Geschichtschreibung und Geschichtsforschung (1914)
Rückblicke. − Niebuhr und Ranke.
Der gewaltige Aufschwung, den die deutsche Geschichtswissenschaft seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nimmt, beruht auf zwei Dingen: der Überwindung der rationalistischen Geschichtsauffassung durch die romantische und der Anwendung der von der klassischen Philologie ausgebildeten Methode auf die historischen Studien. Während die rationalistischen Geschichtschreiber die historischen Vorgänge nach Möglichkeit aus planmäßiger Absicht und oft bewußter Bosheit erklärten und über die Vergangenheit verständnislos aburteilten, suchen die Romantiker sich liebevoll in sie zu vertiefen, sie zu verstehen, nicht über sie zu richten. Sie lenken ferner ihr Augenmerk auf das Unbewußte, auf die allgemeinen Gewalten, die in der Geschichte maßgebend sind. Der Geist des Volks, das Nationale überhaupt wird zur Erläuterung der historischen Tatsachen herangezogen.
Die neue Methode und die dem Rationalismus entgegengesetzte Auffassung begegnen uns in klassischer Verbindung bei den beiden Vätern der deutschen Geschichtschreibung des 19. Jahrhunderts: Niebuhr und Ranke. Von Ranke sind wiederholt an praktischen Beispielen die Irrwege des rationalistischen Pragmatismus aufgezeigt worden. Hat seine erste Darstellung den Reiz einer ganz romantischen Empfindung, so ist er auch in seinen späteren Werken von abgeklärterem Stil der Neigung, sich unmittelbar in den historischen Stoff zu versenken, der Wertschätzung der allgemeinen Gewalten und konservativen Kräfte, die zu verstehen die Romantik gelehrt hatte, treu geblieben. Das rationalistische Absprechen über die Vergangenheit wurde durch ihn und sein Vorbild stigmatisiert. In der Methode historischer Forschung erreichte er ungeahnte Fortschritte. Die unbefangene Vertiefung in die Vergangenheit und die Verschärfung der Methode hingen innerlich zusammen und förderten sich gegenseitig.
Niebuhrs und Rankes Anregungen und Meisterstücken folgen Jahrzehnte emsiger historischer Forschung und fruchtbarer historischer Darstellungen.
Diese Jahrzehnte stellen eine Zeit der Blüte der deutschen Geschichtschreibung dar. Einen großen Zug haben vor allem die Werke der politischen Geschichtschreibung, in denen uns das Ringen der Staaten und Völker und die Verfassungskämpfe vorgeführt werden. Man hat den Historikern jener Zeit den Vorwurf gemacht, daß sie sich aus einseitiger Auffassung auf die politische Geschichtschreibung beschränkt, für die andern Teile der geschichtlichen Entwicklung kein Auge gehabt hätten. So verhielt es sich [1166] indessen nicht. Es waren zunächst die Kämpfe des Tages, die sie mit Notwendigkeit auf die politische Geschichtschreibung führten. Es war aber auch ein ganz natürlicher Gang der wissenschaftlichen Arbeit, daß zunächst der große Rahmen, innerhalb dessen sich die geschichtliche Entwicklung vollzieht, erforscht wurde. Wie wenig sich jene Historiker der Behandlung kulturgeschichtlicher Probleme an sich verschlossen, zeigt das Beispiel H. v. Sybels, eines der namhaftesten Vertreter der politischen Geschichtschreibung. Wir verdanken ihm tiefdringende und erfolgreiche Arbeiten von kulturgeschichtlichem Inhalt. Er hatte die Absicht, kulturgeschichtlichen Problemen in noch größerem Rahmen nachzugehen. Es waren dann lediglich Fragen aus dem harten politischen Kampf des Tages und die Erkenntnis, daß eine Begrenzung im Stoff die Voraussetzung für die Bewältigung großer Themata ist, was ihn fortan wesentlich auf die politische Geschichte beschränkt hat. Im übrigen genügt eine Erinnerung an die monumentale deutsche Verfassungsgeschichte von Waitz und die gedankenreichen kulturgeschichtlichen Arbeiten von W. Arnold, um den Vorwurf zu entkräften, daß jene Jahrzehnte für die Schilderung des Zuständlichen keinen Sinn gehabt hätten.
Stellung zum Staat.
Die Geschichtschreiber dieser Zeit nehmen politisch nicht eine gleiche Haltung ein. Historiker von romantischem Ursprung kämpfen gegen romantische Auffassung in Staat und Kirche, während andere an ihren romantischen Idealen festhalten. Mit diesem Gegensatz deckt sich großenteils, jedoch nicht durchweg der zwischen klein- und großdeutschen Historikern. In den inneren konstitutionellen Kämpfen der deutschen Staaten ferner betonte der eine Historiker mehr das Recht der Monarchie, der andere das des Landtags. Immerhin glaubte H. v. Sybel in einer akademischen Rede vom Jahre 1856 eine Verwandtschaft unter den deutschen Historikern gerade in politischer Hinsicht, allerdings unter Ausscheidung extremer Vertreter auf der rechten wie der linken Seite, beobachten zu können. Als das Charakteristische nannte er die „veränderte Stellung zum Staat: größere Klarheit und intensivere Kraft des nationalen Gefühls, praktische Mäßigung und eingehende Sicherheit des politischen Urteils, positive Wärme und freier Blick in der sittlichen Auffassung. Die doktrinäre Phrase und die politische Kannegießerei mancher altliberaler Historiker sind verschwunden.“
Dem Urteil Sybels fehlt nicht die Berechtigung. Jene übereinstimmende politische Auffassung der deutschen Historiker hervorgebracht zu haben, daran hat neben den Erfahrungen der damaligen deutschen Kämpfe vor allem Ranke gearbeitet. Schon allein einer der Gedanken, die er in seinen Werken immer von neuem zu betonen sich genötigt sah, die Beobachtung von der Wechselwirkung der inneren und der äußeren Verhältnisse des Staates, die Wahrheit, daß seine innere Struktur und Verfassung abhängt von seiner politischen Weltlage und den Aufgaben und Existenzbedingungen, die sich daraus ergeben, mußte in jener Richtung wirken.
Seitdem Sybel jene Worte gesprochen, veränderte sich der Charakter der deutschen Geschichtswissenschaft längere Zeit nicht. Vom Ende der fünfziger Jahre bis 1878 bemerkt man, trotz mancher sehr erfreulicher Leistungen, etwas von Stillstand. Eine gewisse [1167] Wandlung läßt sich insofern verzeichnen, als nach Abschluß der Verfassungskämpfe die Aufmerksamkeit sich auch der Verwaltungsgeschichte zuwandte. Es wuchs, wiederum als Folge praktischer Erfahrung und historischer Forschung, die Einsicht, daß ein Staat auch bei mangelhafter Verfassung durch gute Verwaltung Treffliches zu leisten vermag. Doch war die Wandlung der Situation noch nicht erheblich.
Neue Entwicklung seit 1878.
Ein neuer Abschnitt in der Entwicklung der deutschen Historiographie läßt sich dagegen von den Jahren 1878 und 1879 datieren. Diese neue Zeit hat ihr Kennzeichen zunächst in einem vorher nicht gekannten Ausbau der Kulturgeschichte, besonders der Wirtschaftsgeschichte. Der Wendepunkt in der Entwicklung der Historiographie fällt zusammen mit einem Wendepunkt in der inneren politischen Geschichte Deutschlands.
Damals nahm die zweite Glanzzeit der Bismarckschen Politik ihren Anfang. „Unter Rückkehr zu den autoritären Grundlagen des Staates wurden“ – so äußert sich ein neuerer Historiker – „die konservativen Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft bewußt und erfolgreich in die Höhe gehoben.“ Der Kampf galt vor allem dem manchesterlichen Liberalismus, dessen Abbruch sich jetzt vollzog; ihm im umfassendsten Sinn. Dessen Ideale waren Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit, Wucherfreiheit; in einigen Gruppen des Liberalismus oder der Demokratie steigerte man den Individualismus bis zu internationalen Tendenzen. Demgegenüber betonte man jetzt, daß es notwendig sei, der Bewegungsfreiheit des Individuums im Interesse der Allgemeinheit Schranken zu ziehen. Man forderte Ausdehnung der Staatstätigkeit, Stärkung der Staatsgewalt, nationalen Zusammenschluß. Die nationale Idee wurde energischer und tiefer erfaßt. Diese Gedanken und Bestrebungen, wie sie zuerst in den Jahren 1878 und 1879 hervortraten, haben in den folgenden Jahrzehnten eine weitere Entfaltung erfahren, sind unter der Regierung unseres Kaisers im einzelnen praktisch verwirklicht und fortgebildet worden.
Im Kreise der deutschen Historiker fand das neue System bereitwilliges Verständnis. Die deutsche Geschichtsforschung hatte ihm geradezu vorgearbeitet. Die angeführten Worte Sybels deuten ja in wichtigen Punkten auf das hin, was jetzt Programm wurde. Wenn Bismarck für seine neue Politik nicht bei allen Historikern Anklang fand, so hat doch von den verschiedenen Disziplinen die Geschichtswissenschaft ihm wohl die meisten Anhänger gestellt. C. W. Nitzsch, der im Jahre 1880 starb, hatte noch die Wendung zu einer konservativeren Politik als die Morgenröte einer besseren Zeit begrüßt. Manche Historiker, wie H. v. Treitschke, verließen jetzt die liberale Parteiorganisation, die sich zu den neuen Gedanken nicht bekennen wollte. Andere blieben in ihr, haben dann aber zur inneren Umformung ihrer Partei beigetragen. Ranke äußerte sich in einer Ansprache an seinem 90. Geburtstag (21. Dezember 1885): „In den Ereignissen, die wir erlebt haben, läßt sich vor allem eine Niederlage der revolutionären Kräfte erkennen, welche die regelmäßige Fortentwicklung der Weltgeschichte unmöglich machen. Hätten diese den Platz behauptet, so würde von einer Fortbildung der historischen Kräfte, selbst von einer unparteiischen Anschauung derselben nicht die Rede gewesen, eine Weltgeschichte im [1168] objektiven Sinne unmöglich geworden sein. Ich, meines geringen Orts, würde nicht daran gedacht haben, eine Weltgeschichte zu verfassen, wenn nicht für mich im Allgemeinen das Problem der beiden großen Weltgewalten nach langen Kämpfen und Abwandlungen wäre entschieden gewesen, so daß es einen unparteiischen Rückblick auf die früheren Jahrhunderte gestattete.“ Ranke warf hiermit einen Rückblick auf das ganze Jahrhundert seit der französischen Revolution im Auf- und Abwogen seiner Tendenzen; aber auch die Wandlung der jüngsten Vergangenheit hatte er dabei im Auge; wir wissen aus seinen Aufzeichnungen, daß er das „große politische Ereignis“ der Abwendung vom Liberalismus begrüßte.
Innerhalb der Nationalökonomie war es wiederum vornehmlich die historische Richtung, welche dem neuen System starke Sympathien zuwandte.
Wenn nun die Historiker von dem guten Recht des Staats so lebhaft überzeugt waren, so konnten die jetzt sich reicher entwickelnden Studien auf dem Gebiet der Kulturgeschichte unmöglich in einem dem Walten der staatlichen Mächte abgeneigten Geist gehalten sein.
Wandlung in der Auffassung der Kulturgeschichte.
Es trat eine bezeichnende Wandlung in der Auffassung der Kulturgeschichte ein. Als in der Periode der Aufklärung, im Zeitalter Voltaires die kulturgeschichtliche Betrachtung begründet wurde, glaubte man in ihrem Namen auf die „Haupt- und Staatsaktionen“, auf die Kriege der Staaten und ihre diplomatischen Verhandlungen, verächtlich herabsehen zu müssen. Man wollte die Werke des Friedens, der Zivilisation, der Kultur schildern und lebte in der Vorstellung, daß sie ihren Weg getrennt von Kriegstaten und Verhandlungen der Staatsmänner gingen. Man feierte die Verdienste der mittelalterlichen Städte und meinte, daß sie kampflos zu ihrem Kulturbesitz gelangt seien. Seit dem Aufkommen der Romantik vermochte sich eine so einseitige Auffassung nicht mehr ganz zu behaupten: die romantischen Historiker konnten bei ihrer Wertschätzung der überkommenen staatlichen Mächte und der Liebe, mit der sie alle geschichtlichen Erscheinungen umfaßten, jener Trennung von Kultur und Staat nicht beipflichten. Es ist bezeichnend, daß derjenige romantische Historiker, der mit seinem Blick die weitesten kulturgeschichtlichen Gebiete umspannt hat, Heinrich Leo, das Wort vom „frischen fröhlichen Krieg“ geprägt hat. Indessen hielt sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein gewisser Gegensatz zwischen Kultur- und politischen Historikern. In den ersten Jahren der Regierung unseres Kaisers wurde ein interessanter Streit über dies Verhältnis zwischen E. Gothein und D. Schäfer ausgefochten. Beide sind so gründliche Kenner der Geschichte, daß die Differenz zwischen ihnen nicht umfassend sein konnte; dennoch ist es lehrreich zu beobachten, wie von Gothein, der das Recht der Kulturgeschichte verteidigt, der Staat und sein Wirken um eine Nuance geringer eingeschätzt werden wie von Schäfer, der das Recht der politischen Geschichte vertritt. Schäfer blieben auch Angriffe von der demokratischen Presse nicht erspart. In der Folge ist die unpolitische Behandlung der Kulturgeschichte durchaus überwunden worden. Eindringende historische Untersuchungen wie die praktischen Erfahrungen der Gegenwart haben gelehrt, wie nahe Staat und Kultur zusammenhängen. Es ist wiederum charakteristisch, daß derjenige Historiker der Gegenwart, der in seinen Arbeiten die mannigfaltigsten [1169] Gebiete der Geschichtswissenschaft umfaßt, Felix Rachfahl, der politischen Richtung angehört. Es läßt sich nicht eine besondere Wissenschaft der Kulturgeschichte von der allgemeinen oder der politischen Geschichte absondern. Jede Beschäftigung mit der Vergangenheit, mit irgendeiner Seite der geschichtlichen Entwicklung ist Beschäftigung mit der Kulturgeschichte, dient dem Zweck, uns die Kultur der alten Jahrhunderte in ihren Abwandlungen vorzuführen.
Wie vorhin bemerkt, setzt in den Jahren 1878 und 1879 eine lebhafte Entwicklung der kulturgeschichtlichen, namentlich der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur ein. Diese Jahre haben eine stattliche Zahl von wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten hervorgebracht. Alte Meister der Forschung und Autoren, die gerade erst in die literarische Tätigkeit eintreten, reichen sich hier die Hand. Zahl und Bedeutung der Schriften sind wie eine Huldigung zum Beginn der neuen politischen Ära. Und diese Fruchtbarkeit der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur dauert an. Sachlich und räumlich erobert sie sich immer mehr Gebiete. Einige Andeutungen mögen davon ein kleines Bild geben.
Neue Resultate der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung.
Durch die Widerlegung der hofrechtlichen oder grundherrlichen Theorie, welche dem Mittelalter nur „Herren und Knechte“ zuzusprechen geneigt war, wurde dem Staat und der Gemeinde ihr rechter Platz wiedergegeben und die Mannigfaltigkeit der sozialen Schichtung und der Grundbesitzverhältnisse dargetan. Die ständische Abstufung der deutschen Urzeit, die Organisation des Großgrundbesitzes in der Karolingerzeit, das Aufkommen und die Verbreitung der Pachtformen im Mittelalter, die Verwaltung der geistlichen Grundherrschaften, den großen Bauernkrieg und seine Ursachen machte man zum Gegenstand eingehender Untersuchungen, die meistens zu ganz neuen Resultaten führten und auch da, wo die Diskussion die ältere Ansicht bestätigte, eine Vertiefung unserer Anschauungen lieferten. Eine besondere Gruppe innerhalb der agrargeschichtlichen Literatur bilden, das bedeutungsvolle Werk der vom Staat geförderten inneren Kolonisation begleitend, die Darstellungen von G. F. Knapp und seiner Schule über die Geschichte der Bauernbefreiung in den verschiedenen Ländern, anhebend mit Knapps „Bauernbefreiung in den östlichen Provinzen Preußens“ (1887). Einen noch breiteren Raum nahmen die Arbeiten zur Gewerbe- und Handelsgeschichte, zur Geschichte der städtischen Berufe ein. Während man bisher die städtischen Handwerker stets als Abkömmlinge unfreier Handwerker der großen Fronhöfe angesehen hatte, wurde jetzt erwiesen, daß das städtische Handwerk freien Ursprungs ist, an die Traditionen der ehemaligen Römerstädte auf deutschem Boden und an landwirtschaftliche Nebenbeschäftigung anknüpft. Den Begriff der „Stadtwirtschaft“ kannte man schon seit W. H. Riehl und Bruno Hildebrand, einem der Begründer der historischen Schule der Nationalökonomie. Aber jetzt wurden die Ursachen des Aufkommens der Stadtwirtschaft und ihre Grenzen näher untersucht und im Zusammenhang damit die Bedeutung, die dem Handel im allgemeinen und insbesondere im Verhältnis zum Gewerbe im Mittelalter zukam, die Technik des kaufmännischen Verkehrs und der Ursprung der Kapitalanhäufung geschildert. [1170] In der Wirtschaftspolitik der mittelalterlichen Stadt und ihrer Verwaltung überhaupt ist vieles vorgezeichnet, was der moderne Staat übernommen hat. Dies mußte die Aufmerksamkeit auf sie in erhöhtem Maße hinlenken in unserer Zeit, in der sich der Staat wieder zu einer intensiveren Wirtschaftspolitik entschlossen hat. Zwei Parallelen gibt es in der deutschen Geschichte zu unserer Wirtschaftspolitik: die mittelalterliche Stadtwirtschaft und den Merkantilismus, der seinerseits gewissermaßen eine Übertragung der Grundsätze der Stadtwirtschaft auf ein größeres Gebiet darstellt. Man faßt unsere heutige Politik als eine Wiedergeburt des friderizianischen Staatsgedankens, als Neumerkantilismus auf. Es ist daher begreiflich genug, wenn die Studien zur Geschichte des Merkantilismus mit erhöhtem Eifer betrieben werden.
Unsere Handelspolitik hat aber noch eine besondere Seite, die Wendung nach außen, die starke Betätigung des deutschen Kaufmanns im Ausland, die Kolonial- und Weltwirtschaftspolitik und, zu ihrem Schutz, die Flottenpolitik. Hier lenkt sich der Blick zu den glanzvollen Zeiten der alten Hansa. Die hansische Geschichtsforschung, die von jeher den Ruhm strenger deutscher Wissenschaft trug, ist heute noch mehr in das Gesamtleben der Nation getreten. Wie die hansischen Erinnerungen zur Belebung unserer Weltwirtschafts- und Flottenpolitik mitgewirkt haben, so boten die Anforderungen unseres Wirtschaftslebens einen erneuten Anreiz zur Vertiefung in die hansische Geschichte. Der Ursprung der Hanse, die Zeit ihrer kraftvollen Entfaltung und ihr Untergang sind an den meisten Punkten von Grund aus neu untersucht worden. Die Geschichte der Hanse liefert den Beweis, daß der Handel eines Volkes ohne starken politischen Rückhalt nicht gedeihen kann. Die historisch-politischen Beobachtungen, die sich aus der hansischen Geschichte gewinnen lassen, faßte Dietrich Schäfer in einer eindrucksvollen Schrift („Deutschland zur See“, 1896) zusammen, mit der er zugunsten der Verstärkung unserer Flotte eintrat. Auf der andern Seite folgte die hansische Geschichtsforschung den Anregungen der Gegenwart, indem der hansische Geschichtsverein sein Programm über sein engeres Gebiet hinaus erweiterte und sich die Erforschung der Verkehrs- und Seegeschichte Deutschlands zum Zweck setzte.
Nur im Vorbeigehen gedenken wir des großen Aufschwungs der antiken Wirtschaftsgeschichte, die durch die neuen Funde der Papyri eine besondere Anregung erhielt.
Die Grenzgebiete der Geschichtswissenschaft .
Auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte werden heute die Studien an so vielen Stellen und von so zahlreichen Forschern betrieben, daß wir in eine unübersichtliche Titelaufzählung geraten würden, wenn wir bestimmte Werke und Autoren namhaft machen wollten. Manchen wichtigen Baustein haben in unserer Periode auch die Nationalökonomen zur Wirtschaftsgeschichte beigesteuert. Doch sind innerhalb ihrer Disziplin die wirtschaftsgeschichtlichen Studien in der letzten Zeit verhältnismäßig zurückgegangen, was dadurch veranlaßt ist, daß man hier die begriffliche Durchdringung des Stoffes vielfach vernachlässigte, auch die echte historische Methode anzuwenden unterließ. Um so mehr sehen die zünftigen Historiker es als ihre Aufgabe an, sich der Pflege der Wirtschaftsgeschichte zu widmen.
[1171] Der Anteil der Historiker an der Erforschung der verschiedenen Seiten der Kulturgeschichte stuft sich je nach den näheren oder entfernteren Beziehungen der einzelnen Kulturgebiete zum Staat ab. Sie richten nicht ängstlich Scheidewände gegenüber anderen Disziplinen auf. Aber neben der Natur der Quellen gibt es doch auch ein sachliches Prinzip der Stoffabgrenzung. Wo der Staat und seine Tätigkeit in Betracht kommt, da vornehmlich fühlt der Historiker sich hingezogen: εφέλχεται άνδγα διηγος.
Mit den Juristen teilen sich die Historiker in die Erforschung der Verfassungsgeschichte. Auch hier weist unsere Periode einen reichen Ertrag auf, namentlich auf zwei Gebieten. Einmal hat das große Problem der Entstehung der deutschen Städteverfassung eine Teilnahme der Forschung gefunden (seit 1887) wie vorher nie; es gibt keine Frage der Verfassungsgeschichte, der so zahlreiche Schriften und Abhandlungen gewidmet sind, wie dieser; rechtsgeschichtlich und wirtschaftsgeschichtlich wird sie mit gleichem Eifer diskutiert. Sodann üben die Einführung moderner Verfassungen und die in ihr zur Geltung kommenden Ideen, ihr Verhältnis zur französischen Revolution, die Vorgeschichte von deren Idealen, ebenso die Ursprünge der modernen Selbstverwaltung in Deutschland (der Steinschen Städteordnung) eine starke Anziehungskraft aus.
Während die Historiker die Pflege der Kunstgeschichte, der Geschichte der poetischen Literatur und der Philosophie überwiegend den besondern Fachdisziplinen überließen, arbeiteten sie auf dem Gebiet der Kirchengeschichte emsig mit den Theologen zusammen. In Konkurrenz mit ihnen widmeten sie sich ferner der Geschichte der gelehrten Studien, so der Universitäten und Akademien. Wir besitzen jetzt eine etwa zur Hälfte vollendete allgemeine Geschichte der deutschen Universitäten, eine großzügige Geschichte der Berliner Akademie und eine stattliche Zahl von Darstellungen der Geschichte einzelner Universitäten, unter denen das Jubiläumswerk der Berliner Universität durch die Bedeutung des Gegenstandes und eingehendste Behandlung voransteht. Auf die Organisation der hohen Schulen ist dadurch ebenso Licht gefallen wie auf große geistige Bewegungen. Die Geschichte unserer eigenen Disziplin hatte man früher zum größeren Teil nur für das Mittelalter verfolgt. Nunmehr ist man tätig, die Lücke für die Neuzeit auszufüllen. Wir dürfen uns heute einer beträchtlichen Literatur zur Ranke-Interpretation, mehrerer Monographien über andere Geschichtsforscher und eines Werks, welches die Entwicklung der neueren Historiographie bei der Gesamtheit der abendländischen Kulturvölker schildert, rühmen. Wir besitzen auch eine in großem Zug gehaltene Darstellung der Entwicklung der Historiographie von den Völkern des Altertums bis zu den neueren Jahrhunderten.
Die Motivenforschung.
Die reiche Entfaltung der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur wie der kulturgeschichtlichen Studien überhaupt entspringt einer Reihe verschiedener Antriebe. Einer der stärksten ist die Motivenforschung. Sie ist ein weiteres Kennzeichen unserer Zeit. Die Zahl der Arbeiten über die „Entstehung“, den „Ursprung“, die „Ursachen“ einer historischen Erscheinung ist nie so groß gewesen wie heute. Indem man sich bemüht, die Motive und Ursachen der historischen Erscheinungen aufzusuchen, wird man darauf gewiesen, nach den Kulturbedingungen [1172] zu fragen, unter denen sie ans Licht treten, und nach den Kulturfaktoren, die sie hervorbringen. Eine Zeitrichtung, die nicht bloß auf die sozialistischen Kreise beschränkt war, wollte lediglich wirtschaftliche Verhältnisse als Ursachen der historischen Erscheinungen anerkennen. Hier liegen die Irrwege der sozialistischen Geschichtschreibung, die die historischen Erscheinungen auf rein wirtschaftliche Verhältnisse zurückführt und es z. B. fertiggebracht hat, die christliche Religion als eine bloße Spiegelung bestimmter Klassenzustände, als die utopisch-jenseitige Spiegelung des spätantiken Lumpenproletariats zu erklären. Aber, wie bemerkt, nicht nur der Sozialismus huldigte einer solchen Neigung. Auch in breiten bürgerlichen Kreisen übte man oft nicht viel mehr Zurückhaltung. Man glaubte den Stein der Weisen in dem überall vorhandenen entscheidenden wirtschaftlichen Motiv zu haben. Unsere Zeit hat viel Übertreibungen dieser Art gesehen, aber auch die Korrektur gebracht. Wir stehen heute am Schluß lebhafter Debatten und können mit Befriedigung konstatieren, daß Einseitigkeiten jener Art in der Hauptsache überwunden sind.
Geschichtsphilosophie.
Die Beschäftigung mit den Motiven der historischen Erscheinungen bildet andrerseits wiederum nur einen Teil einer allgemeineren Richtung der Geschichtswissenschaft unserer Zeit: des Verlangens nach geschichtsphilosophischer Besinnung. Nachdem lange Zeit der reine Empirismus vorgeherrscht hatte, hat in unserer Periode wieder die Philosophie ihren Einzug in unsere Disziplin gehalten. Man fragt nach Zweck und Sinn der Geschichtswissenschaft, ihren Grundlagen, ihrem Wesen und ihrer Methode; man will wissen, weshalb sie so verfährt, wie es ihr Brauch ist. Man fragt ferner nach den maßgebenden Faktoren der geschichtlichen Entwicklung, nach dem Zusammenhang der verschiedenen Seiten der Kultur. Dies jetzt hervortretende Streben, über die eigene Disziplin zur Klarheit zu gelangen, geht auf mannigfache Anregungen zurück. Wie es aber zu geschehen pflegt, hat ein Vorstoß gegen unsere alte Methode die Diskussion besonders entfesselt und ihr einen größeren Rahmen gegeben. Karl Lamprecht trat am Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts unter heftigen Anklagen gegen die Rankesche Schule, gegen die politische Geschichtschreibung als Reformator der Geschichtswissenschaft auf. Er verlangte die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode auf die historischen Studien. Nach ihm verläuft die geschichtliche Entwicklung naturgesetzlich. Jedes Volk macht dieselbe gesetzmäßige Entwicklung durch. Diese Gesetze benannte Lamprecht auch bereits. Das maßgebende Bewegungselement sind nach ihm stets die wirtschaftlichen Verhältnisse. Der einzelnen Persönlichkeit mißt er keine selbständige Bedeutung zu. Die Massenbewegungen sind es, womit es die Wissenschaft zu tun hat. Das von ihm konstruierte Schema unternahm er dann (allerdings nicht mit voller Konsequenz) in einer Darstellung der „deutschen Geschichte“ durchzuführen. Es waren nicht irgendwelche politische oder sozialistische Tendenzen, die ihn zu seiner Theorie geführt hatten. Sein Versuch geht vielmehr wesentlich auf allgemeine positivistische Anschauungen zurück, deren Anhänger damals mancher war, ohne sich über die Herkunft seiner Ansichten Rechenschaft geben zu können. Lamprecht trieb Meinungen, die in breiten Schichten [1173] schon geteilt wurden, auf die Spitze. Er war einer von vielen, eifriger nur und mit mehr Ansprüchen als die anderen. Der leidenschaftliche Kampf, den seine Angriffe veranlaßten, hat das Ergebnis einer vollkommenen Rechtfertigung der alten historischen Methode gezeitigt. Er hat das Gute gehabt, daß die Historiker sich in erhöhtem Maß ihres Rechtes bewußt geworden sind. Insofern dies Resultat indirekt durch den von Lamprecht veranlaßten Kampf herbeigeführt worden ist, wird ihm ein Verdienst um die Klärung und Vertiefung der Anschauung zuzusprechen sein. Aber seine Theorie selbst wurde ganz und gar zurückgewiesen. Heute lehnt man allgemein die Konstruktion naturgesetzlicher Entwicklungsreihen ab. Heute weigert sich kein Historiker, der leitenden Persönlichkeit ihr Recht zuteil werden zu lassen. Das Recht des Individuums ist in verstärktem Maße zur Anerkennung gelangt. Das besondere Leben gilt uns mehr als der unentschiedene Strudel. Der Historiker richtet sein Augenmerk nicht bloß auf das Allgemeine, Regelmäßige, sondern vor allem auch auf das Einzigartige, das für den geschichtlichen Fortschritt Bedeutsame. Man weiß, daß die Geschichtswissenschaft ihre eigene Methode hat. Lamprecht selbst sah sich im Lauf der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern genötigt, seine Theoreme zu wandeln oder zu modeln.
Wie schon bemerkt, war er es übrigens nicht allein, der der Neigung folgte, die geschichtliche Entwicklung nach der Analogie der Naturvorgänge zu deuten. Er stand eben innerhalb der positivistischen Flut. Die Aufstellung von „Stufentheorien“, von Gesetzen, denen die geschichtliche Entwicklung in naturgesetzlicher Weise unterworfen sei, geschah von vielen Plätzen aus. Und so hat sich denn die Geschichtswissenschaft mit mancherlei Entwicklungstheorien auseinanderzusetzen gehabt. Im Kreise der wirtschaftsgeschichtlichen Studien spielte in den letzten Jahrzehnten vor allem die Stufentheorie „Haus-, Stadt-, Volkswirtschaft“ eine Rolle. Die historische Forschung hat dargetan, daß diese Kategorien mit Erfolg zur Veranschaulichung bestimmter wirtschaftlicher Zustände verwertet werden können, daß es aber durchaus unzulässig ist, jene drei Stufen in ein festes historisches Verhältnis zu bringen, das für alle Völker gleichmäßig gelten oder das gar den ganzen Gang der Weltgeschichte bezeichnen solle. In dem Kampf gegen die Versuche, die naturalistische, positivistische Auffassung in der Geschichtswissenschaft zur Herrschaft zu bringen, hat uns die Philosophie, insbesondere die Windelband-Rickertsche Philosophie, den fruchtbarsten Beistand geleistet, nicht in dem Sinne, daß sie uns ein philosophisches System auflegen wollte, sondern indem sie nachwies, daß der alte Weg, den die Historiker gegangen, der richtige ist.
Pflege und Ausbau der politischen Geschichtschreibung.
Es ist eine Erweiterung des Arbeits- und Gesichtsfelds, dessen sich die deutsche Geschichtschreibung der letzten Jahrzehnte rühmen kann. Aber es ist nicht etwa (wie manche kulturgeschichtliche Fanatiker prophezeit hatten) ein Zeitalter heraufgezogen, welches die früher fast ohne Rivalen dastehende politische Geschichtschreibung entthront hätte. Diese bleibt vielmehr im Vordergrund stehen. Richtig verstanden, sind alle einzelnen kulturgeschichtlichen Disziplinen Hilfswissenschaften der politischen Geschichte, mag das Tagewerk in einer Hilfswissenschaft auch ganze Scharen [1174] vollkräftiger Arbeiter für sich beanspruchen. Was sie zutage fördern, mündet in die politische Geschichtschreibung ein; es dient dazu, die politische Betrachtung zu vertiefen. Diese Wirkung auf die politische Geschichtschreibung haben denn auch die so eifrig gepflegten kulturgeschichtlichen Studien hervorgebracht. Von einer Entthronung der politischen Geschichte kann ferner darum nicht die Rede sein, weil sie von sich aus sich reich zu entfalten und zu verzweigen, neue Gegenstände zu erfassen gewußt hat.
Der Führer der politischen Geschichtschreibung ist in unserer Periode H. v. Treitschke. Er verbindet die alte mit der neuen Zeit. Er kann zu den Vertretern der klassischen politischen Geschichtschreibung gerechnet werden, vereinigt aber mit deren Vorzügen in seiner „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“, deren erster Band in dem bedeutungsvollen Jahre 1879 erschien, eine unvergleichliche Gabe kulturgeschichtlicher Schilderung und öffnet sich allen den Fragen, die unsere Zeit stellt. Er hat wohl in früherer Zeit mit theoretischen Erörterungen in sozialpolitischen Fragen eine Stellung eingenommen, die dem alten Liberalismus entsprach. Praktisch ist er doch, nicht am wenigsten mit seiner „Deutschen Geschichte“, der Herold der neuen Bismarckschen Politik geworden. Und er gehört, darüber hinaus, zu denen, die der imperialistischen Politik vorgearbeitet haben.
Bevorzugung der biographischen Form.
Nach Treitschke hat die politische Geschichtschreibung die Form der Biographie bevorzugt; wie um einen Protest gegen die modischen massenpsychologischen Theorien einzulegen. Rudolf von Habsburg (von O. Redlich), Loyola (von E. Gothein), Friedrich d. Gr. (von R. Koser), Männer der Reformzeit: Scharnhorst und Stein (von M. Lehmann), Gneisenau (von H. Delbrück), Boyen (von F. Meinecke), Radowitz (von F. Meinecke), Kaiser Wilhelm I. (von E. Marcks) und Bismarck (von M. Lenz und E. Marcks; von diesem der erste Band einer ganz umfassenden Bismarckbiographie, der uns namentlich lehrt, wie Bismarck aus den konservativen Kräften Preußens emporwächst, und in unvergleichlicher Nachempfindung seine Wendung zum Ernst der christlichen Religion schildert) haben Biographien erhalten, denen die unmittelbar vorausgehende Generation nicht so leicht etwas an die Seite zu setzen vermag.
Andere Formen der politischen Geschichtschreibung.
Doch hat die politische Geschichtschreibung nicht bloß den biographischen Rahmen verwertet. Nach wie vor ist auch die ganze Staaten- oder Volksgeschichte für weite Zeiträume dargestellt worden. Wir verzeichnen hier F. v. Bezolds Geschichte der deutschen Reformation, ein gerade für unsere Zeit charakteristisches Werk, insofern es den Ursachen der Reformation, ihrer Vorgeschichte breiteren Raum, eingehendere Aufmerksamkeit gewährt, als es je in Darstellungen der Reformationsgeschichte der Fall gewesen war; ausgezeichnet auch durch die diesem Autor überhaupt eigene feine Würdigung der literargeschichtlichen Erscheinungen. Bei seinem Erscheinen (1890) konnte es zugleich als eine notwendige Auseinandersetzung mit Joh. Janssens vom katholischen Standpunkt aus unternommener Schilderung der Reformationsgeschichte aufgefaßt werden. Seitdem hat sich, wie hier nebenbei eingeschaltet sei, die katholische [1175] Geschichtschreibung überwiegend erfreulich entwickelt. Beträchtliche Verdienste erwirbt sie sich heute um die Aufklärung der vorreformationsgeschichtlichen Verhältnisse. Von der Zettelkastenmethode Janssens macht sie nur ausnahmsweise noch Gebrauch. An Bezolds Buch schließt sich zeitlich M. Ritters „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges“ an, eines jener Werke der deutschen Wissenschaft, die das Lebenswerk eines Forschers darstellen, die die gesamte vorhandene Literatur auf ihrem Gebiet überholen und dem Urteil auf lange hinaus die Wege weisen. Und hiermit ist die Zahl der trefflichen Darstellungen aus der politischen Geschichtschreibung noch keineswegs erschöpft. Zu denen, die in ihrem Stoff der Gegenwart sich nähern, gehören vor allem die fesselnden Bücher des Österreichers Friedjung („Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland“). Die genannten Werke sind der deutschen Geschichte gewidmet. Unsere Wissenschaft hat aber auch die Neigung und Fähigkeit bewahrt, die Geschichte anderer Völker zu verfolgen, und von Forschung wie Darstellung gilt es noch heute, daß die Deutschen für die Aufklärung der Geschichte anderer Völker erheblich mehr tun als andere Völker für die deutsche Geschichte.
Einen erfreulichen Aufschwung nimmt die deutsche Territorial- und Stadtgeschichte, zum Teil im Zusammenhang mit der erhöhten Pflege der Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch in der Form der politischen Geschichte. Wir gedenken hier auch der „Historischen Kommissionen“, die in fortschreitender Zahl für die einzelnen deutschen Landschaften mit der Bestimmung begründet werden, deren Geschichte uns nach allen Richtungen hin vorzuführen.
Neu erschlossen hat sich die politische Geschichtschreibung das Gebiet der Parteigeschichte, das bisher ganz unbeackert gewesen war. Es wurden sowohl Beiträge zur Parteigeschichte im allgemeinen wie Biographien einzelner Parteihäupter (z. B. Kleist-Retzow, Stöcker, Bennigsen, Aug. Reichensperger, Lieber, Eugen Richter, Lassalle) geliefert.
Über den Rahmen der Parteigeschichte hinaus geht die Geschichte der politischen Ideen, ein von jeher beliebtes Arbeitsgebiet, dem man aber heute eine Vertiefung zu geben gewußt hat. Eine glänzende Vertretung hat dieser Zweig unserer Wissenschaft in F. Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat“, einem Vorbild allgemein geistesgeschichtlicher Forschung, das uns Werden und wechselnde Ausprägung der nationalen Idee in unserm Vaterlande vorführt. Aus der Literatur des Mittelalters ist Dante ein bevorzugtes Problem, mit eindringenden und feinen Untersuchungen.
Neben der Wirtschaftsgeschichte hat die politische Geschichte der neueren Jahrhunderte heute wohl die meisten monographischen Arbeiten aufzuweisen. Wenn früher ein junger Historiker seine Doktorschrift veröffentlichte, so beschäftigte sie sich meistens mit einem Thema aus der mittelalterlichen Quellenkunde oder aus der Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche. Gegenwärtig werden diese Dinge nicht vernachlässigt. Aber es ist vieles hinzugekommen, und vor allem eben sind neben den Themata aus der Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte solche aus der neueren politischen Geschichte beliebt.
Die politische Geschichtschreibung hat auf den Grundlagen der Rankeschen Auffassung weiter gebaut. Die Bedeutung der Nation und des konkreten Staates [1176] wird energischer als je erfaßt, darüber aber der Rankesche Gedanke des Ineinanderwirkens der Völker und Staaten, der gegenseitigen Bedingtheit der inneren und äußeren Verhältnisse des Staates keineswegs vergessen. Ihren politischen Charakter bewahrt unsere Geschichtschreibung auch damit, daß sie das Ästhetentum (etwa eines F. Naumann) überwiegend ablehnt. Der lebhafte Sinn für die politischen Bedürfnisse und Fragen der Gegenwart verbindet sich mit ernstem Streben nach Objektivität. Vielleicht ist zu keiner Zeit die Geschichtschreibung so objektiv gewesen wie heute. Diese Objektivität wird wesentlich erreicht durch die Steigerung der Erkenntnis, daß wir von allgemeinen Anschauungen, von irgendwie gestalteten Weltanschauungen abhängig sind, daß wir nicht ohne bestimmte Ideale zum historischen Urteil gelangen können, und daß unsere Ideale immer einen subjektiven Bestandteil in sich fassen werden. Wir läutern unsere Vorstellungen an unsern in stiller Forschung gewonnenen historischen Beobachtungen; aber wir bleiben uns immer dessen bewußt, daß ein letztes verbindendes Element doch nicht aus bloßer Betrachtung der Vergangenheit gewonnen wird. „Die Vorzeit“ – sagt ein neuerer Geschichtschreiber (D. Schäfer) – „kann der Lebende nur sehen unter dem Gesichtswinkel, den sein Standpunkt zuläßt; versucht er, das zu vergessen, so bleibt sein Wissen tot. Er steht unter einem gewissen Zwange, wenn er an die Vergangenheit nicht nur die Fragen stellt, die in ihr beschlossen sind, sondern auch die, die unserem Entwicklungsstande naheliegen.“ Besonders für die Auswahl des Stoffs beeinflußt uns der Komplex von Fragen und Forderungen, die die Gegenwart an uns stellt. Aber mit diesem „natürlichen Drange“ bleibt die Objektivität vereinbar, wenn wir uns eben jener Bedingtheit unserer Urteile bewußt sind. Der Erweiterung der Gesichtspunkte der politischen Geschichtschreibung, ihrer Befruchtung durch die kulturgeschichtliche, insbesondere die wirtschaftsgeschichtliche Forschung haben wir schon gedacht. Der Unterschied der älteren und der neuen Zeit tritt uns greifbar entgegen, wenn wir etwa die Aufsätze Max Dunckers, die in seinen „Abhandlungen aus der neueren Geschichte“ vereinigt sind, mit Otto Hintzes vor wenigen Jahren erschienenen „Historischen und politischen Aufsätzen“ vergleichen.
Arbeitsteilung. Zusammenfassende Darstellungen.
Wir erwähnten die große Zahl historischer Monographien aus unserer Periode. Seit Niebuhr und Ranke steht ja innerhalb der Geschichtswissenschaft die Geschichtsforschung und demgemäß die Monographie, die Untersuchung im Vordergrund. Wenn im Lauf des 19. Jahrhunderts die Zahl der monographischen Arbeiten ständig gewachsen ist, so war doch dies Wachstum bisher nie so stark wie in den letzten Jahrzehnten. Frisch eröffneter Quellenstoff, das Auftauchen neuer Probleme und die Notwendigkeit, eine These bis ins kleinste Detail auf ihre Wichtigkeit hin zu prüfen, auch das steigende Interesse für die geschichtlichen Dinge im ganzen bringen diese Fülle von Detailarbeiten hervor. Die Spezialisierung ist heute die Voraussetzung für eine erfolgreiche Förderung unserer Erkenntnis, und auf dem Wege der weitgehenden Arbeitsteilung und der Konzentrierung auf ein spezielles Gebiet ist unsere Erkenntnis tatsächlich gewaltig gefördert worden. Unsere Zeit [1177] zeigt diese Arbeitsweise überall. Es erweist sich als notwendig, mit einer Vereinigung der Kräfte vorzugehen, wie es denn Sitte geworden ist und sich zweifellos auch bewährt hat, die Darstellung großer Zeiträume und umfassender Materien auf eine Mehrzahl von Mitarbeitern zu verteilen. Freilich hat die zunehmende Spezialisierung in unserer Disziplin wie in allen andern auch ihre Schattenseiten. Der Herausarbeitung einer Gesamtauffassung wird sie an sich nicht günstig sein. Allein wir dürfen zum Ruhm unserer Wissenschaft hervorheben, daß bei ihren Vertretern trotz der oft scheinbar ins minutiöseste Detail sich verlierenden Forschungen doch das Streben, die Zusammenhänge der Dinge in ihren innersten Beziehungen zu erfassen, und ebenso die Fähigkeit, große Zeiträume zu umspannen, nicht erloschen oder vielmehr von neuem hervorgetreten sind. Denn die unmittelbar vorausgehende Generation hat in diesen Beziehungen nicht so viel hervorgebracht als die unserige. Von weit greifenden Werken, die der Feder eines einzelnen Autors entstammen, nennen wir Eduard Meyers Geschichte des Altertums, Haucks Kirchengeschichte Deutschlands, Th. Lindners Weltgeschichte, Dietrich Schäfers Deutsche Geschichte und seine Weltgeschichte der Neuzeit. Schäfer hat seine „Deutsche Geschichte“ dem Andenken an G. Waitz und H. v. Treitschke gewidmet. Damit werden der Charakter der Geschichtswissenschaft unserer Tage und die Anforderungen, die man insbesondere auch an die zusammenfassenden Darstellungen stellt, gut umschrieben. Die Geschichtswissenschaft hält fest an der zuverlässigen quellenkritischen Forschung, wie sie Ranke und unter seinen Schülern vor allem Waitz praktisch gelehrt haben, und verbindet damit in Treitschkes Sinn das Aufgeschlossensein für die großen Fragen, die unsere Nation bewegen.
Die Betätigung der Gabe des zusammenfassenden Urteils ist nicht gebunden an die ausführliche Darstellung; auch im kleinen Rahmen hat sie die Möglichkeit, sich glänzend zu bewähren. Einen Anlaß bot vor wenigen Monaten die rückschauende Betrachtung, die zahlreiche deutsche Historiker der Jahrhundertfeier und dem Regierungsjubiläum unseres Kaisers gewidmet haben. Es finden sich darunter solche, die dem Ideal der großen Rede vollauf entsprechen: ein bedeutender Gegenstand; eine allseitig zutreffende und präzise Formulierung des Urteils; die Darstellung ganz ungeschminkt wahr.