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Literaturbriefe an eine Dame/XXIV

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Textdaten
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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame. XXIV.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 771–772
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[771]
Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf von Gottschall.
XXIV.


Wie sind Sie glücklich, verehrte Freundin, fern von dem Qualm der Städte ein beschauliches Leben führen zu können, ungestört von dem Lärm der gesellschaftlichen Vergnügungen, die, so verschieden ihre modischen Namen sein mögen, stets doch denselben Geist der Langenweile athmen! Sie kennen vielleicht noch gar nicht die modernen „Routs“, jenen höheren Grad verfeinerter Geselligkeit, bei welchem man auf die materiellen Genüsse verzichtet, ohne dafür geistige einzutauschen. Diese opferfreudige Verneinung jedes aufdringlichen Lebensgenusses zeigt, bis zu welcher Höhe der moderne Stoicismus sich erhoben hat; ja, er beschränkt sich nicht auf diesen Verzicht; er nimmt wirkliche Unannehmlichkeiten mit in den Kauf; denn mancher „Rout“ gleicht einem etwas civilisirten Volkstumult, mit leise angedeuteten Erstickungsgefahren; es ist oft unmöglich, einen nur zehn Schritt entfernten Bekannten zu erreichen und zu sprechen, weil der Weg zu ihm durch mehrere Kleiderschleppen und einige wie photographisch fixirte Gruppen versperrt ist, die sich nicht vom Platze rühren. Einer meiner Freunde, der in Folge einer unglücklichen philosophischen Neigung fortwährend auf der Jagd nach Begriffsbestimmungen für die Dinge dieser Welt sich befindet, erklärte mir einmal: „Ein Rout ist eine Gesellschaft, in welcher man nichts zu essen bekommt und sich gegenseitig auf die Füße tritt.“

Doch nicht von den „Routs“ wollte ich mich mit Ihnen unterhalten, sondern von einem andern gesellschaftlichen Vergnügen, ich meine vom Theater. Die „Routs“ gehören nicht in einen Literaturbrief, sie haben mit der Literatur nichts zu thun; – freilich! das Theater ist auch bald auf diesem Standpunkte angekommen; denn die Stücke, die am meisten gegeben werden, sind am wenigsten lesbar, und die meisten Treffer auf der Bühne sind Nieten für die Literatur. Sie haben seit Jahren vielleicht kein Theater besucht; Sie wissen nicht, wie einem Theatergänger zu Muthe ist, der fast allabendlich, mit dem Operngucker bewaffnet, Thaliens Tempel besucht und Studien auf der Bühne und im Zuschauerraume macht. Diese Theaterluft hat oft etwas Erstickendes; denn hier fehlt die äußere und dort die geistige Ventilation. Es weht durch unser ganzes Bühnenwesen eine etwas dumpfe Luft, und an dieser Verdumpfung haben die verschiedensten Factoren schuld.

Wir sind, verehrte Freundin, von der Lessing’schen Nationalbühne sehr weit entfernt. Ein berühmter Gelehrter am Neckar, der vier dicke Bände über Shakespeare geschrieben hat, verkündete einmal, das deutsche Volk werde erst ein großes historisches Drama haben, wenn es wieder Tragödien in der Wirklichkeit erleben würde.

Gervinus war stets unglücklich, wenn er den delphischen Dreifuß bestieg; auch in der Politik traf von Allem, was er prophezeite, das Gegentheil ein. So erging es ihm auch mit der Vorverkündung der im geschichtlichen Feuer wiedergeborenen Nationalbühne. Es kamen die Jahre 1848 und 1849, denen es durchaus nicht an geschichtlichem Sturme und Drange und an tragischen Begebenheiten fehlte; es kamen die Kriege von 1866 und 1870, die Gründung des neuen deutschen Reiches: Ereignisse, mit deren Bedeutung sich nichts von dem vergleichen läßt, was im Shakespeare’schen Zeitalter geschah, aber die deutschen Shakespeares, die große Tragödie blieb aus, mindestens auf der Bühne, deren Niveau immer mehr zu verflachen droht. Dramen, welche nationale Stoffe behandeln oder von patriotischem Geiste durchweht sind, lassen das Publicum kalt; ja, die Besiegten von Sedan sind die Sieger im deutschen Theater geworden, und französische Stücke überfluthen unsere Bühnen, nach 1870 noch mehr als früher. Deutschland im Schlepptau der französischen Cultur, und zwar nachdem das deutsche Kriegsschiff das französische in den Grund gebohrt hat: welch ein demüthigendes Schauspiel!

Die Abneigung gegen die ernste Dichtung höheren Stils ist eine Thatsache, die von allen Seiten zugestanden wird. So war es nicht in den Glanzepochen dramatischer Kunst, so nicht in Hellas in der glorreichen Zeit der griechischen Tragiker, so nicht im alten England, zur Zeit Shakespeare’s, so nicht in Deutschland, als Schiller seine Trauerspiele dichtete. Mit der Pflege der Tragödie sind alle classischen Epochen der Dichtkunst stets verbunden gewesen. Die Tragödie bleibt immer die höchste Gattung des Dramas; sie erfordert einen Dichter; die anderen Stücke lassen sich mit einem gewissen Maß von Bildung, Stil- und Bühnengewandtheit abfassen. Gleichgültigkeit gegen die Tragödie ist Gleichgültigkeit gegen die Poesie, und wo diese zur Signatur eines Zeitalters gehört, da ist es ein Zeitalter literarischen Verfalls.

Es ist ein eigen Ding um die Classicität, verehrte Freundin: Niemand weiß den Zeitpunkt zu bestimmen, wo sie einen Dichter mit ihrem Heiligenscheine umgiebt; ja es giebt der Ketzer genug, die sie nur für eine fixirte Mode halten. In der That ist es Mode, die Classiker zu besitzen und zu vergöttern, aber ihr Einfluß auf die Gesinnung unserer Zeit ist weit geringer, als man gewöhnlich glaubt. In wie vielen hunderttausend Exemplaren vom Palaste bis zur Hütte sind Schiller’s Werke verbreitet, wie macht sich die Jugend von den Dorfschulen bis zur Universität mit ihnen vertraut – und doch – kümmert sich unser Volk um seine ästhetischen Lehren? Wie hat er in seinen Distichen „Shakespeare’s Schatten“ den Realismus der Ifflandiaden, des bürgerlichen Dramas, gegeißelt, doch diese unsterblichen Gedenkverse sind in den Wind geschrieben; nach wie vor will das Publicum auf der Bühne nur die modernen Ifflands und Kotzebues: man glaubt wunder was für neue Genres entdeckt zu haben, wenn man im Stile von „Menschenhaß und Reue“ dichtet.

Das bürgerliche Drama, etwas verbirchpfeiffert und französirt, hat mit Lustspiel und Posse im Bunde fast die ausschließliche Herrschaft auf unserer Bühne.

Gewiß, auch diese Gattung hat ihr gutes Recht; wir finden sogar, daß Schiller zu scharf gegen sie in’s Feld gezogen ist; aber sie darf doch stets nur in zweiter Linie stehen. Sonst verwöhnt sie das Publicum. Es ist so bequem in den Spiegel zu sehen: man verlernt aber darüber, denn Blick höher hinauf zu richten.

Viele werden indeß leugnen, daß die Tragödie mit der Ungunst des Publicums zu kämpfen hat: wie, werden jetzt nicht sogar Shakespeare’s Historien zur Aufführung gebracht, oft in einem zusammenhängenden Cyclus, sodaß eine ganze Theaterwoche mit der tragischen Maske erscheint? Welch ein Fortschritt gegen das vorige Jahrhundert! Und wird nicht Goethe’s „Stella“, ja selbst der zweite Theil des „Faust“ jetzt auf die Bühne gebracht? Giebt man nicht überhaupt den „Faust“ in allen möglichen Einrichtungen und Gestalten, auf der eintheiligen und der dreitheiligen Bühne, in zwei, drei und fünf Theilen? als Mysterium, als Passionsschauspiel? Welch ein Respect vor der ernsten Dichtung!

Wir holen wenigstens das Versäumte nach und sind classischer, als das achtzehnte Jahrhundert war. Der zweite Theil des „Faust“ ist freilich eine Errungenschaft des neunzehnten; aber es sind Jahrzehnte vergangen, ehe man sich entschloß, ihn auf die Bühne zu bringen. Nun, er wirkt ja wie jedes Ausstattungsstück, bei dem es auf den Text nicht sonderlich ankommt. Was Goethe in das Stück hineingeheimnißt hat, kann ja auf der Bühne nicht ohne Commentar verstanden werden; dafür sieht man in dem Wirrwarr von halb und ganz allegorischen Scenen allerlei bunte, schönbeleuchtete Schaustücke, und wenn Musik und Tanz dazu kommt, so kommt ja ein Schauspielabend zu Stande, der sich mit einem Opernabend einigermaßen messen kann. Da schadet's ja auch nicht soviel, wenn man einmal das Textbuch vergessen hat und nicht recht weiß, was eigentlich auf der Bühne vorgeht. Was aber die Shakespeare’schen Historien betrifft, so sind wir Deutschen, abgesehen von dem, was des Dichters Genie unserem Geist und vor allem was die glänzende Inscenirung unserer Schaulust bietet, ja stets geneigter, uns für britischen Patriotismus zu erwärmen, als uns von unserem eigenen erwärmen zu lassen.

Nein, verehrte Freundin, ich sehe in allen diesen Experimenten nur Triumphe des Epigonenthums und finde, daß der Hochdruck einer mit so vieler Pferdekraft von Commentaren, Bühneneinrichtungen, Zeitungsnotizen arbeitender Classicität auf der Entwickelung unserer neuen Literatur in verhängnißvoller Weise lastet. Es wäre eine Schande für die Bühne, wenn sie nicht das Große der großen Dichter auf ihrem Repertoire bewahrte, aber das Verfehlte der schlafenden Homere, das Schwächliche und Grillenhafte, das Altersschwache und Veraltete, das Fremdartige gehört nicht auf die Bühne; das möge man der Literaturgeschichte und dem Privatstudium überlassen!

Durch die Darstellung der classischen Tragödien glaubt man [772] sich aber mit der ernsten dramatischen Dichtung überhaupt abgefunden zu haben. Viele erste Hofbühnen dispensiren sich jetzt von der Pflicht, ein dichterisch gehaltenes Trauerspiel im Laufe der Saison zur Ausführung zu bringen. Die Berliner Hofbühne z. B. hat das Repertoire der nächsten Saison veröffentlicht; es finden sich auf demselben nur Salonstücke nach der neuesten Mode, kein einziges poetisches Werk. Doch Sie wenden vielleicht ein, verehrte Freundin, daß die Intendanzen die Poesie nicht aus der Erde stampfen können?

O nein, an poetischen Werken fehlt es nicht; haben doch erst drei dramatische Dichter neulich den Schiller-Preis erhalten. Wenn Sie meinen Worten nicht glauben, so glauben Sie diesem Comité, das ja der Sage nach aus lauter dramaturgischen Autoritäten zusammengesetzt ist. Nach den zwei vorausgehenden Triennien wurde der Schiller-Preis überhaupt nicht ausgetheilt: man wollte nur Unsterbliches krönen, doch man fand nichts Unsterbliches; möglich, daß es irgendwo hinter dem Rücken des Comités gedeiht: die Unsterblichkeit einer Dichtung gehört nicht so zu ihren sichtbaren Merkmalen wie die Pistille und Staubgefäße zur Pflanze; man kann sie ihr nicht ansehen. Gleichviel, der letzte Schiller-Preis ist wieder ausgetheilt worden; unter den preisgekrönten Dichtern befinden sich zwei Tragöden; was ist da natürlicher, als daß von Berlin aus eine bengalische Beleuchtung über alle Theaterrepertoires ausströmt, daß die tragische Muse mit der Berliner Lorbeerkrone auf hohem Kothurn über alle Bühnen schreitet? In Frankreich wäre es wenigstens selbstverständlich, daß eine von der Akademie gekrönte Tragödie auf der ersten Pariser Bühne und auf allen Bühnen des Landes zur Aufführung käme. Das ist in Deutschland ganz anders; eine solche Preiskrönung ist ein Schlag in’s Wasser. Sie geht durch alle Zeitungen; die Poeten erhalten ihre tausend Thaler, und damit ist’s abgethan.

Das scheint Ihnen unglaublich, und doch ist es noch nicht das Schlimmste. Die Sache ist noch viel pikanter. Im Preiscomité sitzen viele Bühnenleiter, Herr von Hülsen selbst, Dr. Förster in Leipzig und Andere; die Stücke, um deren willen, nach dem Bekenntniß eines Preisrichters selbst, Wilbrandt und Nissel[WS 1] den Preis erhielten, „Chriemhild“ und „Agnes von Meran“, sind von jenen Intendanten und Directoren sogar an ihren eigenen Bühnen noch nicht gegeben worden. Es ist wie bei einer Thierschau: man prämiirt irgend ein schönes Zuchtthier; man braucht es deshalb aber doch nicht für den eigenen Stall einzukaufen. Ein Glück, daß unsere Nachbarn jenseits des Rheins sich um unsere inneren literarischen und theatralischen Zustände so wenig kümmern: das wäre ein prächtiger Stoff für die boshaften Artikelschreiber der „Revue des deux mondes“, und bei dem esprit de corps, der jenseits des Rheines herrscht, würde diese Probe deutscher Anarchie dort einen höchst belustigenden Eindruck machen.

Sie sehen, verehrte Freundin, der Tragödie ist einmal nicht zu helfen, und es geht ihr schlechter, als der Copirtinte und den Stahlfedern, womit sie geschrieben wird; denn wenn diese bei irgend einer Ausstellung eine Medaille erhalten haben, so gehen sie wenigstens im Handel. Das Trauerspiel hat einen großen Feind, und dieser Feind ist allmächtig in seinem geheimen Wirken: es ist der Cassenrapport. Ein paar Rubriken und ein paar Zahlen: das ist alles; doch keine Kabbala kann einen größeren Zauber ausüben. Volle Rubriken, große Zahlen … das ist der Beweis für eine erfolgreiche glänzende Bühnenleitung; leere Rubriken, kleine Zahlen … da richtet sich das drohende Gespenst des Deficit empor, das in den Träumen der Intendanten eine ebenso unheimliche Rolle spielt, wie in denen der Privatdirectoren. Das Thermometer der Casse hat aber einen gewissen Nullpunkt: wenn eine Novität bei irgend einer Aufführung unter diesen herabsinkt, so wird sie beiseite gelegt – und es kann dies einem Trauerspiel schon bei einer zweiten und dritten Aufführung passiren. Da giebt es keine Appellinstanz mehr, und selbst die Berufung auf die Unsterblichkeit wird als unzulässig verworfen.

Herr von Hülsen ist ein liebenswürdiger Cavalier und ein tüchtiger zuverlässiger Geschäftsmann; dabei besitzt er die naive Offenheit, die ja auch in der Berliner Diplomatie jetzt zum guten Ton gehört. Er drapirt sich nicht geschmackvoll in Phrasen und Flausen; er sagt, was er denkt. Eines Tags kam ich mit ihm auf einem Rheindampfer zusammen, und trotz des wunderbaren Duftes, der über dem Rheingau lag, sprachen wir von der pappenen Coulissenwelt. Da erklärte er mir, daß er sich nur nach dem Geschmack des Publicums richte und demselben niemals ein Stück octroyiren werde. Ich führe das nur an, weil es das Glaubensbekenntniß aller Intendanten und Directionen ist. Und doch wird dieser sich selbst überlassene Geschmack die leichteste Kost wählen, stets das bequemste Vergnügen suchen. Alle bedeutenderen Dichtwerke werden nicht gleich auf ein so bereitwilliges Verständniß stoßen; von dem Verhältniß des Publicums zu ihnen gelten die Goethe’schen Verse:

„So nimmt ein Kind der Mutter Brust
Nicht gleich am Anfang willig an,
Doch dann ernährt es sich mit Lust.“

Und das Publicum selbst, als höchste Instanz?

Welch ein ungreifbares flatterhaftes Wesen, heute anders als gestern, hier anders als dort, unter der Herrschaft der Reclame oder der Mode stehend, bisweilen selbst unter der Herrschaft der Claque: welche literarische Erbärmlichkeiten sind nicht von diesem Publicum schon beifällig aufgenommen worden! Der Director in Goethe’s „Faust“ ruft dem Dichter zu:

„Seht nur hin, für wen ihr schreibt!
Wenn diesen Langeweile treibt
Kommt jener satt vom übertischten Mahle,
Und was das Allerschlimmste bleibt,
Gar Mancher kommt vom Lesen der Journale.
Man eilt zerstreut zu uns wie zu den Maskenfesten,
Und Neugier nur beflügelt jeden Schritt.
Die Damen geben sich und ihren Putz zum Besten
Und spielen ohne Gage mit.“

Das ist die Stimmung eines Theaterabends: sie kommt dem Flachen entgegen, dem Bedeutenden nur dann, wenn sein Verdienst ihr seit Jahrzehnten eingetrichtert worden ist. Mag dieses Publicum immerhin für die Intendanzen nur eine „ziffermäßige“ Bedeutung haben: sein Urtheil, auch wie es sich in Besuch und Nichtbesuch ausspricht, darf nicht allein den Ausschlag geben; reich dotirte Hoftheater haben auch die Pflicht der Geschmacksbildung, die Pflicht, die dramatischen Talente zu pflegen, und wenn ein Bühnenleiter eine starke Ueberzeugung von dem Werthe eines Dichtwerkes hat, so wird er dasselbe, auch bei anfangs nicht günstigen Cassenerfolgen, doch auf dem Repertoire zu erhalten wissen, indem er es in gemessenen Zwischenräumen wieder bringt.

Aber die Tragödie, verehrte Freundin, stößt noch auf andere Hindernisse. Es giebt wenig darstellende Talente für Charaktere, die im großen Stil gehalten sind; das Imponirende, Machtvolle, Heroische uns vorzuführen, fehlen oft die Mittel, öfter noch die Gewöhnung an große Aufgaben; es giebt Bühnen ersten Ranges, die keinen Helden und keine Heldin haben. Und dann – last, not least – die Kritik, verehrte Freundin! Es giebt glänzende Ausnahmen, aber ein großer Theil der Tageskritik liegt in den unberufensten Händen; sie begreift den Geist auf der Bühne, der ihr gleicht, den Geist der Trivialität, der faden Witzhascherei; sie läßt das Mittelmäßigste passiren, aber dem echten Dichtwerk tritt sie oft mit dem wohlfeilen Hohne ästhetischer Unbildung entgegen und mit dem ganzen Hochmuthe vermeintlicher Ueberlegenheit.

Auch das Lustspiel hat zum Theil seinen echten Charakter verloren: es ist ein Schwank geworden – und wir haben ganz muntere Schwankdichter – oder es schielt nach der rührseligen französischen comédie, deren gewagte Conflicte es indeß soweit verwässert, daß die Mischung für Confirmandinnen unschädlich ist. Auch hier fehlt es nicht an artigen und gewandten Talenten. Das sociale Schauspiel wird jetzt in der Regel stark mit criminalistischen Elementen versetzt. Dann aber giebt es noch eine unsagbare Dramatik, welche ganze Bühnen ausschließlich beherrscht, die aber für die Literatur verloren ist: pikante Operetten, Vaudevilles, Gesangpossen und großartige, aber alberne Ausstattungsstücke, fast alles ganz- oder halbfranzösischen Ursprungs, alles geeignet, das Publicum an das Fade und Nichtige zu gewöhnen und die bequemste Zerstreuung als den letzten Zweck der Bühne zur Gewohnheit zu machen.

Ich habe Ihnen, verehrte Freundin, kein Lichtbild unseres Theaterwesens entrollt, doch ich bin kein Pessimist und glaube nicht an seinen vollständigen Niedergang. Es ist dies eine Uebergangsperiode; sie wird sich vielleicht noch kritischer gestalten; hoffentlich wird diese Krisis eine wohlthuende sein.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nissen