RE:Eukleia 1

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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griechische Göttin der ,Ehre‘, Beiname der Artemis
Band VI,1 (1907) S. 996998
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Eukleia (Εὔκλεια). 1) Name einer griechischen Göttin und Beiname der Artemis. In der Blütezeit der attischen Kultur findet sich eine selbständige Göttin E. im Kreise von Gottheiten, die entweder selbst Charites in dem späteren Sinn sind oder doch als ihnen nahestehend empfunden wurden. So sind auf einer rf. attischen Schale in Neapel (Heydemann Vasensamml. Neapel 708 nr. 316, abg. Bull. Napol. n. s. II Taf. 6. Reinach Répertoire d. vases I 477, die Inschriften auch CIG 8362 b) Aphrodite, Klymene, Harmonia, E., Eunomia und Pannychis vereint, und schon Heydemann erinnerte hier an die Charites. Auf einem rf. Vasenfragment aus Gela stehen E. und eine ähnliche Gestalt neben der sitzenden Peitho, abg. R. Rochette Mon. inéd. Taf. VIII 2. Elite céramogr. IV 25. Müller-Wieseler Denkm. d. a. K. II 57, 727, die Inschriften auch CIG 8364, vgl. O. Jahn Peitho 26 und Ber. d. sächs. Ges. d. Wissensch. 1854, 263, 101. Ferner gehören hierher die Töchter des Hephaistos und der Aglaia, E., Eustheneia, Eupheme und Philophrosyne, αἳ καὶ αὐταὶ τὸ σωματοειδὲς τῷ κάλλει διαπρέπον ἀποτελοῦσι, Prokl. in Plat. Tim. II 101 D. = Orph. frg. 149 Abel, vgl. Gruppe Griech. Myth. 1073 Anm. 1089 Anm.

In Athen hatten E. und Eunomia ein gemeinsames Heiligtum (Ἐφημ. ἀρχ. 1884, 169 Z. 53) mit einem gemeinsamen Priester, IG II 1598 = III 733. III 277. 623, 13. 624, 10. 738. Vielleicht ist es in der Inschrift IG III 61 B ΙΙ 33 abgekürzt als Εὐκ[λείας να]ός bezeichnet. Jedenfalls spricht Paus. I 14, 5 in dieser abgekürzten Form von dem Tempel der E., ohne Eunomia zu erwähnen, und fügt dabei hinzu, er sei gelegentlich der Perserkriege errichtet als ἀνάθημα ἀπὸ Μήδων, οἳ τῆς χώρας Μαραθῶνι ἔσχον. Über die Kontroverse bezüglich der Lage dieses Tempels vgl. HitzigBlümner Pausanias I 192. Judeich Topogr. v. Athen 355f. Wachsmuth o. Suppl. I S. 211. Ob dieser Kult eine ältere Vorstufe gehabt hat, ist eine offene Frage. In dieser Form [997] der allzu durchsichtigen Personifikation der εὔκλεια und εὐνομία geht er schwerlich über die Zeit des nationalen Aufschwungs zurück. E. wird dabei, da der Begriff der εὔκλεια sowohl den persönlichen guten Ruf (Aristoph. Nub. 997) wie den Ruhm umfaßt, als Göttin der ,Ehre‘ zu gelten haben.

Kulte der Artemis E. sind dort vorauszusetzen, wo der Monatsname Eukleios (s. d.) gebräuchlich war, und dort, wo man E.-Feste (τὰ Εὔκλεια) feierte, wie in Korinth (Xen. hell. IV 4, 2; vgl. Odelberg Sacra Corinthia Sicyonia Phliasia 48f.) und Delphi, für welches die Labyadeninschrift (Dittenberger Syll.2 488, 64. 172 = Homοlle Bull. hell. XIX 5ff.) die Artemisfeste E., Artamitia und Laphria nebeneinander bezeugt. Boioter und Lokrer pflegten diesen Kult ganz besonders, wie Plut. Aristid. 20 und bezüglich der Boioter auch Schol. Soph. Oed. Tyr. 161 betont. Plutarch bemerkt dabei, bei den Boiotern und Lokrern stehe Altar und Bild der Göttin auf jeder Agora (dazu stimmt, daß das E.-Fest in Korinth auf der Agora spielt, Xen. a. a. O.), vor der Hochzeit opfere ihr Braut und Bräutigam; vgl. die Gaben bei Geburt und Hochzeit in Delphi (Homolle a. a. O. 39). In Theben lag der Tempel der Artemis, von dem Paus. IX 17, 1. 2 spricht, gleichfalls an einer Agora, das geht aus dem Bild des Hermes Agoraios hervor, das in der Nähe dieses Tempels stand. Das Kultbild der Artemis E. war ein Werk des Skopas, und in dem Heiligtum waren die Töchter des Antipoinos, Androkleia und Alkis, bestattet, von denen Pausanias folgendes erzählt: Als die Thebaner und Herakles mit Orchomenos kämpften, knüpfte ein Orakel den Sieg an die Bedingung, daß der angesehenste Thebaner (ἐπιφανέστατος κατὰ γένους) sich selbst als Opfer für die Vaterstadt töten müsse; da Antipoinos, dessen Ahnen die berühmtesten waren, das Leben vorzog, opferten sich seine Töchter und erlangten damit die Bestattung in dem Tempel und dauernde Verehrung; Herakles aber stiftete nach dem Sieg über Orchomenos den steinernen Löwen, der vor dem Tempel stand. Wie in diesem Heiligtum von Theben mythische Retterinnen der Vaterstadt bestattet sein sollten, so fand in historischer Zeit in dem Heiligtum der Artemis E. in Plataiai jener Euchidas, der das heilige Feuer von Delphi geholt hatte, sein ehrenvolles Grab (Plut. Aristid. 20). Weiter bezeugt den boiotischen Kult vielleicht eine Weihinschrift von Thespiai. IG VII 1812.

Das Wesen dieser Artemis E. erscheint als ein durchaus einheitliches. Sie hat ihren Kult an der Agora, empfängt Gaben bei Geburt und Hochzeit, und da sie das Land gegen äußere Gefahren schützt, finden patriotische Taten ihren Lohn durch Bestattung in ihrem Heiligtum. Sie ist zugleich eine Göttin der Landes- und der Familienehre. Wenn bei Sophokl. Oed. Tyr. 161. (vgl. v. Wilamowitz Kydathen 151) der Chor der thebanischen Greise Athena, Artemis E. und Apollon als die mächtigsten Götter der Stadt anruft und dabei in so feierlicher Weise Artemis als die γαιάοχος (d. i. = πολιοῦχος) bezeichnet, ἃ κυκλόεντ’ ἀγορᾶς θρόνον Εὔκλεα θάσσει, so wird der Dichter wohl an die Göttin von Theben, Boiotien, Lokris usw. gedacht haben, nicht an den attischen Kult der E. und Eunomia. [998]

Für die Vorgeschichte des boiotisch-lokrischen Kultes der Artemis E. ist es charakteristisch, daß Apollon neben dieser Artemis E. zu fehlen scheint. Deutlicher aber noch spricht die Sage. Plutarch Aristid. 20 bemerkt, daß einige diese E. überhaupt nicht für eine Artemis, sondern für eine selbständige Göttin gehalten hätten, und zwar sei E. eine Tochter des Herakles und der Myrto gewesen, die ihrerseits eine Tochter des Menoitios und Schwester des Patroklos war; sie sei als Jungfrau (wohl bei einer patriotischen Tat) gestorben und deshalb bei Boiotern und Lokrern verehrt worden. Das steht selbstverständlich in keinem Zusammenhang mit der attischen E., sondern ist echte lokrische Sage, wie Patroklos ein Lokrer war. An diese Selbständigkeit der E. haben einst aber auch die Boioter geglaubt. Denn die Verehrung der Androkleia und Alkis im Tempel der Artemis E. in Theben läßt darauf schließen, daß hier einst eine Gruppe landschirmender Göttinnen verehrt wurde, welchen man die bezeichnenden Sondernamen E., Androkleia und Alkis gab. Menoitios, der von Zeus in die Unterwelt geschleudert wird (Hesiod. theog. 514) und der mit dem Hüter der Hadesrinder Menottes (Apollod. II 5, 12, 5) zusammenfällt, ist längst als Gott der Unterwelt erkannt. Ebenso ist der ,Wiedervergelter‘ Antipoinos nur eine andere Bezeichnung für den Unterweltsgott. Demgemäß darf man in der Trias von Theben auch wohl chthonische Göttinnen erblicken. E. war in der ältesten Zeit vermutlich nur der euphemistische Name einer solchen chthonischen Göttin. Die ganze Entwicklung der verschiedenen Auffassung der E. läuft parallel der Entwicklung der Charites aus chthonischen Göttinnen (s. o. Bd. III S. 2161) zu den mythisch wertlosen Spielereien der Blütezeit von Kunst und Poesie. Die boiotisch-lokrische Artemis E. und die Charisgestalt E. der attischen Blütezeit entstammen der gleichen Wurzel. Eine Weihinschrift der Strategen von Paros (IG XII 5, 220) gilt der Aphrodite, dem Zeus Aphrodisios, dem Hermes und der Artemis E. In dieser Verbindung nähert sich selbst Artemis E. vielleicht den Charites. Eine Aphrodite E. würde vollends nichts Auffallendes haben, doch ist die Inschrift CIG 5954 = IG XIV 92* wohl eine Fälschung.

[Jessen. ]