war ein Missstand, welcher beseitigt werden musste und da der Berg nicht zu Mahomed kam, musste Mahomed zum Berg kommen, d. h. die oberste Regierungsbehörde musste nach Strassburg verlegt und dadurch zugleich das schädliche Übermass von einander übergeordneten Instanzen, Oberpräsident, Reichskanzleramt für Elsass-Lothringen und Reichskanzler beseitigt werden. Schon nach weiteren zwei Jahren wurde daher das umfangreiche Gesetz vom 4. Juli 1879, betreffend die Verfassung und die Verwaltung Elsass-Lothringens erlassen, mit welchem die durch den Erlass vom 29. Oktober 1874 begonnene Entwicklung für längere Zeit zum Abschluss kam.

Durch das Gesetz vom 4. Juli 1879 wurden alle Befugnisse und Obliegenheiten, welche durch Gesetze und Verordnungen dem Reichskanzler in elsass-lothringischen Landesangelegenheiten überwiesen worden waren, demselben abgenommen und auf den in Strassburg residierenden Statthalter übertragen. Dadurch schied der Reichskanzler aus der Verwaltung von Elsass-Lothringen aus; der Statthalter trat an seine Stelle. Neben den Reichskanzler der Reichsverfassung trat ein zweiter Reichskanzler für das Reichsland mit denselben Funktionen und derselben Verantwortlichkeit. Dem Statthalter konnten Befugnisse übertragen werden, welche nach dem im Reichslande geltenden Verwaltungsrecht vom Staatsoberhaupt, also vom Kaiser, auszuüben sind; dadurch wurde die Stellung des Statthalters erhöht und mit einem besonderen Glanz umgeben. Für die Charakterisierung der staatsrechtlichen Stellung des Statthalters aber ist dies nicht entscheidend; denn die Übertragung landesherrlicher Befugnisse ist fakultativ, der Art und dem Umfang nach nicht bestimmt und erfolgt für jeden Statthalter persönlich; während der Übergang der Befugnisse und Pflichten des Reichskanzlers auf den Statthalter durch Gesetz feststeht. Der Statthalter ist kaiserlicher Minister, nicht Vizekaiser. Ihm sind alle elsass-lothringischen Landesbehörden und Landesbeamten unterstellt.

Es wurde ferner eine neue Behörde mit dem Sitze in Strassburg unter der Bezeichnung „Ministerium für Elsass-Lothringen“ errichtet, an dessen Spitze ein Staatssekretär steht. Auf diese Behörde gingen über alle Obliegenheiten des Reichskanzleramts für Elsass-Lothringen und des Oberpräsidiums, welche beide Behörden aufgelöst wurden; ferner die vom Reichsjustizamt in der Verwaltung des Reichslands ausgeübten Funktionen; endlich die im Beamtengesetz bezeichneten Befugnisse des Bundesrats bezüglich der Landesbeamten. Die Stellung des Staatssekretärs entspricht derjenigen der Staatssekretäre der obersten Reichsämter. Hinsichtlich der ministeriellen Funktionen des Statthalters hat er die Rechte und die Verantwortlichkeit eines Stellvertreters des Statthalters in dem Umfang, wie ein dem Reichskanzler nach dem Gesetz vom 17. März 1878 substituierter Stellvertreter sie hat. Die Anordnungen und Verfügungen, welche der Statthalter in Ausübung landesherrlicher Befugnisse trifft, sind vom Staatssekretär gegenzuzeichnen. (Ges. § 4.)

Zur Begutachtung der dem Landesausschuss vorzulegenden Gesetzentwürfe wurde aus Angehörigen des Reichslandes ein Staatsrat gebildet. (Ges. §§ 9, 10.)

Der Statthalter wurde ermächtigt, zur Vertretung der Vorlagen aus dem Bereiche der Landesgesetzgebung sowie der Interessen Elsass-Lothringens bei Gegenständen der Reichsgesetzgebung Kommissare in den Bundesrat abzuordnen, welche an dessen Beratungen über diese Angelegenheiten teilnehmen, aber kein Stimmrecht haben. (Ges. § 7.)

Die Zahl der Mitglieder des Landesausschusses wurde auf 58 erhöht, welche teils durch die Bezirkstage, teils durch die Gemeinderäte der vier grossen Städte (Strassburg, Mülhausen, Metz und Kolmar), teils indirekt durch Wahlmänner, welche die Gemeinderäte der anderen Gemeinden ernennen, gewählt wurden. (Ges. §§ 12–14.)

Die Wahlen erfolgten in geheimer Abstimmung auf drei Jahre. Der Kaiser konnte den Landesausschuss vertagen oder auflösen. Der Landesausschuss erhielt ausser den Rechten, welche ihm bereits durch das Gesetz vom 2. Mai 1877 beigelegt waren, das Recht der Initiative innerhalb des Bereichs der Landesgesetzgebung und das Recht, an ihn gerichtete Petitionen dem Ministerium [207] zu überweisen (§ 21). Diese Bestimmungen wurden durch das Gesetz vom 23. Mai 1881 dahin ergänzt, dass die Verhandlungen des Landesausschusses öffentlich sind und die Geschäftssprache desselben die deutsche ist.

Nachdem acht Jahre seit der Vereinigung der von Frankreich abgetretenen Gebiete mit dem deutschen Reich vergangen waren, hatte Elsass-Lothringen bereits eine Verfassung, welche tatsächlich der eines Bundesstaates ähnlich war. Das Reichsland hatte von Anfang an seine eigene, selbständige, von der Finanzwirtschaft des Reichs getrennte Finanzwirtschaft. Es hatte seine eigene Verwaltungsorganisation unter Ausschluss der Reichsorgane, seinen Statthalter, sein Ministerium, seine Landesbehörden und Landesbeamten. Es hatte eine Volksvertretung, welche mit allen Rechten ausgestattet war, welche die Landtage der Bundesstaaten haben. Es hatte seine besondere Landesgesetzgebung, für welche ein eigenes Gesetzblatt bestand. Es gab sogar eine Landesangehörigkeit, welche der Staatsangehörigkeit in den Bundesstaaten entsprach. Seine besonderen Interessen konnten im Bundesrat durch Kommissare des Statthalters zur Geltung gebracht werden. Elsass-Lothringen blieb Reichsland; die Souveränität über dasselbe stand dem Reiche zu; es gab keine von der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt; Elsass-Lothringen war ein Teil des Reichsgebiets, aber kein Mitglied des Bundes und hatte daher keine Mitgliedschaftsrechte; aber die Konsequenzen des Reichslandsbegriffs waren in allen Richtungen abgeschwächt und umgebogen und die tatsächlich bestehende Einrichtung des Reichslandes war der eines Bundesstaates völlig gleichartig. Die Eigenschaft als Reichsland trat nur noch in folgenden Rechtssätzen in die Erscheinung:

1. Da es keine von der Reichsgewalt verschiedene Landesstaatsgewalt im Reichsland gibt, so gibt es auch keinen Landesherrn im staatsrechtlichen Sinne. „Der Kaiser übt die Staatsgewalt aus“ als Organ des Reichs und im Namen des Reichs. Obgleich ihm tatsächlich im Reichsland dieselben Rechte zustehen wie den Landesherren der Bundesstaaten, so ist seine staatsrechtliche Stellung doch eine andere. Er übt nicht wie ein Monarch sein Recht aus, sondern das Recht der Gesamtheit der deutschen Bundesstaaten. Er ist bei der Gesetzgebung nicht nur an Zustimmung der elsass-lothringischen Volksvertretung, sondern auch an die Mitwirkung des Bundesrates, unter Umständen auch an die Zustimmung oder Kontrolle des Reichstags gebunden. Dass der Kaiser als das Oberhaupt des Reiches die Staatsgewalt in Elsass-Lothringen ausübt, ist das charakteristische Merkmal des Reichslands.

2. Der Bundesrat hat das Zustimmungsrecht zu allen Landesgesetzen mit Einschluss des Landeshaushaltsetats. Zwar steht nicht dem Bundesrat, sondern dem Kaiser die Sanktion der Reichsgesetze zu; aber ohne die Zustimmung des Bundesrates kann der Kaiser kein Landesgesetz erlassen. Dadurch kommt die der Gesamtheit der deutschen Staaten zustehende souveräne Staatsgewalt zum Ausdruck und der Bundesrat übt über Elsass-Lothringen ein Recht aus, welches ihm hinsichtlich keines Bundesstaates zusteht.

3. Der Reichstag hat ein subsidiäres Zustimmungsrecht zu Landesgesetzen, da der Weg der Reichsgesetzgebung auch hinsichtlich der Landesgesetze zulässig ist. Freilich ist hiervon niemals Gebrauch gemacht worden.

4. Da das Reichsland kein Mitglied des Bundes ist, so hat es auch keine Mitgliedschaftsrechte, insbesondere keine Stimmen im Bundesrate.

Auf diese 4 Punkte beschränkte sich der Gegensatz zwischen dem Reichslande und den Bundesstaaten und auf die Beseitigung derselben war seit einer Reihe von Jahren eine lebhafte Agitation gerichtet.

Man kann nicht sagen, dass die Entwicklung der Reichslandsverfassung langsam sich vollzogen habe und namentlich seit 1879 eine Stagnation eingetreten sei; man könnte vielleicht mit gleichem Recht behaupten, dass die Entwicklung bis zum Gesetz vom 4. Juli 1879 überhastet war und dass seit diesem Gesetz Elsass-Lothringen eine Verfassung erhalten hatte, welche einen Ruhepunkt bilden musste, abgesehen von den verfehlten Vorschriften über die Bildung des Landesausschusses.

Was nun die angegebenen vier Punkte anlangt, in denen das Reichsland von den Bundesstaaten noch unterschieden war, so sollte durch eine neue Verfassungsreform, welche nach Überwindung [208] grosser, von den Fraktionen des Reichstags bereiteter Schwierigkeiten in dem Verfassungsgesetz und dem Wahlgesetz vom 31. Mai 1911 zustande kam, den auf Beseitigung derselben gerichteten Wünschen Rechnung getragen werden.

Unter diesen vier Punkten bestand aber eine sehr grosse Verschiedenheit. Der praktisch wichtigste war die Ausübung der Staatsgewalt durch den Kaiser Namens des Reichs. Solange sie bestand, war der Reichslandscharakter gewahrt und die Sicherheit geboten, dass das Interesse Deutschlands am Besitz des Reichslands nicht gefährdet werde. Solange ein vom Kaiser ernannter und durch sein Vertrauen ausgezeichneter Mann, den der Kaiser auch jederzeit abberufen kann, an der Spitze der Landesregierung steht, die höheren Beamten auf Vorschlag des Statthalters vom Kaiser ernannt werden, das Oberhaupt des Reichs die oberste Leitung und Beaufsichtigung der Landesregierung führt, ist die Gefahr ausgeschlossen, dass diese Regierung unter dem massgebenden Einfluss einer deutschfeindlichen Mehrheit der Volksvertretung steht. Die fortschreitende Entwicklung zum Parlamentarismus, welche unserer Zeit eigentümlich ist, würde in Elsass-Lothringen, so wie die Verhältnisse dort noch liegen, die Abwehr der inneren, nationalen Angliederung der elsass-lothringischen Bevölkerung an das deutsche Volk bedeuten. Es fehlte daher nicht an Versuchen, die kaiserliche Machtstellung zu beseitigen oder zu beschränken. In der Kommission des Reichstages zur Beratung des Verfassungsgesetzentwurfs wurde der Antrag gestellt, den Anfang des Gesetzes, wie folgt, zu fassen:

§ 1. Die Staatsgewalt in Elsass-Lothringen übt das elsass-lothringische Volk durch die auf Grund dieses Gesetzes berufene Regierung aus. § 2. Die Regierungsgeschäfte werden durch einen vom Landtage aus seiner Mitte mit absoluter Mehrheit gewählten Regierungsausschuss besorgt.

Der Antrag wurde allerdings abgelehnt, aber ein anderer Antrag angenommen, wonach das Gesetz mit den Worten beginnen sollte:

Elsass-Lothringen bildet einen selbständigen Bundesstaat des Deutschen Reichs.

Andere Vorschläge gingen dahin, dass der Statthalter vom Landtag mit absoluter Mehrheit auf je 5 Jahre gewählt wird und schon vorher durch Landtagsbeschluss abberufen werden könne; oder dass der Statthalter auf Vorschlag des Landtags auf Lebensdauer ernannt wird; oder dass der Statthalter auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser ernannt wird und nur durch Bundesratsbeschluss abberufen werden kann und zwar nur, wenn nicht 14 Stimmen dagegen sind. Es wurde ferner beantragt, dass nicht der Kaiser, sondern der Statthalter „die Minister ernennen und entlassen solle“. Man wollte den Statthalter möglichst unabhängig vom Kaiser und möglichst abhängig von der Landtagsmehrheit machen und man wollte ein Ministerium haben, welches dieser Mehrheit entnommen oder ihr genehm ist und nach der Pfeife dieser klerikaldemokratischen Mehrheit tanzt, namentlich bei der Besetzung der Ämter deutsche und deutschfreundliche Elemente ausschliesst. Es ist selbstverständlich, dass die Regierung auf solche Anträge nicht eingehen konnte und dass das ganze Reformwerk hätte scheitern müssen, wenn sie zum definitiven Beschluss des Reichstags erhoben worden wären. Das schliessliche Resultat war auch, dass an der Stellung des Kaisers, des Statthalters und dem Recht der Ernennung der Beamten nichts geändert wurde. Nur wurden die schlecht gefassten Vorschriften des Gesetzes vom 4. Juli 1879, welche den Statthalter betreffen, verbessert, näher präzisiert und mit Rücksicht auf die anderweitigen Veränderungen der Landesverfassung ergänzt.

Anders verhielt es sich mit dem Bundesrat. Theoretisch entsprach zwar sein Zustimmungsrecht zu allen Landesgesetzen und Rechtsverordnungen des Kaisers der Reichslandseigenschaft und dem Anteil aller Bundesstaaten an der Reichsgewalt; aber praktisch hatte die Betätigung dieses Rechts keinen Nutzen, wohl aber Nachteile und Schwierigkeiten zur Folge. Der Bundesrat ist nach seiner Zusammensetzung und nach dem ihm zugrunde liegenden Begriff zur Behandlung der besonderen Angelegenheiten der einzelnen Staaten ungeeignet und dies trifft auch auf die Landesangelegenheiten des Reichslands zu. Wie ist es sachlich zu rechtfertigen, dass die Regierungen aller deutschen Einzelstaaten, welche an diesen Angelegenheiten nicht das geringste Interesse haben und mit den Bedürfnissen der Landesverwaltung nicht vertraut sind, bei Regelung [209] derselben ein Mitbestimmungsrecht haben? Den Bundesrat kann man sich nicht als dem Organismus eines einzelnen Bundesstaats eingefügt denken; er reicht immer darüber hinaus und gehört einem Staatsverbande höherer Ordnung an. Für die Bundesregierungen hatte die Mitwirkung an der Landesgesetzgebung Elsass-Lothringens keinen politischen Wert; für die Regierung des Reichslands aber war die Notwendigkeit, zum Haushaltsetat und zu allen landesgesetzlichen Anordnungen die Zustimmung des Bundesrats herbeizuführen, eine nicht unerhebliche Erschwerung und Verzögerung der Geschäftsführung, an deren Beseitigung ihr gelegen war. Für die Bevölkerung von Elsass-Lothringen endlich musste die Ausübung von Hoheitsrechten seitens der deutschen Bundesregierungen in Landesangelegenheiten das Gefühl einer Bevormundung erregen und da etwas Ähnliches in keinem anderen Teile des Reichsgebiets stattfindet, wurde dies als eine Versagung der Gleichberechtigung empfunden. Es bestand daher ein allgemeines Einverständnis darüber, dass die Teilnahme des Bundesrats an der Landesgesetzgebung aufhöre und durch den Ausbau des Landesausschusses zu einem aus zwei Kammern bestehenden Landtag ersetzt werden soll. Mit dem Ausscheiden des Bundesrats hört auch die indirekte Einwirkung auf, welche das preussische Ministerium auf die elsass-lothringische Landesgesetzgebung und den Haushaltsetat ausübte. Denn da die Anträge beim Bundesrat in elsass-lothringischen Angelegenheiten Präsidialanträge waren und als preussische Anträge behandelt wurden, so war es ausgeschlossen, dass die preussischen Stimmen gegen dieselben abgegeben wurden; sie mussten daher, bevor sie an den Bundesrat gelangten, vom preussischen Staatsministerium geprüft und genehmigt werden. Diese Kontrolle des preussischen Ministeriums über alle Massnahmen der elsass-lothringischen Regierung war sowohl dieser als dem Landesausschuss unerwünscht.

Was vom Bundesrat gilt, trifft in der Hauptsache auch auf den Reichstag zu. Der Reichstag konnte nach seiner Zusammensetzung ebensowenig wie der Bundesrat ein Organ der Landesgesetzgebung sein; die in den Bundesstaaten gewählten Abgeordneten hatten in der Regel an den besonderen Angelegenheiten des Reichslandes kein Interesse und von den besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen der Landesverwaltung keine unmittelbare Kenntnis. Wenn auch tatsächlich von der Befugnis, Landesgesetze im Wege der Reichsgesetzgebung zu erlassen, kein Gebrauch gemacht wurde, soweit nicht die formelle Gesetzeskraft eines Reichsgesetzes dazu nötigte, so hatte doch die Regierung die vollkommen freie Wahl, ob sie in Landesangelegenheiten den bundesstaatlichen oder den reichsländischen Weg der Gesetzgebung beschreiten, d. h. dem Reichstag oder dem Landesausschuss die Vorlage machen wollte. Die Opposition des Landesausschusses gegen Gesetzesvorschläge konnte gebrochen werden, wenn die Majorität des Reichstages zustimmte. Durch diese Möglichkeit wurde ein politischer Druck auf den Landesausschuss ausgeübt; er war weniger frei als die Landtage der Einzelstaaten. Durch das Verfassungsgesetz vom 31. Mai 1911 wurde daher diese ohnehin unpraktische Zuständigkeit des Reichstags aufgehoben.

Die grössten Schwierigkeiten machte dagegen die Gewährung von Bundesratsstimmen. Die Schwierigkeiten waren sowohl theoretischer als praktischer Art. Die Stimmführung im Bundesrat ist ein Mitgliedschaftsrecht der Bundesstaaten; sie setzt eine von der Reichsgewalt verschiedene Landesstaatsgewalt voraus; der eigene selbständige Wille der Bundesstaaten kommt durch die Abstimmung im Bundesrat zur Geltung; das Reichsland dagegen ist kein Mitglied des Bundes; es gibt in demselben keine von der Reichsgewalt verschiedene Landesstaatsgewalt. Es ist widersinnig, dass das Reich sein eigenes Mitglied ist und Rechte ausübt, welche ein von ihm verschiedenes Subjekt erfordern. Aber die Versagung von Stimmen im Bundesrat bildete ein wirksames Mittel der Agitation, der Erregung von Unzufriedenheit im Lande. Von dem praktischen Nutzen dieser Stimmen hatte die Bevölkerung keine rechte Vorstellung, aber sie begriff, dass sie den Bevölkerungen der Bundesstaaten gegenüber zurückgesetzt war, indem sie im Bundesrat keine Vertretung hatte. Da das Reichsland eine Verfassung hatte, welche der der Bundesstaaten fast ganz gleich war, so erblickte man gerade in dem Mangel an Bundesratsstimmen die Versagung der Gleichberechtigung mit den Bundesstaaten. Dass der Regierung in Strassburg die Einräumung von Bundesratsstimmen nicht unerwünscht war, ist selbstverständlich. Da der Gesetzgeber nicht genötigt ist, logisch zu sein, und die Konsequenzen eines Prinzips zu ziehen, so konnte ihn die staatsrechtliche Natur des Reichslandes nicht abhalten, demselben Stimmen im Bundesrat einzuräumen; [210] man brauchte ja nur, wie dies bereits in anderen Fällen geschehen war, zu einer Fiktion zu greifen und den Satz aufzustellen: Das Reichsland gilt als Bundesstaat.

Aber nun kamen die praktischen Schwierigkeiten: Zunächst erhob sich die Frage, wer die reichsländischen Bevollmächtigten instruieren solle. Da der Kaiser die Staatsgewalt in Elsass-Lothringen ausübt, so wäre die von selbst gegebene, sozusagen natürliche Antwort gewesen: der Kaiser. Aber dies hätte Folgen gehabt, die man vermeiden wollte. Entweder hätte nämlich der Kaiser die elsass-lothringischen Stimmen in dem gleichen Sinne wie die preussischen instruiert; alsdann wären die drei elsass-lothringischen Stimmen den preussischen zugewachsen, das Stimmenverhältnis der Reichsverfassung wäre zu Gunsten Preussens verändert worden und der Einfluss der preussischen Regierung auf die elsass-lothringische hätte eine neue verfassungsrechtliche Grundlage erhalten. Oder der Kaiser hätte auf den Antrag der elsass-lothringischen Regierung die reichsländischen Stimmen im entgegengesetzten Sinne wie die preussischen abgeben lassen; dann hätte er gegen sich selbst gestimmt, sein Votum als König von Preussen durch sein Votum als Kaiser teilweise aufgehoben; das wäre lächerlich und mit der Würde des Kaisers unvereinbar gewesen. Den Ausweg aus diesem Dilemma fand man darin, dass der Statthalter den elsass-lothringischen Bundesratsbevollmächtigten die Instruktion erteilt. Dadurch wurde einerseits die Zahl der preussischen Stimmen formell nicht erhöht, andrerseits der Missstand vermieden, dass der Kaiser gegen den König von Preussen, also gegen sich selbst stimmt.

Aber man konnte sich nicht verhehlen, dass dies nur eine formelle Abhilfe ist; der Statthalter kann in wichtigen Fragen seinem kaiserlichen Herrn nicht Opposition machen; er kann nicht – z. B. beim Abschluss von Handelsverträgen und anderen Angelegenheiten von wirtschaftlicher Bedeutung – andere Tendenzen verfolgen wie der Reichskanzler; er hat nicht die Stellung eines Landesherrn, sondern die eines kaiserlichen Ministers. Es war daher das schwierige Problem zu lösen, Elsass-Lothringen Stimmen zu gewähren, ohne dadurch tatsächlich die preussischen Stimmen im Bundesrat zu vermehren. Dieses Problem ist im Gesetz vom 21. Mai 1911 in der Art gelöst worden, dass die elsass-lothringischen Stimmen nicht gezählt werden, wenn durch sie Preussen die Majorität oder wegen Stimmengleichheit den Stichentscheid erhalten würde und dass andererseits sie gegen eine von Preussen beantragte oder befürwortete Verfassungsänderung nicht zur Bildung der 14 Stimmen, denen ein Veto zusteht, dienen können. Sie werden also nur gezählt, wenn Preussen ohne sie bereits die Majorität der Bundesratsstimmen für sich hat oder wenn durch sie – was tatsächlich wohl niemals vorkommen wird – eine Majorität gegen die preussischen Stimmen hergestellt wird. Ein Statthalter, welcher ein solches Resultat herbeiführt und seinen Kaiser niederstimmt, dürfte wohl nicht mehr lange im Amt bleiben. Der politische Wert der elsass-lothringischen Stimmen ist daher problematisch und in keinem Falle gross; dagegen kann es unter Umständen für die Geltendmachung besonderer elsass-lothringischer Interessen, z. B. der Feststellung der Übergangssteuer für Bier, vom Nutzen sein, dass die elsass-lothringische Regierung in einem oder mehreren Bundesratsausschüssen vertreten ist, obgleich es auch bisher an Mitteln zur Wahrung dieser Interessen nicht gefehlt hat.

In dem Reichsgesetz vom 31. Mai 1911 haben diese Erwägungen folgende Fassung erhalten:

„Art. I. In die Reichsverfassung wird als Art. 6a folgende Vorschrift eingestellt:

Elsass-Lothringen führt im Bundesrate drei Stimmen, so lange die Vorschriften im Art. II § 1, § 2 Abs. 1 und 3 des Gesetzes über die Verfassung Elsass-Lothringens vom 31. Mai 1911 in Kraft sind.
Die elsass-lothringischen Stimmen werden nicht gezählt, wenn die Präsidialstimme nur durch den Hinzutritt dieser Stimmen die Mehrheit für sich erlangen oder im Sinne des Art. 7 Abs. 3 Satz 3 den Ausschlag geben würde. Das Gleiche gilt bei der Beschlussfassung über Änderungen der Verfassung.
Elsass-Lothringen gilt im Sinn des Art. 6 Abs. 2 und der Art. 7 und 8 als Bundesstaat.“

Durch das Gesetz vom 31. Mai 1911 sind demnach alle aus der Reichslandseigenschaft folgende Besonderheiten und Unterschiede der Stellung Elsass-Lothringens gegen die Bundesstaaten ausgeglichen und verschwunden bis auf zwei:

[211] 1. Es gibt keine von der Reichsgewalt verschiedene Landesstaatsgewalt; die letztere wird vom Kaiser als Organ des Reichs und im Namen desselben ausgeübt.

2. Die Verfassung Elsass-Lothringens ist Reichsangelegenheit; sie ist durch Reichsgesetz geregelt und kann durch Reichsgesetz, aber nicht durch Landesgesetz, abgeändert werden.

Die Veränderung des Verhältnisses Elsass-Lothringens zum Reiche hätte nicht notwendig eine Umgestaltung der inneren Verfassung des Reichslandes herbeizuführen gebraucht. Aber teils sollte für die Ausschaltung des Bundesrats aus dem Wege der Landesgesetzgebung ein Ersatz geschaffen werden, teils entsprach die Art, wie der Landesausschuss gebildet wurde, weder den Grundsätzen, welche in den anderen Staaten über die Bildung der Volksvertretung gelten, noch den Wünschen der Bevölkerung. Die Verfassung des Landes sollte auch in dieser Beziehung den[WS 1] in den deutschen Mittelstaaten bestehenden Grundsätzen entsprechend umgestaltet werden. Landesausschuss und Staatsrat wurden demgemäss aufgehoben und ein aus zwei Kammern bestehender Landtag an die Stelle gesetzt.

Die erste Kammer insbesondere soll einen Ersatz für die Mitwirkung des Bundesrats an der Landesgesetzgebung und – soweit erforderlich – ein Gegengewicht gegen die aus allgemeinen Wahlen hervorgehende zweite Kammer bilden. Ihr gehören an kraft ihres Amtes die Bischöfe zu Strassburg und Metz, sowie während der Sedisvakanz eines der Bistümer sein ältester Bistumsverweser, ferner der Präsident des Oberkonsistoriums der Kirche Augsburgischer Konfession, der Präsident des Synodalvorstandes der reformierten Kirche und der Präsident des Oberlandesgerichts zu Colmar. Eine zweite Gruppe von Mitgliedern wird durch Wahl berufen, nämlich ein Vertreter der Universität Strassburg, ein Vertreter der israelitischen Konsistorien, je ein Vertreter der Städte Strassburg, Metz, Colmar und Mülhausen, je ein von den Handelskammern zu Strassburg, Metz, Colmar und Mülhausen gewählter Vertreter, je zwei vom Landwirtschaftsrat aus im Hauptberuf in der Landwirtschaft tätigen Personen der Bezirke Oberelsass, Unterelsass und Lothringen gewählte Vertreter, von denen je einer aus jedem Bezirk bäuerlicher Kleinbesitzer sein muss, und zwei von der Handwerkskammer zu Strassburg gewählte Vertreter. Dazu sollen drei Vertreter des Arbeiterstandes hinzutreten, sobald durch Reichs- oder Landesgesetz eine Arbeitervertretung geschaffen ist, der die Wahl übertragen werden kann. Wählbar sind nur Reichsangehörige, die in Elsass-Lothringen ihren Wohnsitz haben und mindestens 30 Jahre alt sind.

Endlich werden in Elsass-Lothringen wohnhafte Reichsangehörige vom Kaiser auf Vorschlag des Bundesrats ernannt, deren Zahl die der übrigen Mitglieder nicht übersteigen darf. Die Mitgliedschaft der gewählten und ernannten Mitglieder dauert fünf Jahre von dem Tage an, an welchem ihnen die Wahl oder Ernennung amtlich mitgeteilt worden ist, falls sie nicht früher mit dem Wegfall der gesetzlichen Voraussetzungen für die Berufung sowie durch die Auflösung der ersten Kammer erlischt.

Die zweite Kammer geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung hervor; die Wahlperiode beträgt fünf Jahre vom Tage der allgemeinen Wahlen an. Die näheren Vorschriften über die Wahl sind in einem besonderen Wahlgesetz enthalten, welchem der Charakter eines Landesgesetzes beigelegt worden ist, das also im Wege der Landesgesetzgebung abgeändert werden kann. Nach dem Wahlgesetz besteht die zweite Kammer aus 60 Abgeordneten, welche in ebenso vielen Wahlkreisen, die auf die 23 Verwaltungskreise verteilt sind, gewählt werden. Voraussetzungen der Wahlberechtigung sind männliches Geschlecht, Reichsangehörigkeit, Zurücklegung des 25. Lebensjahres und ein mindestens dreijähriger Wohnsitz in Elsass-Lothringen. Jedoch genügt der Wohnsitz von einjähriger Dauer für diejenigen Einwohner, die in Elsass-Lothringen ein öffentliches Amt ausüben, Religionsdiener oder Lehrer an öffentlichen Schulen sind. Jeder Wahlberechtigte hat eine Stimme; der Vorschlag Pluralitätsstimmen zu schaffen, wurde abgelehnt. Wählbar sind die männlichen Einwohner Elsass-Lothringen’s, welche seit mindestens drei Jahren die Reichsangehörigkeit besitzen, ebensolange in Elsass-Lothringen ihren Wohnsitz haben, eine direkte Staatssteuer entrichten und das 30. Lebensjahr vollendet haben. Im Anschluss an das bestehende Gemeindewahlrecht sind von der Wahlberechtigung und der Wählbarkeit ausgeschlossen Personen, welche bei Abschluss der Wählerliste mit den für die letzten beiden Rechnungsjahre [212] fälligen direkten Staatssteuern oder Gemeindeabgaben trotz rechtzeitiger Mahnung und ohne Stundung erhalten zu haben, ganz oder zum Teil im Rückstand sind. Wahlgesetz § 2 Abs. 3 Ziff. 3 und § 4 Abs. 2.

Hinsichtlich der Tätigkeit des Landtages, seiner Rechte und der Rechte seiner Mitglieder gelten diejenigen Regeln, welche auch sonst von den Landtagen und ihren Mitgliedern in Geltung stehen. Die Vorschriften, welche das Verfassungsgesetz darüber enthält, entsprechen teils den Artikeln der Reichsverfassung und der preussischen Verfassung, teils den bereits im Gesetz vom 4. Juli 1879 enthaltenen Vorschriften. Hervorzuheben sind nur folgende Besonderheiten: Über Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahlen der Landtagsmitglieder entscheidet nicht die betreffende Kammer, sondern der oberste Verwaltungsgerichtshof und bis zu seiner Errichtung ein Senat des Oberlandesgerichts.

Es gibt keine Stichwahlen. Soweit sich bei der Hauptwahl keine absolute Mehrheit ergibt, findet am 7. Tage nach der Hauptwahl eine Nachwahl statt, bei welcher derjenige gewählt ist, welcher die meisten gültigen Stimmen erhalten hat. (Wahlgesetz § 10 Abs. 2.)

Dem Kaiser steht es zu, beide Kammern, und zwar gleichzeitig, zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schliessen. Er kann beide Kammern auflösen; die Auflösung nur einer derselben hat für die andere den Schluss der Sitzungsperiode zur Folge. (Verfassungsgesetz § 11.)

Die Geschäftssprache des Landtags ist deutsch; seine Verhandlungen sind öffentlich. (Daselbst § 15.)

Zur Beschlussfähigkeit der ersten Kammer ist die Anwesenheit von mindestens 23 Mitgliedern, der zweiten Kammer die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl ihrer Mitglieder, also 31, erforderlich. (Daselbst § 18.)

Für den Staatshaushaltsetat, welcher alljährlich durch Gesetz festgestellt wird, gelten drei besondere Vorschriften von grosser Bedeutung. Er muss zuerst der zweiten Kammer vorgelegt werden und die erste Kammer kann ihn nur im ganzen annehmen oder ablehnen. Dieser Beschluss der ersten Kammer kann sich nur auf diejenige Gestalt des Etatsgesetzentwurfes beziehen, welche aus den Beratungen und Beschlüssen der zweiten Kammer hervorgegangen ist. (§ 6 Abs. 1.)

Die zweite Kammer darf ohne Zustimmung der Regierung im Etatsentwurfe nicht vorgesehene Ausgaben oder Erhöhungen von Ausgabeposten über den Betrag der von der Landesregierung vorgeschlagenen Summe in den Etat nicht einsetzen. (§ 6 Abs. 2.)

Wenn das Etatsgesetz beim Beginn des neuen Wirtschaftsjahres, gleichviel aus welchem Grunde, nicht verkündigt ist, so bleibt die Regierung ermächtigt, die gesetzlich bestehenden Steuern und Abgaben fortzuerheben und soweit deren Erträge nicht ausreichen, um die rechtlich begründeten Verpflichtungen der Landeskasse zu erfüllen, sowie Bauten, die auf Grund eines dem Landtag vorgelegten und von ihm genehmigten Bauanschlags ausgeführt werden, fortzusetzen und die gesetzlich bestehenden Einrichtungen zu erhalten und fortzuführen, Schatzanweisungen auszugeben. (§ 6 Abs. 3.)

Obgleich diese Sätze nichts enthalten, was nicht ohnehin aus einer richtigen Würdigung des konstitutionellen Budgetrechts folgt, so ist doch ihre gesetzliche Sanktion von grosser Wichtigkeit, da jene von der Theorie entwickelten Sätze bekanntlich bestritten sind.

Die angeführten Regeln über die Bildung, Geschäftstätigkeit und Befugnisse der beiden Kammern und ihre Mitglieder bilden den wichtigsten und wesentlichsten Bestandteil des als Verfassung von Elsass-Lothringen bezeichneten Art. II des Reichsgesetzes vom 31. Mai 1911, aber nicht den einzigen. Der Erlass des Gesetzes bot zunächst die Gelegenheit, die schlechte Fassung der Bestimmungen des Gesetzes vom 4. Juli 1879 über die Stellung des Kaiserlichen Statthalters zu verbessern, Zweifel, die über ihre Auslegung entstanden waren, zu erledigen und die Anordnungen den neuen Verhältnissen entsprechend zu ergänzen.

Sodann wurde das streitig gewordene Verhältnis der Landesregierung zur Reichsregierung hinsichtlich der beiderseitigen Hoheitsrechte über das Eisenbahnwesen dahin geordnet, dass das Reich in Elsass-Lothringen das Eisenbahnmonopol hat und dass, soweit es selbst Eisenbahnen baut oder betreibt, die Ausübung der auf den Bau und Betrieb der Eisenbahnen sich beziehenden Rechte der Reichsverwaltung zustehen; dass jedoch die Landesbehörden anzuhören sind, bevor Entscheidungen der Reichsbehörden ergehen, welche die Verkehrsinteressen des Landes berühren oder in [213] den Geschäftsbereich der Landespolizei eingreifen. Das Gleiche gilt für die Entscheidungen über die Zulässigkeit der Enteignung. (Gesetz § 24.)

Endlich wurde das bereits bestehende Landesrecht in zwei Punkten mit der Garantie des Reichsrechts ausgestattet und dadurch der Abänderung durch Landesgesetz entzogen, indem das Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung vom 3. Juli 1869 (Bundesgesetzblatt S. 292) in Elsass-Lothringen eingeführt wurde (§ 25) und die deutsche Sprache zur amtlichen Geschäftssprache der Behörden und öffentlichen Körperschaften, sowie zur Unterrichtssprache in den Schulen des Landes erklärt und die ausnahmsweise Zulassung der französischen Sprache als Geschäftssprache und Unterrichtssprache geregelt worden ist (§ 26).

Das in formeller Hinsicht vorzüglich redigierte Gesetz ist am 1. September 1911 in Kraft getreten. Die Verfassung Elsass-Lothringens hat dadurch eine neue Stufe der Entwicklung erreicht, durch welche allen berechtigten Ansprüchen Genüge geschieht. Voraussichtlich wird diese neue Verfassung für lange Zeit Bestand haben und zum Wohle des Landes gereichen, wenn die Bevölkerung und die von ihr gewählten Vertreter von den ihnen gewährten politischen Rechten einen weisen, verständigen und massvollen Gebrauch machen.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: der