Ob-Ost/Die Reise

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Ob-Ost
von Fritz Hartmann
Was wir vom Kriege sahen
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[1]
I. Die Reise
Libau, den 27. Oktober.
Mein lieber Ernst!

Dein Feldpostgruß von der Somme hat gar eine weite Reise gemacht. In Hannover traf er mich nicht, aber er folgte mir mit unentwegtem Spürsinn. Von Staffelort zu Staffelort, bis der rüstige Westfrontler mich endlich gestern abend an der Ostfront erreichte. Hier in Libau nämlich. Du stutzest? Aber es ist wirklich weder ein Schreibfehler von mir, noch ein Leseversehen von Dir. In demselben kurländischen Libau, dem am 3. August 1914 die Granaten unseres Kreuzers „Augsburg“ verkündeten, was die Stunde geschlagen. Demselben Libau, das wir am 8. Mai vorigen Jahres besetzten und seitdem zu einem Stützpunkt unserer Ostseeflotte entwickelt haben.

[2] Wie das zuging, so fragst Du? Mit ganz rechten Dingen natürlich. Allerdings habe ich mich, als ich neulich in Suprasl vor dem schweren byzantenen Prunk des Ikonostases einer russischen Klosterkapelle stand, oder ein paar Tage darauf in einer Wilnaer Synagoge mitten unter litauischen Kaftanjuden mit befransten Gebetsmänteln dem hebräischen Frühgottesdienst lauschte, mich selber erprobend ins Ohrläppchen gekniffen. Der Abstieg vom niedersächsischen Alltag war denn doch gar zu grell und daher traumverdächtig. Der Krieg macht uns alle zu starken Länder- und Völkerkennern. Er rüttelt auf aus unserer Heimsässigkeit, unserem Gluckhennentum und führt uns in Gegenden, fern ab von den Reiselinien Stangens und den Orten „wo man gewesen sein muß“.

Ich verdanke dies Zwischenspiel einer Einladung des Oberbefehlshabers Ost. Ihm lag daran, der deutschen Presse und durch sie dem deutschen Volke zu zeigen, welche Kultursaat in den Staffeln gesät wird. Wir haben dritthalb tausend Kilometer durchmessen und sind jetzt am Endpunkt unserer Schaufahrt angelangt. Heute abend noch kehren wir in 25stündigem Fluge [3] nach der Heimat zurück. Eine Kleinigkeit war’s wahrlich nicht. Man hat uns stramm herangekriegt. körperlich ein kleiner Gewaltakt und geistig eine Mastkur mit Eindrücken. Reisen in Eisenbahn- und Kraftwagen, Besichtigungen, Vorträge, Empfänge und Gastessen schlossen sich tagein tagaus zu bunter, aber festgegliederter Kette. Zum Schlafen sind wir allemal nur 4–5 Stunden gekommen. Aus der kurzen Zeitspanne von zehn Tagen wurde eben herausgeholt, was nur irgend zu holen war. Repos ailleurs.

Allein gerade darum ward die Sache schon äußerlich zu einem kleinen Meisterstück deutscher Organisationskunst. Ihr stilles Planen und methodisches Zeitauskaufen hat sich über jedes Lob bewährt. Sie und die feldgraue Gastfreundschaft. Allüberall sind die Offizier- und Verwaltungskasinos uns elfen in der Fremde behagliche Herbergen zur Heimat geworden. Ihr zwangloser Verkehr ergänzte das tagsüber mit Auge und Ohr Aufgenommene. Ich liebe das sehr, da im Gespräch erst die feineren Reize der Dinge ans Licht treten. Man muß nur zu fragen verstehen.

[4] Nichts ist uns fremd geblieben, was das bereiste Land zu bieten hatte. Seine sozialen Höhen und Tiefen wuchsen aneinander zum einheitlichen Bild. Wir saßhen im Zarenschloß und durchwanderten die Entlausungsanstalten. Wir plauderten abends mit Prinzen und Fürsten, während am anderen Morgen der schauderhafte Armeleutgeruch des Ghettos sich beklemmend auf Sinn und Empfinden wälzte. „Gasmaske her“ rief ich entsetzt.

Auf dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße fing’s an. Dort nahm uns Hauptmann B. an die Hand, der Leiter der Presseabteilung von Ober-Ost. Er ist auf der ganzen Fahrt unser Reisemarschall gewesen. Seiner ebenso umsichtigen wie liebenswürdigen Führung verdanken wir eine der dauerhaftesten Erinnerungen für Lebenszeit.

Für Bequemlichkeit war vornehm gesorgt. Ein Schlafwagen stand in unserem Dienst, jeder hatte seine eigene Kabine, in die er von allen Ausflügen wieder wegemüde einkehrte. Dort konnte er ungestört arbeiten, rauchen, sich umziehen; schlafen, vielleicht auch träumen, so weit dies einem gelingt, der nicht gewohnt ist, daß [5] sein Bett auf stuckernden Rädern durch die Gegend spaziert. Einige Kollegen hatten es darin zur Vollendung gebracht; ich blieb der alte Stümper. Auch tauschte man Besuch und Gegenbesuch, drosch einen Männerskat oder entschied in gründlichen Ausschußsitzungen, wem die nächste Erwiderungsrede zufalle und wie es mit den Trinkgeldern zu halten sei. Selbst Vorträge wurden rollender Weise gehalten. Es ist mit der Zeit wie mit dem Tornister, worüber uns vor 30 Jahren unser Korporalschaftsführer zu belehren pflegte: „Ach wat, et jeht allens rin; et muß nur richtig verstaut sind!“

Traf man am Ziele ein, dann standen schon die bestimmten Ortsoffiziere zum Empfang bereit. „Der Ehrendienst“, wie wir scherzend sagten. Ordonnanzen bemächtigten sich des Gepäcks, und wir fanden es später ein jeder auf seinem Zimmer in der uns zugewiesenen Offiziersunterkunft wieder vor. Der getippte Tagesplan wurde verteilt und wickelte sich mit Hilfe der bereitgestellten Kraftwagen auf die Minute ab. Unermüdlich zwitscherten diese durch die Straßen und federten über das rüttelnde Kopfpflaster der litauischen Städte. Ehrfurchtsvoll wichen die [6] Bauernwägelchen zur Seite und die beschafpelzten Kutscher zogen, sofern ihre scheuen kleinen Pferdchen unter dem Holzjoch ihnen Zeit dazu ließen, die lebendurchwimmelten Mützen. Denn so ein Blitzzug von 4–6 Heeresautos, je halb mit Offizieren, halb mit Zivilisten besetzt, das mußte ja doch etwas ganz Sonderliches sein. Vielleicht „Pan Exzellenz großmächtiges“, wovon die künftigen Landesgeschicke abhingen.

Die Reise ging von Süd nach Nord. Unser Anschauungsunterricht begann in Bialystok. Von da erreichten wir über Bielsk den berühmten Urwald von Bialowies, wo der Wolf noch heult und die letzten Wisente Europas dem Aussterben entgegenkümmern. In Grodno verbrachten wir einen ertragreichen Nachmittag, aber Wilna nahm uns anderthalb Tage in Anspruch. Zu Kowno waren wir Gäste in dem Hause, das Hindenburg monatelang bewohnt; saßen wir zuhörend um die lange Kartentafel, worüber sich so oft mit spürendem Strategenblick Ludendorff gebeugt. Mitau! Auch dort steigen Erinnerungen auf. Die Räume, in denen wir uns bewegen, sind die des Medemschen Palastes. Ob’s in diesem Saale war, wo wir jetzt beim Biere sitzen, [7] oder in dem Büfettzimmer daneben, da vor 137 Jahren Balsamo Cagliostro sein magisch-theosophisches Geisterschwindelwesen trieb? Die Wißbegierde wendet sich jedoch rasch den ersprießlicheren Gegenwartsfragen zu. Zum ersten Male bei unseren geselligen Zusammenkünften überwiegt der Bürgerrock. Wir elfe haben Zuwachs erhalten durch Balten aus Stadt und Land. Im Gespräch mit den Leuten des aufrechten Bruderstammes gewinnen wir bedeutsame Eindrücke, die sich anderen Tages auf mehreren Adelssitzen und im seßhaften Kreise der biederen Goldinger noch vertiefen. Wir durchqueren das ganze Gottesländchen im Kraftwagen; eine Fahrt, deren Genüsse bei dem klaren Sonnenschein und dem wunderbaren Gilbhartbunt des Laubes zu schildern, mein nüchterner Füllfederhalter lieber gar nicht versuchen wird.

Endlich nimmt uns Libau auf. Hier kommt ein neues Thema in das Fugengefüge unseres Reiseerlebnisses. Die Flotte! Wie findest Du, daß ich Landratte mich vor zwei Stunden nicht nur zwischen den Kolben, Gestängen und Torpedos eines U-Bootes herumgewunden habe, sondern auch mit ihm bis auf den Grund des [8] Hafens getaucht bin? – – Doch davon ein andermal. Die Ordonnanz ruft mich ab. Wir haben unsere Begleitoffiziere zum Abschiedsessen eingeladen und ich hätte mich beinahe über die Stunde hinweggeschrieben.