Literarische Briefe (Gutzkow) 2

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Textdaten
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Autor: Karl Gutzkow
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Titel: Literarische Briefe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, S. 169–171
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
An ein deutsche Frau in Paris
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Literarische Briefe.

An eine deutsche Frau in Paris.
Von Karl Gutzkow.
II.

Wenn Sie, meine Theure, eine Rose betrachten, eine kaum erschlossene Gartencentifolie oder eine sich mit weißröthlichen Blättern wie von Sammet in die stachlichte grüne Hülle verschämt versteckende Moosrose, so nennen Sie den Anblick – schön! Aber Sie können auch in die Rue St. Honoré Nr. 372 zu den Herren Froment und Meurice gehen und sich unter den geheimnißvollen, kostbaren Etuis dieser berühmten Juweliere eines öffnen lassen, um eine goldene Rose mit diamantenen Thautropfen ebenfalls zu bewundern und schön zu nennen, vorausgesetzt, daß die Künstler in ihrer Nachahmung der Natur die Eigenthümlichkeiten einer Rose, Duft und Farbe ausgenommen, getroffen haben, die Natürlichkeit des Wuchses, eine gewisse Freiheit bei sonstiger symmetrischer Schichtung der Blätter und für den Frühlingsmorgenthau die wie zufällig, nicht aufdringlich und anspruchslos gewählten Stellen.

Das, was Sie schön nannten an der Naturrose, das ist das Naturschöne. Die Schönheit einer nachgeahmten Rose ist das Kunstschöne.

Entspringt nun das Behagen, das Ihnen die natürliche Rose und das andere, das Ihnen die nachgemachte erweckt, aus einem und demselben Quell der Befriedigung? Man möchte dies wohl bestreiten. Zwar verrinnt das Behagen, das beide Erzeugnisse, [170] jenes der Natur, dies der Kunst, wecken, in die allgemeine und gleichartige Strömung des Wohlgefallens am Schönen überhaupt, aber die Bewunderung der nachahmenden Hand des Künstlers ist eine anders motivirte als die des waltenden Schönheitsgesetzes in der Natur. Die Thätigkeit des Verstandes ist bei Betrachtung beider Erscheinungen eine andere. Im Blumengarten (ich erinnere mich, die meisten Blumengärten in Paris liegen – in jener stillen Straße, die zum Père la Chaise führt!) ordnen Sie die einzeln betrachtete Rose einer durchaus anderen Ideenverbindung unter, als die kostbare, die Sie in der Rue St. Honoré bewunderten. Dort beruhte Ihre Anerkennung auf einem Gefühl, hier auf einem Urtheil.

Welches ist nun jene gleichartige Strömung, worin sich beide Eindrücke wiedervereinigen, der vom Natur- und der vom Kunstschönen empfangene – sagen wir von einem Abend auf dem Genfersee und von einem Gemälde, worin Calame’s Meisterhand diesen Zauberanblick festhielt? Oder von einer edlen That, die Sie zu Thränen rührte und erschütterte, und – von einem Drama Lessing ’s, worin der Verlauf derselben noch einmal wiederholt wurde? Worin liegt das Beleidigende des Häßlichen? Worin das Wohlthuende des Schönen – sagen wir des Scheins, denn – nach dem tiefen Gedankeninhalt unseres deutschen Sprachschatzes ist das Schöne das Scheinende oder das Schauende, letzteres in dem Sinne, wie wir noch heute sagen: Wie schaut die Sache aus?

Bis auf die neueste Zeit hin hat man gestritten über eine vollkommen ausreichende Erklärung für den Begriff des Schönen, einen Begriff, der alle Ausstrahlungen in die Welt hinaus, wo uns Schönes begegnen kann, vom gestirnten Himmel an bis zu einem Kranz glänzender Toiletten im ersten Rang eines Opernhauses zusammenfaßt. Ein Professor in Göttingen, Hermann Lotze, hat für das, was seit dem Erfinder des aus dem Griechischen gebildeten Wortes „Aesthetik“, seit Alexander Gottlieb Baumgarten, einem Halle’schen Professor aus der Allongenperrückenzeit, lediglich in Deutschland für die Lehre vom Schönen geleistet worden ist, eine besondere, vor Kurzem erschienene Geschichtserzählung herausgegeben. Ich erwähne diese gewissenhafte Arbeit besonders auch um deswillen, weil ich Ihnen bei dieser Gelegenheit für einen Aufenthalt, nicht etwa in Baden-Baden, dort ist man zu zerstreut, aber in Biarritz oder Scheveningen, am monotonen und doch so erhaben anregenden Meer, eine Lectüre anrathen möchte, die Ihnen die Fülle neuerer Forschungen auf dem Gebiet der Lehre vom Menschen, als dem Abbild des Universums, zusammenstellt und sie in ausgezeichneter Darstellung prüft, verwirft oder anempfiehlt, Lotze’s „Mikrokosmus“. Dies aus drei Bänden bestehende Werk (Leipzig, Hirzel) kann nicht auf einmal aufgenommen werden, etwa wie ein neuer Roman von Feydeau. Den von ihm gewährten Genuß und die Belehrung muß man sich eintheilen. Schon daraus, daß der Verfasser die Philosophie mit dem Studium der Naturwissenschaften und der Medicin verbunden hat, ersieht sich der besonnen gelegte Grund seiner Erörterungen, die allen Interessen gelten, die dem Menschen als Menschen von Werth sein müssen. Die Darstellung Lotze’s verliert sich zuweilen in Goethisirende Vornehmheit und eine die Glätte des Marmors mit dessen Kälte verbindende Weise, doch an manchen Stellen erhebt sie sich auch wieder zu einem mächtigeren Schwunge, besonders dort, wo die Beweisführung gegen [Georg Wilhelm Friedrich Hegel|Hegel]]’sche Lehrsätze eintrat, namentlich gegen den Bann, in welchen die vom Leben gewährte Fülle der Erfahrung, die Uebung der menschlichen Freiheit, die offene Strömung in den Entwickelungen der Geschichte durch Formeln eingezwängt werden soll, die diesem Gegner Hegel’s nur als todte Worte und leere Namen gelten können.

Es kämpfen nämlich in Allem, was ein Gegenstand unseres Nachdenkens (auch unserer Handlungen und Entschließungen) geworden ist, so auch auf dem Gebiet des Schönen, zwei Richtungen miteinander, die ideale und die reale. Jene sagt mit Schiller: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut!“ Diese – Sie haben ja von der Affentheorie gehört (allerdings wohl nur eine Uebertreibung einer anerkennenswerthen Richtung) –: Der Geist ist die Blüthe, die aus dem Stamm des Körpers entsteht, mit ihm verwelkt, mit ihm vergeht! Uebertragen auf die wissenschaftlichen Gebiete und in unserem Fall auf die Lehre vom Schönen, so würden sich zu unseren beiden Rosen diese einander feindlichen Schulen gar wunderlich verhalten. Wir wollen aber nur beim Neusten verweilen: J. H. von Kirchmann’sAesthetik auf realistischer Grundlage“ (Zwei Bände, Berlin, Springer 1868).

Den Autor dieses beachtenswerthen Werkes anlangend, so hat dessen Stellung einige Aehnlichkeit mit derjenigen, in welche bei Ihnen neulich der Baron Segnier geraten ist. Wenn Sie sich diesen Staatsanwalt abgesetzt, seiner Meinungen wegen beungnadet und heute eine Vorlesung in einem Handwerkerverein der Salle Valentino, morgen eine über Musik oder Landschaftsmalerei in der Salle Herz haltend denken, nebenbei in der Kammer sitzend, wo ihn jedoch ein schwaches Organ und vielleicht ein gewisser Mangel an Temperament verhindert, energisch in die Verhandlungen einzugreifen, so haben Sie ungefähr die Stellung unsres Herrn von Kirchmann. Zur Zeit der Märzrevolution war er ein jüngerer Richter, dem die Zukunft und das nächste vacante Portefeuille der Justiz zu gehören schien. Schon damals blickte aus seinen Plaidoyers als Staatsanwalt der Denker. Die Reaction versetzte ihn an ein Obergericht als Präsident, seine Abstimmungen mißfielen dem Manteuffel’schen System, er bekam durch eine halbe Entlassung die unfreiwillige Muße, seinen Neigungen für Kunst und Wissenschaft zu leben. In unserm Elb-Florenz beschäftigte ihn Aristoteles, Spinoza und die Gemäldegalerie. Heute wieder angestellt, morgen wieder auf’s Neue entlassen, hat er sich aus seinen Beschäftigungen mit dem, was über allen äußern Glanz und Flitter erhaben ist, eine Gleichgültigkeit für die Beurtheilung der Welt entnommen, die fast an Lässigkeit streift. Wenigstens entspricht die ergebene Haltung, die er behauptet, einer Eigenschaft seines Naturells, die sich in den Schriften, mit denen er seither Freund und Feind überrascht hat, charakteristisch wiederspiegelt. Sollen wir seinen scharfsinnigen, wahrheitsliebenden Geist, der in die Tiefe, in die Wesenheit der Dinge strebt, doch vielleicht ein wenig – nüchtern nennen? Er muß es vergeben, thäte man es; denn die Lehre vom Schönen verträgt keine Ueberschwänglichkeit, noch weniger aber ein Untermaß.

Kirchmann will gefunden haben, daß das Schöne „das idealisirte, sinnlich angenehme Bild eines seelenvollen Realen“ sei. Erschrecken Sie nur nicht sogleich über diese gelehrte Form eines einfachen Satzes! Das „Reale“ ist hier jeder beliebige Gegenstand, „das Bild eines Realen“ der in die Sinne fallende Eindruck desselben. Dieser Eindruck soll eine dreifache Eigenschaft besitzen. Er soll erstens angenehm wirken und zwar zweitens dadurch, daß der Gegenstand als idealisirt, d. h. als auf eine Stufe der Vollkommenheit erheben, und drittens wie mit einer Seele begabt, d. h. als lebendig, beinahe selbstthätig gedacht wird. Im Wesentlichen bietet diese Erklärung nichts Neues. Sie ist die alte, nach der Lehre vom Wesen und Sein der Dinge gegebene Hegel’sche Erklärung, übersetzt in die Lehre von der menschlichen Seele, die allein darüber die Entscheidung hätte, was schön sei; der Gelehrte würde sagen: übersetzt aus Metaphysik in Psychologie. Warum noch die Verstärkung des als vollkommen und angenehm empfangenen Eindrucks mit „seelenvoll“ stattfindet, ist aus Kirchmann’s Buch zu ersehen. Doch glaube ich, unser Verfasser hat sich eine rechte Last aufgebürdet. Denn was muß er Ihnen nun, um des Seelenvollen willen, von unsrer Centifolie sagen? Sie wäre schön, weil sie – eine Seele zu haben schiene, d. h. einen beinahe bis zum Selbstbewußtsein gesteigerten Organismus. Wem dieser Gedanke bei einem Rosenstock gekommen, der muß in der ganzen Natur Najaden, Dryaden, Oreaden und was nicht Alles wiederfinden, muß immer nach Vergleichungen des Todten mit dem Lebenden suchen und wird eine Rose gar nicht mehr abzupflücken wagen. „Seelenvoll“ – es klingt bei unserem sonst verstandeskühlen Verfasser überraschend zart. Doch zwingt ihn seine Lehre zu den wunderlichsten Erläuterungen und Vergleichungen, um nur in die Dinge die Vorstellung von einer durch unsere Betrachtung hervorgerufenen Beseelung derselben zu bringen. Fast möchte ich glauben, er hat einen anderen Gedanken geahnt, den er nur unrichtig ausdrückte. Nicht das Gefühl, die Rose sei beseelt, d. h. nähere sich der organischen Welt, dem Leben des Thiers, macht sie schön, sondern die Vorstellung, daß sie zu einer Gattung gehört und dennoch ein individuelles, für sich bestehendes, alleiniges Dasein hat. Dem Schönen muß die Eigenschaft innewohnen, daß man von ihm sagen kann: es ist einzig in seiner Art. Bei Rosen, deren es Hunderttausende von gleicher Schönheit giebt, ist die gemeinsame Schönheit die, daß sie als Rose einzig ist [171] unter den Blumen. Und dabei kann ihre Schönheit noch eine durchaus individuelle, an ein einzelnes Exemplar geknüpfte sein.

Mit dem besten Gewissen läßt sich eine längere Beschäftigung mit Kirchmann’s Werk bei alledem empfehlen. Grade eine gewisse dilettantische Färbung macht seine Arbeit angenehm. Man hat nicht die Orakelsprüche der gelehrten Schule, sondern die unbefangenen Geständnisse eines Mannes, der nichts zu sagen und niederzuschreiben vermag, was er nicht selbst geprüft und empfunden hat. Ohne Entlehnungen von seinen Vorgängern geht es freilich nicht ab bei einem solchen systematischen Aufbau. Die gewählten Beispiele sind jedoch alle aus dem eigenen Eindruck hervorgegangen und überraschen zuweilen durch ihren Freimuth. Ueber des Verfassers Ansicht von Goethe’s „Tasso“ z. B. würde die ehemalige Berliner Goethe-Gesellschaft keinen gelinden Schrecken empfunden haben. Dagegen ist auch manches seiner gewählten Beispiele zu sehr vom Zufall, von Berliner Begegnungen, guten Bekanntschaften hergenommen. Manches Beispiel ist dann auch wieder zu trivial. Ein Aesthetiker verweilt nicht immer bei Homer und Dante, aber er darf auch nicht hinuntersteigen zu Eckensteher Nante.

Ein neues Buch von Gervinus: „Shakespeare und Händel. Zur Aesthetik der Tonkunst“ (Leipzig, Engelmann, 1868) führt uns noch näher an die Gegensätze heran, die sich beim Streit über das Schöne befehden. Merkwürdig, diese neue Arbeit findet bis jetzt fast allgemeinen Widerspruch. Der berühmte Historiker hat in ein Wespennest gestochen, in die Selbstvergötterung der Musiker. Das ist die Folge geworden der „Lieder ohne Worte“ und der Herrschaft des Pianos im Salon, im Leben der Frauen, in der Erziehung der Kinder. Die Musiker haben ihre Kunst für eine völlig unvergleichliche erklärt. Notorisch ist sie allerdings insofern die allervollkommenste, als sie am sichersten über ihr Material gebietet. Die Instrumente müssen sclavisch ihre Schuldigkeit thun, was weder die Farbe, noch der Marmor, noch das Wort thun. Die unvollkommenste Kunst aber ist sie in Bezug auf ihren Inhalt. Dieser ist nicht Allen zu gleicher Zeit zugänglich und steht noch auf der Stufe jenes „Spieltriebes“, den Schiller, zu Herder’s Entsetzen, als den Anfang alles Künstlerthums bezeichnete. Jetzt wollen nun auch die Musiker den alten Vater Aristoteles Lügen strafen, der das ebenso bei den Idealisten wie bei den Realisten zu beherzigende Wort gesagt hat: alle Kunst beruhe auf Nachahmung. Sie behaupten nämlich, die Musik fände nichts in der Natur, was sie nachahme! Wahrscheinlich dachten sie dabei an Beethoven, der allerdings taub war.

Gervinus hat diesen Herren, die nie in einem Walde gewesen sein können, der vom Zwitschern der Vögel beinahe selbst Stimme gewann, nie auf einem Nachen, dessen Ruderschläge zum Gesang der Ruderer die untere Stimme bildeten, das Ohr geöffnet. Er hat vortrefflich die Anfänge der Musik erklärt und über die ersten historischen Entwicklungen derselben berichtet. Nur ist er in seiner verstimmten, düstern, man möchte fast sagen, vergrämelten Polemik zu weit gegangen. Er hebt die Vocalmusik über alle andere Musik hinaus und wirft der Musik der Instrumente Zweck- und Gedankenlosigkeit vor, selbst bei Beethoven! Alle seine noch so schön und gelehrt ausgeführten Erörterungen über den Ursprung der Musik aus dem Wort, aus dessen Dehnung und Betonung bei feierlichen Gelegenheiten, aus dessen Rhythmus und Accent in der Tragödie etc. scheinen ihn doch irregeführt zu haben. Der Uebergang von den Weherufen eines gequälten Ajax bis zu einer solchen Musik, die nach dem Glauben der Alten Berge versetzen, wilde Thiere zähmen konnte (wir haben leider nichts davon übrig behalten), ist ein so außerordentlich weiter, daß der geistvolle Autor besser gethan hätte, sich in seinen Analysen weniger in die Geschichte des Worts, als in die der Nachahmung der klingenden Natur zu verlieren, in die Einsamkeit der Hirtenknaben mit dem Haberrohr etc., kurz, beim Schiller’schen Spieltrieb zu verweilen. Leibnitzens Wort: aller Musik läge Zählen, die Rechenkunst zum Grunde, dieser tiefe Gedanke gründlicher ausgeforscht und die Ausdehnung geprüft, die im Gemüth des Menschen die Freude am Zählen, an proportionirten Verhältnissen und, so zu sagen, an klingender Mathematik haben kann, das würde den scharfsinnigen Denker von seinem mürrischen Schmollen auf eine Kunst geheilt haben, die allerdings herausfordernd genug jetzt geübt wird und eines aufräumenden Lessing dringend zu bedürfen scheint.

Wenn Sie aber fragen: „Ei, wie kommt denn Saul unter die Propheten? Was will jener gelehrte Heidelberger Herr Professor unter den Notenpulten und Tactirstöcken?“ so erinnere ich Sie an Sitten, die allerdings in Paris belacht werden würden, die Sie aber, als eine gute Deutsche und zumal als Frankfurterin, die ihren Cäcilienverein hochachten zu lernen auferzogen ist, in Schutz zu nehmen haben. In der That, in Heidelberg hat der berühmte Pandektist Thibaut die Sitte hinterlassen, daß Frauen, die inzwischen zu Hause ihre Kinder durch die Herausgabe der Puppenstube zu beruhigen suchen, gelehrte Professoren, die soeben auf der Anatomie einen Cadaver tranchirten, einen musikalischen Thee abhalten und mit den Notenblättern vor dem laokoontisch geöffneten Munde höchst feierlich Chöre aus dem Judas Maccabäus etc. etc. einstudiren. Denken Sie sich ebenfalls den Verfasser der deutschen Literaturgeschichte, der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts und der Analyse Shakespeare’s in diesen Reihen und, ich weiß nicht ob beim Baß oder beim Tenor angestellt, aber schwelgend vor Wonne, wenn die Kinder Israels eben einen stürmischen Angriff auf die Feinde Gottes zu machen beschlossen haben und dann auf das Fortissimo eines wilden Begeisterungschors das Pianissimo stillen Glaubens und trostreicher Zuversicht auf Erfolg eintritt. Dazu dann ein Kreis von in Heidelberg ansässigen Engländerinnen mit andächtigen Reminiscenzen aus einem Händel’schen Oratorium im Krystallpalast, in welchem dreißig Bässe, fünfzig Posaunen und tausend Sänger mitwirkten und jedes Wort, das man verstehen konnte, wenn nicht aus der Bibel entlehnt, doch der Bibel nicht ganz unwürdig war – etc. etc. Kurz, diese classische Hausmusik bezauberte den mit seiner Zeit zerfallenen Mann, dem schon lange nichts mehr am richtigen Platz zu stehen scheint und dessen Kritik auch vollkommen herausgefordert wird durch so vielerlei, was sich in diesen Tagen unendlich sicher und üppig gebehrdet. Jener Hausmusik ist sein Buch gewidmet. Die das letztere angegriffen haben, finden Schönes in Gervinus’ Parallele zwischen Shakespeare und Händel. Hier trenne ich mich von ihnen. Mir erscheint diese Vergleichung unfruchtbar. Was soll es, die Alpen mit dem Weltmeer vergleichen? Auch in den Alpen, ja, giebt es Wasser und das Wasser, ja, es thürmt sich auch zuweilen im Meer zu Bergeshöhen. Aber sind beide denn überhaupt commensurabel? Was besagt die Vergleichung? Shakespeare ist in seinem Lebensgang, in seinen Leistungen ein so völlig Anderer als Händel, daß ihre Zustammenstellung und das Herausbringen einzelner Aehnlichkeiten (wo bleibt nur allein Shakespeare’s Humor?) weder für den Einen noch für den Andern, am wenigsten aber für die allgemeinen Gesetze der Kunst etwas besagt. In den alten Schulen der Rhetoren nannte man eine solche Arbeit eine „Chrie“.

Ich schließe und, wie ich bekenne, noch ohne besondre Resultate. Aber, wenn Sie jetzt in einem Pariser Cirkel vielleicht St. Beuve oder Jules Simon begegnen und diese antworten Ihnen auf die Frage: „Meine Herren, was ist schön?“ mit einer Erklärung, die den Franzosen geläufig ist: „Madame, schön ist, was gefällt!“ so wissen Sie doch, daß sich Ihre Landsleute diese Frage schwerer gemacht haben und auch in der That mehr darüber wissen als andere Nationen. Das, worauf es ankommt, ist die richtige Verbindung der idealen Erklärung, derzufolge beim Schönen das Urtheil, und der realen, bei welcher das Gefühl betont wird. Das Gefühl muß wissen, wo es seine Empfindung unterzubringen hat. Das Schöne haftet nur insofern an den Dingen, als es auch an unsrer Betrachtung haftet. Gewiß hat Hegel Recht, die Schönheit einer Rose spricht für sich selbst und eine Camellie ist sogar schön, ohne daß sie uns die angenehme Empfindung macht, ihren Duft einathmen zu können. Das Schöne ist auch nicht die Farbe allein, die dem Auge wohlthut. Der Begriff des Schönen muß hervorgehen aus dem Ineinsverbundensein eines Gegenstandes wie er ist mit unsrer Vorstellung darüber. Der Apoll von Belvedere ist an sich nicht schön; er ist nur – richtig. Die Rose ist nicht schön; sie ist nur einfach eine Blume, wie sie ist und – immer sein sollte. Hierin liegt der Zauber des Schönen. In dem Gefühl, daß diese Welt unvollkommen und lückenhaft ist. Darum rührt uns das Schöne – wir trauern über sein Alleinstehen. Darum erhebt es uns – wir hoffen auf eine Welt der Vollkommenheit und der lückenlosen Harmonie.