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Durch Indien ins verschlossene Land Nepal/Die Audienz bei Deb Schumscher Dschung

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Haremsabenteuer und Jagdbegegnungen Durch Indien ins verschlossene Land Nepal
von Kurt Boeck
In den Hauptstädten Nepals
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Palast eines nepalischen Großen; rechts davon „Bhim Sens Narrheit“.[WS 1] Hinter der links stehenden Palme der Gosainthan-Himalaja.[WS 2]

Zwanzigstes Kapitel.
Die Audienz bei Deb Schumscher Dschung.

Der Wächter des Rasthauses in Katmandu hatte nicht erwartet, daß ich in so gewaltigen Tagemärschen dorthin kommen würde, und stand nun, aus dem Schlafe emporgeschreckt, bei meinem Eintreffen ganz verlegen mit seiner Laterne zwischen verschiedenen Farbentöpfen, die er zum Tünchen des noch recht unwohnlich aussehenden Bungalos gebraucht hatte. Zufällig bemerkte ein in der Nachbarschaft wohnender gelehrter Hindu, der noch über seinen Büchern saß, meine Ankunft und lud mich ein, in seinem Hause zu übernachten, so daß ich nicht erst mein Zelt aufzustellen brauchte, sondern mich bei einem „schnellen Tod“, wie der Indier einen Hühnerbraten nennt, von den Strapazen und Ereignissen des Tages erholen konnte. Nach dem Essen beriet ich mit dem Indier, der dem englischen Gesandten als Dolmetscher oder „Babu“[WS 3] für schwierige Dialekte diente, wie ich die mir vergönnte kurze Zeit von nur vier Wochen am zweckdienlichsten ausnützen könnte.

Der Wächter des Rasthauses.

Es ist nicht leicht, die Verhältnisse des Landes Nepal und das, was es wirklich so merkwürdig macht, in treffender Kürze zu schildern. Kann jemand, ohne selbst einmal vom Heidelberger Schloß zu den Neckarufern hinuntergeschaut und sich dabei der glanz- und leidensvollen Tage, die dasselbe gesehen, erinnert zu haben, aus einer nüchternen Beschreibung den unsagbaren Zauber herausfühlen, den dort der dichte [256] Efeu um die gewaltigen Ruinen verbreitet? Nepal gleicht aber in vielen Stücken einer solchen Ruine, deren Geschichte und Schicksale den Efeu bilden, durch den uns die morschen Steine in dem anziehenden Schimmer der Romantik und zugleich der höchsten wissenschaftlichen Bedeutung erscheinen.

In Nepal findet der Forscher das Land noch größtenteils in demselben Zustand, in dem das ganze nördliche Indien vor mehr als tausend Jahren gewesen ist, zu einer Zeit, als dort Brahminismus und Buddhismus Seite an Seite bestanden. Während dann aber in Indien der Islam diese beiden Kulte und ihre Religionsstätten beeinträchtigte, blieben sie in Nepal von diesem Einfluß völlig unberührt und konnten nebeneinander fortblühen und wachsen. Dieser Umstand und Unterschied gibt dem Lande sein Gepräge, nicht minder das Gebirgsklima, das selbst die in Nepal lebenden Hindus zu strafferen, energischeren Menschen gemacht hat als die in der Ebene lebenden, auf die sie deshalb auch mit einiger Geringschätzung herabzusehen pflegen, während andererseits die strenggläubigen Brahmanen von Benares ihre Kastengenossen in Nepal ihrer lässigen Befolgung ritueller Vorschriften halber fast als Parias verachten.

Der Durbar hatte mir gestattet, außer Katmandu auch die hervorragendsten Orte in Groß-Nepal, die nicht allzu weit von dieser Stadt entfernt sind, nämlich Patan, Bhatgaon, Paschpattinath, Swajambunath und Buddhnath,[WS 4] zu besuchen. Ehe ich mich aber auf die Wanderschaft begeben konnte, mußte ich das Rasthaus in stand setzen lassen und mein Faktotum,[WS 5] ein entsetzlich stotterndes, pockennarbiges Bürschchen, zum Koch und Kellner anlernen; er war der einzige Nepale, der sich zutraute, meinen Magen gehörig pflegen zu können, und dank meiner Konservenkiste war dies schließlich auch kein allzu großes Kunststück. Seine eigenen Leistungen, namentlich auf dem Gebiete der Mehlspeisen, will ich aber aus Rücksicht auf die zarten Nerven meiner verehrten Leserinnen lieber gar nicht schildern; der gute Mann konnte schließlich doch nichts dafür, wenn z. B. die Tibeter, in deren Kolonie Buddhnath er die Butter für mich kaufte, diese einfach dadurch herstellten, daß sie fette Yakmilch in Fellbeuteln schüttelten und dann die Butter aus dem Fell herauskratzten, und leider konnte ich ihm nie begreiflich machen, daß mir seine überhaupt etwas rätselvollen Puddings viel besser schmecken würden, wenn er die Güte haben wollte, alle darin enthaltenen Haarflocken als besonderen Gang aufzutischen. Mit sehr gemischten Gefühlen sah ich zugleich, wie sich der Freundeskreis dieses Prachtkoches von Tag zu Tag mehrte, zuerst schien nur seine eigene Frau sich von dem an jedem Morgen auf meine Kosten in die geheimnisvolle Küche geschafften Milchvorrat etwas abzugießen, bald aber erschien noch eine gute Freundin, schließlich noch mehrere, und endlich sogar ein ganzer Haufen, die mit allerlei Kübeln und Gefäßen bewaffnet waren, um von meinen zwei oder drei Litern Milch eine kleine Abgabe zu ergattern und den Ausfall sehr sinnreich durch Einträufeln von Wasser zu ersetzen. Jagte ich das unsaubere Lumpengesindel fort, so schlich es nur um den Bungalo herum und tauchte grinsend von der anderen Seite her wieder auf.

[257] Mein Bungalo lag dicht bei dem englischen Gesandtschaftsgebäude, für das die Nepaler, als ihnen im Jahre 1816 seitens der Engländer ein „Resident“ aufgenötigt wurde, den denkbar ungesundesten Platz, einen versumpften Schindanger,[WS 6] abgetreten hatten, der, einige Kilometer von der Altstadt gelegen, in dem angenehmen Geruche stand, allnächtlich von bösen Geistern heimgesucht zu werden. Doch mit jener unbegrenzten Rücksichtslosigkeit hinsichtlich des Kostenpunktes, die England auf der ganzen Welt an den Tag legt, sobald es sich um eine eindrucksvolle Repräsentation dieser Nation Ausländern gegenüber handelt, war im Verlauf weniger Jahre aus dem fieberdunstenden Abdeckerplatz ein prächtiger Park, eine der schönsten Stellen des Landes, gemacht worden.

Von hier aus führte allerdings eine fahrbare Straße nach Katmandu, doch leider waren für Geld weder Wagen noch Reitpferde erhältlich, da sich der Hof das Befahren dieser, sowie der anderen im Lande vorhandenen kurzen Fahrstraßen nach Patan und Bhatgaon als ganz ausschließliches Vorrecht vorbehalten hat. Ich mußte mich also auf beständige Fußmärsche gefaßt machen. Dieser Weg nach der Residenz wird durch einen nepalischen Posten aufs genauste überwacht, und kein Nepale darf ihn ohne besondere Erlaubnis des Durbars beschreiten; auch ist durch Kundschafter dafür gesorgt, daß der Durbar sofort erfährt, wenn irgend ein Verdächtiger in die Residenz kommt. Es ist Tatsache, daß indische Pandits und andere Eingeborne, die im Verdacht standen, das Land für den englischen Residenten auszuspionieren, spurlos verschwanden und vermutlich kein ganz schmerzloses Ende gefunden haben.

Auf der Landstraße, in die dieser Weg mündet, fielen mir sofort einige Unterschiede zwischen Nepal und Indien auf. Ich meine nicht nur die durch Ziegelmauern und Schindeldächer viel solider wirkende Bauart der Häuser und die überaus malerischen und für Nepal höchst charakteristischen Tempel mit in mehreren Stockwerken stetig kleiner werdenden Dächern, als vielmehr ein gewisses trotziges und stolzes Zurschautragen der Unabhängigkeit seitens der Männer besseren Standes und das unverschleierte Erscheinen ihrer Frauen und Mädchen, unter denen mir besonders die Newaris[WS 7] durch ihre absonderliche, in Indien nicht übliche Haartracht auffielen. Die Newarimädchen wickeln nämlich das gewöhnlich sehr üppige Haupthaar zu einer länglichen Rolle zusammen, die dann etwa wie eine mehr oder weniger stattliche — man verzeihe gütigst den allein zutreffenden ungalanten Vergleich — Servelatwurst aus dem Kopfe heraussteht. Der überaus bequeme Rock dieser Newarifrauen wird durch ein Tuch gebildet, das hinten mehr als einen Fuß kürzer als auf der Vorderseite geschürzt zu sein pflegt.

Die Bevölkerung Nepals ist nichts weniger als einheitlich, und man weiß von ihr nicht einmal, ob sie vier, fünf oder sechs Millionen Menschen beträgt, und ebenso kann auch der Flächenraum des Landes nur annähernd auf etwa 155 000 Quadratkilometer geschätzt werden; das von mir besuchte „Tal von Nepal“ dürfte etwa eine Viertelmillion Einwohner zählen.[WS 8]

[258]
Diese Bewohner Nepals stellen nun eine wahre Musterkarte der verschiedensten mongolischen und indischen Stämme dar.

Frau eines Feldwebels aus dem Stamme der Sikhs.

Die Bevölkerung der höher gelegenen Teile des Gebirgslandes, die Bhutias,[WS 9] sind von den Tibetern kaum zu unterscheiden, und auch die sechs Hauptstämme der eigentlichen Eingeborenen, die ebenfalls noch in hochliegenden Gebieten lebenden Gurungs, dann die Magars,[WS 10] Newaris, Murmis,[WS 11] Kirantis und Limbus,[WS 12] sind mongolischen Stammes, dessen Rasseeigenschaften auch die Parbattias,[WS 13] die Sprößlinge von Frauen der genannten Bergvölker und indischen Einwanderern, aufweisen. Unter diesen eigentlichen Eingeborenen von mongolischer Abstammung sind die wichtigsten die Newaris und Murmis, die aber im Jahre 1768 von den Gorkhas, einem kriegerischen, indischen Radschputenstamme von arischem Ursprung, der im Jahre 1303 von den Mohammedanern aus seiner Heimat verdrängt worden und bei diesem Ausweichen in das Bergland Nepal hineingelangt war, trotz tapferster Gegenwehr durch List überrumpelt und dauernd unterworfen wurden; diese Gorkhas sind die heutigen Herren des Landes Nepal, dessen ganze frühere Geschichte aus einer furchtbaren Reihenfolge von Blutvergießen, Greueltaten und Verrätereien besteht, die aber mit der Herrschaft der Gorkhas keineswegs aufhörten.

Aus der Vermischung dieser beiden Bevölkerungsgruppen, der mongolischen Newaris und der aus Indien gekommenen Gorkhas, entstanden viele der heutigen Nepaler- und Gorkhasoldaten, während sich nur die höheren Stände beider Völkerstämme ziemlich rein erhalten haben. Ganz entsprechend hat sich auch die buddhistische Religion der mongolisch gearteten Bergbewohner mit der brahminischen ihrer Eroberer zu dem sogenannten Tantrika-Buddhismus[WS 14] vermischt, der zwar die äußeren Förmlichkeiten beider, aber so gut wie nichts von ihrem ethischen Gehalte bewahrt hat und der schon seit alten Zeiten als Resultat der Verschiedenheit der Berg- und Talbewohner in Nepal vorhanden ist.

Ehe ich meine erste Wanderung durch Katmandu antrat, erschien ein nepalischer Offizier nebst einem Sipeu in meinem Bungalo mit der Mitteilung, daß sie den Auftrag hätten, mich meines Schutzes wegen auf Schritt und Tritt zu begleiten; mit einem gleichen Auftrage hatte sich mir aber bereits ein Dschammadar,[WS 15] [259] d. h. ein Feldwebel der englisch-indischen Sikhtruppen, zur Verfügung gestellt, von denen der englische Gesandte eine Kompagnie zur Bewachung seiner Residenz in Nepal um sich haben darf, die, wie alle anderen englisch-indischen Truppen in Indien, sowohl britische wie eingeborene, in ihren Kasernen mit Soldatenfrauen zu hausen pflegen.

Diese Aufmerksamkeit glich nun freilich einer argwöhnischen Überwachung wie ein Ei dem anderen, und es schien, als ob beide Teile, die Nepaler wie die Engländer, hinter meinem Besuche des Landes doch noch irgend eine geheime oder gefährliche Nebenabsicht witterten. Jedenfalls konnte mir gar nichts lästiger sein als eine solche beständige und auffällige Eskorte, da ich das Land und seine Bewohner gern möglichst zwanglos besucht und beobachtet hätte; auch sagte ich mir, daß eine derartige Bewachung ganz besonders bei meinen photographischen Aufnahmen hinderlich sein müsse, erschrak aber bei dieser Erwägung in der Einnerung daran, daß das Photographieren in Nepal für mich ja bereits zu den verbotenen Früchten gehörte.

Angesichts so vieler Beschränkungen hielt ich es für das beste, mit dem derzeitigen Staatslenker, einem Bruder des Maharadschah, persönlich zu sprechen und bat um eine Audienz, die mir auch schon für den folgenden Tag gewährt wurde; ein Adjutant holte mich dazu in einer Hofkalesche ab.

Die Fahrt ging nach Tallapatti,[WS 16] wo sich ausgedehnte, befestigte Palastgebäude in europäischer Bauart befinden. Dort wartete der stellvertretende Premierminister, der Höchstkommandierende der nepalischen Armee namens Deb Schumscher Dschung,[WS 17] nebst einer Kompagnie Gorkhas in einem inneren Schloßhofe auf mein Erscheinen, das er durch Trommelwirbel und Fahnensenken begrüßen ließ, eine Ehre, die ich als nicht offizieller Besucher des Landes weder beanspruchen noch erwarten durfte. Hierauf stellte mich Seine Exzellenz einigen Generalen, seinen nächsten Verwandten, vor und führte mich dann in einen Gartensaal, in dem ein Springbrunnen inmitten eines Wasserbeckens plätscherte; zahlreiche Spiegel, reiche Vergoldungen, europäische Sofas und Lehnsessel und im Hintergrunde ein verhülltes Gestell, das ein Thron oder Himmelbett sein konnte, ließen mich ganz vergessen, daß ich hier im Herzen des halb barbarischen Staates Nepal verweilte.

Deb Schumscher Dschung, Rana Bahadur,
Generalkommandeur der nepalischen Armee. Die Kopfbedeckung besteht aus Edelsteinen und Perlen.

Ich hielt mich nicht an die in Asien landesübliche Form, der zufolge man bei einem solchen ersten Besuche über alles mögliche andere als über den eigentlichen Zweck desselben zu sprechen pflegt, sondern jammerte frisch drauf los, nachdem ich mich für die gewährte Erlaubnis bedankt hatte; ich erklärte, daß die mir gnädigst erteilte Erlaubnis, Nepal zu besuchen, mir nur wenig Freude machen würde, wenn ich nicht dabei auch nach Herzenslust photographieren dürfte, und erbat auch dafür die Genehmigung des Regenten. Statt einer Antwort fragte Seine Exzellenz, ein behäbiger kleiner Herr von etwa dreißig Jahren mit indischer, aber ein wenig mongolisch angehauchter Gesichtsbildung, etwas vorspringenden Wangenknochen, mit einem Kneifer auf dem eingedrückten Näschen und mit einem zarten, schwarzen Schnurr- und Knebelbärtchen, [260] ob ich denn nicht schon unterwegs einige Damen photographiert hätte. Auf diese höchst verfängliche Frage versicherte ich daß ich zwar, hingerissen von der Schönheit der jungen Damen, gar zu gern einen solchen Versuch gemacht hätte, daß diese aber sofort ihre Sonnenschirme dicht vor die lieblichen Gesichter gehalten hätten und daß man, trotz aller X-Strahlen[WS 18], noch nicht imstande sei, durch derartige Schirme hindurch zu photographieren. Nach dieser diplomatischen Antwort willigte der Herr commander in chief halb ärgerlich, halb belustigt ein, daß ich alles aufnehmen könne, was mir an Menschen oder Bauwerken gefiele, vorausgesetzt, daß mein Begleiter jedesmal ausdrücklich seine Zustimmung dazu gäbe; diese Begleitung, zum mindesten durch einen Sipeu-Unteroffizier, sei aber wegen des unberechenbaren Volkes zu meinem Schutze ganz unerläßlich. Als das Eisen einmal so weit warm war, schmiedete ich es unverdrossen weiter, indem ich mit Dankbarkeit erwähnte, wie freundlich mich andere indische Maharadschahs durch Leihen von Elefanten bei meinen Reisen unterstützt hätten, so daß auch seine Exzellenz nicht umhin konnten, mir das Angebot eines Hofwagens zu machen, das ich natürlich mit tausend Freuden annahm, da die Straßen in Nepal wirklich entsetzlich staubig sind; bei einer späteren Audienz folgte diesem Entgegenkommen sogar noch die Zusage eines Reitpferdes für die nicht fahrbaren Wege.

Die Erwähnung der X-Strahlen lenkte unsere Unterhaltung auf allerlei moderne Fortschritte der europäischen Wissenschaft und Technik, so daß ich aus dem Vortragen gar nicht herauskam; zu meinem Erstaunen bemerkte ich, daß die Herrschaften nicht nur damit recht wohl bekannt waren, sondern sogar Modelle aller Art, wie z. B. einen Kinematographen[WS 19] mit allem Zubehör, durch Agenten erhalten und nebst vielen anderen modernen europäischen Erfindungen in einem Museum aufbewahrt hatten.

Als ich im Laufe der Unterredung gefragt wurde, bei welcher Behörde ich eine Anstellung bekleidete, erwiderte ich, daß ich in meinem Tun und Lassen vollkommen unabhängig von irgend einer Behörde oder anderen Personen wäre, was die auf ihre Unabhängigkeit überstolzen Herren Nepaler sehr sympathisch zu berühren schien, so daß mein Verkehr in diesem Kreise nach und nach ganz zwanglos wurde. Als die Unterhaltung auf politisches Gebiet kam, wurde ich freilich einigermaßen enttäuscht, denn von einer begeisterten Bewunderung Deutschlands konnte ich beim besten Willen nicht viel entdecken, sondern mußte im Gegenteil die Herren darauf aufmerksam machen, daß sie die deutschen Verhältnisse bisher wohl nur durch die parteiisch gefärbte Brille englischer Blätter kennen gelernt hätten, die nie ermangeln, unsere nationalen Schwächen, das Überwiegen von Sonderinteressen der sich befehdenden „Cliquen“ und unsere Lauheit in großen nationalen Fragen zu Vorboten des nahen Zerfalls unseres von Haß und Neid umringten Reiches aufzubauschen und die Deutschen als Muster schlaffen Sichgehenlassens hinzustellen.[WS 20] Wie sehr ich es für nötig fände, daß manche meiner Landsleute ein wenig mehr deutsche, auf Einfachheit und Geradheit bedachte, von Geckerei ferne Gesinnung [262] betätigen möchten, verschwieg ich natürlich, gerade weil ich Nationalstolz empfinde.

Die mir sichtlich wohlwollenden Herren Nepaler gaben mir alle wünschenswerten Auskünfte über die Orte, die ich besuchen wollte, wobei ich nicht unterließ, durch allerlei kleine Scherze den Appetit an meinen Besuchen zu heben. Am besten gelang mir dies wohl mit Hilfe einer Schachtel voll Teufelszigaretten, die ich Seiner Exzellenz mit der vertraulichen Bitte übergab, einem der Herren Generale eine derselben anzubieten; das reizende, aber ganz harmlose Funkengestöber, das aus dem in solchen Zigaretten enthaltenen Feuerwerkssatz plötzlich nach dem Verbrauch des Tabaks hervorsprüht, machte beinahe noch mehr Eindruck als die Vorführung meines Klappzylinders, und ein hoher Herr nach dem anderen wurde herbeigerufen, um unter lauernden Blicken der bereits Eingeweihten eine der verhängnisvollen Zigaretten zu rauchen.

Im innersten Herzen fühlte ich mich aber bei der Audienz trotz der allgemeinen Heiterkeit und aller Gunstbezeugungen doch nicht vollkommen glücklich. Meine Versuche, die Erlaubnis zu bekommen, auch andere, noch völlig unbekannte Teile Nepals besuchen zu dürfen, schlugen fehl, und ich mußte es als eine ganz besondere Gnade betrachten, daß mir als Zugabe zu meinem Programm schließlich noch ein Ausflug in das nördlich von Katmandu liegende Kukannigebirge[WS 21] gestattet wurde, von wo aus ich wenigstens den Gebirgsstock des Everest-Gaurisankar von Westen her voll überschauen konnte. Da ich mich durch mein Streben nach photographischen Ausnahmen doch wohl bereits verdächtig gemacht hatte, wurde mir der Besuch dieses Kukanniberges nur unter der Bedingung keiner topographischen Aufzeichnungen vergönnt.

Etwas ist immer besser als nichts, und so verließ ich mit dankbar lächelnder Miene und auf das Unerreichbare verzichtleistend den Palast, der bereits Jan Bahadur zum Aufenthalt gedient hatte.

Dieser energische und einsichtsvolle Jan Bahadur Kanwar, der sich, getragen von der Gunst der einflußreichsten unter den Frauen des Königs, im Jahre 1845 vom Adjutanten zum unbeschränkten Premierminister emporschwang, ist eine höchst bemerkenswerte Figur in der Geschichte Nepals; auch war er der einzige Machthaber in Nepal, der, und noch dazu nach einer 32 Jahre währenden Regierung, eines natürlichen Todes verschieden ist, obgleich auch er nur durch die allgemein üblichen Mittel von Mord und Intrige an seinen Platz gelangen konnte, um nicht selbst ermordet zu werden; wiederholt hat er jedoch später, bei der Entdeckung gegen sein Leben angestellter Verschwörungen, sowohl von Todesstrafe wie vom Blindmachen der Schuldigen abgesehen und sich mit ihrer Verbannung aus Nepal begnügt. Nepal verdankt ihm eine Fülle wichtiger Reformen, die zeigen, wie weit sich ein ganz asiatisches Reich aus eigner Kraft zu entwickeln vermag. Allerdings ist Nepal trotz der Fruchtbarkeit seiner Täler nicht imstande, sich ohne Zufuhren von außen zu ernähren, und ebenso [263] muß es viele andere nötige Dinge einführen, während sich seine Ausfuhr auf entbehrliche Waren, wie schöne Decken, Glocken und Bastpapier beschränkt, solange die reichen, tatsächlich vorhandenen Naturschätze, wie Bauholz, Erze und Mineralien, unerschlossen bleiben und die für derartige Unternehmungen erforderlichen europäischen Ingenieure das Land grundsätzlich nicht betreten dürfen.

Nepalische Bronze-Vase. ⅓

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Bhim Sens Narrheit: vergleiche Dharahara-Turm. Wörtliche Übersetzung einer zeitgenössischen englischen Bezeichnung, „Bhimsen's Folly
  2. WS: Gosainthan: vergleiche Shishapangma
  3. WS: Babu: vergleiche Babu
  4. WS: Patan, Bhatgaon, Paschpattinath, Swajambunath, Buddhnath: vergleiche Lalitpur (= Patan), heute mit Katmandu verwachsen; Bhaktapur; Pashupatinath; Swayambhunath; Bodnath
  5. WS: Faktotum: vergleiche Faktotum.
  6. WS: Schindanger: vergleiche Schindanger
  7. WS: Newaris: vergleiche Newar
  8. WS: Bevölkerungszahl: Für das Jahr 1911 wurde eine Zahl von 5,64 Millionen für ganz Nepal ermittelt. Das Kathmandutal hatte 1970 ca. 250.000 Einwohner, 2018 sind es 1,5 Millionen. Die Angabe von 155.000 km² ist eine annähernd exakte Umrechnung der bereits erwähnten 60.000 Quadratmeilen (147.000 ist korrekt).
  9. WS: Bhutia: vergleiche Bhotiya (en) oder Bhutia (en)
  10. WS: Gurung, Magar: vergleiche Gurung, Magar (Ethnie)
  11. WS: Murmi: vergleiche Tamang
  12. WS: Kirantis, Limbus: vergleiche Kirati people (en), Limbu people (en)
  13. WS: Parbattia: vergleiche Khas people (en). Parbattiya (Sprache der Hügelbewohner) entspricht modernem Nepalisch
  14. WS: Tantrika-Buddhismus: vergleiche sowohl Vajrayana und Tantra
  15. WS: Dschammadar: vergleiche Jemadar (en)
  16. WS: Tallapatti: gemeint ist Thapathali Durbar (en)
  17. WS: Deb Schumscher Dschung: vergleiche Dev Shumsher Jung Bahadur Rana (regierte 1901)
  18. WS: X-Strahlen: vergleiche Röntgenstrahlung
  19. WS: Kinematograph: vergleiche Kinematographie (ab 1892, der Kinematograph wurde 1895 erstmals in Europa vorgeführt)
  20. WS: der schlaffe Deutsche: das Stereotyp des Deutschen Michels wohl hier noch vor dem Umbruch zu dem Bild des fleißigen/militaristischen Deutschen
  21. WS: Kukanni: Bergrücken auf 2000m Höhe; vergleiche Kakani (danach benannte Gemeinde)