Politik als Staatskunst. Ihr Begriff und Wesen

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Autor: Philipp Zorn
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Titel: Politik als Staatskunst. Ihr Begriff und Wesen.
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Erstes Hauptstück: Politik als Staatskunst und Wissenschaft, Abschnitt 1, S. 1−7
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[1]
Erstes Hauptstück.


Politik als Staatskunst und Wissenschaft.




1. Abschnitt.


Politik als Staatskunst. Ihr Begriff und Wesen.
Von
Geh. Justizrat Dr. Philipp Zorn.
Mitglied des Herrenhauses, Kronsyndikus, o. Professor der Rechte an der Universität Bonn.


1. Politik ist die geistige Fähigkeit, den Staat und dessen öffentliches Leben zu verstehen und die Kunst nach Massgabe dieses Verständnisses auf den Staat und das öffentliche Leben des Volkes einzuwirken.

Daraus ergibt sich zugleich der wissenschaftliche Begriff Politik: Politik ist die Wissenschaft, die jenes Verständnis vermittelt und damit den Wegweiser bietet für jenes praktische Handeln.


2. Die Politik fordert demnach wie jede Kunst und Wissenschaft die allgemeine Befähigung, sich ein Verständnis der Dinge anzueignen, auf die sie gerichtet ist, also des Staates und seines öffentlichen Lebens, und zugleich die besondere Fähigkeit und den Willen, auf den tatsächlichen Gang der Dinge des Staates und seines öffentlichen Lebens einzuwirken. Fehlt dieser Wille, bezw. ist er nur darauf gerichtet, diesen tatsächlichen Gang der Dinge zu beobachten und darzustellen, so mag man von „theoretischer Politik“ sprechen; diese ist aber lediglich ein Stück der Geschichtswissenschaft.

Beruht somit die Politik auf dem eindringenden Verständnis der Dinge des Staates und seines öffentlichen Lebens, so wird die Zahl derer, die befähigt sind, an der Politik teilzunehmen, immer eine relativ kleine sein. Ausscheiden werden aus der aktiven Politik alle, deren Interesse an den Dingen des Staates und des öffentlichen Lebens nicht so gross ist, um das Bedürfnis zu erwecken, von diesen Dingen ein wirkliches Verständnis zu gewinnen. Das solonische Ideal, dass jeder Bürger als solcher verpflichtet sei, jenes Verständnis sich zu erarbeiten, wird auf allen Kulturstufen ein Ideal sein. Es wird immer Menschen im Staate geben, denen die Dinge des Staates und des öffentlichen Lebens deshalb fremd bleiben, weil ihr geistiges Verlangen sich vollkommen erschöpft in anderen Dingen, − „nec ulla nobis magis res aliena quam publica“ erklärten die Christen anfangs im römischen Reiche −, künstlerischen, reinen Erwerbsinteressen, von denen ganz zu schweigen, bei denen ein geistiges Verlangen überhaupt nicht oder so gut wie garnicht besteht.

[2] Und andererseits wird die Staatsform und die Kulturentwicklung des Staates für seine Politik von höchster Bedeutung sein. Es liegt auf der Hand, dass die auf der Grundlage der Volkssouveränität ruhende Republik die breiten Massen des Volkes in viel stärkerem Masse in die Bahnen der Politik hereinzieht, als die absolute Monarchie. Es ist ebenso zweifellos, dass je umfassender die Zwecke des Staates auf höheren Kulturstufen werden, umso grösser auch der Kreis derer wird, die an einem dieser Zwecke und damit am Staate selbst einen unmittelbaren Anteil nehmen.

Immer und überall aber wird es nicht wenige Staatsangehörige geben, die den Dingen des Staates gleichgültig gegenüberstehen und keine Staatsform und keine Kulturentwicklung wird imstande sein, diesen toten Punkt zu überwinden. Aus der Zahl dieser Gleichgültigen werden dann bei kluger und tatkräftiger Agitation leicht jene viel beklagten „Mitläufer“ gewonnen werden, die an sich ein Verständnis der Politik nicht haben und die doch so häufig die schwere und folgenreiche Entscheidung in der Politik geben, besonders bei Wahlen. Je stärker das öffentliche Leben an dieser Unwahrheit krankt, desto schwieriger, ja selbst gefahrvoller wird die Arbeit derer werden, die die Verantwortung für den Gang der Politik und des Gemeinwesens tragen. Und in diesem Punkte vor allem liegt auch die Berechtigung des Zweifels an der Wahrheit des heute so vielfach als zweifellose politische Wahrheit gepriesenen allgemeinen Wahlrechtes, ganz ebenso wie bei der Utopia des Thomas Morus.

Darum ist es eine der obersten Aufgaben im modernen hochentwickelten Kulturstaat, die Fähigkeit zum Verständnis der Politik in immer weitere Kreise des Volkes zu tragen. Je bedeutender die Stellung eines Staates in der Gemeinschaft der Staaten geworden ist, desto mehr sind die verantwortlichen Leiter der Politik des Staates angewiesen auf verständnisvolle Teilnahme und Unterstützung der Bürger des Staates. Nur auf dieser Grundlage kann die Kraft des Staates zur vollen Geltung kommen: dies war das Grundaxiom des grossen Reichsfreiherrn vom Stein bei seiner Wiederaufrichtung des preussischen Staates. Dieser Arbeit ist in Deutschland bis jetzt noch nicht die genügende Aufmerksamkeit zugewendet worden. Was in dieser Hinsicht geschehen ist, ist von Seiten der politischen Parteien geschehen. Bei diesen aber ist die Arbeit eine durch bestimmte von vornherein festgestellte Gesichtspunkte gebundene. Dies kann nicht genügen, vielmehr bedarf es hierfür einer breiteren Grundlage, für die gewissermassen die Diagonale aus allen Parteiprogrammen zu ziehen das Bestreben sein muss. Nur in Zeiten grosser nationaler Erregung hat bis jetzt in Deutschland diese breite Grundlage eines starken einheitlichen nationalen Bewusstseins gewonnen werden können. Hier wirksam einzugreifen ist die Aufgabe der „Allgemeinen Bürgerkunde“ in der zu schaffenden allgemeinen, nicht Fachinteressen dienenden, obligatorischen Fortbildungsschule.

Eine ausgezeichnete Vorschule der Politik bietet unter allen Umständen der Dienst in der Selbstverwaltung, der insbesondere in Preussen seit der Kreis- und Provinzialordnung auf dem Grund der Steinschen Städteordnung einen überaus grossen Umfang angenommen hat. Davon wird besonders zu handeln sein.


3. Die Grundlage für die Wissenschaft der Politik bildet die Geschichte. Jedes Volk schafft sich im Laufe der Geschichte seine besondere, aus den verschiedensten Gesichtspunkten zusammengesetzte politische Grundlage. Auch durch die grössten Staatsveränderungen kann doch diese aus dem Wesen des Volkes hervorgegangene Grundlage des Staatslebens keine Veränderung erfahren. Alle Veränderungen sind hier nur Entwicklungen, sei es im ausdehnenden, sei es im einschränkenden Sinne. Die Geschichte bildet somit die oberste Grundlage der Politik. Man kann wohl in gewisser Weise den alten Satz des monarchischen Staatsrechtes: „Der König stirbt nicht“ auch auf die Völker anwenden: Die Völker sterben nicht und der Grundsatz ihres Wesens bleibt der gleiche. In diesem Sinne ist die deutsche Geschichte zweifellos eine Einheit der deutschen Volks- und Staatsentwicklung. Aber die Politik wird sich hier vor dem schweren Fehler hüten müssen, abgestorbene Kräfte als weiterwirkend anzusehen; seit dem westfälischen Frieden war diejenige politische Gesamtkraft des deutschen Volkslebens, die ihre staatliche Form im alten Reiche gefunden hatte, vollkommen erschöpft; das Scheinleben des alten Reiches von 1648−1806 entbehrte in Wirklichkeit der politischen Grundlage einer deutschen Gesamtkraft; an ihre Stelle tritt zunächst in den Formen des rein brandenburgisch-preussischen Partikularismus eine neue politische Kraft, die nach der unablässigen [3] Arbeit von 2 Jahrhunderten zur deutschen Gesamtkraft in der Form des neuen deutschen Reiches wurde. Mit der Zeit vor 1648 hat diese neue Zeit und die sie beherrschenden Kräfte wenig Gemeinsames; es waren in staatlicher Beziehung in Wahrheit völlig neue Kräfte, die die neue Zeit und das neue Reich schufen. Dennoch darf der Zusammenhang mit der alten Zeit nicht verkannt und nicht gering geschätzt werden: Er liegt in der grossen Kulturgemeinschaft zwischen den verschiedenen Perioden der deutschen Staatsentwicklung, insbesondere in dem Umstande, dass die Kolonisationen (Askanier in Brandenburg, deutscher Orden), aus denen der Staat des deutschen Ostens erwuchs, durch deutsche Kräfte aus den deutschen Gebieten alter Kultur, insbesondere des Westens und Südens, durchgeführt wurden; Kreuz, Schwert und Pflug machten die ehedem slavischen Länder jenseits der Elbe deutsch und schufen seit dem frühen Mittelalter ein neues Deutschland, das dann nach dem westfälischen Frieden der Träger der deutschen Staatsentwicklung geworden ist, freilich nicht in dem vollen territorialen Umfange jener deutschen Kolonisation, von welcher erhebliche Teile wieder verloren gingen, indes andererseits nichtdeutsche Bestandteile dieser Staatsentwicklung leider aus Gründen der Staatssicherheit eingefügt werden mussten. Das Jahr 1866 hat dann weiterhin ein grosses deutsches Kulturgebiet von der deutschen Staatsentwicklung abgetrennt und den politischen Zusammenhang mit diesem Gebiete auf einen internationalen, allerdings besonders gearteten, Charakter eingeschränkt. Die deutsche Kultureinheit in Sprache, Wissenschaft, Kunst, Literatur hat lange und in grosser Stärke bereits bestanden, als politisch noch völlige Zersplitterung in Deutschland herrschte.


4. So sehr aber die Geschichte als Grundlage der Politik festgehalten werden muss, so ist die Politik selbst im letzten Ende doch keine Wissenschaft, sondern eine durch wissenschaftliche Lehre bestimmte Kunst: Die Kunst, im öffentlichen Leben das Mögliche auszurichten. Je kleiner das Staatswesen nach Umfang, Bevölkerungsziffer und Aufgaben, desto einfacher werden sich diese Dinge gestalten, je grösser das Staatswesen, desto schwieriger wird die Aufgabe; je einfacher die Staatsform, desto leichter werden die politischen Entschliessungen und Entscheidungen herbeizuführen sein, je vielgestaltiger die Organe des Staates, desto mehr Schwierigkeit muss es notwendigerweise bieten, zu demjenigen Punkte zu gelangen, der eine bindende Feststellung des Staatswillens darstellt. In diesem Sinne hat der grösste Meister deutscher Politik in der Neuzeit, Fürst Bismarck, oft genug hervorgehoben, dass die Politik im konstitutionellen Staate aus Kompromissen bestehe; nur weltfremde Doktrinäre werden dies leugnen können.

Die Kunst des Möglichen wird bestimmt durch Erwägungen geographischer, wirtschaftlicher, sozialer Natur. Andere Erfordernisse stellen an den Staat die Gebirgsländer als die Tiefländer, andere die landwirtschaftlichen Gegenden als die Industriebezirke, andere das platte Land als die Städte, andere wieder die Binnenstädte als die grossen Seehandelsplätze. Ins unendliche liessen sich diese Verschiedenheiten politischer Anforderungen, die sich aus den tatsächlichen Verschiedenheiten ergeben, weiterführen. Der Staat aber hat die Aufgabe, als Wächter des Gesamtinteresses diese Verschiedenheiten, die sich oft genug zu den schärfsten Gegensätzen steigern, abzuwägen und auf Grund dieser Erwägungen die Mittellinie zu suchen und in der Gesetzgebung zur Geltung zu bringen. Als der grosse unparteiische Regulator des gesamten Wirtschaftslebens seines Volkes muss der Staat seine ganze Kraft in den Dienst des Gedankens stellen: auf dieser Mittellinie die wirtschaftliche, ja überhaupt die gesamte Gesetzgebung aufzubauen. Selbstverständlich kann diese Mittellinie keine rein theoretische Konstruktion sein, sondern wird bedingt sein durch Erwägungen der tatsächlichen Erfahrungen und insbesondere durch den Wert, den die einzelnen Momente, die bei der Abwägung in Betracht kommen, für den Gesamtcharakter des Staates und dessen Stellung in der Gesamtheit der Staatenwelt haben − lauter Erwägungen, die grosse staatsmännische Kraft auf der Grundlage historischer, volkswirtschaftlicher, völkerrechtlicher Kenntnisse bedingen. Regeln allgemeiner Natur lassen sich für die Politik als Staatskunst gar nicht aufstellen; in jedem einzelnen Falle werden die oben gekennzeichneten Erwägungen Platz zu greifen haben und von der richtigen Entscheidung werden Wohl und Wehe des Staates in seiner weiteren Entwicklung abhängen. Insbesondere wird es eine besonders wichtige und wohl auch besonders schwierige Aufgabe einer vorsichtigen und weitblickenden Staatskunst sein, um eines grossen Erfolges willen in kleineren [4] Dingen nachzugeben: so nahm Bismarck um des grossen volkswirtschaftlichen und staatsrechtlichen Erfolges der Reichsfinanzreform von 1879 willen die sogenannte Frankensteinsche Klausel[1] in Kauf. Und nach gleichen Gesichtspunkten muss m. E. die Finanzreform von 1909 beurteilt werden.


5. Im konstitutionellen Staate aber bietet weitaus die grösste Schwierigkeit für die Politik, für die Staatskunst, die Herstellung einer Mehrheit in der Volksvertretung. Im konstitutionell-monarchischen Staate tritt hierzu noch als entscheidender Punkt das Verhältnis der Volksvertretung zum Monarchen. Wenigstens im deutschen konstitutionell-monarchischen Staate gilt heute noch der Rechtsgrundsatz als zweifellos, dass der Wille des Monarchen die endgültige Entscheidung gibt und dass der Monarch in keinem Falle dem Willen der Volksvertretung rechtlich sich zu beugen verpflichtet ist, ebenso wie andererseits im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Volksvertretung keine Rechtspflicht besteht, in irgend einem Punkte sich dem Willen des Monarchen zu unterwerfen. Auf dieser staatsrechtlichen Grundlage hat sich die Entwicklung zur heutigen Grösse in Preussen-Deutschland vollzogen. In anderen monarchischen Staaten ist dies allerdings, sei es durch die Kraft der Gewohnheit, sei es durch direkte Verfassungsvorschriften anders, indem in gewissen Fällen und unter gewissen Voraussetzungen der Monarch gebunden ist, den Willen der Volksvertretung als massgebend anzuerkennen. In den romanischen, angelsächsischen, skandinavischen Ländern wird dies als Rechtsgrundsatz anerkannt werden müssen; immerhin ist es, soweit es auf Gewohnheit beruht, wie in England, nicht zweifellos. Der wichtigste praktische Fall dieser Art ist der Budgetkonflikt in Preussen von 1862−1866[2]; eine theoretische oder gesetzgeberische Lösung aber hat der Kernpunkt des damaligen Konfliktes auch heute noch nicht gefunden. Von der Persönlichkeit des Herrschers wird in solchen Grundfragen des Staatslebens die Entscheidung in hohem Grade bedingt sein und zwar ebenso, wenn formellrechtlich das deutsch-konstitutionelle, wie wenn das angelsächsisch-parlamentarische System gilt (Wilhelm I. von Preussen, Eduard VII. von England).

Alle wichtigen Entscheidungen der inneren Politik aber werden doch wenigstens in der Regel davon abhängen, dass eine Mehrheit der Volksvertretung hergestellt werden kann. Dies bietet aber oftmals die äussersten Schwierigkeiten. Alle Volksvertretungen sind in Parteien gespalten. Die Parteibildung beruht in verschiedenen Ländern auf sehr verschiedenen Gesichtspunkten. Die aus der Erfahrung der Jahrhunderte erwachsene politische Erziehung der Engländer hat im wesentlichen noch bis heute die Gliederung des Parlaments in zwei grosse politische Parteien aufrecht zu erhalten vermocht. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die politische Kraft der Volksvertretung umso grösser sein wird, je weniger das Parlament in Parteien zersplittert ist und vielleicht darf man soweit gehen, angesichts der englischen Erfahrungen diesen Punkt als Gradmesser der politischen Erziehung einer Nation zu bezeichnen. Die festländischen Parlamente weisen durchweg sehr starke und sehr verschiedenartige Parteizersplitterung auf.

Es stehen sich bei der Parteibildung zwei entscheidende Gesichtspunkte gegenüber. Selbstverständlich werden die Grundsätze einer Partei, die in der Regel in einem Programm niedergelegt werden, die Überzeugung dieser Partei von den für das Staats- und Volkswohl notwendigen Massnahmen ausdrücken. Jede derartige Zusammenstellung von grossen politischen Grundsätzen wird als im besten Glauben und mit bester Kraft formulierte Anweisung zum politischen Handeln mit grösster Achtung angesehen werden müssen: Jedes Parteiprogramm ist der Entwurf einer Staatsverfassung, wie sie die Partei für die beste hält und mit aller Anstrengung praktisch zu verwirklichen strebt.

Dem gegenüber ist in den meisten Verfassungen der Fundamentalgrundsatz niedergelegt: Jeder Volksvertreter ist nicht Abgeordneter einer Partei, sondern Vertreter des ganzen Volkes, und um die ganze Hoheit und Gewalt dieses Grundsatzes zur Geltung zu bringen ist dem der andere Grundsatz in der Regel beigefügt: Die Vertreter des Volkes sind nicht an Aufträge und Instruktionen gebunden, das ist: sie dürfen rechtlich nicht an solche gebunden werden, gemäss ausdrücklicher verfassungsmässiger Vorschrift. Der hohe Idealismus dieses Gedankens aber verflüchtigt sich in der Wirklichkeit der menschlichen Dinge immer und verflüchtigt sich umsomehr, je zahlreicher die Parteien der Volksvertretung sind. Gründe rein politischer Natur, Gründe wirtschaftlicher Interessen, Stammesverschiedenheiten, die bis zu scharfen nationalen Gegensätzen sich steigern, machen oft [5] genug das Wort von der Vertretung des ganzen Volkes zum leeren Schall, ja fast zur Satire. Politische und wirtschaftliche Verschiedenheiten innerhalb einer Nation werden niemals zu vermeiden sein. Schwere Gefahren aber werden dann befürchtet werden müssen, wenn Gegensätze religiöser oder konfessioneller Art, wenn Gegensätze nationalen Charakters innerhalb eines und desselben Staates bestehen und die Parteibildung innerhalb der Volksvertretung beeinflussen oder gar beherrschen. Ebenso werden die Verhältnisse schwierig, wenn in der Parteibildung die Gegensätze von Grundanschauungen über die Form des Staatswesens, insbesondere monarchisch oder republikanisch oder über die Grundlagen des Erwerbslebens, sich ausprägen und um die Herrschaft ringen.

Jede derartige Zersplitterung des Parlaments nötigt, falls nicht von vornherein eine gegebene feste Parteimehrheit vorhanden ist, zu Verhandlungen unter den Parteien behufs künstlicher Herstellung einer Mehrheit zum Zwecke einer politischen, in erster Linie der gesetzgeberischen Arbeit im Staate. Durch die Notwendigkeit von Verhandlungen über solche Parteiverbindungen wird die Kraft des politischen Lebens naturgemäss geschwächt und oft genug müssen, damit überhaupt eine Mehrheit gewonnen werden kann, Zugeständnisse gemacht werden, die die politische Überzeugungstreue auf schwere Proben stellen, ja selbst die politische Moral gefährden. Die staatsbürgerliche Erziehung des Volkes muss demgemäss als eine der höchsten Aufgaben betrachtet werden, um nach dieser Richtung eine weitere Gesundung des politischen Lebens und Vereinfachung der Parteiverhältnisse herbeizuführen. Immer aber werden im Stückwerk menschlicher Dinge Parteien bestehen und der ehrliche Kampf der Parteien wird auch das Beste des Volkes fördern. Aber die politische Erziehung wird mit aller Kraft dahin zu wirken haben, dass der hohe Idealismus des Verfassungswortes von der Vertretung des ganzen Volkes durch jeden einzelnen Volksvertreter wenigstens insoweit zur vollen Geltung kommt, dass nationale Gegensätze innerhalb eines Parlaments überwunden und möglichst ausgeschieden, dass religiöse, konfessionelle, Kämpfe aus der weltlichen Politik beseitigt werden und dass die ehrliche Überzeugung anderer, selbst wenn es sich um politische Kämpfe um die Grundlage des Staates handelt, nicht durch vergiftete Formen des Redekampfes verletzt werden. In grossen Staaten mit weitgehender Parteizersplitterung wird das politische Leben gebieterisch fordern, dass Parteien, die ihren Grundanschauungen nach sich dauernd einigen können, diese Einigung herbeiführen; unter Umständen wird davon überhaupt die ganze politische Weiterentwicklung eines Volkes und Staates bedingt sein. Lediglich die politische Erfahrung kann die Richtschnur geben, nach der die Möglichkeit und Dauerhaftigkeit einer solchen Parteiverbindung gemessen werden muss.


6. Hat das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes dahin geführt dass die früher in besonderen Staatsbildungen gesonderten Volksbestandteile zu einer Volkseinheit auch staatlich zusammengefasst sind, so wird der Weg dieser Entwicklung auch eine Antwort auf die Frage enthalten, ob nach Erreichung dieses Zieles: Volkseinheit als Staatseinheit, einem Teile des Volkes bezw. der diesen Teil darstellenden Staatsbildung eine besondere Vormachtstellung zukommt und gewährt werden muss. In den meisten modernen Staatsbildungen ist dies nicht der Fall, das Volk vielmehr zu voller Einheit in der Form des Einheitsstaates herangereift. Fast alle modernen Staaten zeigen uns diesen Entwicklungsprozess, zuletzt noch Italien; auch in den Vereinigten Staaten von Amerika scheint dies zu immer stärkerem Ausdruck zu kommen und in dem Bundesstaate der Union das föderative Element immer mehr zurückzutreten vor dem Moment der Staatseinheit (Imperialismus).

Besondere Verhältnisse bestehen in dieser Hinsicht im Deutschen Reiche. Auch hier bildet seit 1866/1870 die Grundlage die auf der Volkseinheit beruhende Staatseinheit und sie hat durch die Reichsverfassung und die praktische Entwicklung des deutschen Staatslebens seit 1866 zweifellos feste Grundlagen gewonnen. Aber nicht wie in Italien hat dieser Einigungsprozess auch zu einem wirklichen Einheitsstaat geführt. Dies war nie beabsichtigt und widersprach auch der ganzen deutschen Geschichte, ja vielleicht dem deutschen Wesen. Das was an Einheit erreicht wurde, ist vielmehr die Einheit einer Vielheit in der Form des sogenannten Bundesstaats, der im Verhältnis zum Einheitsstaat ganz zweifellos ein viel schwierigeres Staatsproblem darstellt. Die Erfahrung von vier Jahrzehnten hat aber erwiesen, dass dieses von der Meisterschaft Bismarcks abgewogene [6] Mass von Einheit genügt, um eine wirkliche Staats- und Volkseinheit mit der dieser Einheit innewohnenden politischen und wirtschaftlichen Kraft herzustellen.

Geschaffen ist diese Einheit durch Preussen. Sowohl wegen der grösseren Schwierigkeit für die Staatsentwicklung, die in der nur bundesstaatlichen Einigung liegt, als wegen des Verdienstes der Herstellung dieser Einheit hat Preussen in Deutschland − übrigens auch im Anschluss an die Traditionen des alten Reiches, die Österreich diese Stellung gaben − eine Vormachtstellung erhalten, die nicht nur im deutschen Kaisertum der Hohenzollern, sondern auch in der staatsrechtlichen Stellung des Einzelstaates Preussen zum Ausdruck kommt.

Diese Vormachtstellung Preussens ist eine Notwendigkeit für die Erhaltung und Festigung des deutschen Gesamtstaates; würde sie fehlen, wäre die Gefahr des Zerfalles und der Anarchie nahegerückt. Es wird demgemäss bei dieser Vormachtstellung Preussens bewenden müssen und es wird ein wichtiger Faktor im politischen Leben Deutschlands zu bleiben haben, dass das durch Preussen geschaffene Reich nicht nur in formellrechtlicher Beziehung, sondern auch in seiner Lebenskraft bedingt ist von der Lebenskraft des Staates Preussen, die die Voraussetzung bildet für die Lebenskraft des Reiches. Denn die Geschichte beweist doch die Richtigkeit des alten Satzes: dass Staaten erhalten werden durch die Kräfte, die sie geschaffen haben.


7. Die Ziele der Politik erschöpfen sich schon seit Jahrhunderten nicht bloss in nationalen Aufgaben und stärker als je zuvor sind heute die internationalen Gesichtspunkte im Leben der Staaten. Schon beschäftigt man sich nicht etwa nur im Kreise weltfremder Schwärmer, sondern im Kreise ernsthafter Politiker und Staatsmänner mit der Frage des Stillstandes der militärischen Rüstungen, der, wenn erreicht, sicher die Entscheidung auf die Abschaffung dieser militärischen Rüstung nach sich ziehen würde, falls nicht die Gewalt der Tatsachen sehr schnell diesem Zustande der Unwehrhaftigkeit der Staaten ein Ende bereiten würde. Immerhin spielt diese Frage heute noch keine entscheidende Rolle in der Wirklichkeit des Staatslebens, sondern bildet nur den Mittelpunkt einer sehr tatkräftigen und zielbewussten Agitation. In den verschiedenen Ländern des Staatensystems der Kulturwelt findet sie mehr oder minder Anklang in der Volksseele.

Viel wichtiger und praktischer aber ist der andere grosse internationale Gedanke der modernen Staatenwelt geworden: Der Gedanke der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. In weitem Umfange ist dieser Gedanke bereits verwirklicht und erprobt; eine dauernde Organisation, der Schiedshof im Haag, an dem die gesamte zivilisierte Staatenwelt beteiligt ist, dient dieser Idee. Die Idee der sogenannten obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit, das ist der übernommenen Rechtspflicht der Staaten, sich der Schiedsgerichtsbarkeit zu unterwerfen, ist heute keine Phantasie mehr, sondern hat im raschen Siegeszuge die moderne Staatengesellschaft erobert und wird sicherlich in Kürze ihre Anerkennung durch allgemeinen Staatenvertrag finden.

Rüstungsstillstand und obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit stehen nicht in notwendigem innerem Zusammenhang des Gedankens, aber es liegt auf der Hand, dass die praktische Verwirklichung eines jeden dieser beiden Gedanken sehr fördernd zur Verwirklichung des anderen wirken muss. Je stärker der Gedanke der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wird, desto seltener wird der Anlass zu Kriegen unter den Völkern werden und damit würde die Notwendigkeit grosser stehender Heere und gewaltiger Kriegsflotten als Mittel zur Erzwingung völkerrechtlicher Ansprüche durch Waffengewalt sicher eine Einschränkung erfahren. Aber als äusserstes Mittel im Staatsleben der Völker wird das Zwangsmittel des Krieges doch nicht entbehrt werden können und es wird im Völkerleben immer Momente geben, wo nur mehr die Entscheidung durch die Waffe möglich ist. Weder die Herstellung des heutigen Königreichs Italien noch die Aufrichtung des heutigen Deutschen Reiches, (auch die Schaffung des besonderen Königreichs Belgien) − um nur einige Beispiele zu bieten − wäre auf friedlichem Wege durch Mittel des „Rechtes“ möglich gewesen; das „Recht“ war für diese Völker zu einer „ewigen Krankheit“ geworden, die sie zur Ohnmacht im Rate und im wirtschaftlichen Wettkampf der Völker verurteilte. Darum musste eine Entscheidung durch die Waffen zur Niederwerfung eines unhaltbar gewordenen „Rechtes“ und Aufrichtung eines der Wahrheit der Dinge entsprechenden neuen Rechtes erfolgen; denn das italienische und das deutsche Volk [7] haben genau den gleichen Anspruch auf staatliche und wirtschaftliche Grossmachtstellung, wie das englische und französische, die sich dieser Stellung bereits seit Jahrhunderten erfreuen.

Wenn die Staats- und Volksgrenzen sich überall decken und wenn die wirtschaftlichen Notwendigkeiten für die grossen Völker allenthalben in ausreichender Weise erfüllt sein würden, so besonders, was die Verbindung des Landes mit der grossen Handelsstrasse des Weltmeeres betrifft, so würde man sich einen Zustand des ewigen Friedens durch Erledigung aller Streitigkeiten auf dem Wege der Schiedsgerichtsbarkeit vielleicht denken können. Vielleicht: vielleicht aber widerspräche dies der Menschennatur. Aber jene Voraussetzungen ewigen Friedens sind im weiten Umfange nicht erfüllt. Bis dahin wird die auswärtige Politik der Staaten zufrieden sein müssen, sich engere Grenzen dahin zu ziehen, dass durch sorgfältige Pflege aller internationalen Beziehungen unter den Staaten unter rückhaltloser Anerkennung der politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten für das eine Volk nach dem gleichen Massstabe, wie sie für die anderen bestehen, durch unermüdliche gemeinsame Arbeit der Staaten an den grossen Kulturaufgaben der Menschheit, durch weiteren Ausbau der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, die Ursachen zu Kampf und Streit so viel als möglich verringert, gemildert, wenn irgend möglich beseitigt werden. Insbesondere werden diese Beziehungen eine Abgrenzung der zivilisatorischen und kolonisatorischen Aufgaben der Staaten in den annoch der Zivilisation wenig oder garnicht erschlossenen Ländern und Völkern − „Interessensphären“ − erforderlich machen: denn an sich hat für diese Aufgabe jede Kulturmacht die gleiche Stellung wie jede andere; die Mächte sind darum für die Erfüllung dieser grossen und notwendigen Aufgabe auf friedliche Verständigung durch gegenseitige Konzessionen angewiesen.

So mag es im Laufe weiterer Jahrhunderte gelingen, die internationale Politik immer mehr und immer fester zu einer Politik des Friedens zu gestalten und den friedlichen Wettbewerb des Fleisses, der geistigen Kraft und des tatkräftigen Handelns zum massgebenden Faktor des Staatenlebens der Menschheit zu gestalten. Zunächst freilich wird die militärische Kraft noch in erster Linie die Sicherheit des friedlichen Wettbewerbes verbürgen, insbesondere für ein Volk, dessen staatliche und wirtschaftliche Zusammenfassung zu Einheit und Kraft noch jung und nicht durch die Jahrhunderte festgefügt ist, zudem von den anderen Völkern nicht mit Freude, sondern mit Misstrauen und Argwohn betrachtet wird. Die Entscheidung in diesen grossen Imponderabilien des Völkerlebens bieten, soweit die Menschheitsgeschichte berichtet, nicht Faktoren des Rechtes, sondern Faktoren der Kraft der Völker.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Als Franckensteinsche Klausel wird eine Klausel in § 8 des Zollgesetzes von 1879 bezeichnet, der zufolge Zölle und indirekte Steuern, die insgesamt 130 Millionen Mark überstiegen, vom Reich nach Maßgabe der Bevölkerungszahl den einzelnen Bundesstaaten überwiesen und von diesen nötigenfalls als Matrikularbeitrag zurückgefordert werden mussten. Vgl. auch Franckensteinsche Klausel.
  2. Unter dem preußischen Verfassungskonflikt versteht man den Konflikt um eine Heeresreform und die Machtaufteilung zwischen König und Parlament in den Jahren 1859 bis 1866 im Königreich Preußen. Vgl. auch Preußischer Verfassungskonflikt.