Einsegnungs-Unterricht 1909/5. Stunde

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Einsegnungs-Unterricht 1909
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5. Stunde.
Lied 450, 1. 2. 8. Psalm 25, 14–22.


Gebet: O Herr Jesu Christe, der Du bist das ewige Licht aller der Deinen und sie also im Lichte wandeln heißest, daß sie der Finsternis der Sünde und aller Nacht des Verderbens entrinnen mögen, verleihe uns gnädig, daß wir nach der Mühe und Angst dieser Zeit bei Dir den ewigen Frieden vollkommen empfangen mögen um Deiner Treue und Erbarmung willen. Amen!









 Die beiden letzten Gedanken, an die ich anknüpfe, sind die mittelbare Seelenpflege, die an den Schwestern, und die mittelbare Seelenpflege, die von den Schwestern geübt werden müssen. In beiden Momenten erblicke ich die Hauptsorge der Zukunft, damit nicht diejenigen Recht behalten oder Recht gewinnen sollen, welche behaupten, daß in unserm Kreise eine Ueberspannung der Seelsorge stattfinde – wie es der Diakonieverein und seine gesinnungsverwandten Veranstaltungen meinen, während andrerseits uns eine Unterwertung der Seelsorge vorgeworfen wird, wie es die Diakonissenhäuser für entschiedenes Christentum tun, deren wir jetzt drei unter diesem Titel und drei andere in dieser Weise in Deutschland besitzen. Nein, eine unmittelbare Seelsorge, eine – ich möchte sagen – ins einzelne gehende, die Persönlichkeit vernötigende Seelsorge zu üben, ist nicht evangelisch. Das ist etwas von dem Gewissenszwang und Gewissensdrang, der jener Kirche angehört, die – ich will gern einmal sagen – zur Ehre Gottes die Knechtung der von Jesu gefreiten Persönlichkeit für ihren Lebenszweck hält, welche alle Selbständigkeit der Einzelentwicklung von dem Gegebenen zu dem ewigen Ziele hin für fehlsam, ja für verhängnisvoll erachtet, wenn sie nicht auf ihre Weise, auf die durch ihre Erfahrung gekennzeichnete Art erfolgt ist. Dieses einseitige Moment von Seelsorge an den jungen Schwestern würde mit Recht auf der andern Seite den Vorwurf auslösen, den man uns jetzt so oft macht, daß in den Diakonissenhäusern| die einzelne Persönlichkeit aufhört es zu sein, daß eine gewisse Schablonisierung in der Führung der Christen statthabe. Der zum Ueberdruß oft, zuletzt auch wieder in den Zeitungen gezeichnete Vorwurf, daß deswegen nicht die sogenannten gebildeten Kreise sich dem Diakonissenberuf zuwendeten, weil in den Diakonissenhäusern die einzelnen nicht gewogen, sondern einfach numeriert werden, möchte, wenn wir derartige Seelennötigung, derartigen Seelendruck üben würden, eine gewisse Berechtigung finden. Und doch, wie es in der evangelischen Ethik überhaupt ist, die Ueberspannung eines Begriffes ist immer noch sittlicher als die Unterwertung. In der Ueberspannung liegt noch die Möglichkeit der Zurückgreifung, der Eindämmung, während in der Unterwertung die furchtbare Angst der Sicherheit und der Fertigkeit mit unterkommt. Gerade diejenigen Kreise, die jetzt unsere Gebildeten anziehen, nennen wir einmal den Diakonieverein, haben von der Seelenpflege derer, die ihnen befohlen sind, – ohne daß ich ihnen zu nahe treten möchte –, gewiß nur sehr vage, mit dem Ernst der Bedeutung einer einzelnen Christenseele kaum ganz verträgliche Anschauungen. Wir stehen in der Mitte. Ich möchte sagen, es ist ja das undankbarste, aber das genuin lutherische Prinzip, immer wieder die Mittellinie zu ziehen, nicht weil sie die bequemste, sondern weil sie die schwerste ist. Es gehört zum Ziehen einer Mittellinie ein solches Maß von Selbstbeschränkung und Selbstentäußerung, ein solcher Ernst die Schmach Jesu zu tragen, daß eben nur die Kirche, die ihr Leben lang die Schmach ihres Heilandes zu tragen sich nicht gescheut und keine Herrschergedanken hat in ihr Leben hineindringen lassen, im Stande ist, sie zu ziehen. Extreme Anschauungen haben vor allen Dingen das Wunderbare der Konsequenz für sich. Man nennt Leute, die irgend einen Gedanken bis zur Unmöglichkeit hinaus drehen, charakterfest; in Wahrheit aber sind sie eigensinnig. Man erblickt darin eine besondere Art des Luthertums, eine besondere Kraft des Bekenntnisses in allen Stücken, wenn man irgend einen rechten Gedanken loslöst aus den Verhältnissen, aus denen und für die er geboren ist, und ihn nun generalisiert, verallgemeinert, und alle Konsequenzen, die sich daraus ergeben, einfach ablehnt; das ist sehr starkmutig, und das kann man auch sehr wohlfeil haben, aber recht christlich, apostolisch ist es nicht.
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 Ich meine, wir sollten in der Beziehung auf die Seelsorge, die unsern Häusern befohlen ist, erstlich uns mit dem Respekt vor der Einzelseele segnen und ausstatten lassen, den wir für das Leben unserer eigenen Seele je und über alles erwarten. Es ist die Seele, die der Heiland als eine einzelne in der heiligen Taufe wiedergeboren hat, der Er die Lebensbedingungen| in besonderer Weise verordnet hat, die Er in diese Verhältnisse geführt und der Er jene Verhältnisse ferne gehalten hat, um die er sich als eine individuelle müht und ängstigt; es ist die Seele, welcher der Herr auf einem ganz andern Weg wieder, freilich als derselbe Heiland entgegentreten will als einer andern, und darum – habt Respekt vor der Seele!

 Zum zweiten. Siehe, der Säemann wartet und ist geduldig, bis er empfahe den Frühlingsregen und den Spätherbstregen. Auf die eine Seele kommt, wenn etwas Neues an sie herantritt, gleich dieser Gnadenregen der Begeisterung, auf eine andere dringt er erst ein am Abend. Freilich ohne Begeisterung kann ein Mensch zum Frieden nicht gelangen; denn die Begeisterung ist ein Kind des heiligen Geistes, und eine Vorahnung der Begeisterung, deren wir uns in der Heimat getrösten, die Begeisterung ist wiederum der Pfad, der die Seele heimwärts zu ihrem Herrn geleitet. Noch einmal sei es gesagt, die richtige Seelsorge wartet und betet. Das Dringen auf Bekehrung, das Hereinquälen von Erfahrungen, die man unter obwaltenden Verhältnissen gar nicht gemacht haben kann, die Imagination von allerlei Erlebnissen, die auf der Linie bisheriger Entwicklung gar nicht verzeichnet werden können, töten die Originalität des Christenlebens und legen die Begeisterung lahm, ohne welche niemand den Herrn schauen kann. Man kann nicht oft genug sagen: besser keine Seelsorge als die treiberische, als diejenige, welche ganze Stadien der Entwicklung einfach ausreißt, wegtut, verdrängt und an den Anfang langsamen Werdens und folgerichtiger Entwicklung bereits den Ausgang zu setzen beliebt. Es mag sein, daß Treibhauspflanzen viele Monate vorher als die Pflanze, die den normalen Weg des Werdens geht, blühen und duften. Ich bin der letzte, der der Blüte dann die Echtheit abspricht; aber sehen wir zu, wie lange sie vorhält, und fragen wir uns, ob nicht in allem Treibhausmäßigen ein Eingriff in die Gesetze göttlicher Entwicklung liegen mag.

 Habt Respekt vor der Seele! Das war das Erste. Warte auf die Entwicklung der Seele! Das ist das Zweite. Und hoffe, daß der Herr noch Begeisterung schickt! Denn das müssen wir uns alle sagen: begeisterungsloses Christentum ist schlimmer als der Abfall. Ich meine, die Knechte, die am Abend von der ganzen Weinbergsarbeit nichts anderes zu sagen hatten als: „Wir haben des Tages Last und Hitze getragen“, sind ihnen selber nicht zum Gewinn und dem Weinberg kaum zum Heil gewesen. Ach, weil gerade im Diakonissentum Nerven der Christusnachfolge besonders – ich sage nicht zarter Art – sondern besonders spürbarer Art zusammenfallen, weil im| Diakonissentum eine besondere Art der Innerlichkeit, die natürlich nicht bloß auf das Diakonissentum beschränkt ist, statthat, so ist die Begeisterungslosigkeit in der Diakonissenarbeit etwas so Ausleerendes, Entnervendes und Lähmendes, daß ihr gegenüber nur die ernsteste Aufmerksamkeit, damit kein Schaden angerichtet werde, und die treue Mahnung Platz greifen muß: Laß dich erleuchten meine Seele! Erwecke die Gabe, die in dir ist! Alle die Großen, die vor uns stehen, die großen teuren Heiligen, deren wir gedenken, alle Männer, die obwohl Fleisch und Blut dennoch überwunden haben in der Kraft Jesu, waren Männer der Begeisterung.

 Es ist vor wenigen Monaten ein Buch erschienen, – das Buch hat eine ganz interessante Vorgeschichte – in dem einer Menge von Naturforschern nachgewiesen wird, wo und wann sich zum erstenmal in ihnen die hohe geniale Gabe geregt habe. Das Buch hat der Anfrage eines vornehmen Japaners seine Entstehung zu verdanken. Dieser fragte einen Leipziger Professor: „Wann und woran erkennt man das Aufwachen des Genialen im Menschen?“ Und auf die Frage des Professors, warum er das wissen wolle, teilte er ihm den Auftrag seiner Regierung mit, sie habe beschlossen, im ganzen Japanerreich die Kennzeichen, an denen man das Aufwachen einer besonders bedeutenden Seele erkennen würde, zu überwachen und ins Auge zu fassen, damit die Bedeutenden gesammelt und für bedeutende Aufgaben erzogen werden könnten. Es ist dies eine rein weltliche Sache. Der Professor machte sich an die Arbeit und hat dann nachgewiesen, wo bei den Größen der Naturforscher diese hohen Gedanken – wir würden sagen – die unmittelbare Intuition erwachte. Ich habe das nur in Paranthese gesagt, aber darauf möchte ich hinweisen, wenn bei einem Menschen die Begeisterung für seinen Heiland eintritt: „Wir können es ja nicht anders, als daß wir von Ihm zeugen, was wir erlebt haben“, und einer alles, was ihm Gewinn war, für Schaden erachtet, dann freilich ist der rechte Ton gefunden und die rechte Arbeit begonnen.

 Aber ich gehe weiter. Unsern jungen Schülerinnen muß – und das möchte ich so recht beim Scheiden betonen – immer wieder die Seelsorge zugeführt und angedient werden, welche in den Grund geht. Wir haben eine Menge von überkommenen Begriffen; wir gehen vom Katechismusunterricht in den Konfirmandenunterricht, vom Konfirmandenunterricht in die Christenlehre, von der Christenlehre in die blaue Schule und operieren mit einer ganzen Menge edler herrlicher Katechismuswahrheiten. Wir reden von Bekehrung und Wiedergeburt, von Rechtfertigung und Heiligung; wir wissen etwas zu sagen von Erweckung.| Aber die große Gefahr ist, daß alle diese Begriffe leere Formen sind, denen das Leben entweicht nicht um ihretwillen, sondern um dererwillen, die sie ohne Würde und Weihe brauchen. Die größte Seelsorge, die man an den jungen Schülerinnen übt, ist, daß man sie auf den Grund der Heilsentwicklung führt und daß man ihnen das eine recht ans Herz legt, was es um die Sünde Elendes und Zerstörendes, und was Lebensvolles und Lebenskräftiges es um die Gnade ist. Man soll bei allem Ernst der Katechismusunterweisung recht – wie ich immer gesagt habe – auf Grundbegriffe dringen. Sieh, das ist Sünde, wenn man wochenlang ohne Sehnsucht nach Jesu einhergeht, wenn das Heimweh wie eine Kinderkrankheit dir erscheint, wenn die äußere Arbeit die Hauptsache ist, oder wenn du mit einer Menge von Kleinlichkeiten dich tot trägst, während dein Herr auf die Höhe dich fahren heißt, damit du einen Zug tust. Man muß den blauen Schülerinnen das Wort des seligen Richard Rothe oft vorhalten: „Kurz bemessene Gesichtspunkte wirken entsittlichend.“ Es heißt nicht: Schaue mit deinen Augen in die Ecke! Es heißt nicht: Versenke dich in die Erbärmlichkeiten des Lebens! Es heißt nicht: Wirke mit der Enge, die dir aus Herkunft und Art geworden ist; wobei es ganz verschiedene Engen gibt. Die natürliche Herkunft befreit nicht von der Enge; es ist ganz einerlei, ob man in eine tapezierte Ecke blickt oder in eine getünchte, sondern es heißt: Hebe deine Augen auf! Ich meine, das wäre der wahrhaft befreiende Dienst der Seelsorge an unsern jungen Schwestern, wenn man’s ihnen sagte: Weg mit dem Kleinkram! haßt diese Erbärmlichkeiten des Lebens! Ach, nirgends macht sich der Kleinkram lästiger erkennbar und fühlbar als in einem Beruf, der so viel Größe braucht um etwas Großes zu leisten. Jene Predigt am Ende des 18. Jahrhunderts, welche für den ganzen Missionsbetrieb maßgebend und erwecklich ward, die Predigt des einstigen armen Schuhmachers Carey, der dann später einer der bedeutendsten englischen Missionare war, hatte die zwei Sätze: „Erwarte Großes von Gott,und wage Großes für Gott!“ Indem man das in diese dumpfe, verschränkte Kleinkrämerei des Lebens hineinruft, stößt man die blinden Fensterscheiben auf, damit die Gnadenluft herein und die böse Stickluft hinausziehen kann, und macht die Seele frei. Man sage ja nicht, die blaue Schule, also unsere Diakonissenvorschule, soll sich daran genügen lassen, etwelche Katechismuswahrheiten zu vermitteln. Die Höhe wird es immer sein, bei aller Gründlichkeit im einzelnen die ganze Weite des heiligen Feldes zu erschließen. Wenn eine junge Schwester einmal aufatmet in der hellen Freude wie groß ihr Heiland ist und wie groß sie ist, daß sie einen solchen Heiland| hat, so ist das weit mehr wert, als wenn man sie jetzt mit einer Menge von überlieferten Satzungen beengt und ihre Seele ängstigt und einschüchtert. Es ist mir immer ein Trost gewesen, daß ich mich mit dem was Instruktion und Instruktions-Wesen heißt, hier habe recht wenig befassen müssen. Es giebt nur eine Instruktion und die heißt: Folge mir nach! Und aus ihr heraus, aus dem aus ihr gebornen Takt einer Christin, erweist sich die Weitschaft, die doch nicht Oberflächlichkeit, und der Reichtum, der doch sparsam ist. Darum noch einmal sei es gesagt: die rechte Seelsorge ist, daß man Grundbegriffe prägt und in die Seele den Blick zu senken sucht, wie reich ein Mensch ist, der Christum liebt.

 Darum meine ich auch, wir sollten unsern jungen Schwestern recht viel von der Solidität beibringen, welche keine Kirche so grundmäßig hat, wie die milde biblische Richtung der altlutherischen Schule Württembergs. Ich habe immer wieder durch die Jahre hindurch auf Steinhofer, Rieger und Roos hingewiesen, auf diese trefflichen, kernigen Väter. Ich unterscheide mich, möchte ich sagen, in meiner ganzen Glaubensstellung von dem Luthertum einer andern Richtung. Es gibt, um es kurz zu sagen, zwei Richtungen im Luthertum seit der Reformation. Die eine Richtung ist die mehr norddeutsche, die wir vielleicht bei Martin Chemnitz finden und vielleicht bei dem einen Osiander; das ist mehr die Richtung, welche das Sein betont; die andere Richtung zeigt uns wie Gott der Herr dem großen wunderbaren Sein auch das „So“ vermittelt; wie aus dem Sein das Sosein wird, und das ist je und je die Gnade der württembergischen Bibelschule bis auf Joh. Tob. Beck geblieben, daß sie das Sosein der Dinge recht ansah, das sollen und wollen auch wir tun, daß wir das Sosein der Dinge recht ins Herz fassen und daran festhalten und ja nicht zweifeln, der Herr, der ein Ding, eine Glaubenswahrheit, ein Lebensgut geschenkt hat, hat auch die äußere Gestalt gegeben, unter der dies Lebensgut sich darstellt und erzeigt.

 Das aber sei auch eine Seelsorge, die ich recht zu betonen mir gestatten möchte, daß man – und ich wende mich bittend an alle, die es hören wollen – die blauen Schülerinnen, wenn sie dem Semester entnommen sind, in der Pflege des Gotteswortes erhält. Es ist mir beweglich, was da manche Oberschwester die Jahre hindurch getan hat; Gott wird es ihr an Seinem Tag öffentlich vergelten. Man sage nicht, dazu gebreche die Zeit! Was ist es, wenn man von drei Wochen Ferien einen Tag opfert und diesen Tag in 24 Stunden zerlegt und diese 24 Stunden auf ein halbes Jahr verteilt? Was wäre damit Großes getan, wenn eine Oberschwester ihre jungen| Schwestern allwöchentlich – ich sage nur – 1/2 Stunde immer wieder sammelte, damit sie Erinnerungen auffrischen, an Lebensquellen sich wieder erquicken und weithinaus in die Lande sehen. Ich möchte als eine besondere Gefahr für unser Haus allen älteren Schwestern dies ans Herz und ins Gewissen legen können: wo wir merken, daß unsere jungen Schwestern der Begeisterung entbehren, Redensarten einsetzen, die Geistesgabe der Klarheit hintan treten lassen, da kehrt der Tod ein. Ach, nur keine Gewohnheit durch die Gewöhnung, nur kein Schablonentum durch das Herkommen! Man kann sehr viele Vergehungen junger Schwestern barmherzig tragen, wenn ein Aufglühen der Liebe zur Sache bemerkbar wird. Ich darf wohl – unbegreiflich und unmaßgeblich, aber aus einer Erkenntnis heraus, die ich vom ersten Tag meines Hierseins gewann, herzlich bitten, die Einsegnung zu spezialisieren. Wenn die Einsegnung die Erklärung der Oberin und Schwesternschaft ist, diese junge Schwester sei als reif für die Vollarbeit anzunehmen, und die Fürbitte der Kirche durch ihren Diener ist: Der Herr möge diese Gabe segnen, so ist es ein in meinen Augen wenigstens ganz unlogischer Vorgang zu behaupten, daß alle in der gleichen Zeit der gleichen Reife teilhaftig sein müßten. Unbekümmert um dies Reden von Bevorzugung und Parteilichkeit, und unbeirrt durch die vielen Aufregungen, die man sich ersparen könnte, wenn man „nach der Schnur“ einsegnete, habe ich immer wieder erfahren und festgehalten, daß, wie der Geist Gottes weht, wo Er will, auch wir Seinem Wehen individualisierend, spezialisierend, einzeln betrachtend nachgehen sollen. – Es ist gewiß an dem, daß die Einsegnung leider bei manchen – ich sage bei manchen – der Freibrief ist, sich nun gehen zu lassen. Gar manchmal erscheint es uns nach der Einsegnung, als ob die Morgenröte sich in eine kupferne Abendröte verwandelt hätte und das etwas erregte Leben in eine große Totenstille wieder sich hinbreitet. Es fällt mir immer wieder das Wort von Walther von der Vogelweide ein: „Ich hab’ mein Leh’n, all die Welt, ich hab’ mein Leh’n!“ Was ich haben kann, hab’ ich. Ich bin eingesegnet und nun arbeite ich „eben so zu“. Was das für eine Arbeit wird, wie viel Würze sie braucht um sich leidlich frisch zu erhalten, und wie exotisch diese Würze ist, wie sie aus allerlei Aufregung, aus allerlei Anregung und Stimulantien künstlich hergestellt werden muß, das haben wir erfahren. Wem nicht die Begeisterung die Stärke seines Lebens und wem nicht der Herr, der da Geist ist, seine Freude ist, der läuft von einem Brunnen zum andern und von einer Quelle zur andern und von einer Anregung zur andern, damit man ein leidliches Leben habe. Das würden auch die Einzusegnenden| reichlich erfahren: Wie viel braucht ein Mensch um sein Leben dürftig auf einer gewissen Höhe zu erhalten, der nicht auf der Höhe Jesu Christi bleibt!

 Auch das ist mir eine Sorge, wohl eine der größten Sorgen für die gesamte Diakonie in den kommenden Jahren, daß wir zuviel Anregungen und Aufregungen und Reizungen und Abwechslungen und Konferenzen und Vorträge brauchen, während es doch heißt: „Sei im übrigen ganz still, du wirst schon zum Ziel gelangen.“ Wenn Sie merken, daß Sie ohne solche Zutaten nicht mehr arbeiten können, dann fragen Sie sich, ob es nicht weit ehrlicher sei, die Arbeit hin zu legen und in einen Beruf zu gehen, in dem man eben andere Zutaten ungestrafter Weise besitzen kann. Aber ich eile mit diesen Begriffen zum Schluß über Seelsorge, über mittelbare Seelsorge. Mittelbare Seelsorge ist das, was wir Mutterhaus nennen.

 Hier setzt in meinen Augen und nach meiner durch fast zwei Jahrzehnte bewährten Ueberzeugung die Notwendigkeit der Selbsterhaltung ein, die keine Rücksicht kennt und die Menschen ins Mutterhaus zwingt, wenn sie sich nicht zum Mutterhaus stellen, zwingt zu dem Behuf, damit sie sich entscheiden und scheiden. Es ist nicht an dem, daß man von drei Wochen Ferien, die herzlich gegönnt sind, so ein wenig „herunter krümelt“ und den berühmten Abendsmahlssonntag in Dettelsau absitzt. Wenn das eintreten würde, dann müßte man die Sterbeglocke läuten. Darauf kommt es an, – ob mit Willen oder nicht, ob mit Liebe oder nicht – der Ernst des Gesetzes, den der Herr auch noch den Wiedergebornen verordnet, muß einsetzen und du mußt; wenn du nicht willst, so brechen und zerbrechen wir. Wer seinen Bruder, die Institution, die ihn schwesterlich aufgenommen hat, die er sieht, nicht liebt, „wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?“ Die falsche Einstellung des Mutterhausbegriffes und die falsche Orientierung nach der Seite hin ist ein entschiedenes Zeichen, daß auch die Stellung zum Herrn nicht recht ist. Es müßte denn sein, daß das Mutterhaus auch die Stellung zum Herrn verläßt, und die Flucht vor ihm ein Zeichen ernstlicher Stellung zum Herrn wäre. Solange aber das Mutterhaus die Systematik derer ist, die von Christus begeistert Ihm nachfolgen wollen; solange im Mutterhaus diese eingehende, mütterlich prüfende, tiefgrabende Seelsorge geübt wird, solange muß das Mutterhaus daraufhalten und darüberhalten, daß seine Angehörigen alle sich zu ihm stellen, und zur Entscheidung drängen. Junge Schwestern werden noch nicht zur Entscheidung gedrängt; da wartet man; aber bei älteren muß das Mutterhaus, damit es seine Lebenskraft erzeige und nicht als eine tote Rebe vom Herrn weggestoßen werde, daran| festhalten: laßt uns beisammen bleiben! Wer sich absondert, der tut, was ihn gelüstet, setzt sich wider alles, was gut ist. Und Sie werden aus der Seelsorge heraus es mir glauben, wo ich diese geflissentliche Abkehrung merkte, habe ich immer wieder auf Entscheidung gedrängt. Man sage nicht, „Geflissentliche Abkehrung gibt es nicht.“ Eine unfreiwillige Abkehrung gibt es nicht. Es ist da der Nerv der Wahrheit verletzt. Wer nicht mehr recht zum Mutterhaus steht, dem mache ich keinen Vorwurf; aber daraus daß er den Schein äußerlichen Zusammenhangs noch pflegt, mache ich den Vorwurf der Unwahrheit; derselbige Mensch habe den Mut das zu sein, was er sein will.

 Die ganze mittelbare Seelsorge – damit lassen Sie mich diesen Gedankengang hinlegen – besteht in dem einen Wort: Mutterhaus. Das ist die Form, durch welche der Herr an den Seelen Seiner Dienerinnen arbeitet. Dies Zusammentreten zu einer Arbeitsgemeinschaft im Gebet, zu einer Interessengemeinschaft im Kreuz, zu einer Lebensgemeinschaft in der Hoffnung: Arbeits-, Interessen-, Lebensgemeinschaft – dieses Zusammentreten heißt man Mutterhaus.

 Es ist zunächst ein Zusammentreten zu gemeinsamer Arbeit, und die Arbeit heißt: Jesu zu Ehren. In dieser Arbeitsgemeinschaft ergänzt man sich und greift ineinander und nicht übereinander und stellt sich zusammen, und der ganze Organismus bis in seinem feinsten Geäder wird von dem einen Gedanken getragen: für Jesum! In der alten syrischen Kirche war der einzige Gruß, mit dem sich die Christen täglich begegneten: Alles zur Ehre Jesu! und das muß in einem Mutterhaus die Arbeitsgemeinschaft bilden. Alles zur Ehre Jesu! Ich habe wohl einmal im Laufe der jetzigen Besprechungen den Gedanken gestreift – den ich so oft betont habe – wenn ein Mutterhaus von einigen hervorragenden Menschen getragen wird, so ist es keine Arbeitsgemeinschaft mehr, so ist es eine geistige Idealisierung, eine Genußgemeinschaft, eine geistige Aristokratie, die noch schlimmer ist, als alle äußerliche Fernung und Exklusivität. Die geistige Vornehmheit ist ein Gemeingut, und wenn sie es nicht ist, so ist sie Gefahr. Ich habe oft auf den Gedanken hingewiesen, daß die eigentliche Arbeit des Mutterhauses von den nicht dominierenden Kreisen geschieht, und der Gedanke wird sich im Laufe der Jahre noch als recht zeigen. Ein Mutterhaus hat eine schmale Spitze, aber eine breite Basis, eine breite Grundlage, ein breites tragendes Gestein. Wenn ein Mutterhaus sich auf einzelne geistliche Präzellenzen aufbaut, auf einzelne besonders geförderte, besonders geheiligte Persönlichkeiten, so wird es eine sehr gefährliche Sache.| Wir wissen, die Spitze ist immer schmal; um so breiter, weil solider, sei der Aufbau. Es können nicht alle Leute – ich rede recht deutlich – auf der gleichen Höhe sein, aber es können alle fromm sein, es können nicht alle auf der Höhe der Erkenntnis stehen, aber alle in der Pistis, in der Frömmigkeit; es können nicht alle in die willentliche Erfassung der ewigen Dinge kommen, aber bei allen heißt es: „Ich danke dir von Herzen.“ So ist ein Mutterhaus Arbeitsgemeinschaft und so treibt es Seelsorge, daß es nicht der einzelnen Arbeit das Wort redet. Ich werde späterhin, wenn ich auf die Schularbeit zu reden komme, sagen, wie gefährlich es wäre, wenn in unserm Hause eine Spezialisierung der Arbeit und eine Bewertung nach mehr oder minder stattfinden wollte und wie leicht sich diese Gefahr erhebt.

 Aber ein Mutterhaus treibt auch Seelsorge dadurch, daß es Interessengemeinschaft, rechte Interessengemeinschaft ist. Das höchste Interesse ist: Laß mich die Kirche Jesu bauen! Denn die Kirche ist wahrlich kein vager Begriff, sondern sie ist der Leib, den der Geist Sich erbaut hat; sie ist der Organismus, der dadurch so vielteilig ist, weil er eben im Glaubensleben beginnt. Ich rede nicht von der äußeren Erscheinung der Kirche; ihre Dürftigkeit und ihre Zerrissenheit beweist ihren einigen Grund; sondern ich rede von der großen heiligen, christlichen Kirche, von der Braut, die ihrem Herrn entgegenharrt, von der wartenden, betenden und weltüberwindenden Gemeinde der Gläubigen und rufe allen zu: das ist Interessengemeinschaft im Mutterhaus, daß man für die Kirche betet, arbeitet und hofft. Ich glaube, es wäre der allergrößte Undank, wenn unsere Häuser nicht, indem sie sich selber täglich reformieren, der Kirche den Mut machen würden, daß auch sie reformiert werden soll. Es ist in der fortgesetzten Lebensumwertung und Lebensumgestaltung, wie sie einem Mutterhaus, wenn es nicht trüb sein will, zusteht, eine Anwartschaft auf Umgestaltung und Neugestaltung der Kirche. Gerade in diesem Ringen eines Mutterhauses sehe ich das beste Verständnis für das Ringen der Kirche. Der Herr, der das Kleinere nie verlassen hat, wird auch dem Größeren, dessen Teil, dessen Abbild das Kleinere ist, sich nicht entziehen.

 Und endlich: es sei Lebensgemeinschaft! ein Mutterhaus sei Lebensgemeinschaft!

 Was hält die vielen Hunderte zusammen? Die gleiche Tracht? Gewiß nicht! Die gleiche Arbeit? Erst recht nicht! Denn die gleiche Arbeit stößt weit mehr ab, als sie anzieht, sondern die Gemeinschaft des Lebens Jesu nach und Jesu entgegen, die Innerlichkeit der Stellung zu dem Einen, was not| ist. Wie leicht wird unser ganzes Leben, wenn wir zwei oder drei, die desselben Lebensgrundes sich erfreuen, kennen. Wie leicht wird unser ganzes Leben, wenn wir mit rechtem Ernst da und dort einen Begleiter auf dem Weg suchen und in Freuden finden! Die Lebensgemeinschaft, die ein Diakonissenhaus hat, daß wenn ein Glied leidet, alle leiden, und wenn ein Glied herrlich gehalten wird, alle sich freuen, die Lebensgemeinschaft, die aus der Mitteilung der Arbeit und aus der Teilhaberschaft an den Interessen sich ergibt, hebt über all das Schwere heraus. Man weiß sich eins, geeint, geborgen und gerettet.

 Ich schließe. Die mittelbare Seelsorge, die wir üben, ist eine gründliche, eine geduldige, eine ernste und gestrenge und mündet in der Arbeits-, Interessen- und Lebensgemeinschaft. Und alles was wir Seelsorge mittelbarer Art heißen, konzentriert sich, faßt sich zusammen und befaßt sich in dem Mutterhausgedanken, als welcher ein größerer kaum gedacht, nie erfahren werden könnte. Solange Diakonie besteht, wird im einzelnen da und dort eine Saite anders gestimmt werden können und müssen, aber der Klang der Harfe muß und wird der gleiche sein[.]

 Von dieser mittelbaren Seelsorge sage ich nun: Jetzt wird man begreifen, wie richtig der selige Pfarrer Löhe spricht, Diakonissen seien Helferinnen, denen geholfen werden müsse. Haben die 35 Schwestern schon darüber einmal ernstlich nachgedacht und herzlich dafür gedankt, wieviel sie vor ihren Geschlechts- und Altersgenossinnen voraus haben? Ist es schon einmal durch ihre Seele hindurchgezogen, welch ein Glück es ist, auch von Menschen nicht unbeobachtet gelassen und von der Gottestreue in Menschentreue erfaßt zu werden? Würde in unserer Zeit, die so empfindsam und schmachtend mit der Seele kokettieren lehrt, in einer Zeit, die das innere Leben die Seele à la Lhotzky und Johannes Müller in fast krankhafter Weise pflegt, welche von dem Individualismus redet, der ganz vergißt, daß wir zu einer Gemeinschaft berufen sind, würde in dieser Zeit der Wert der einzelnen Seele für die Ewigkeit und der Ewigkeit für die einzelne Seele mehr betont werden, so könnten unsere Diakonissenhäuser die Mauern gar nicht weit genug ausdehnen. Wie arm ist doch unser Geschlecht geworden! Auf der einen Seite – bei Goethe sieht man es am allerunangenehmsten – eine krankhafte und ungesunde Liebkoserei mit der Seele, eine Sektion und Sezierung aller Empfindungen und Affekte, ein Hüten des kranken Herzens, als ob die Krankheit eigentlich das Behütbare und Behütliche wäre, eine solche Abschließung der Seele von allem, was kernhaft macht, und was im Sturm schüttelt und im Sturm erhält, und auf der| andern Seite die Zumutungen, die man an eine arme Seele stellt in Lektüre, Bildern, in allen Fermenten, die unserer armen Seele zugemutet werden; auf der einen Seite diese krankhafte Furcht vor dem Tode, diese heillose Sterbensangst, auf der andern Seite Verfeinerung, Raffinierung des Sterbensgedankens. Unsere Zeit hat alles, nur keine Knochen, und je stärker und hochtönender und höher anschwellend diese Worte sind, desto dürftiger ist der Inhalt, der hinter ihnen steht. Da haben nun gegenüber einem blasierten, geistreichelnden, mit sich selber in krankhaftem Mitleid zerrinnenden Geschlecht diese Schwestern die Kraft der stählenden Arbeit, die tragende Gewalt einer hochgespannten Gemeinschaftsidee, den Ernst einer richtenden, sichtenden, klärenden Seelsorge, die große Aufgabe, an der Welteroberung mitzuarbeiten. Und daß man für einen solchen Dienst so betteln muß, gehört wohl zu den nicht am wenigsten betrüblichen Zeichen der Zeit. Weil an uns mittelbare Seelsorge getrieben wird gerade durch die Institutionen, in denen wir stehen, durch die Arbeit, an welcher wir stehen, durch die Hoffnung, der wir unterstehen, darum – gerade deswegen – ist auch alles Uebermaß zu meiden. – Ich darf darüber noch ein kurzes Wort sagen: Man soll sich durch die Diakonissenhäuser für entschiedenes Christentum nie in der gesunden lutherischen Weltbehauptung stören lassen. Es ist nicht an dem, daß in der prätentiösen Weltflucht wirklich schon der weltüberwindende Sieg läge; sondern der weltüberwindende Sieg liegt in der Selbstverleugnung des Christen. Wer die Welt in sich überwindet, an dem hat die andere Welt keine Macht, und wer innerlich sich mit der Welt auseinandersetzt, dem hat die äußere keine Bedeutung mehr als Lockobjekt, sondern nur Bedeutung als zu überwindendes Ganzes.

 Gott der Herr helfe, daß, bedroht von der Rede, es sei zu viel des Geistlichen, und eingeschüchtert von der weit schwereren Rede, es sei zu wenig des Geistlichen, unsere Diakonissenhäuser den Mittelweg gehen, der nicht hervorragt und nicht glänzt, aber treu ist. Gott helfe, daß wir uns weder nach der einen noch nach der andern Seite, um den Ruhm der Konsequenz zu wahren, in Extreme drängen lassen. Konsequente Leute haben den Mut in kleinen Dingen immer inkonsequent zu sein, weil sie die Hauptlinie im Auge und ihre Aufgabe an ihr im Herzen haben. Aber wie üben diejenigen, an denen solche Seelsorge geübt worden ist, ihrerseits und ihresteils die Seelsorge aus? Wie weit darf eine Diakonisse Seelsorgerin sein? Wie weit muß sie es sein? Das wird die Frage sein, die uns in den letzten Stunden noch beschäftigt, in denen ich eine gesamte Berufsauffassung noch zu geben suche.

|  Wie weit darf eine Diakonisse Seelsorgerin sein? Hier steht für mich ein Wort, daß St. Petrus gesprochen hat, und das Wort soll allen gegenüberstehenden Meinungen zum Trotz bleiben bis ans Ende: Der wortlose Wandel ist die beste Seelsorge, so im allgemeinen wie im besonderen. Wie uns Dienern der Kirche Tertullian einmal das Wort vorhält: „Die Wahrheit errötet vor keinem Gedanken mehr, als daß sie in ihr verborgen bleiben könnte“, und wie wir Diener des Wortes die hohe Aufgabe haben, unsern Wandel leuchten zu lassen, damit nicht unser Wort wie ein Donner hinrollt, dem kein befruchtender und verneuender Regen folgt, so hat das Geschlecht, dem der Herr aus lauter Gnade die Behütung vor dem Wort in Seinem Wort gegönnt hat, die hohe Pflicht wortlos zu predigen. Es ist nicht bloß die Empfindung eines stark ausgeprägt männlichen Gefühls, nicht bloß die Empfindung, wie sie vielleicht seitens eines Schopenhauers in unsere Männerwelt gelegt worden ist, die in ihrer Stärke geradezu eine Erbärmlichkeit beweist, sondern es ist der christliche Takt, den der Herr dem Manne gibt, wenn er mit unverhohlenem Mißtrauen auf alle seelsorgerliche Art der Frau hinschaut. Es wird in unsern Tagen wieder reichlich viel gegeben. Es ziehen diese Bibelschülerinnen durch die Lande, welche die nicht neidenswerte Gabe besitzen, irgend ein Wort der heiligen Schrift aufzuschlagen, um sofort es auslegen zu können; sie sind auch felsenhaft davon überzeugt, daß diese Auslegung immer die richtige ist; und wenn ein anderer etwa nicht „vom Richtigen“ getroffen ist, dann ist er kein Erweckter. Wer diese Erklärung dieser Bibelfrauen, die zweierlei mit sich führen – ein Elberfelder Neues Testament und eine große Suada – schon einmal an sich und seiner Leiblichkeit erfahren hat, verzichtet auf jede weitere Fortsetzung. Nicht alles Treugemeinte ist auch treu, und nicht für alle Torheiten entschädigt und entschuldigt die gute Absicht. Ich bin der letzte, der die gute Absicht leugnet, denn ich glaube gewiß, daß hier ein brennender Eifer für den Herrn Jesus Platz greift; ich möchte mit keinem einzigen unguten Wort das dämpfen, was brennen zu müssen meint.

 Aber ich kenne auch den Apostel, der obwohl er gesagt hat: „Seid brünstig im Geist“, weiterführt: „ringet darnach, daß ihr stille seid und das Eure schafft.“ All dies Reden, das von diesen begeisterten Jüngerinnen ausgeht, all dies Weissagen, das da sehr leicht statt auf den Willen zu wirken das Gefühl mächtig erschüttert, hat die große Frage: Freund, wo bist du hergekommen? Und ich glaube, unser Herr würde seine liebe Not haben, wenn diese wortreiche Art allzusehr unsere Kreise beherrschen würde.


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Lied 291, V. 11.
Gebet: O Herr Jesu Christe, verleihe uns allen, die du schweigend und wortlos am Kreuz von allen Sünden des Wortes befreit und erlöst hast, daß unsere Stille Deine Stärke und Deine Stärke unsere Freude sei, und schenke uns die Gnade, daß wir in Deiner Kraft alle Versuchungen und Reizungen und Hemmungen überwinden und endlich selig werden. Amen.












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Einsegnungs-Unterricht 1909
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