RE:Gaieochos

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Beiname 1. des Poseidon, 2. des Zeus, 3. der Artemis
Band VII,1 (1910) S. 484486
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Gaieochos (Γαιήοχος, dor. Γαιάοχος und Γαιάϝοχος, IGA 79; ferner Γεοῦχος und Γηοῦχος, Herodian. und Didym. bei Eustath. Hom. Od. 1392, 23; vgl. Hesych. Suid. Anon. Laur. III 4 = Schöll-Studemund Anecdot. 267; Γαιοῦχος Suid., zweifelhaft Γεήοχος Hesiod. Theog. 15); 1. ein altes häufiges Beiwort des Poseidon; 2. Beiwort des Zeus bei Aischyl. Suppl. 779; 3. Beiwort der Artemis Eukleia bei Soph. Oed. tyr. 160.

Homer gebraucht G. als Beiwort des Poseidon (Il. XX 34; Od. I 68. III 55. VIII 322. 350) und als selbständigen Namen dieses Gottes (Il. XIII 83. 125; Hymn. 3, 187); bei der Verbindung γαιήοχος ἐννοσίγαιος ist gelegentlich der Name [485] Poseidon hinzugefügt (Il. XIII 43), zumeist aber nicht (Il. IX 183. XIII 59. 677. XIV 355. XV 222. XXIII 584; Od. XI 241); ebenso findet sich der Anruf γαιήοχε κυανοχαῖτα mit dem Namen Poseidon (Od. IX 528; Hymn. 22, 6) und ohne ihn (Il. XV 174. 201). Derselbe Wechsel in dem Gebrauch als Beiwort und selbständigem Namen durchzieht die spätere Poesie, z. B. spricht Pindar von G. Poseidon (Ol. I 25), G. Ennosidas (Pyth. IV 33) und von G. allein (Ol. XIII 81; Isthm. 10 VII 38). Vgl. ferner Hesiod Theog. 15; frg. 143 (152) Rzach. Arion. frg. 1, 3. Aischyl. Sept. 293. Sophocl. Oed. Col. 1071. Orph. Argon. 1367. Orph. hymn. 17, 1 und prooem. 5.

G. war, im Gegensatz zu den andern Homerischen Beiworten des Poseidon, im Kult als Epiklesis gebräuchlich. In Lakonien gab es ein altes Heiligtum des Γαιάϝοχος, wo Wagenrennen abgehalten wurden (IGA 79); es ist das bei Therapne gelegene Heiligtum des Poseidon G. (Paus. III 20, 2), dessen Hippodromos Xen. hell. VI 5, 30 erwähnt. Auf dem Marktplatz von Gythion stand eine Statue des Poseidon G. (Paus. III 21, 8). Auch Hesych s. Γαιήοχος verweist auf den G.-Kult von Lakonien, und zwar nach einem Homer-Kommentar (Ludw. Weber Quaestion. Lacon. 39. 56f.). In Athen gab es einen Priester Ποσειδῶνος Γαιηόχου καὶ ἐρεχθέως (IG III 276) oder Ποσειδῶνος Ἐρεχθέως Γαιηόχου (IG III 805); vgl. Sophocl. Oed. Col. 1071 und o. Bd. VI S. 405. Ferner ist auf Thera eine alte Inschrift (Γ)αιάοχος gefunden, Archaeol. Anz. 1899, 183. IG XII 3 Suppl. 1371.

Γαιάοχος, gebildet wie Πυλάοχος (über Γαιάϝοχος vgl. Joh. Schmidt Ztschr. f. vergl. Spracht. 1895, 456) kennzeichnet den Gott als einen θεὸς ἐγχώριος im Sinne von Aischyl. Suppl. 670: θεοὺς δ’, οἳ γᾶν ἔχουσιν, ἀεὶ τίοιεν ἐγχωρίους κτλ. Jeder alte Kult hegt die Vorstellung, daß der Gott an seiner Kultstätte wohnt oder daß die Kultstätte ein Eingang zu der unterirdischen Wohnung des Gottes ist. In den ältesten Zeiten mochten die binnenländischen Verehrer des Poseidon glauben, daß er in den Tiefen der Erde wohne (vgl. Gaieios) und von dort aus auch die Erde durch Erdbeben erschüttere; damals mag G. eine Art euphemistischer Bezeichnung für den unten waltenden Gott gewesen sein. In der späteren Zeit hat man im Kult unter G. einen θεὸς ἐγχώριος im Sinne von πολιοῦχος verstanden, eine ständig an der Kult- 50 statte wohnende Schutzgottheit derganzen Gegend. In diesem Sinne hat auch Sophokles im Oidip. tyr. 160 (wie übrigens die Scholien richtig erklären) die auf der Agora thronende Artemis Eukleia (s. o. Bd. V S. 997) γαιάοχος genannt. Freilich wäre G. in dem Homerischen Epos nicht zu einem so beliebten Kennwort des Poseidon geworden, wenn die Kultbedeutang von G. nicht von den Dichtern umgewertet wäre in eine allgemeinere Bedeutung, in das Bekenntnis zu jener Welterklärung, daß die Erde auf dem Meere schwimme und daß das Rollen des Erdbebens von dem Rollen der unterirdischen Wogen stamme. Poetisch wurde dies so ausgedrückt, Poseidon wohne im Meere, halte und trage als G. die Grundvesten der Erde, die er zugleich als Ennosigaios erschüttere. Deshalb stehen die Worte G. und Ennosigaios, die zusammen erst das volle Bild [486] ergeben, bei Homer so oft unmittelbar nebeneinander; deshalb war auch bei Homer kein Platz mehr für die alte Göttin Gaia.

Die Auffassung, daß die Erde auf dem Meere schwimme, hat frühzeitig Widerspruch erfahren. Von den Dichtern wendet sich speziell Aischylos gegen den homerischen ,Erdehalter‘ Poseidon, wenn er Suppl. 779 den Zeus als den ,allmächtigen Erderhalter‘ (γαιάοχος παγκρατής) bezeichnet. Weiter noch geht Euripid. Troad. 884ff.: ὦ γῆς ὄχημα κἀπὶ γῆς ἔχων ἕδραν, ὅστις ποτ’ εἶ σύ, δυστόπαστος εἰδέναι, Ζεὺς εἴτ’ ἀνάγκη φύσεος εἴτε νοῦς βροτῶν. Die alten Grammatiker, welche sich um die Deutung des homerischen Poseidon G. bemühten, stellten eine Reihe von Erklärungen auf: ὁ τὴν γῆν ἔχων, ὁ τὴν γῆν ὀχῶν, ὁ τὴν γῆν βαστάζων, — ὁ τὴν γῆν συνέχων, — "ὁχούμενος ἢ βασταζόμενος ὑπὸ τῆς γῆς, — ὁ ἐπὶ τξς γῆς ὀχύμενος,ὁ τοῖς ὄχοις (ὀχήνασι) γαίων = ὁ τοῖς ἅρμασι χαίρων, vgl. Schol. Hom. Il. XIII 125. Schol. Hom. Od. I 68. Etym. M. 223, 2. Etym. Gud. 117, 51. Hesych. s. Γαιήοχος, Γεοῦχος, Γηῦχος. Suid. s. Γαιοῦχος, Γεοῦχος. Apollon. Sophist, lex. 54, 1. Bekker Anecd. Graec. 229. Eustath. Hom. 554, 20. 971, 22. 1012, 10. 1392, 39. Einige dieser Erklärer verweisen ungenau auf den ,Erdumgürter‘ Okeanos. Andere werden der Auffassung der Homerischen Dichtung gerecht, indem sie Poseidon G. als das die Erde haltende Meer deuten. Dasselbe gilt von denen, welche das Beiwort G. als ,Erdhalter‘ und zugleich ,Erderhalter‘ mit den Poseidon-Beiworten Ἀσφάλειος und θεμελιοῦχος zusammenstellen, vgl. Plut. Thes. 36. Kornut. 22. Eustath. 554, 20. In unserer Zeit sind manche bei dieser Erklärung verbliehen, vgl. z. B. Preller-Robert Griech. Myth. I 572. Gruppe Griech. Myth. 1139, 2. Daneben haben aber auch jene Grammatiker, welche in Poseidon G. den ,über die Erde dahinfahrenden‘ oder den ,wagenfrohen‘ Gott erblicken und auf den Poseidon Hippios verweisen (vgl. besonders Hesych. s. Γαιήοχος. Etym. M. 223, 2. Bekker Anecd. Graec. 229), noch neuerdings Zustimmung gefunden. So denkt z. B. Wide Lakon. Kulte 38 an einen Poseidon, der unter der Erde fahre und dabei die Erde erschüttere, Goebel Lexilogus zu Homer I 192ff. an einen im Regengewölk über die Erde dahinfahrenden Poseidon. Döderlein Homer. Glossarium I 54 nr. 69 wollte an der Erklärung ,wagenfroh‘ festhalten, gab aber zu, daß man im Kult G. wohl als πολιοῦχος aufgefaßt habe. Weiteres bei Goebel a. a. O. und in den Homer-Lexika.