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Die sieben Sendschreiben der Offenbarung St. Johannis/Einleitung

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Die sieben Sendschreiben der Offenbarung St. Johannis
Das erste Sendschreiben »
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Einleitung


 Die sieben Sendschreiben sind die einzigen Briefe, die der Herr Jesus Christus geschrieben hat. Es sind Briefe, mit seinem Herzblut geschrieben, Briefe, die er zwar einem Menschen diktiert hat, aber die das Gepräge seines Geistes tragen, sodaß wir keinen Anstand nehmen sie als Herrenbriefe an die Gemeinde zu bezeichnen und zwar als Briefe vom Thron des Erhöhten aus. Auch die herrlichsten Worte der vier Evangelien, selbst das hohepriesterliche Gebet darf noch nicht hinrühren an diese sieben Sendschreiben, so gewiß eben der Herr Jesus die Worte der Evangelien in der Niedrigkeit gesprochen hat, während diese Briefe von dem ausgehen, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden verliehen ist, der, zur Rechten des Vaters erhöht, unter den sieben Leuchtern wandelt und die sieben Sterne in seiner Hand trägt. Darum, weil diese Briefe ganz in die Ewigkeit hineinsehen lassen, sind sie aus der Ewigkeit heraus geschrieben; weil in ihnen schon das königlich vollendete und innerlich ausgereifte, herrlichste Rätsel leuchtet, weil aus diesen Briefen zugleich die Gemeinde eine Vorahnung nehmen kann, wie der Herr am jüngsten Tage mit uns reden wird, darum sind diese Briefe über alles wichtig. Sie sind so überaus teuer, weil aus diesen Briefen der verklärte und erhöhte| Christus, der nicht mehr Menschliche, zu Menschen redet, sondern göttlich zu Sündern, weil aus ihnen die vollendete Klarheit einerseits, andererseits die vollendende Klarheit leuchtet, weil aus ihnen uns zur Klarheit wird, wie einst der erhöhte Christus mit jedem einzelnen Christen reden wird, da in diesen sieben Sendschreiben die siebenfache Entfaltung der Seele enthalten ist.

 Diese Briefe sind aber einem Manne gegeben, der das Bindeglied der Gemeinde sein sollte zwischen einer großen Vergangenheit, einer armen und kärglichen Gegenwart und einer unaussprechlich herrlichen Zukunft.

 Johannes, der Evangelist, hat der Gemeinde drei Werke hinterlassen und sie mit dem Bande umschlungen, durch welches Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengeknüpft sein sollen. Johannes ist zuerst der Zeuge einer großen Vergangenheit. Er ist der Jünger, der als Sünder wie als Christi Knecht ein Donnerssohn war. Als Sünder zuerst ein Mann leidenschaftlichen Eifers, ein Mann des entschiedenen Willens, bei dem auf den Blitz des Gedankens alsbald das Wort der Entscheidung folgte. Aber vergessen wir nicht, daß Jesus ihm diesen Namen gibt, nachdem er bereits in seiner Nachfolge gestanden ist. (Mark. 3, 17) Also muß diese Leidenschaft in der christlichen Nachfolge sich verklärt haben. Er heißt ein Donnerskind, weil erglühend ist in der Liebe zum Herrn. Wie das Gewitter majestätisch über die Erde rauscht, so geht seine Liebe zum Herrn über alle Lande hin. Er hat einst seinen Meister gefragt: „Meister, wo bist Du zur Herberge?“[1] Damals hat er noch nicht geahnt, daß er einst seinem| Meister die Herberge bereiten durfte zum Nachtmahl und daß er ihm auch eine Herberge bereiten durfte in seinem Herzen. So hat er uns eine große Vergangenheit ans Herz gelegt, die große Vergangenheit, daß er Jesum sah, daß er ihm dienen durfte und ihm nachfolgen, daß er ihn preisen durfte in Wort und Werk.

 Durch solche Kunde wird umsomehr die Kenntnis von der armen Gegenwart vertieft. Es ist die Zeit, wo alle Apostel schon wegberufen sind in die Heimat. Johannes ist die einzige Säule, die noch vom großen Gottesbau übrig geblieben ist; alle andern sind versunken. Paulus war längst nicht mehr unter den Lebenden, Petrus hatte seine Treue mit dem Tode besiegelt, die übrigen Apostel waren auch daheim; Johannes allein sieht die arme Gegenwart. Es war, als ob der Herr die andern Apostel für minder tragfähig erachtet hätte, weil er sie vor dem Unglück noch hinwegraffen läßt. Es kam die Zeit, wo der Irrglaube in die Gemeinde einzog, daß Jesus persönlich nicht mehr so teuer war und man ihn durch äußere Mittel und Künste gedachte berühmter zu machen. Aber Johannes, der solchen Einblick in das Herz des Herrn Jesu getan, hat es erlebt, daß eine arme Gegenwart noch lange nicht eine reiche Vergangenheit leugnet. Wir glauben, daß eine arme Gegenwart das Kind einer armen Vergangenheit und die Mutter einer armen Zukunft sein müsse. Johannes sieht diese arme Gegenwart und ruft in seinen Briefen in diese arme Gegenwart hinein: „Gott ist das Licht, Gott ist die Liebe!“[2]

 Das Licht zuerst, darum werdet selbst Licht! – Es war alles so düster, als der Apostel seine drei Briefe schrieb; aber er will zeigen, vor wem die Nebel| weichen. Gott ist das Licht; darum, wenn wir der Finsternis anhangen, so lügen wir. Johannes ist es, welcher der armen Gemeinde in der Gegenwart sagt: „Nicht, Gott war das Licht, sondern Gott ist das Licht.“ So seid getrost, die Nebel weichen und es wird alles noch hell werden. Wer aber sagt, er diene Gott und bleibt in der Finsternis, der lügt. Darum stellt er der armen Gegenwart die Aufgabe der Heiligung. Und: „Gott ist das Licht“. Es wird erzählt, daß, wenn der alternde Apostel der Gemeinde entgegentrat, von seinem Antlitz die Heiligkeit Gottes geleuchtet habe wie einst vom Brustschild des Hohenpriesters. Ja darum, weil Gott Licht ist und seinen Jünger zu einem Lichtträger gemacht hat, darum soll die Gemeinde auch Licht werden, damit aus der finstern Gegenwart herrliche Zukunft erwachse.
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 „Gott ist die Liebe“, das ist das Zweite. Gott liebt nicht bloß die Herrlichkeit des Frühlings. Er ist nicht bloß ein Gott der sommerlichen Reife, gesegneter Ernte und frohen Fruchtertrags, sondern auch ein Gott winterlicher Zeit, wo es im Herzen stürmt und das Leben einsam und öde wird, wo das Laub fällt und alles erstorben ist. So gewiß durch all die Schatten hindurch, welche des Winters Kälte über diese Erde hinsendet, immer wieder sieghaft die Sonne sich ringt, so gewiß ist Gott stark genug, auch ein Gott des Winters in kümmerlicher Gegenwart zu sein; so gewiß ist auch, wenn es dunkel wird im Menschenherzen und die Tage kommen, die uns nicht gefallen, Gott – die Liebe. Da wurde die Gemeinde froh, wenn über ihrer armseligen Gegenwart dies Wort stund, daß also der Herr, dem ja nach seinem ganzen Wesen die Schöne des Frühlings| nicht genug tut, die sommerliche Pracht viel zu gering ist, die reiche Spende des Herbstes nicht befriedigt, auch mit dem Ernst des Winters vorlieb nimmt, wenn er nur durch diesen Winter die Sehnsucht nach bleibendem, ewigem Frühling spürt. Die Gemeinde zu Ephesus und mit ihr die ganze Christenwelt hat als letztes Vermächtnis ihres Bischofs das Wort gehört: „Gott ist die Liebe“, das Wort, das ihm im eigenen Winter so trostreich war. Denn auf dem Haupte des Apostels liegt der Schnee des Alters. Sein Herz aber ist jugendfrisch geblieben wie um die Stunde, da er den Messias gefunden hatte. (Joh. 1, 39) Er, der das Geheimnis ewiger Jugend mitten im Alter, mitten im Winter kannte, teilt dies Geheimnis der Jugend mit: „Was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir beschaut haben und unsere Hände betastet haben vom Wort des Lebens, das verkündigen wir euch, daß Gott das Licht ist, daß Gott die Liebe ist und in ihm keine Trübung.“ (1. Joh. 1, 1–3) Im Gegenteil, weil der Winter so arm ist, darum macht Gott ihn so reich, weil das Alter so einsam ist, darum wird es so getröstet, weil das Herz so traurig ist, darum wird ihm das Evangelium (die frohe Botschaft) gepredigt. Gott ist das Licht; vor ihm sollen die Schatten in deinem Herzen weichen! Gott ist die Liebe, darum will er deine Armut zieren. Gott ist das Licht, darum heilige dich! Gott ist die Liebe; darum, du arme Gegenwart, wird er dich reich machen aus seiner Kraft. Das sind die zwei Geheimnisse, mit denen der Apostel die Gegenwart an die Zukunft bindet.
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 Es hat ein Gottesgelehrter gesagt: Johannes sehe die Zukunft mit der Einfalt nicht eines Kindes, sondern| eines Seraphs. Mit dieser prophetischen Einfalt hat er alle die Weiten durchmessen, welche Welt und Zeit heißen; mit dieser Einfalt ist er weit hinausgegangen, bis er am Throne des ewigen Erbarmers so vertraut ruhte, wie er einst an der Seite des menschgewordenen Wortes geruht hat. In der Einfalt seraphischer Christusliebe ist er bis zu den Höhen vorgedrungen, wo kein Menschengeist hinreichen kann und hat hier so wohlig ausgeruht, bis er im Anblick der Sonne seiner Augen Trost fand. Darum ist er von der großen Zukunft der größte Zeuge geworden. Und wenn die Gemeinde Christi in schwerer Gegenwart sich der beiden, der Gabe wie der Aufgabe getröstet – der Gabe: Gott ist die Liebe; der Aufgabe: Gott ist das Licht, – so greift sie gern in das Buch der Offenbarung. Wenn sie auch vieles nicht versteht, so sind doch solche Worte wie: „Sei getreu bis in den Tod...“, „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige...“, „Wer überwindet, der soll es alles ererben....“, „Wen da dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst...“, – so groß, tief und kindlich, daß die Gemeinde, wenn sie sich auch nicht des allen bemächtigen kann, doch aus dem Wenigen Trost für kommende Tage schöpft. Es geht ihr, wie jenem alten Heiden; als er ein großes Werk las, sagte er: „Das Wenige, was ich gelesen habe, ist so herrlich, daß ich denke, das, was ich nicht verstehe, sei noch viel größer und herrlicher.“ Nehmen wir nur das eine Wort: „Wer überwindet, der soll es alles ererben!“, so ist das so unermeßlich groß, daß wir sprechen: „Wir brauchen Ewigkeiten,| den Dank Dir zu bereiten, denn diese Zeiten sind für den Dank zu schwach.“

 So ist Johannes das Bindeglied zwischen einer großen Vergangenheit, einer armen Gegenwart und einer herrlichen Zukunft.

 Was gibt uns nun das Recht, diese sieben Sendschreiben ohne weiteres auf uns und auf unsere Verhältnisse anzuwenden? Ich glaube, darin liegt die Berechtigung dieser Anwendung und Auslegung, daß der Herr Jesus, als er seinem Apostel diese Sendschreiben gibt, sich mit den Worten einführt: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige.“ (Offenbg. 1, 17b und 18)

 Es war eine wunderbar ernste Nacht dort auf der Insel Patmos, da der erhöhte Christus seinem größten Apostel erschien. Im Anschlagen der Wogen des Meeres an das Gestade der einsamen Felseninsel, auf die St. Johannes um seines Glaubens willen vom Kaiser Domitian verbannt war, konnte er das Anschlagen der Wellen des Zweifels, das Brausen der Stürme über den Fels und an den Fels der Kirche wohl vorbedeutet sehen. So ungestüm, wie die Wogen am Gestade sich brachen, so ungestüme Gefahren hatten sich gegen den Fels der Kirche erhoben und gegen den einsam dastehenden Zeugen. So gewiß aber die Wogen eben sich brachen und all ihr Ungestüm zu Ende ging, so gewiß darf der Apostel hoffen, daß alle die Stürme, welche gegen die Kirche machtvoll andringen, endlich an diesem Felsen sich brechen und alle Wogen, welche diesen Felsen umtoben, an ihm zu Schanden werden sollen. Es erscheint ihm in der Nacht der, welcher zu seinen Jüngern als letztes Scheidewort gesprochen:| „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, Ich habe die Welt überwunden.“ (Joh. 16, 33) Johannes darf gewiß sein, daß er, der einst auf dem Meere wandelte, und den Sturm zum Schweigen brachte, jetzt als der Erhöhte mit umso größerer Stärke den Wellen begegnet. Er erscheint ihm als die Gewißheit, daß, so ernst auch die Stürme brausen, er, der König in der Höhe und der Meister zu helfen, doch noch größer sei. Er nennt sich den aus den Stürmen Hervorgegangenen; denn er war früher als sie. Jesus nennt sich den Ersten und erinnert seinen Jünger daran, wie er selbst gewürdigt worden sei, seinen Vorläufer und sein eigenes Wesen bis in die Ewigkeit zu verfolgen (vergl. Joh. 1, 1–14), denn „im Anfang“, ehe der Fels und ehe die Wogen kamen und die Stürme brausten, „im Anfang war das Wort.“ So spricht Christus: „Ich bin der Erste“, und als der Erste ist er zugleich auch der, vor dem die Wellen zurückbeben und der alle Gefahren und Schrecken besiegt. Aber, indem er der Erste ist, schreibt er mit Lapidarschrift, mit unverwüstlicher, unzerstörbarer Schrift, mit gewaltigen Charakteren, daß er auch sei der Letzte. Wir dürfen uns nicht vermessen, die Schrift früher zu lesen, als bis er zu Ende geschrieben hat. „Ich bin der Erste“, ich habe angefangen zu schreiben; denn ich bin von Anfang das Wort. „Ich bin der Letzte“, weil ich der Lebendige bin und das letzte Punktum auf die gesamte Weltentwicklung mache, auf daß am Ende man sagen könne: „Es ist alles geschehen.“ (Offenbg. 16, 17) Vermeßt euch also nicht, mich zu meistern, waget nicht, über meine Wege ein Urteil zu fällen, auch nicht über die rätselhaften! Waget nicht, jetzt zu reden, sondern wartet im Heiligtum,| bis ich das Letzte geschrieben haben werde und die gesamte Weltentwicklung in einem mächtig brausenden Halleluja endet, da Gott das Reich eingenommen hat. Dieses Brausen der Stürme, welche den alternden Apostel so erschreckten, soll ihm ein Akkord und Vorton sein jenes gewaltigen Brausens aller Welt, wenn nun der letzte Klang, das letzte Wort vollendet sein werden und Jesus Christus, der Letzte, der über der gesamten Weltentwicklung steht, erscheinen wird. Johannes, gedulde dich und laß deine Gemeinden sich gedulden!
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 Derselbe Apostel, der den Blick in die Ewigkeit vor der Welt tun durfte (Joh. 1), derselbe darf auch den Blick in die Ewigkeit nach der Welt tun und soll auch das Geheimnis des Ueberweltlichen sehen. „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige“, – das gibt uns auch die Berechtigung, weil auch wir auf diesem Felsen stehen, diese Briefe auf uns anzuwenden. Er hat einmal diese Briefe seiner Kirche ans Herz gelegt und nun soll die Kirche alles das sich langsam noch einmal vorschreiben lassen, was der Herr Christus vorgeschrieben hat. Wir dagegen haben die Pflicht in diesen Sendschreiben Züge zu erkennen, die für unsere Zeit und deren Vollendung dienen und sie auszeitigen. Wir sollen daran festhalten: „Er ist der Letzte“. Darum will er auch, daß wir in ihm unseres Lebens Ende finden und er in uns die Beendigung seines Werkes beschleunigt sieht. Wir wollen auch an der Reichgottesarbeit, an dieser Schrift, an der unser Heiland jetzt 1900 Jahre arbeitet, mithelfen, sodaß an unserem Teil seine Mühe bald der Vollendung entgegengeht. Weil er der Erste ist, der in uns ein Werk| angefangen hat, so müssen diese Sendschreiben für alle maßgebend sein, so muß jedes Herrenwort für uns, die wir noch auf dem Wege sind, verbindlich bleiben.

 Noch ein anderes: Wenn wirklich in diesen Sendschreiben die gesamte Auswirkung eines christlichen Lebens nach seinen Licht- und Schattenseiten abgeschattet ist, so müssen wir sagen: das Herz des Christen ist seit 1900 Jahren kein anderes geworden. Was der Herr Christus einst seiner Gemeinde gesagt hat, das gilt auch heute noch, 1. weil er der Erste war und auch der Letzte sein will und uns in diese Entwicklung mit hineinbezieht, und 2. weil das Christenherz von ihm ganz, wie es für alle Zeit ist, durchschaut wurde – aus diesen zwei Gründen haben wir das Recht, diese Sendschreiben auch auf uns zu beziehen.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Joh. 1,38.
  2. Nach 1. Joh 1,5 und 4,16.
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