Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Sonntag nach Weihnachten

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Am Sonntage nach Weihnachten.

Evang. Luc. 2, 33–40.
33. Und Sein Vater und Mutter wunderten sich des, das von Ihm geredet ward. 34. Und Simeon segnete sie, und sprach zu Maria, Seiner Mutter: Siehe, dieser wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel, und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird, 35. (und es wird ein Schwert durch deine Seele dringen,) auf daß vieler Herzen Gedanken offenbar werden. 36. Und es war eine Prophetin Hanna, eine Tochter Phanuel, vom Geschlecht Aser, die war wol betaget, und hatte gelebt sieben Jahre mit ihrem Manne nach ihrer Jungfrauschaft, 37. und war nun eine Wittwe bei vier und achtzig Jahren, die kam nimmer vom Tempel, dienete GOtt mit fasten und beten Tag und Nacht. 38. Dieselbige trat auch hinzu zu derselbigen Stunde, und preisete den HErrn, und redete von Ihm zu allen, die da auf die Erlösung zu Jerusalem warteten. 39. Und da sie es alles vollendet hatten nach dem Gesetz des HErrn, kehreten sie wieder in Galiläam, zu ihrer Stadt Nazareth. 40. Aber das Kind wuchs, und ward stark im Geist, voller Weisheit, und GOttes Gnade war bei Ihm.

 NOch hallt in diesem Evangelium etwas von dem Festjubel wieder; aber schon lenkt es auch mit einem Theile seines Inhalts auf ganz andere Gedanken ein. Schon weist es aus der Freudenzeit der Weihnachten auf kommende Leidenstage des Neugeborenen, und der ernste Gang, welchen der Lebenslauf dieses Kindes nehmen sollte, deutet sich an. Die kindliche Weihnachtsfreude, der wir uns überlaßen hatten, beginnt damit allerdings zu weichen, aber dafür steigt die Person des Neugeborenen in unsern Augen desto höher. Denn die heilige, große Absicht Seines Lebens, die uns so nahe angeht, kann nicht vor uns enthüllt und von uns erkannt werden, ohne daß wir uns vor Ihm selbst ehrfurchtsvoller, anbetender neigen. Laßen wirs also nur geschehen, daß die Weihnachtsfreude abnimmt; fürchten wir keinen Verlust; gehen wir getrost hinein in den Reichtum unsers Evangeliums; nehmen wir dankbar betrachtend etwas von dem Vielen, was es von der Kirche, von ihrem ewigen Bräutigam und von der nothwendigen Beschaffenheit derer sagt, die Glieder Seiner Kirche sein wollen.


 1. Unser Evangelium redet von der Kirche, aber von derjenigen, welche zu Zeiten der Geburt unsers HErrn Jesu Christi mitten unter dem Volke Israel grünte und blühte. Schon unter dem alten Testamente gab es eine Kirche, welche auf Christum, den Fels, gebaut war. Zwar glaubte sie an den Christus, der erst kommen sollte, und im neuen Testamente glaubt man an Den, der gekommen ist: aber es ist doch eine und dieselbe Person, welche sie im Glauben meinte und wir verehren; es ist Ein Glaube, der sie warten lehrte und uns befriedigt: sie und wir sind eben deshalb mit einander eng und nahe verwandt und verbunden. Indes unser Evangelium zeigt uns nicht eine alttestamentliche Kirche, welche an den Kommenden glaubte, sondern eine neutestamentliche, welche sich um den Gekommenen versammelt hat. Kaum war der HErr im Fleische angekommen, so begann sichs, wie uns das Weihnachtsevangelium bereits gezeigt hat, um ihn her zu sammeln. Es war zwar anfänglich nur eine kleine, aus wenigen bestehende Kirche. Maria und Joseph, − die Hirten, − Simeon und Hanna, etliche wenige, welche auf das Zeugnis der letzteren gläubig wurden, − das sind alle Glieder des heiligen| Leibes Christi, welche wir aus den bisherigen Evangelien des Kirchenjahres kennen lernen konnten. Diese wenigen Personen waren durch keinerlei Vorzüge dieser Welt ausgezeichnet. Wer war Simeon? Vielleicht nicht einmal Priester, obschon er Marien und JEsum gesegnet hat? Wenigstens haben wir darüber nichts Gewisses. Die Prophetin Hanna war eine alte Wittwe, welche außer dem hohen Alter, das sie erreicht hatte, nichts besaß, was die Welt, ich will nicht sagen hochgeachtet, sondern nur beachtet hätte, − und auch das hohe Alter war wol kein Vorzug, den die Welt in Anschlag brachte. Von Maria und Joseph und den Hirten ist in diesen Tagen ohnehin oft genug die Rede gewesen, so daß wir nicht erst heute nachzuweisen brauchen, wie wenig von der Welt geschätzte Hoheit ihnen anhieng. Von den andern wenigen Gläubigen und ihrem Stande wißen wir nichts, eben darum aber auch nichts, was uns in der Meinung irre machen könnte, die damalige Kirche habe aus unansehnlichen Leuten bestanden. − Nichts desto weniger bleibt es aber dennoch wahr, daß jene kleine von der Welt nichts geachtete Kirche eine höchst würdige und herrliche Versammlung gewesen ist. Eine Jungfrau ohne Gleichen, − Joseph, einen Mann, dem auch kein zweiter zur Seite stehen wird, − einen Greis von wunderbarer Art, voll Todeslust und Sehnsucht nach der ewigen Heimat, − eine Wittwe gleich dem Greise des heiligen Geistes voll, von welkem Leib, aber im höchsten Alter eines jungen, fröhlichen, seligen Herzens und voll schäftigen, emsigen Thuns und Redens zum Preise JEsu, − diese sehen wir heute im Tempel. Simeon singt der Sonne, deren Aufgang noch niemand sieht, als die wenigen Auserwählten, seinen unsterblichen Schwanengesang, die greise Hanna im Namen des alten Testamentes und aller seiner Heiligen antwortet darauf, Maria und Joseph horchen voll seliger, tiefer Verwunderung dem allen zu, selbst voll Lobes und Preises. Hohe Gedanken sind es, welche diese kleine Versammlung im Tempel zu Jerusalem bewegen. Sie ist zu gering und zu arm, zu demüthig und zu bescheiden, zur Hälfte jeden Falls zu alt, um zu schwärmen; ihre Gedanken liegen auch weit über den Bereich der Schwärmerei hinaus und es ist drum nichts anderes, als der Geist des HErrn, was sie erfüllt. Der thut ihnen die Augen auf und läßt sie in dem Kinde auf den Armen der Jungfrau „den Mann, den HErrn“ schauen, auf welchen schon Eva gewartet hatte; der offenbart ihnen den Lebenslauf des Knaben voll Kampf, voll Mühe und Leiden, aber auch voll Sieg, voll Frucht und Wirkung auf die ganze Welt. Die Mühsal ihres kleinen Lieblings, welche sie schauen, hätte sie erschrecken und betrüben können, aber der Sieg tröstet sie wieder. Sie finden, daß der Lauf im Ganzen ein Siegeslauf ist; sie schauen nicht auf den Anfang und das Mittel, sondern auf das Ende; sie wißen, was mit dem Kindlein in Zeit und Ewigkeit werden soll − und der Blick aufs Ende, der Eindruck des Ganzen macht sie so fröhlich. Der Gedanke des Schwertes, welches die heiligste Mutter durchdringen soll, ist nicht vermögend, ihre Freude in jenen Augenblicken zu ertödten. Sie freut sich mit Joseph, mit Simeon und Hanna, legt mit ihnen alles in die Hand Deßen, der die Weißagung gab und die Erfüllung bringen mußte. Sie feiern ein Zusammensein voll unaussprechlicher Freuden, eine Stunde der Anbetung, welche sie ewig nicht vergeßen können. − Und auch nachdem diese Stunde verronnen war, erscheinen diese Heiligen derselben werth. Es bleibt ihnen keine Unordnung des Gemüthes, kein Uebermuth, kein Dünkel, keine falsche, keine fleischliche Anhänglichkeit zurück. Was hätte leichter geschehen können, als daß Maria und Joseph Anstalt gemacht hätten, mit dem so klar erkannten Kinde im Tempel oder doch in der Nähe des Tempels zu bleiben, in dem ihnen so wohl geworden war und welcher die angeborene Wohnung dieses Kindes zu sein scheinen konnte? Und was wäre leichter zu entschuldigen gewesen, als wenn Simeon und Hanna, von Lieb und Sehnsucht getrieben, JEsu hinab in Seine Herberge und gen Nazareth gefolgt wären? Aber nichts von dem. Maria und Joseph trachten einfältiglich dahin, wohin ihr Beruf sie führt, zum stillen Haushalt in Nazareth. Simeon und Hanna bleiben, wo sie zuvor gewesen; die unschuldige Gestalt des Kindes, die Nähe des Erniedrigten ists nicht, welche ihr Herz erfüllt; ihr Glaubensauge hat mehr erkannt, Seine ewige Herrlichkeit ist ihnen geoffenbart; ihr Herz hat genug für diese Welt; heimwärts sich zu schwingen, dem Menschensohne in Seine Herrlichkeit voranzugehen wünschen sie; ihr ganzes Herz spricht sich in den Worten aus: „HErr, nun läßest Du Deinen Diener im Friede fahren.“ − Sind das nicht höchst würdige Menschen, liebe Brüder? Ist das nicht eine herrliche Versammlung? An Niedrigkeit| gewöhnt, dennoch nach einer großen Erhebung so demüthig, über das eigene fernere Verhalten so klar zu bleiben und nach der hohen Auszeichnung Gottes in so friedlicher Stille!? −

 Stehen wir ein wenig, meine Brüder, lernen wir etwas aus dem Gesagten. War die Kirche einmal − in jenen Kindestagen unsers HErrn − so klein und dennoch Gottes Kirche, warum sollte Kleinheit, wenn sie je wieder einträte, uns an ihr irre machen? Bedurfte sie jenes mal keines weltlichen Glanzes, um Seine Gnade zu erfahren: warum sollte zu anderen Zeiten ein geringes Kleid und Mangel an Ansehen vor der Welt beweisen können, daß des HErrn Gnade von ihr gewichen sei? Konnte sie damals, wo doch erst ein Morgenroth der Erkenntnis ins Auge der Gläubigen gekommen war, trotz aller Kleinheit und geringen Zahl voll himmlischer Freuden sein: warum sollte sie jetzt, da ein heller Tag der Erkenntnis über ihr leuchtet, der Freude mangeln − und aller jener Tugenden, der Demuth, der bescheidenen Ruhe, der himmlischen Gesinnung? Und ist der HErr und Sein heiliger Geist damals in ihrer Mitte gewesen, wo doch noch Niedrigkeit und Entäußerung Seiner göttlichen Gestalt ihm geziemte, wo sich der heilige Geist noch nicht mit Strömen Seiner Gaben über Christi Glieder ergoß: warum sollte der HErr nicht jetzt unter den Lobgesängen Seiner Kirche wohnen, da Er doch alles in allem erfüllt, da Sein Geist in alle Lande ausgeht, um Seine Schafe herbeizuführen?! Klein oder groß, unbeachtet oder hochgeachtet, − immer ist sie doch Seine Braut, welcher Er Bestehen, Segen und Sieg bis ans Ende verheißen hat, bei welcher Er selbst wohnt, über welcher Seine Engel singen, in welcher Seine Propheten weißagen − und Seine Freude wohnt. Wenn wir, ach wenn wir nur zu ihr gehören, Glieder an Seinem Leibe und gläubige Theilhaber an Ihm und Seinem Geiste sind! Das ist genug zum Leben und zum seligen Sterben.


 2. Haben wir nun vernommen, was unser Text von der Kirche erzählt, so wollen wir auch sehen, was er von JEsu Christo sagt. Weniges von Seiner Kindheit, mehr von Seinem Wachstum, am meisten von der großen Bestimmung Seines Lebens lesen wir.

 Ein „Kindlein“, dem HErrn in Seinen Tempel hinaufgebracht; eine Erstgeburt, ein Söhnlein, nach dem Gesetz gelöst mit einem Opfer wie es Moses befohlen hatte, − das ist JEsus zur Zeit der Geschichte, die zum Theil in unserm Text erzählt wird. Dieß Kindlein ist es, von welchem Jahrhunderte lang in diesem Tempel gesagt und gesungen worden war. Von Ihm, ja von Ihm hatte Maleachi geweißagt: „Bald wird kommen zu Seinem Tempel der HErr“, − und siehe, nun ist in Ihm und an Ihm des Propheten Wort erfüllt. Da ist Er im Tempel, Er durch Deßen Anwesenheit dieß zweite Haus des HErrn herrlicher werden sollte als das erste, welches Salomo erbaut hatte. Den Tempel Salomonis besuchte der HErr in einer prächtigen Wolke; zum zweiten kommt Er in menschlicher Gestalt, vereinigt mit einer heiligen und unbefleckten Menschenseele, in einem reinen, unschuldigen Menschenleibe. Fleischesaugen mögen Gottes Gegenwart in der Wolke herrlicher gefunden haben, Geistesaugen ruhen mit größerer Lust und mit Anbetung auf der Erscheinung Gottes im Fleische und auf dem Besuche Immanuels im Tempel, wie wir ihn heute lesen. Aber freilich nur von Geistesaugen, nur von Augen, welche der Geist des HErrn geöffnet hat, gilt dieß. Es ruht auch über dem heiligen Kinde ein Dunkel, und eine Wolke der Niedrigkeit umgibt es. So wenig die Hirten das Kind in der Krippe erkennen konnten als Immanuel, wenn nicht Gottes Klarheit, der Engel Predigt und Gesang es verklärte; so wenig konnten Simeon und Hanna den Knaben auf Mariens Armen, Maria und Joseph den Knaben auf Simeons Armen als den HErrn der Herrlichkeit erkennen, wenn nicht der Geist der Weißagung offene Augen gab, den verhüllten Fürsten des Lichtes zu erkennen. Selig darum die erleuchteten Augen des Verständnisses, welche im Knäblein den sehen konnten, der er war! Die verstanden auch den Gang des HErrn zur Darstellung im Tempel − und sie wurden zu Zeugen genommen für die Erfüllung der Weißagung, die auf jene Stunde im Tempel gedeutet hat! An ihnen geschah und wurde wahr, was auch sonst fest steht, daß des HErrn Ergehen, Thun und Laßen nur von denen recht erkannt wird, die Seine Person erkennen.


|  Je mehr nun das Auge für diese Herrlichkeit geöffnet wird, für diesen unaussprechlichen Gegensatz und Zusammenhang Gottes und der Menschheit in Einem Christus; desto staunender und verwunderungsvoller wird man aber auch insonderheit bei Betrachtung deßen, was unser Evangelium vom Wachstum JEsu sagt. Zwar sind es nur wenige Worte, welche davon reden, aber wie sind sie so wunderbaren, reichen Inhalts! „Das Kind wuchs, lesen wir, und ward stark im Geist, voller Weisheit, und Gottes Gnade war mit Ihm.“ Also war der Sohn Gottes so völlig Mensch geworden, daß er auch völlig Kind war, daß er wuchs wie andere Kinder. Er wuchs − wie andere Kinder, aber freilich doch auch wieder ganz anders. Die heilige, sündlose Empfängnis des HErrn, Seine völlige Freiheit von aller natürlichen Verderbnis der Seele setzte der erziehenden Hand und Führung des göttlichen Geistes kein einziges von allen den Hindernissen entgegen, welche unsre Erziehung hemmen und unsern Fortschritten einen so langsamen, unterbrochenen Gang vorschreiben. Die Stralen der Gottheit, welche in Ihm wohnte, durchströmten unaufgehalten und darum unaufhaltsam JEsu Seele. Da gab es nichts umzugestalten, nichts zu läutern, nichts zu beßern: dieß Kind war ein fruchtbares Saatfeld, besäet mit Gottes wunderbarem Samen alles Guten; so wie der Frühling und seine Kraft, der Geist und die Kraft des Höchsten über es hinwallte, keimte, sproßte, blühte, reifte es, − es wurde ein Schauspiel aller Engel, Seiner heiligen Mutter ein süßes Räthsel, des heiliger Sinn und reicher Inhalt sich mühelos mehr und mehr vor ihr entfaltete. Die Schrift sagt: „er ward stark am Geist, voller Weisheit.“ Welch ein Zeugnis, welche Worte Gottes von einem Kinde! Ein Knabe − ein kleines Kind − und doch stark am Geist, voller Weisheit! Gewis war der HErr kein frühreifes Kind − sonst wäre Er nicht gewesen, was Er gewesen sein muß: die liebenswürdigste Kinderseele. Frühreife ist nicht liebenswürdig. Er reifte, wie Er sollte; war auf jeder Stufe der Kindheit ganz aller Kindheit Urbild: − und doch stark am Geist, voller Weisheit. Wir kennen das nicht, aber es deutet auf ein verlorenes Paradies der Kindheit, das selbst Adam an keinem seiner Kinder sah, weil er es für alle verloren hatte, das einzig und allein am Sohne der Jungfrau offenbar wurde, und um deßen Anschauen wir Marien und Joseph beneiden könnten, wenn solchen Heiligen gegenüber nicht jede Anfechtung des Neides sich in Seligpreisung verklären müßte! − Ganz wunderlich klingt über diesem Kinde JEsus das Wort der Schrift: „Gottes Gnade war mit ihm.“ Unter Gnade verstehen wir sonst Gottes Lieb und Güte gegen die Unwürdigen, die Sünder: da war nun aber kein Sünder, sondern eine heilige Himmelsblume, ein Ebenbild Gottes, ein Urbild aller Menschenkinder − so gab es auch hier keine Gnade in dem gewöhnlichen Sinn. Aber dieß Wort hat eben auch einen weiteren Sinn, heißt Huld und Wolgefallen, Freundlichkeit und wonnige Neigung, wie sie von Gott auf dieß Sein hochgelobtes Kind herunter kommen mußte.

 Es ist nicht recht zu begreifen, warum manche die Nachrichten, die wir von der Jugend JEsu haben, dürftig finden. Einzelheiten, wie sie in apocryphischen Evangelien zu finden, erzählt uns freilich Gottes Wort aus der Jugend JEsu nicht. Aber alles, woran uns gelegen sein kann, Dinge, wodurch dieß Kind über alle Kinder erhoben wird, lesen wir in unserm Texte; die Worte, welche der heilige Geist davon gebraucht, sind einfältig und doch prachtvoll − und zwar so, daß ich nicht weiß, welche von beiden Eigenschaften ich an ihnen mehr bewundern soll. − Ueber Johannem, den Täufer, riefen die Leute: „Was will aus dem Kindlein werden?“ Wie viel mehr konnte man das über JEsum ausrufen! Dieß Kind ist gezeichnet mit den Anzeichen einer gewaltigen Zukunft. So gewis hier ein Kind ist, dem kein Kind zu vergleichen, so gewis wird aus Ihm ein Mann werden, dem kein Mann verglichen werden kann, ein Mann, des Lebensaufgabe so groß ist, daß Himmel und Erde staunen muß, wenn er sie gelöst haben und rufen wird: „Es ist vollbracht.“


 Und das ist es ja eben, wovon unser Text am meisten spricht. Alles übergehend, was zwischen JEsu früher Jugend und der Zeit liegt, wo er geworden, was er werden sollte, zeigt er uns unsern HErrn gleich im Glanze der vollen Bedeutung, die er für die ganze Welt hat. Ich will es versuchen, mit Menschenworten auszudrücken, was der heilige Simeon mit Worten, welche ihn der Geist lehrte, von dem großen Berufe unsers HErrn JEsus Christus gesagt hat.

 Zum Fall und Auferstehen vieler in Israel liegt| er da und ist er gesetzt vor dem Angesicht des menschlichen Geschlechtes. Er liegt offenbar, merkbar, hoch, breit und groß, ein Fels Gottes, dem niemand ausweichen kann, nachdem er einmal von Gottes Hand auf den Plan der Weltgeschichte hingelegt und gesetzt ist. Es wird in der Macht keines Menschen sein, vor ihm das Auge zu schließen, ohne irgend einen Eindruck von Ihm empfangen zu haben; keiner wird über Ihn urtheilslos bleiben und an Ihm vorübergehen können, ohne eine Aenderung zum Heil oder zum Verderben zu erfahren. Wie der Magnet das Eisen an sich zieht, so zieht Christus die Seelen der Menschen unwiderstehlich an. Vor Ihm macht jeder Halt, an Ihm entscheidet sichs für jeden. Die Menschheit ist wie ein Strom, welcher sich an Christo, dem Felsen, brechen und zweiteilig weiter strömen muß. Er ist ein Scheideberg und Mittelpunkt in der Geschichte der ganzen Welt und aller ihrer Völker, von dem das einige Loos und Ergehen aller und jeder ausgeht. An Ihm fallen die einen, um nimmer wieder aufzustehen, − und die andern stehen an Ihm auf, um nicht wieder in Noth und Tod dahinzufallen. Zwar ist in Adam das ganze menschliche Geschlecht gefallen, aber die Folgen dieses Falles sind nicht unabwendbar, nicht unheilbar: Christus ist gesetzt, damit man sich von diesem Falle in Vergebung und Frieden Gottes erhebe. Wer aber am Fall in Adam nicht genug hat, sondern auch in Christo fällt, statt an ihm aufzustehen; der thut einen Fall, von dem ihm niemand aufhilft. Was soll dem helfen, dem die einzige, und noch dazu allmächtige Hilfe vergeblich dargeboten wird? Es ist in keinem andern das Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darin sie sollen selig werden, als allein der Name unsers HErrn und Heilandes JEsu Christi! − Was ist nun das für ein gewaltiger, ernster, gnadenreicher, heiliger, einziger Beruf, allen Menschen zu einer ewigen Entscheidung gesetzt zu sein? Wie verschwindet gegen ihn jeder andere und wie klein ist gegen diesen Menschen JEsus Christus jeder andere Mensch! Und wie hehr und erhaben muß in den Augen des heiligen Simeon dieser Mensch schon als Säugling gewesen sein!
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 Freilich ein Mann dieser Art kann bei den Menschen nur eine sehr verschiedene Aufnahme finden; es kann nicht anders sein, er muß die entgegengesetztesten Erfahrungen unter ihnen machen. − Es gibt Menschen, welche bei andern weder viel Liebe, noch viel Haß ärnten: andere dagegen erfahren starken Haß und starke Liebe. Je größer der Mann, je kenntlicher sein Ziel, je völliger sein Streben nach demselben ist, desto mehr gehört er zu den Menschen der zweitgenannten Art. Auch Christus, Christus vor andern, vor allen gehörte und gehört noch dazu. Wie sollte es auch anders sein können? An Ihm bricht sich der Strom der Menschheit zu ewigem Wohl und Wehe, darum auch zu ewiger Liebe und ewigem Vermeiden. An Ihm steht oder fällt ein jeder; so muß ein jeder Christi Feind oder Freund sein! Die tiefsten Kräfte aller Seelen gehen aufgeregt empor, wenn Christus den Herzen annaht. An Ihm werden der Herzen Gedanken offenbar − und Er ist darum, so gewis Er ein Fels der Entscheidung ist, auch ein Zeichen, dem widersprochen wird. Seine Freunde loben und preisen Ihn in aller Welt; sie sind aber auch „eine Secte, der in aller Welt widersprochen wird.“ Es ist ein Geschrei von Ihm, für Ihn, wider Ihn seit achtzehn hundert Jahren, das Seine Freunde nicht ertragen würden, wenn sie nicht wüßten, daß aus diesem tobenden Chaos die heilige Schaar derjenigen siegreich hervorgehen wird, die mit harmonischem Lobgesang Ihn ewig feiern sollen als den Fels des Heils. Wahrlich, sie würden den Widerspruch und das Geschrei ohne dieß Wißen nicht ertragen, denn, Freunde, der Widerspruch gegen Christum thut Seinen Freunden weh und um so weher, weil sie wißen, daß den beständigen Widersprechern selbst kein Heil davon erblüht. Die heilige Gottesmutter hat das Weh des heillosen Widerspruchs zum Vorbild uns andern allen in besonderem Maße erfahren. Sie stand unter dem Kreuze des HErrn, sie sah Seine Wunden, sah Ihn bluten und leiden, sah Ihn sterben, sah die Welt in ihrem Widerspruch, hörte das Hohngelächter und den Spott der Pharisäer und Hohenpriester und Schächer. Ach, wie gieng es ihr zu Herzen, wie erfüllte sich Simeons Wort, wie drang es ihr gleich einem Schwerte durch die Seele! − Aber, und das wollen wir bei diesem Evangelium nicht vergeßen, − dieser Schmerz Mariens, dieser Schmerz der Seinigen, welcher nur ein Wiederhall Seiner Schmerzen ist, und das Siegsgeschrei der Welt sind nichts Bleibendes. Er selbst, Christus der HErr, bleibt immer, am Kreuz und auf dem Throne, das einzige Heil der Welt, der Fels, an welchem alle unsre Traurigkeit, all unser Schmerz in| Ruh und Freude, in Sieg und Triumph verwandelt wird: der Fels, an welchem Seiner Widersprecher Freude ewiglich verstummen und in Klagen und Jammern verwandelt werden muß!

 3. Es ist hier nachzudenken, liebe Brüder! Ich beschrieb euch das Kirchlein, welches im Tempel von Jerusalem seine Feierstunde hielt; ich sagte euch, jenes Kirchlein sei ein Bild und Theil der ganzen Kirche: wünschtet ihr nicht auch, zu dieser Versammlung von Heiligen und Seligen zu gehören? Ich stellte euch JEsum vor die Augen, den Fels des Heiles: verlanget ihr nicht alle, an ihm Theil zu haben? − Wahrlich, liebe Brüder, beiderlei Wünschen und Verlangen ist eines: wer nicht zur Kirche gehören will, gehört nicht zu Ihm; wer nicht zu Ihm gehört, gehört nicht zur Kirche. Er und Seine heilige Braut, Seine Kirche, sind Eins: beide umfaßen alle Heiligen Gottes immerdar. Soll aber eure Sehnsucht hinausgehen, wollet ihr ihm und ihr wirklich angehören, so richtet euch nach dem, was ihr aus diesem Evangelium gelernt habet.

An Ihm aufstehen von Adams Fall, das ist das erste, was allen Noth thut, die Ihm und Seiner Kirche angehören wollen.
Ihn bekennen, Ihm lobsingen, wie Simeon und Hanna thaten, ist das zweite.
Mit Ihm den Widerspruch erdulden und das Schwert nicht scheuen, das durch das Herz der heiligsten Mutter drang, das ist das dritte.

 An Ihm auferstehen, vergeßt das Erste nicht, meine Brüder! Gefallen sind wir − wir sind geboren als gefallene Kinder unsers gefallenen Vaters Adam. Wer aufstehen soll, muß das vor allem erkennen. Der steht gewis nicht auf, der, am Boden liegend, sich einbildet, er stehe. Nur wer weiß, daß er liegt, wem seine Lage nicht gefällt, wer seinen Zustand gerne ändern möchte, der langt nach dem Stein und Fels, an dem er liegt, um sich an ihm aufzurichten. Man sollte denken, es sei leicht, seinen Fall zu erkennen: ist denn nicht in allen Menschen von dem Fall her ein unüberwindliches, dumpfes Weh, eine Unzufriedenheit und ein bitteres Entbehren, in welchem zugleich ein böses Gewißen ist? Und doch ist es so schwer, seinen natürlichen Zustand zu erkennen! Man kann tausend und aber tausend kleinere und größere Fehler in seinem Leben finden und erkennen, ohne in den Herzensboden, aus dem alle Sünden kommen, den rechten Blick zu haben. Die Erkenntnis, daß wir verderbter Art sind, durch welche die Erkenntnis einzelner Sünden erst volle Wahrheit bekommt, wird vom HErrn gegeben, oder man bekommt sie nie, − gegeben durch das göttliche Wort oder durch nichts. Das Wort ist unter euch − es ist schon so lange, daß ich, einer unter vielen vor und nach mir, es predige: und ihr seht noch nicht euern Fall? wißet noch nicht, daß ihr nicht stehet, nicht gehet, sondern lieget, unnütz, schwach und untüchtig zu allem Guten seid? Wie soll dann mein Evangelium des Friedens euch angenehm geworden sein? Wie sollt ihr dann auferstanden sein am Fels eures Heiles, an dem ihr lieget, der euer und eurer Hand harret, und euch zum Anhalt dienen will, seitdem ihr euch von ihm entferntet, der euch Leben und Auferstehung bietet, wie am Tag eurer Taufe?! Ach, der Glaube, durch welchen man die Hand ausstreckt, um sich am Fels aufzurichten zu einem neuen Leben, kommt nicht vor der Buße und nicht ohne Buße: ohne Buße kein Glaube, wiewol manche Buße ohne Glauben! Der HErr erbarme sich doch euer, zeig euch eure Sünden, euren Fall, und mach euch süß den Felsen des Heiles und richte euch an ihm auf!

 JEsum bekennen, ist das Zweite, was unser Text den Gliedern der Kirche zuschreibt. Seid ihr Sein, so bekennet ihr Ihn! Wäret ihr Sein, so bekennetet ihr Ihn! Wo ist ein Gläubiger, der Ihn nicht bekennt? Wo ein Feuer, das nicht leuchtet? Kann Simeon, kann Hanna, können die Hirten von Bethlehem von dem schweigen, den sie erkannten? Ists möglich, das Heil des HErrn erfahren und schweigen? Wer ja sagen will, der sage es; ich will nein sagen und betheuern, daß kein Gläubiger stille sein kann. Wozu hätte ihm der Herr Mund und Zunge verliehen? Wer des HErrn ist, der bekennt, − der bekennt vor seinen Freunden und vor jedem Feinde; der schämt sich des Evangeliums nicht, sondern sagt es frei heraus, daß Er zur Kirche Deßelben gehöre, er mag drum gelobt oder gescholten werden, Leiden oder Freuden ärnten, Vortheil oder Nachtheil; der zieht nicht zurück, wenn ihn Vorgesetzte darum anschnauben und verachten, Gleichgestellte höhnen, Untergebene Achtung, Pflicht und Gehorsam aufsagen. Man kann nicht leben ohne Odem, man ist nicht Christi| ohne Bekenntnis. Man kann auch den Odem nicht zurückhalten, wenn er da ist, ihn nicht in der Brust verschließen. So kann sich keiner vornehmen, innerlich zu loben, äußerlich zu schweigen: es geht nicht. Verworfen ist der Schweigende, wie der Lästerer − und die Sein sind, können leiden und sterben, aber von Ihm schweigen können sie nicht!

 Wenn du dieß zweite nicht schön, nicht süß, nicht nöthig findest, wie wird dir das dritte gefallen können? Wenn dirs keine Freude ist, für Ihn zu reden, wie wirst du gerne mit Ihm oder für Ihn leiden? Petrus redete nicht bloß für Ihn im Garten, er handelte auch, griff zum Schwert: dennoch vermochte er nicht, mit Ihm zu leiden. Er wendete das Schwert ab von Seiner Brust, das unter dem Kreuze die gebenedeite Mutter durchdrang: er verleugnete, um nicht zu leiden. Und du solltest für den HErrn nicht reden, und doch für und mit Ihm leiden können? Meinst du denn, daß man das Große kann, wenn man zum Kleinen die Kraft und Geduld nicht hat? − Ach daß man Ihn so wenig liebt! Daß man mit Ihm nicht leiden, Ihm nicht leidend gleich werden mag, da Er hier doch auch ein Leidender gewesen ist! Daß man sich vor Seinem Leiden scheut, da es doch auch außer dem Christenstande unmöglich ist, auf Erden ohne Leiden zu leben! Man mag ein Gotteskind oder ein Weltkind sein, so muß man leiden. Das Weltkind leidet trostlos für seine Sünden und seine Leiden sind Vorwehen der Hölle. Gottes Kinder leiden mit dem HErrn JEsu Christo, in der seligsten Gesellschaft, für Ihn, und ihre Leiden sind das Ende alles des bösen, was sie zu erdulden haben. Und man will doch lieber den Anfang ewiger Leiden als das Ende zeitlichen Wehes, lieber leiden mit Gewißensunruhe und Angst, als leiden mit Freuden! Man will dem Schwert entgehen, das eine kleine Zeit durch die Seele dringt, ohne doch zu tödten, − und läuft ewigen Schwertern und ewigen Todesschmerzen entgegen? Ach, wie sind wir so thöricht, so gar ohne Berechnung unsers ewigen Wohlseins!


 Ernste Lebenszeit! Folgenreiche Zeit! Kleine Zeit und doch Mutter unserer Ewigkeit! − Wenn wir sie doch recht benützten! Eins vor allem andern sollten wir doch schaffen: so zu leben, daß uns kein Tod noch jüngster Tag von Christo und Seiner Kirche trennen könnte! Wir sind im Schooße der Kirche geboren und sie hat uns Lieb und Dienst von Kindesbeinen an erwiesen! Immer hat sie ihre Hände ausgestreckt, uns zu halten, wenn wir straucheln wollten, − und auch im Fall uns zu bewahren, daß wir an dem Felsen Christus nicht zerschellen möchten. Und der HErr Selbst hat uns so hoch geliebt: denn es ist ja Seine Liebe, wenn uns Seine Kirche hält und trägt, die Liebe Christi hält und trägt uns so. Wie leicht hätten wirs also, bewahrt zu bleiben fürs ewige Leben! Wir haben ja von Christo und den Seinen so viel Unterstützung, daß aufstehen, stehen bleiben, bekennen und leiden uns leichter wird, als so manchem, der vereinsamt, ohne die Wohlthaten der heiligen Kirche, sein Gläubelein hüten und bewahren soll zum ewigen Leben. − Laßen wir uns doch helfen zum ewigen Heile, zur Gemeinschaft der Heiligen im Himmel, zum Anschauen Christi! − Beten wir: HErr, lehre mich thun nach Deinem Wohlgefallen! Dein guter Geist führe mich auf ebener Bahn! HErr, lehre mich bedenken, daß ich sterben muß, auf daß ich klug werde! Amen.




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