Noch einmal „Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“
Noch einmal „Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“.
„Gedenket eurer Brüder zur See!“
Im Sinne dieser Worte erließ die „Gartenlaube“ vor fünfzehn Jahren (vergl. 1866; Nr. 22) einen Mahnruf an ihre Leser.
Er galt dem Aufbau eines Werkes, das, auf dem Fundament echter Humanität ruhend, unter seinem schirmenden Dache alle wahren Menschenfreunde des Gesammtvaterlandes vereinigen und sie mit einem schönen geistigen Bande umschlingen sollte. Die Mahnung verhallte nicht ungehört; sie fand vielfach fruchtbaren [231] Boden in den Gemüthern in Nord und Süd, in allen Confessionen, in allen Ständen, bei Reich und Arm. Das humane Werk erstand, und mit ihm vollzog sich eine Einigung unseres Volkes auf ethischem Gebiete, wie sie würdiger der so lange und heiß ersehnten politischen Einigung nicht vorangehen konnte.
Am 29. Mai 1865 wurde in Kiel „Die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ gegründet. Nahe an hundert patriotische Männer aus den verschiedenen Landestheilen waren dort zusammengetreten, um über die geeigneten Mittel zu berathen, wie auf wirksame Weise den Unglücklichen Hülfe gebracht werden könne, deren Schiffe durch Sturm und Wogendrang an die deutschen Küsten geschleudert wurden und die ohne solche Hülfsmittel einen sichern und meistens qualvollen Tod in den Fluthen finden mußten. Alle jene Männer waren von dem Gefühle beseelt, daß das bisherige Fehlen solcher Hülfsmittel in schreiendem Gegensatze zu der gerühmten deutschen Civilisation stehe, und daß eine unentschuldbare und schwerwiegende Versäumniß der Nation gut zu machen sei, wollte diese sich nicht dem berechtigten Vorwürfe der Herzlosigkeit aussetzen.
England hatte schon seit Ende des vorigen Jahrhunderts sich von einem solchen Vorwürfe freizumachen gesucht. Es ging in dieser Richtung allen übrigen Nationen mit gutem Beispiele voran. Bereits 1790 wurde dort das erste Rettungsboot gebaut, und sein Erfinder, Lukin, setzte sich damit im Herzen der Menschenfreunde für alle Zeiten ein ehrendes Denkmal. Auch bildeten sich dort freie Vereine zur Rettung Schiffbrüchiger, und wenn dieselben bezüglich ihrer Wirksamkeit bis zum Jahre 1850 wechselnde Phasen durchzumachen hatten und nicht immer die nöthige Unterstützung fanden, so wurden durch sie dennoch 25,000 Menschen vor sicherem Tode bewahrt. Da vollzog sich in jenem Jahre unter der Aegide des Herzogs von Northumberland eine durchgreifende Reorganisation dieser Vereine; sie vereinigten sich zu einem alle britischen Küsten umfassenden Ganzen, das den Namen „Royal National Lifeboat Institution“, annahm, und seitdem von den wärmsten und thatkräftigsten Sympathien des englischen Volkes getragen wird.
Heute verfügt der Verein über mehr als dreihundert Rettungsstationen; ihre muthvollen Leistungen haben seinen Ruhm aller Welt verkündet, und seit den dreißig Jahren seines Bestehens danken ihm ebenso viele Tausende Schiffbrüchiger das Leben. Langsam folgten die übrigen Staaten dem Beispiele, Deutschland so beschämend dieses Eingeständnis; ist – zuletzt.
Zwar beschaffte Preußen seit 1850 für seine Küsten einige Stationen, aber nur in geringer Zahl, und es ist nicht bekannt geworden, daß sie irgend welche Erfolge gehabt haben. So befremdend dies klingen mag, ist es doch nur in der menschlichen Natur begründet: Menschenliebe läßt sich von Seiten des Staates nicht befehlen. Wo es sich darum handelt, Andere mit Einsatz des eigenen Lebens zu retten, vermögen äußerliche vom Staate durch Anstellung und Gehalt auferlegte Pflichten nicht das leitende Motiv zu werden, und solche Pflichten werden dann stets nur in den geringst zulässigen Grenzen erfüllt. Soll dies in vollem Maße geschehen, so müssen innere Impulse dazu anspornen, Nächstenliebe und selbstlose Aufopferungsfähigkeit – diese aber kann nicht gleißendes Gold, sondern nur der Gemeinsinn und die Unterstützung der öffentlichen Meinung wecken und wach halten, wenn das gesammte Volk an dem Rettungswesen thätigen Antheil nimmt, wenn es die erforderlichen Mittel zur Aufstellung und Erhaltung der besten Apparate an den gefährlichen Küstenpunkten beschafft und wenn es die Thaten der Rettungsmannschaften nicht nur mit Geld belohnt, sondern ihnen auf geeignete Weise ein dauerndes und ehrendes Andenken im Herzen der Nation sichert. Dadurch nur und durch das Bewußtsein, im Auftrage und im Namen des ganzen Deutschlands zu handeln, werden auch die Strandbewohner bewogen werden, den Schiffbrüchigen aus eigenem Antriebe zu Hülfe zu kommen und den damit verbundenen Gefahren kühn und muthig entgegen zu treten.
Von dieser Ueberzeugung durchdrungen, sagten sich die hundert Männer in Kiel, daß das zu gründende Werk, wenn es die daran geknüpften Hoffnungen erfüllen solle, ein nationales, unsere gesammten Küsten umfassendes werden müsse, ein Werk, an dessen Aufrichtung und Unterhaltung das ganze deutsche Volk Theil zu nehmen habe.
In diesem Sinne hielten jene einmüthig zusammen, und auf dem wiedergewonnenen deutschen Boden Schleswigs gewannen wir hierdurch ein neues Pfand für unsere nationale Einigung. Es wurde dort eine edle deutsche Geistesthat geboren, die dem gemeinsamen Vaterlande Ehre gebracht hat und ihm fortan hoffentlich immer mehr zur Ehre und zum Rühme gereichen wird.
Die schon früher in den Jahren 1861 bis 1864 aus der Initiative einzelner Küstenstädte hervorgegangenen Einzelvereine gaben im Interesse der guten Sache ihre bisherige Selbstständigkeit auf und ordneten sich dem großen Ganzen unter. In ihrer Zahl befand sich auch der Emdener Verein, welcher dank der energischen Leitung des um das deutsche Seerettungswesen hochverdienten Steuerraths Breusing sich besonders ausgezeichnet und in drei Jahren an den Küsten der friesischen Inseln 87 Menschen gerettet hatte.
Die heroischen Thaten jener friesischen Rettungsboote hatten bewiesen, daß den Bestrebungen der neugegründeten „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ die nothwendige Grundlage für ein gedeihliches Wirken nicht mehr fehlte; sie waren ein redender Beweis dafür, daß in den Gemüthern der deutschen Küstenbewohner sich in den letzten drei Jahrzehnten eine Wandelung vollzogen hatte, ohne welche jedes Opfer binnenländischer Menschenfreunde vergeblich gewesen wäre.
Jene Thaten hatten gezeigt, daß der finstere Geist mittelalterlicher Barbarei, der noch so traurig lange auf unserer Strandbevölkerung gelastet, endlich gewichen sei. Wenn noch im Jahre 1827 König Friedrich Wilhelm der Dritte auf der Insel Rügen das Kirchengebet untersagen mußte, welches die grausame Bitte um einen gesegneten Strand einschloß, so war seitdem ein heller Strahl in das Dunkel der Herzen gefallen und hatte die Küstenbewohner mit edlen Gefühlen beseelt, sodaß sie in den Strandungen nicht mehr eine willkommene Beute, sondern ein furchtbares Unglück, und in den Schiffbrüchigen nur noch um Mitleid flehende Mitmenschen erblickten, denen Hülfe gebracht werden müsse.
Das erste glänzende Resultat dieser glücklichen Wandelung war die Rettung jener siebenundachtzig Menschen auf den friesischen Inseln gewesen. Gar oft waren die Bootsfahrten der Küstenretter mit grausiger Gefahr verbunden; gar oft drohte die kochende Brandung ihr winziges Fahrzeug zu verschlingen, aber unentwegt, voll kühnen Muthes und Gottvertrauens gehorchten sie der inneren Stimme ihres Herzens und fuhren hinaus durch Sturm und Nacht, um ihren Brüdern zu helfen, denen aus dem nassen Grabe zu ihren Füßen der Tod entgegengrinste.
Auf solcher Grundlage fußend, durfte die „Deutsche Gesellschaft“ mit Zuversicht freudigen Erfolgen ihres humanen Strebens entgegensehen, und sie sind nicht ausgeblieben.
Werfen wir einen Blick auf die materiellen Leistungen der Gesellschaft in den fünfzehn Jahren ihres Bestehens, so zeigt uns dieselbe nur Erfreuliches. Es wurden in dieser Zeit von Memel bis Emden neunundachtzig Rettungsstationen errichtet, unter ihnen dreißig Doppelstationen, die mit Rettungsboot und Raketenapparat ausgerüstet sind; ferner neununddreißig Boots-, eine Mörser- und neunzehn Raketenstationen. An der Nordsee befinden sich von den Rettungsstationen zwei, von den Bootsstationen zweiunddreißig, von den Raketenstationen drei; die übrigen sind an der Ostseeküste vertheilt. –
Die Kosten der Errichtung und Unterhaltung dieser Stationen, werden lediglich aus freiwilligen Beiträgen bestritten, welche die ordentlichen oder außerordentlichen Mitglieder der Gesellschaft jährlich oder einmalig beisteuern. Ordentliche Mitglieder sind solche, welche sich zu einem fortlaufenden jährlichen Beitrage, dessen Minimalsatz 1,50 Mark ist, verpflichten, außerordentliche Mitglieder oder Stifter solche, welche dem Verein eine einmalige Gabe von mindestens 75 Mark zuwenden. Die Gesellschaft begann ihre Thätigkeit 1865 mit rund 3900 ordentlichen Mitgliedern; bis zum 1. Januar 1881 hatte sich diese Zahl auf 34,300 mit jährlich rund 112,000 Mark Beiträgen erhöht, während 1364 außerordentliche Mitglieder einmalige Schenkungen in der Höhe von zusammen 425,000 Mark gemacht hatten. Die Gesammteinnahme seit der Begründung betrug 2,000,000, die Ausgabe 1.600,000 Mark, von denen 650,000 auf die Errichtung und 500,000 Mark auf die Unterhaltung der Stationen verwendet, während nahe an 400,000 Mark einem Reservefonds zugeführt worden sind, welchen die Gesellschaft möglichst zu vergrößern bestrebt ist, um die erfolgreiche Thätigkeit ihrer Anstalten gegen alle Schicksale sicher zu stellen.
Die Organisation des Vereins ist eine sehr einfache. Sein Sitz ist Bremen und sein Vorsitzender der dortige Großkaufmann
[232][234] Consul H. H. Meyer, der dieses Ehrenamt bereits seit 1865 bekleidet. Unter ihm fungiren als Mitglieder des Vorstandes ein besoldeter General-Secretär und ein Inspector. Die Gesellschaft gliedert sich bis jetzt in 48 Bezirksvereine und 154 Vertreterschaften, deren wesentlicher Unterschied in der Zahl ihrer Mitglieder besteht. Von den Bezirksvereinen sind 21 Küstenbezirke, die übrigen binnenländische. Ersteren sind die verschiedenen Stationen unterstellt, und wird ihnen mit Bezug auf deren Wirksamkeit größtmögliche Selbstständigkeit gelassen. Am jedesmaligen Stiftungstage der Gesellschaft (29. Mai) wird eine Jahresversammlung abgehalten, vom Präsidium über den Stand und die Thätigkeit des Vereins Bericht erstattet und über die eingegangenen Beiträge und Neuerrichtungen, Verbesserungen etc. von Stationen oder über andere wichtige Angelegenheiten Beschluß gefaßt. Die beschließende Versammlung besteht aus Delegirten der Bezirksvereine und solcher Vertreterschaften, die über 200 Mitglieder zählen. Die Vorstände der Bezirksvertreterschaften fungiren sämmtlich ehrenamtlich.
Für den eigentlichen Rettungsdienst sind an Bootsmannschaften und für die Bedienung der Raketenapparate ungefähr 500 Personen engagirt, von denen jedoch nur die Vorleute der Stationen für die stete Beaufsichtigung und Instandhaltung des Materials eine feste, wenn auch nur geringe Besoldung beziehen. Die Uebrigen erhalten bei Uebungen und wirklichen Rettungen eine entsprechende Vergütung für die versäumte Zeit und außerdem für jeden aus wirklicher Seegefahr geretteten Kopf eine Prämie von 20 Mark, die in außerordentlichen Fällen bis auf 40 Mark erhöht werden kann. Eine Prämie von 5 Mark erhält derjenige, welcher einer Rettungsstation die erste Nachricht von einer Strandung überbringt. Jene Prämien werden auch an Besatzungen fremder Schiffe gezahlt, die durch actives Eingreifen deutsche Seeleute an deutschen Küsten retten, während an außerdeutsche Rettungsstationen, welche Mannschaften deutscher Schiffe geborgen, oder an deutsche Schiffe, welche in außerdeutschen Gewässern Rettungen vollführt haben, Diplome und Medaillen verliehen werden. Bis jetzt sind von der Gesellschaft 40,000 Mark an Prämien gezahlt, 8 goldene, 52 silberne Medaillen und 10 Ehrendiplome vertheilt worden.
Um den Rettungsmannschaften die Sicherheit zu geben, daß im Falle eines ihnen zustoßenden Unglücks ihre des Ernährers beraubten Familien nicht hülflos zurückbleiben, ist das Leben eines Mannes von der Gesellschaft für 2500 Mark versichert und außerdem dafür Sorge getragen worden, daß die Hinterbliebenen vor Noth geschützt werden. Glücklicher Weise sind solche Unfälle, obwohl sie sehr häufig erwartet werden müssen, seither erst zweimal eingetreten, und Gott mag sie ferner verhüten!
Eine wesentliche Bedingung für die Leistungen der Stationen ist neben der seemännischen Tüchtigkeit und Unerschrockenheit des Personals natürlich die gute und möglichst vollkommene Beschaffenheit des Materials, da hiervon nicht nur die wirksame Hülfeleistung, sondern auch häufig das Leben der Retter selbst abhängt.
Jeder, der einmal an einer Seeküste einen schweren Sturm erlebt hat, wird kaum begreifen können, daß Menschenkraft es vermag, vom Strande aus in einem gebrechlichen Boote sich einen Weg durch die tobende Brandung und den heulenden Sturm zu erkämpfen, deren vereinte Gewalt allen Anstrengungen Hohn zu sprechen scheint. Und dennoch leistet gerade unter solchen Umständen das Rettungsboot seine vorzüglichsten Dienste und feiert seine schönsten Triumphe.
Furchtlos, mit kühnem Muthe, eisernen Kräften und seemännischem Geschicke rollt seine Besatzung das Fahrzeug vom Ufer in die empörte Fluth, schwingt sich hinein und treibt es, lediglich mit seiner Hände Macht, oft stundenweit durch die brausenden Wogen, bis es sein Ziel erreicht hat. Die braven Ruderer achten nicht des Grabes, das stets neben ihnen gähnt. Zoll für Zoll kämpfen sie ihren Weg den empörten Elementen ab, bald hoch auf der Spitze des donnernd überbrechenden Wogenkammes schwebend, bald jäh hinabschießend in das Wellenthal und von dampfendem Gischte übersprüht. Wie oft ihr Boot auch von der Gewalt der anstürmenden Fluthen zurückgeworfen wird, immer wieder und unermüdlich tauchen die Ruder ein. „Vorwärts! vorwärts! Dort auf dem Wrack sind Menschen zu retten“ – das ist die Losung der Braven, und sie kämpfen muthig weiter, bis sie den Sieg errungen. Wahrlich! es giebt keine heroischere, keine glänzendere That, als das von reiner Nächstenliebe dictirte Werk eines solchen Rettungsbootes; es verdient eine Bürgerkrone und die Bewunderung und regste Theilnahme aller Menschen.
Natürlich muß ein Boot, welches bestimmt ist, eine solche Arbeit zu verrichten, besonders construirt sein, um nicht beim ersten Anprall der schweren Brandung der Sarg seiner eigenen Besatzung zu werden. Neben der Fähigkeit, auch bei hoher See und wildem Sturm mit Rudern vorwärts zu kommen, muß es unversinkbar sein, sich selbst entleeren, wenn es vollschlägt, sich von selbst wieder aufrichten, wenn es, trotz großer Stabilität, von der Gewalt der Wogen umgeworfen wird. Der Technik wurden damit schwierige Aufgaben gestellt, und es dauerte volle sechszig Jahre, ehe sie dieselben lösen konnte. Seit zwei Jahrzehnten sind sie in dem englischen Normalrettungsboote wirklich gelöst worden.
Feine Linien, ein richtiges Verhältniß der Länge zur Breite, nicht zu hohe Lage über Wasser und ein bestimmtes Trägheitsmoment vermitteln die Manövrirfahigkeit. Die Unversinkbarkeit ist das Resultat von Luftkasten an den Seiten und Enden des Bootes, deren Auftrieb das Gewicht des Bootes übersteigt. Die Selbstentleerung wird durch einen doppelten, luftdichten Boden veranlaßt, dessen obere Fläche zehn bis zwölf Centimeter über der Wasserlinie liegt und der von sechs offenen Röhren vertical durchzogen wird. Durch sie muß das hereinschlagende Wasser dem Gesetze der Schwere gemäß ablaufen, da der Auftrieb der Luftkasten einem Niederdrücken des Bootes durch das Gewicht des hineingeschlagenen Wassers entgegenwirkt. Die Wiederaufrichtung endlich erfolgt durch das Zusammenwirken dreier Factoren: der vorderen und hinteren Luftkasten, der concav gekrümmten Form der oberen Bootsfläche und des sechs bis sieben Centner schweren eisernen Kieles, mit dem das Boot ausgerüstet ist und der außerdem letzterem große Stabilität verleiht, sowie er gleichzeitig den Ballast erspart. Schlägt das in der Mitte hohle Boot um, so ruht es auf den beiden Endluftkasten, und sein Schwerpunkt, der eiserne Kiel, befindet sich oben in der Luft. Die naturgesetzliche Folge ist aber, daß es bei der nächsten Wellenbewegung wieder zurückschlagen und sich auf seinen Kiel legen muß. Ein solches Umschlagen passirt zwar wegen der großen Stabilität selten, aber dennoch ist es vorgekommen, daß ein Boot auf derselben Rettungsfahrt zweimal umgeschlagen ist. Die mit Korkjacken ausgerüsteten Mannschaften kletterten beide Male trotz schwerer Beschädigungen wieder in’s Boot und retteten die Schiffbrüchigen. Ehre diesen Braven!
Während jedoch diese Normalboote überall an den englischen Küsten eingeführt sind und mit ihnen die großartigsten Rettungsthaten vollführt werden, können sie wegen ihres Gewichtes von fünfundvierzig Centner bei uns leider nur an einzelnen günstigen Punkten Verwendung finden. In England besteht die Küste fast überall aus festem Boden; sie hat eine dichte Bevölkerung und gebahnte Straßen. Deshalb lassen sich dort die Boote trotz ihrer Schwere verhältnißmäßig bequem längs des Strandes transportiren, und zwar selbst größere Strecken weit.
Unser Strand ist dagegen zum größten Theil aus losen Sanddünen gebildet, seine Bevölkerung so dünn gesäet, daß man oft meilenweit kein Dorf oder Haus findet, und an gebahnten Wegen fehlt es fast überall. Unter diesen Umständen ist es ganz unmöglich, mit einem Normalboote, dessen Gewicht sich durch seinen Transportwagen verdoppelt, durch den Sand zu gelangen, und unsere Stationen haben deshalb bis auf einen kleinen Bruchtheil mit anderen Modellen, den nach ihrem amerikanischen Erfinder also benannten Francisbooten, versehen werden müssen, welche, aus cannellirtem Eisenblech gefertigt, nur halb so viel wie die Normalboote wiegen. Freilich entbehren sie leider der Fähigkeit, sich selbst zu entleeren und wieder aufzurichten, sind aber sonst vorzügliche Seeboote und haben schon Großes geleistet.
Natürlich richtet die Gesellschaft ihr Augenmerk darauf, auch diese Boote stets zu verbessern, und gelingt dies allmählich immer mehr. Eine gewiß sehr große Anerkennung dieser Bestrebungen sowie überhaupt des gesammten deutschen Küstenrettungswesens liegt darin, daß die Gesellschaft nicht nur auf den Weltausstellungen in Paris, Wien und Brüssel, welche sie mit ihren Rettungsgeräthen beschickte, die höchste Auszeichnung erhielt, sondern kürzlich auch der französischen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger für Port Mardyck zwischen Dünkirchen und Gravelingen ein Rettungsboot nebst Transportwagen zu liefern hatte.
Nicht minder befriedigend sind die Leistungen der deutschen Raketenstationen; von ihnen wird bis auf vierhundertfünfzig Meter Entfernung mittelst einer Acht-Centimeter-Rakete eine an diese befestigte dünne Leine über das gestrandete Schiff geschossen und mit [235] ihrer Hülfe dann durch dickere Taue eine Brücke hergestellt, auf der die Schiffbrüchiger in einem Rettungskorbe an das Land befördert werden. Die im Spandauer Laboratorium gefertigter Raketen sind die bisher vollkommensten ihrer Art. Aber auch auf andere Weise, und zwar auf literarischem Gebiete, ist die Gesellschaft beständig bemüht, ihre segensreiche Thätigkeit zu erweitern.
Es ist leider häufig vorgekommen, daß Schiffsmannschaften, die sehr wohl gerettet werden konnten, lediglich aus dem Grunde umgekommen sind, weil sie – man sollte wohl sagen unbegreiflicher Weise – absolut nichts mit der ihnen vom Lande zugebrachten Hülfe anzufangen wußten und keine Kenntniß davon hatten, was sie z. B mit der über das Schiff geschossenen Raketenleine beginnen sollten. Um der Wiederkehr solcher und ähnlicher betrübender Fälle vorzubeugen, hat die Gesellschaft seit mehreren Jahren ein Büchlein zusammenstellen lassen, betitelt. „Seemann in Noth“, das gratis an alle deutsche Schiffe vertheilt wird. Dasselbe enthält in Kürze das Wissenswerthe über Rettungsgeräthe und die Rettung Ertrinkender, ferner ein Verzeichniß der deutschen Rettungstationen, sowie weitere Anweisungen über zweckmäßige Maßregeln in Fällen von Seenoth. Die in fünfter verbesserter Auflage erschienene Schrift ging in 20,000 Exemplaren in die Welt, und es kann nicht fehlen, daß ihre Verbreitung die besten Früchte tragen wird. Ebenso versendet der Verein in vierteljährlichen Lieferungen sein Organ „Von den Küsten und aus der See“, in dem alles auf das Rettungswesen Bezügliche behandelt wird, soweit es das große Publicum interessiren kann. Diese Hefte sind durch alle Buchhandlungen zu beziehen und kosten jährlich l Mark 50 Pfennig.
Somit darf man sagen, daß die deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger seit der Zeit ihres Bestehens unermüdlich und mit Erfolg bestrebt gewesen ist, dem schönen und hohen Ziele, das sie sich gesteckt, immer näher zu kommen Die von ihr geretteten 1200 Menschen sind ein sprechender Beweis dafür. Wohl ist der Gedanke an die Resultate erhebend, und wohl gebührt tausendfacher Dank Allen, welche ihr Scherflein dazu beigetragen haben, die Stationen in’s Leben zu rufen, aber noch ist lange nicht genug geschehen. Noch sind unsere deutschen Küsten nicht soweit mit Hülfsmitteln ausgerüstet, daß sie keiner weiteren bedürften; noch sind die vorhandenen nicht soweit vervollkommnet, wie dies möglich ist; noch stehen im Rettungswesen andere Länder uns voran – und das ist die Ursache, daß noch so mancher Schiffbrüchige, der gerettet werden konnte, sein Grab in der Tiefe fand.
Die 34.000 Mitglieder der Gesellschaft repräsentiren noch nicht den tausendsten Theil unserer Nation. Wäre die Betheiligung auch nur die doppelte, so würde sie hinreichen, in wenigen Jahren unser Rettungswesen auf die Stufe möglichster Vollkommenheit zu heben. Das menschenfreundliche Werk bedarf deshalb noch regerer Unterstützung als bisher. Das Interesse für dasselbe muß in immer weitere Kreise getragen und in ihnen lebendig erhalten werden – es muß eine wahrhaft volksthümliche, von allen Deutschen gehegte und gepflegte Institution werden.
Glücklicher Weise ist nicht Herzlosigkeit und Gleichgültigkeit der Binnnenländer daran schuld, daß die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger noch nicht in dem gewünschten Sinne eine Sache des gesammten deutschen Volkes geworden, wohl aber ist vielfach die Unbekannntschaft mit den einschlägigen Verhältnissen die Ursache dieses Mangels an allgemeiner Betheiligung an den Aufgaben der Gesellschaft, und die Presse erfüllt deshalb nur eine Pflicht, wenn sie die Kenntniß der letzteren zu verbreiten strebt. So sei auch heute, wie schon zu verschiedenen Malen in diesem Blatte[1], die Aufmerksamkeit der Leser auf eine der edelsten Errungenschaften gelenkt, welche das geeinte Deutschland aufzuweisen hat. Mögen diese Zeilen dazu beitragen, dem humanen Werke neue und werkthätige Sympathien zu erwecken die es in so hohem Grade verdient.
Wenn der Orkan durch die Gassen heult und die Gebäude in ihren Grundfesten erschüttert, wenn die Wolken am düstern Himmel dahinjagen und Regen und Schloßen herniederpeitschen - dann fühlt sich der Landbewohner behaglich und glücklich im warmen Zimmer und empfindet wohlthuend den Gegensatz zwischen dem Sturme da draußen und dem Frieden des Hauses. Möge er dann nicht vergessen, wie der Orkan die Meereswogen zu gigantischer Höhe thürmt, Schiffe entmastet und sie steuerlos der Küste zutreibt, über deren Riffe die Brandung sich brüllend wälzt und ihren Gischt himmelan sprüht! Möge er sich dann erinnern, für wie Viele seiner Mitmenschen sich in solchen Stürmen ein nasses Grab öffnet! Möge er aus dem Brausen des Windes stets die Mahnung heraus hören. „Gedenket Eurer Brüder zur See!“