Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Karfreitag

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Am Charfreitage.

Nachmittags.
(Zur Todesstunde des HErrn JEsus Christus.)
Evang. Marc. 15, 33–47.
33. Und nach der sechsten Stunde ward eine Finsternis über das ganze Land, bis um die neunte Stunde. 34. Und um die neunte Stunde rief JEsus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? Das ist verdolmetschet: Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du Mich verlaßen? 35. Und etliche, die dabei stunden, da sie das höreten, sprachen sie: Siehe, Er ruft dem Elias. 36. Da lief einer und füllte einen Schwamm mit Eßig und steckte ihn auf ein Rohr und tränkte Ihn und sprach: Halt, laßt sehen, ob Elias komme und Ihn herabnehme. 37. Aber JEsus schrie laut und verschied. 38. Und der Vorhang im Tempel zerriß in zwe[i] Stücke, von oben an bis unten aus. 39. Der Hauptmann aber, der dabei stund gegen Ihm über und sahe, daß Er mit solchem Geschrei verschied, sprach er: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen! 40. Und es waren auch Weiber da, die von ferne solches schaueten, unter welchen war Maria Magdalena und Maria, des kleinen Jakobus und Joses Mutter und Salome, 41. Die Ihm auch nachgefolgt, da Er in Galiläa war, und gedient hatten und viele andere, die mit Ihm hinauf gen Jerusalem gegangen waren. 42. Und am Abend, dieweil es der Rüsttag war, welcher ist der Vorsabbath, 43. Kam Joseph von Arimathia, ein ehrbarer Rathsherr, welcher auch auf das Reich Gottes wartete; der wagte es und gieng hinein zu Pilato und bat um den Leichnam JEsu. 44. Pilatus aber verwunderte sich, daß Er schon todt war und rief dem Hauptmann und fragte ihn, ob Er längst gestorben wäre? 45. Und als er es erkundet von dem Hauptmann, gab er Joseph den Leichnam. 46. Und er kaufte eine Leinwand und nahm ihn ab und| wickelte ihn in die Leinwand und legte ihn in ein Grab, das war in einen Felsen gehauen und wälzte einen Stein vor des Grabes Thür. 47. Aber Maria Magdalena und Maria Joses schauten zu, wo er hingelegt ward.

 HOeher, als in dieser Erinnerungsstunde der letzten Lebensstrecke JEsu, kann Sein Leiden nicht steigen. Wir sind bei dem Gipfel, Gott sei Lob und Dank! Denn wenn man den Gipfel eines Berges erreicht hat, ändert sich die Richtung; es geht dann nicht mehr aufwärts, sondern bergabwärts. So kommt nun auch die Noth unsers HErrn in dieser Stunde nicht bloß auf den Gipfel, sondern sie vermindert sich auch: es wird, nachdem der heiße Kampf geendet hat, Ruhe, und die finstre Nacht, welche über dem Kreuze lastete, geht dahin, einem lieblichen Abendroth Platz zu machen, das auf den Morgen eines ewigen Tages deutet. Wohlan, meine Brüder, steigen wir mit dem HErrn die letzten Schritte vollends hinan zum Gipfel Seiner Noth und gehen wir dann mit Ihm thaleinwärts zu Seinem stillen, friedenvollen, hoffnungsreichen Grabe.


 Am Mittag des Todestages JEsu verlor, wie unser Text erzählt, die Sonne den Schein. Es war keine Sonnenfinsternis, wie sie sonst zu sein pflegen; keine rückwärts gehende Forschung der Himmelskundigen macht sie ausfindig; sie ist aus natürlichen Ursachen nicht zu erklären, weil sie durch natürliche Ursachen nicht bewirkt ward, sondern aus übernatürlicher, wunderbarer Fügung stammte. Einer Theilnahme der Natur an dem folgenschweren Ernste jener Stunden ist sie zuzuschreiben, einem Mitleiden der Creaturen mit ihrem Schöpfer und Erlöser. Alte Berichte sagen, es habe sich eine rabenschwarze Nacht über das heilige Land und die angrenzenden Länder gelagert, man habe die Sterne am Himmel leuchten sehen, und die Vögel, an der Zeit irre geworden, seien in ihre Nester gegangen. − Nun hat die Nacht an und für sich eine eigene Wirkung auf die Menschenseele. Sie hat etwas Heiliges, Ernstes, Großes, aber sie bringt auch das Gefühl der Einsamkeit und Kleinheit, und erweckt das Bedürfnis, sich anzuschließen. Nächtliche Einsamkeit ist schaurig; jedermann kann es an sich erfahren; unser HErr aber hat es in jenen Stunden, deren Andenken wir feiern, in einer Weise und in einem Maße erfahren, wie es kein Mensch je erfahren hat und auch keiner erfahren kann. Mit jener grauenvollen Nacht des hellen Mittags stieg auf Ihn eine andre Nacht hernieder, welche, obschon wir ihre eigentliche Beschaffenheit kaum ahnen können, obwohl sie Jahrhunderte, ja über anderthalb Jahrtausende lang von uns getrennt ist, dennoch aus ihrer weiten Ferne noch unsre Seele mit Schrecken und Zagen erfüllen kann. Es war die Nacht der Gottverlaßenheit.

 Wenn wir einsam sind in Nächten und schauriger Finsternis: was kann uns über das Grauen der Nächte hinwegheben, was hat uns oft hinweggehoben, was hat uns größer gemacht, als die finstern Schrecken um uns her, was hat in uns eine himmlische Freude erweckt, die, je länger wir sie nährten, desto lauter und größer in uns wurde? Es war das Bewußtsein, daß Gott mit uns ist, daß wir einen Starken zum Schutz haben, vor welchem sich die Nacht anbetend neigt, wie der Tag. Es gibt keine Nacht, in welcher wir vergehen und verzagen könnten, wenn der HErr mit uns ist. Gottes Nähe und die Gewisheit Seiner Gnade macht uns zufrieden, reich und fröhlich selbst in der Nacht des Todes. Von dem hat unser HErr JEsus Christus ein furchtbares Gegentheil erfahren. Eine gewöhnliche Nacht zwar hätte auf Ihn den Eindruck nicht hervorbringen können, wie auf uns, und wenn sie tausendfache Schrecken angezogen hätte. Er hatte ein Gewißen, das in tiefster Ruhe an Gottes Herzen schlug; in stillen Nächten suchte Er auf Ihm bekannten Wegen oft und gerne die himmlische Heimath auf; wer will die Seligkeit Seiner Nächte faßen? Aber diese Nacht, diese Nacht! − Sie war vorhergesehen und vorhergesagt. Der Sänger des zwei und zwanzigsten Psalmes hatte von ihr gesungen. Das Wort, in welches der HErr allen Jammer Seiner Seele faßte, das Psalmenwort: „Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du Mich verlaßen?“ − war ein bekanntes, wenn schon unerkanntes, unbegriffenes Wort Jahrhunderte vorher, ehe es Der sprach, der es erfunden, aus deßen schmerzenreicher Seele es seinen Ursprung genommen hat und gequollen ist. Es ist ein nächtlich Wort, in| Nacht geboren, in Nacht gehüllt, daß es bis zur Stunde niemand begreifen oder auslegen kann. Er, selbst Gott und Mensch, und doch von Gott verlaßen: was ist das? Da sinne, wenn du sinnen kannst; du wirst am Ende doch nichts weiter zu Wege bringen, als ein stummes, staunendes Kopfschütteln. − Es ist ein schreiender Contrast zwischen diesem Worte und der Rede des Kriegsknechtes, welcher als Heide und Ausländer die aramäisch gegebenen Laute Christi nicht verstand und sie, vielleicht höhnend, auf Elias deutete. Aber, meine Freunde, alles, was man von Christi Gottverlaßenheit sagen könnte, − mags viel beßer sein als diese Worte und Deutung des Kriegsknechtes? Kommt es aus einem viel tieferen Verständnis? Fast sollt ich zweifeln. Ach welcher Selige, welcher Auserwählte, welcher Engel mag diese Worte verstehen, deren Voraussagung im Psalm an und für sich schon Beweis ist, daß der Psalm vom Geiste Gottes stammt und eingegeben ist. Von dem „Warum“, welches der HErr von Seinem Kreuze fragend in die finstre Nacht hinausrief, könnten wir allenfalls ein klein wenig den Schleier lüften und lösen. Die ganze für uns geschehene Erlösung macht uns auf die Antwort gefaßt, die auf die Frage „Warum“ kommen müßte. Ich will mich nicht erkühnen, etwas darüber zu äußern, ob der HErr für Sich die Frage that, ob Er in Seinem nächtlichen Kampf etwa einen Augenblick in Gefahr war, den klaren Blick in die Ursachen Seiner Leiden zu verlieren, und eben damit den tiefsten Trunk aus Seinem Kelche thun mußte, − oder ob Er die Frage vor den Ohren anderer nur um der Menschheit willen aufwarf, Selbst fragte, was für andere die würdigste Frage sein und die ernsteste Untersuchung geben sollte. Gewis aber ist, daß die Antwort auf das Warum uns beschuldigt, daß wir, unser Sein und Leben, die Ursache der Gottverlaßenheit Christi sind. Das können, das müßen wir mit Beugung und Anbetung erkennen. Aber was das ist: Gottverlaßenheit, Gottverlaßenheit Christi; was das war, daß Er verlaßen wurde: das ist eine andre Frage. Ich schweige − ich bin stille − ich möchte heute gar nichts mehr reden, möchte von eurem Angesicht gehen, möchte mich vor dem Altare in den Staub legen und eine Stille auch für euch einleiten, wie sie sich nach der Offenbarung St. Johannis zuweilen im Himmel findet. Ich möchte − denn ich werde von dem Ruf Christi überwogen und in den Staub gedrückt. − Ja, das war eine Nacht, die über Ihm hieng und sich über Seine Seele legte! Da lastete auf Ihm der Fluch unserer Sünde, da hieß es: „Christus ist worden ein Fluch für uns!“
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 Sie gieng vorüber, diese Nacht. In ihr und durch sie wurde vollends alles erfüllt, was erfüllt werden sollte. Und damit gieng auch die Notwendigkeit der Erniedrigung, die Notwendigkeit der Leiden, die Notwendigkeit, in einem leidenvollen Leib und Leben zu verweilen, vorüber. Der Augenblick, wo der HErr unter freudigem Siegsgeschrei verschied, eilte nun herzu. Er nahm den letzten Labetrank für Seinen heißen, schmerzenvollen Leib, und dann hauchte Er die heilige Seele aus und gab sie in des Vaters Hand. Sein letztes Geschrei − es ist mir, als klinge es mir in den Ohren, dieß Geschrei ohne Gleichen, dieß Geschrei des ungeschwächten Muthes, des letzten mächtigen, unüberwindlichen Anlaufs. Und Sein Erblaßen − es ist mir wie im Auge! Nach dem Geschrei die tiefe Stille − ich empfinde sie. Es ist nun wirklich geschehen, am ersten Charfreitag um die dritte Stunde des Nachmittags, in deren tiefster Erinnerung wir gegenwärtig selbst leben, − da ist Er gestorben. Er − und gestorben! Wie klingt das?! Daß Adam starb, ist begreiflich; daß alle seine Kinder sterben, das ist man gewohnt zu sehen und zu hören. Aber Er, der reiner war, als Adam je gewesen, und größer als Adam, der Gott und Mensch war! Immanuel − todt: das ist ein Wort, welches kein zweites zur Seite hat und keines haben wird. Daß Er wieder aufersteht, wenn Er gestorben ist; daß Er die Verwesung nicht sieht, aus des Todes Thoren herrlicher wieder kommt: bald hätte ich gesagt, das versteht sich. Aber daß Er gestorben sein soll? − Nachdem Er gestorben ist, kann es denn da noch einen Tod geben? Ist noch Tod übrig, nachdem Er gestorben ist? − Ach meine Freunde, in einem Liede ist die tiefe Verwunderung über JEsu Tod in die auffälligen Worte eingekleidet: „O große Noth, Gott Selbst ist todt.“ Es sind auffällige Worte, welche manche nicht tragen können; aber sie drücken eben doch den vollen Eindruck aus, welchen wir empfinden, wenn wir diesen Tod und die Person vergleichen, welche ihn erlitten hat. Mögen die Worte auffällig sein, paßend sind sie nichtsdestoweniger. Auch sind sie nicht auffälliger, als die Sache, von der sie reden: denn der todt ist, ist ja nicht bloßer Mensch, sondern auch der wahrhaftige Gott und| das ewige Leben. Es ist ein wunderbarer, ein unbegreiflicher Tod, der geschehen ist in der dritten Nachmittagsstunde des Charfreitags. Indes flammt um den unbegreiflichen Todten her ein unmisverständliches, seliges Wort, an dem sich die hungrige Seele dennoch stillt und genug hat, nämlich das Wort: „Für euch!“ Um dieß unbegreifliche Ereignis her webt ein Sonnenglanz unaussprechlicher Sünderliebe, und alles, was wir an diesem Todten und an diesem Tode nicht begreifen können, hat in der Liebe des Todten zu uns seinen Grund: es ist ein Tod der Liebe, den der HErr erlitten, und die heilige Liebe ist es, welche diese gebenedeite, unbefleckte Seele außer dem Leibe wallen gehn heißt.

 Das ists, meine Brüder, dieser Tod ists, betrachtet in der Stunde, wo er erfolgte, was einem den Mund schließt, was einen Prediger die alte Sitte zurückwünschen läßt, am Charfreitag nichts Selbstgedachtes vor der Gemeine reden zu müßen. Es ist nicht der Mangel, sondern die Unzulänglichkeit der Gedanken, weshalb man schweigen möchte. Es ist alles so hehr, so heilig, − es umweht einen so wunderbar, fast wie wenn man selbst außer dem Leibe sollte wallen gehen und die Seele dahingehen in Gottes Hände. Es ist eine gewaltige Wirkung, welche von diesem Tode, in dieser Stunde auf den betrachtenden Geist eindringt, − und an der eigenen Erfahrung kann man es glaublich finden, wie von dem Kreuze Wirkung und mächtige Kraft in engere und immer fernere Kreiße ausgeht.


 Die größte Wirkung hatte der Tod des HErrn im Himmel; denn Gottes Gerechtigkeit war nun durch ihn versöhnt und die Menschheit war in ein völlig anderes Verhältnis zu Gott getreten. Gottes Herz war nun nicht mehr durch Zorn verschloßen, die Nacht des Zornes ist hin, die Sonne scheint wieder, − ein Sonnenschein der Gnaden ergießt sich am Charfreitagabend vom Himmel über die Erde, am Abend jenes Tages ward es Licht für die Menschheit und die Pforten des Himmels wurden ihr gastlich aufgethan. Was in allen Himmeln wiedertönte, war das Wort des HErrn: „Es ist vollbracht,“ − und auch die Erde weiß davon; ein Beben geht durch ihre Lande hin, in welchem sich Freud und Zittern einte. Und was Himmel und Erde bewegt, das regt sich auch im Vorhof des Himmels, im Tempel zu Jerusalem. Der Himmel ist nicht mehr durch Gottes Zorn verschloßen, so wird nun auch vom Allerheiligsten, dem Bilde des Himmels, die Hülle weggenommen und das alte Testament wird als entleert durch Erfüllung bloß gestellt und vor Jedermanns Augen gezeigt; der zerrißene Vorhang setzt allem vorbildlichen Gottesdienst ein Ende. Faßen wir den Vorgang im Tempel recht, meine Brüder! Der Riß des Vorhangs von oben bis unten ist nicht etwa gerade mit dem Tode JEsu irgendwie zusammengetroffen; er ist eine Folge des Todes JEsu, eine Wunderwirkung des HErrn. Denn Menschenhände haben dieses Gewebe nicht zerrißen; es war zu dicht und stark gewoben und bereitet, als daß ein Riß so leicht hätte erfolgen können. Am wenigsten würden Menschenhände den gewaltigen, starken Vorhang des Allerheiligsten von oben haben faßen und bis nach unten reißen können: zu der Höhe des oberen Endes konnte man die Hände nicht heben. Gar nichts zu sagen davon, daß die Menschen, welche zum Tempel Zutritt hatten, keine Lust zu einem so bedeutungsvollen Zerreißen des heiligen Vorhangs haben konnten, da ihnen vielmehr, zumal in jener Zeit, alles an Erhaltung des Vorhangs und des alttestamentlichen Gottesdienstes liegen mußte. Das hat der HErr gethan − und der Sinn der That war freuden- und wonnereich für die Menschheit: des neuen Testamentes seligen Beginn, Frieden und Freude im Himmel, Gnade und Friede auf Erden, das predigt der zerrißene Vorhang.

 Und was im Himmel, was im Vorhof des Himmels vorgieng, diese Aenderung, dieses heilige Schwinden alles Zorns und jeder Trennung Gottes von der Menschheit, dieses freudenvolle Siegen der Barmherzigkeit und Gnade gegen arme Sünder: das erwies sich alsbald, in der That und Wahrheit in der Umgebung des Kreuzes JEsu. Eine Wirkung des Leidens und Sterbens JEsu ist die Bekehrung des Schächers am Kreuze, welchen der HErr als Erstlingsbeute der neugewonnenen Menschheit noch am Abend Seines Todes mit hinübernahm ins Paradies. Und eine Wirkung des Leidens und Sterbens JEsu war doch auch die Veränderung, welche in der Seele des Hauptmanns vorgieng, der am Kreuze die Wache hatte. Ob dieser Hauptmann zugesehen, ob er es erlaubt hatte, als die Kriegsknechte den HErrn im Richthaus und noch am Kreuze so schnöde verhöhnten und peinigten?| ob bei ihm, wie bei dem mitgekreuzigten Schächer ein schneller Uebergang von Hohn zur Anbetung stattfand, − oder wie es sonst hergieng, daß er zum Preise und der Anbetung JEsu gelangte, das wißen wir nicht; aber daß er in der Stunde des Todes JEsu zur Anbetung kam, das ist offenbar. Als JEsus mit lautem Siegesruf und Jubel des Vollbringens Seine Seele Gott aufopferte und starb, da rief der Hauptmann, der dabei stand, dem Sterbenden gegenüber: „Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.“ Wie muß der HErr am Kreuz gelitten haben, in welcher wunderbar schönen Weise muß Er gestorben sein, daß Sein Benehmen auf den Schächer, wie auf den Hauptmann diesen, gerade diesen Eindruck machen konnte! Jeden andern Eindruck konnte man eher als diesen erwarten. Daß Er bemitleidet und beweint, für heilig und unschuldig erkannt werden würde, das konnte man erwarten, ja man konnte es gar nicht anders erwarten. Aber daß Seine Gottheit so kenntlich und ergreifend durch all Sein Todesleiden durchleuchten, daß man aus Seinem Sterben gerade das Gegentheil, nämlich ewiges Leben und unvergängliches Reich und göttliche Majestät, mehr als alles andere erkennen würde, das ist doch wunderbar und anzubeten. JEsus Christus, gestern und heute Derselbe, und Derselbe in Ewigkeit: auch auf die Stunde Seines Todes paßt dieß Wort. Immer groß und herrlich, immer voll herablaßender, demüthiger Liebe ist der HErr, − immer, auch in der Stunde der tiefsten Erniedrigung, ja gerade da in überraschendem, wunderbarem Maße! − So groß und hehr ist Er, daß man geneigt wird in Seine Größe gerade zur Zeit Seines Todes sich zu versenken. Aber nicht von Seiner Größe ist zu reden, zu Seinem Tode ist zurückzukehren, denn daß Er so groß ist, und doch todt, das ists, was uns heute besonders ergreift. Man könnte um der Größe JEsu willen an Seinem Tode zweifeln, − man könnte es, je mehr man den heiligen Todten verehrt, desto weniger glaublich finden, daß Er sterben konnte. Und doch wäre das ein verkehrter Weg und ein eitler Gedanke. Eben im Tod ist JEsu größte Größe, ohne den Tod ist Er uns alles nicht, was Er uns sein will und soll, − und je gewißer wir wißen: „Er ist gestorben,“ − desto gewißer wißen wir auch, daß Er Sein Werk der Erlösung vollbracht hat, daß Er unser Heiland ist. Darum steigen wir gar nicht abwärts in der Betrachtung, sondern wir befestigen nur unsere Andacht und Anbetung, wenn wir unserem Texte weiter folgen, und uns durch das, was ferner gesagt ist, außer allen Zweifel an JEsu Tode setzen laßen.
 Nichts ist indes leichter zu erweisen, als der Tod des HErrn. Nehmen wir nur z. B. auf das Rücksicht, was unser Text enthält, so können wir schon daraus sichere Zeugnisse des wirklich erfolgten Todes entnehmen. Der Hauptmann, welcher mit aller Achtsamkeit des eben erwachenden neuen Seelenlebens gegenüber dem Kreuze JEsu stand, sah, daß Er starb, und als ihn hernachmals Pilatus um das Verscheiden JEsu befragte, gab er das Zeugnis Seines Todes. Maria Magdalena, Maria, des kleinen Jakobi und Joses Mutter, und Salome, die dem HErrn nachgefolgt waren, da Er in Galiläa war, und Ihm gedient hatten, und viele andere, die mit Ihm hinauf gen Jerusalem gegangen waren, standen von ferne und schauten zu. Gewis hatten diese alle am wenigsten Lust, JEsu Tod zu glauben, − am meisten Lust, ihn zu bezweifeln, und sie alle, wie wir aus dem ganzen Inhalt unsers Evangeliums und der gesammten Geschichte des Todes JEsu schließen müßen, zweifelten an Seinem Tode nicht. Nehmen wir zu diesen Zeugnissen unsers Textes andere hinzu. Denken wir insonderheit an jene Seitenwunde, welche dem HErrn geschlagen wurde, an den Stoß des Speers in den Leichnam JEsu, deßen Narbe noch am auferstandenen Leibe des HErrn so groß war, daß Thomas seine Hand darein legen konnte. Eine Wunde von dieser Größe rührt von einem tiefen Stoß her, von einem Stoße, der selbst dem gesunden Leibe tödlich geworden sein würde, geschweige dem gekreuzigten, von namenlosen innern und äußern Leiden ermatteten. Denken wir endlich an die ernsten Männer, die Ihn begruben, deren Augen, geschärft von der innigsten Sehnsucht nach Seinem Leben, jede nur leise Spur der noch vorhandenen Seele erspäht haben würden, aber nichts fanden, als die thränenreiche Gewisheit des Todes JEsu. Sollte aus solchen Betrachtungen nicht unsre Gewisheit des Todes JEsu stark und mächtig emporwachsen? Wenn aber auch alles das nicht hinreichen würde, so wüßte ich eines, das will ich euch nicht verhalten, meine theuren Brüder, weil es mir eine unwiderlegliche Beweisstelle des Todes JEsu ist. Ich meine jenes Wort des HErrn, welches zwar| unser Text nicht erzählt, welches aber doch unter dem lauten Geschrei zu verstehen ist, das er V. 37. erwähnt und unter welchem der HErr verschieden ist. − Das Wort: „Vater, Ich befehle Meinen Geist in Deine Hände!“ Der HErr hatte Macht, Sein Leben zu laßen und wieder zu nehmen. Als Er alles vollbracht hatte und nichts mehr zu überwinden hatte, als den Tod des Leibes, da erkannte Er Seine Stunde, gebrauchte Seine Macht, das Leben zu laßen, neigte Sein Haupt und machte also dem ganzen drei- und dreißigjährigen Kampf, in den Er freiwillig gegangen war, auch frei und hehr ein Ende. Nach der Macht, die Er hatte, nahm Er Seine Seele und befahl sie in des Vaters Hände. Meint ihr, der HErr habe nicht freiwillig die Minute des Todes Sich ausersehen? Meint ihr etwa, Er habe, von des Leibes Noth bezwungen, eine nahende, besonders schmerzensreiche Minute für den Punkt Seines Abschieds gehalten und so gerufen: „Vater, Ich befehle Meinen Geist in Deine Hände?“ Das glaube, wer will. Der HErr war ein HErr Seines Todes; Er starb nach eigener, heiliger Wahl, − Sein letzter Augenblick auf Erden ist Seine freieste, großmüthigste That gewesen: Er starb grade da, weil Er grade da sterben wollte, − und Seinen Willen, wie Sein Vollbringen deuten Seine lauten, sieghaften Worte an: „Vater, Ich befehle Meinen Geist in Deine Hände!“ In diesen Worten liegt die höchste Bürgschaft Seines Todes. Er ist gestorben, denn Er hat Seine Seele in des Vaters Hände befohlen.
 Er ist wahrhaftig gestorben und die Art, wie Er starb, bürgt uns, wie dem treuen Hauptmann, für Seine göttliche Abstammung. Das war ein göttlich Sterben! Nun aber ist alles Leid geendet. Wir können uns nicht so der Wißenschaft Seiner Auferstehung entschlagen, daß wir die volle Trauer des Todes fühlten. Wir können das Angesicht im Abendlichte des Charfreitags nicht schauen, ohne es für einen Vorboten des Morgenlichtes zu erkennen, das am Ostermorgen erschien. Darum ist uns auch die Geschichte der Begräbnis so lieblich, sie erscheint uns wie ein Verbindungsglied zwischen dem Sieg am Kreuz und dem Triumph am Ostertage. − Es ist überhaupt etwas Wunderliches, aber auch etwas Menschliches, das wir überall finden, daß die letzte, wenn schon wehmüthige Freude, die wir am irdischen Dasein unserer Dahingeschiedenen haben, das Begräbnis ist. So lange man sich noch mit dem Leichnam liebevoll beschäftigen und ihm ein weniges erzeigen kann, scheint es, als hätte man dem Todten selbst noch eine für ihn merkliche Liebe erwiesen, und das gewährt etwas von Genüge. Erst wenn das Begräbnis vorüber und auch der Leichnam für immer weggenommen ist, ergreift uns die ganze Macht der jammervollen Entbehrung. Begraben ist die letzte, süße Beschäftigung mit unsern Todten. Das gilt im Allgemeinen, bei Christo aber hat es noch ganz andere Gründe, warum wir so gern Joseph von Arimathia und Nikodemo zusehen, wie sie den heiligsten Leichnam zur stillen Kammer bringen. Bis zu dem letzten Hauche des HErrn ist die Betrachtung thränenreich und jammervoll; die Worte lösen sich nicht vom Herzen; stumm und trüb schauen wir ins Angesicht des Sterbenden: wir leiden mit. Dann aber wendet sichs. Es ist nun ausgelitten, und wenn nun der Leichnam zu Grabe geht, da ist es, als wäre das nach dem Vorausgehenden kaum mehr eine Stufe der Erniedrigung. Es kommt ein stilles, freudiges Wesen ins Gemüth hinein. Man geht so zufrieden mit Joseph zu Pilato, man bittet mit um den Leichnam, man empfängt dankbar die Erlaubnis, nun geht man mit Joseph und Nikodemus, um Salben und Leinwand zu holen, man streut Spezereien, man hilft salben und in die reinen Grabetücher hüllen und in das weiße, glänzende Todtengemach des Grabes legen. Man weiß, es ist das alles nur für kurze Zeit; bereits herrscht die Hoffnung der Auferstehung; fast weihnachtsmäßig wird einem, man geht mit Joseph von Arimathia in die kleine Höhle des Begräbnisses, als gält es nun, dem HErrn in Seiner Geburtsnacht Wohlgeruch und Lager zu bereiten. Ganz kindlich ahnungsvoll wird die Seele, und die Erwartung beim Anbruch des Charfreitagabends, des großen Sabbaths, wäre wie die beim Anbruch der geweihten Nacht der Geburt, wenn sie nicht viel heiliger und hehrer wäre, viel männlicher und himmlischer, als die am Freudenabend des Weihnachtsfestes. − Heute ist unser HErr begraben. Heute ist Er uns im Begräbnis gleich geworden. Heute hat Er in der Erde geruht, wie wir auch in ihr ruhen werden. Heute ist das Samenkorn in die Erde gelegt worden, das eine reiche, schwere Gottesähre, eine ganze selige Menschheit trägt. Man möchte sich mit Ihm ins Grab legen, um mit Ihm aufzustehen aus der Erde. Man findet es so süß, mit| Ihm zu ruhen; es ist, als ob durch die Versöhnung der Sünde, durch die Gewisheit der Gnade Gottes, die Er uns erstritten, durch die gewisse Hoffnung der Auferstehung, die in Seiner Auferstehung gründet, alle Schauer des Todes und der Verwesung weggenommen wären. Es ist alles so anders mit dem Begraben und Ruhen in der Erde, seitdem Der in der Erde lag, welcher Lazarum und die Leiber der Heiligen erweckt hat, die am Abend Seines Todes auferstanden und durch ihre Erscheinung bezeugten, daß die Macht des Todes zerbrochen war. Nun singt man nicht mehr Trauerlieder an Gräbern, sondern Lieder von sanfter, hoffnungsreicher Ruhe; nun bläst man beim Begräbnis ahnungsvolle Posaunen der Auferstehung und singt das Halleluja in den Grabkirchen, daß die Ueberschwellen beben. Und die Begräbnisplätze selbst, Gottesäcker sind sie, in denen ewige, goldene Aernten schlummern und nur des Gebotes warten, um hervorzubrechen aus den Bergungsorten; Schlafkammern sind sie voll balsamischen Schlummers, der eine Verheißung hat, in ein ewiges und ach wie seliges Wachen aufgelöst zu werden. Denn der Erstling unter denen, die schlafen, lebt ja schon und mit Ihm leben sie alle, die in Ihm gestorben sind und dem Leibe nach in der Erde ruhen.

 Doch harret! Noch ists Charfreitag, noch sind fast vierzig Stunden zu durchleben, ehe man das Halleluja des Ostermorgens singt, und so sehr auch unsre Herzen vorwärts eilen, wollen wir sie doch noch zurückhalten, um noch einmal ans Kreuz und ins Grab zu schauen und den Gedanken Seines Todes und Grabes recht ins Herz zu faßen und seiner voll zu werden.


 HErr meines Todes, meines Grabes, lehre mich Deinen Tod und Dein Grab bedenken, auf daß ich hinwiederum lehre. Weil Du verlaßen wurdest in Nacht und Grauen, sind wir gewis, Du werdest uns nie verlaßen noch versäumen. Seit Du ans Kreuz erhöht bist, ziehest Du die Herzen Deiner Auserwählten zu Dir und an Dich. Seit Du gestorben, ist der Tod für uns nichts mehr als eine segensvolle Veränderung für Leib und Seele, − die Sterbenden wißen es und freuen sich und betten sich gerne ins Grab, weil Du im Grab gelegen. Du theilst ihnen mit die Ruhe Deiner abgeschiedenen Seele und Deines heiligen Leichnams. Sie ruhen in Hoffnung und Du wirst sie auferwecken in der Auferweckung der Gerechten.

 Weil Du für mich verlaßen wurdest, so gib, daß ich ewig nicht von Dir weiche, nicht von Deiner Seite gehe. Daß ich Dich nicht verlaße, verlaß mich nie! Weil Du für mich gestorben, so gib mir Lust zu sterben und mache mich fröhlich in meiner Stunde. Weil Du so völlig mir gelebt hast und gestorben bist, so laß auch mich völlig Dein sein im Leben und Sterben. Weil Du meine Sünde getragen hast, so laß mich heilig leben. Bis ich im Grabe liege, laß mich Dir wohlgefällig wallen. Wenn ich entschlafe, laß mich Dir entschlafen. Meine Seele sei im Paradiese, wo die Deinige gewesen, mein Leib wie Deiner im Grabe. Am Tage der Auferstehung verwirf mich nicht und meine Freunde, mit denen ich auferstehen werde; am Tage des Gerichts beschirme mich vor ewigem Schrecken. Für Deinen Charfreitag laß mich Dir ewig danken. Amen.




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