Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Zwischenspiele

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Zum Teufel ist der Spiritus Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution
von Oskar Grosberg
Auf der Eisenbahn
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Zwischenspiele

Wie jede Medaille, so hat auch der Krieg eine Kehrseite, wenigstens in Rußland, wo ein Krieg von jeher nicht nur auf dem Kothurn einherschreitet, sondern stets und immerdar reichlich mit Ereignissen heiteren und sogar sehr heiteren Charakters durchsetzt ist. So auch der Weltkrieg, von dem man wahrlich annehmen dürfte, daß er in seiner grausigen Gestaltung keinen Platz für heitere Zwischenfälle übrig lassen würde.

Schon Leo Tolstoi sagt in seinem „Krieg und Frieden“, daß ein russisches Hauptquartier stets glänzend und geräuschvoll sein müsse. Ich habe nun freilich keine Gelegenheit gehabt, während des Krieges einen Blick in die „Zarskaja Stawka“, d. h. das Große Hauptquartier, zu werfen, aber ich habe um so gründlicher das Treiben im Hauptquartier der XII. Armee, Riga, beobachten können, und ich muß gestehen, daß es hier so glänzend und geräuschvoll herging, daß das jeweilige kaiserliche Hauptquartier die Dünastadt höchstens in Bezug auf Glanz der agierenden Persönlichkeiten überboten haben mag.

Wenn die Nachfahren die während des Krieges in Riga herrschenden Zustände nach den in überreicher Fülle erlassenen amtlichen Vorschriften beurteilen sollten, dann würden sie freilich den Eindruck gewinnen, als ob Riga während des Krieges so etwas wie ein Trappistenkloster strenger Observanz gewesen sei, denn diese Vorschriften waren allesamt darauf gerichtet, einen in Worten und Werken züchtigen Lebenswandel nicht nur der Armee, sondern auch der Zivilbevölkerung [85] herbeizuführen, um auf diese Weise dem bitteren Ernste der Zeitläufte gerecht zu werden.

In dieser Beziehung hat namentlich der verflossene Polizeimeister von Riga, Felitschkin, eine Figur, die vielleicht doch noch einst von einem modernen Gogol eingefangen werden wird, unendlich viel getan. Der famose Oberst brachte es zustande, daß zeitweilig weder Theatervorstellungen noch Konzerte veranstaltet werden durften; er stipulierte, daß die Straßenbeleuchtung wegen der Flugzeuggefahr abgeschafft werden mußte; er verbot das Verlassen der Häuser nach 9 Uhr abends; er untersagte den Ausschank von Spirituosen sowie die geheimen Hausbrennereien und -brauereien, und er steckte persönlich seine Nase in die Kaffeetassen, aus denen in den Restaurants Schnaps serviert wurde.

Ganz besonders war aber dieser Wackere auf die Sittlichkeit der Armee bedacht. Er richtete zunächst unter dem zahlreichen Korps der leichtfertigen Priesterinnen der Venus vulgivaga furchtbare Verheerungen an, indem er die öffentlichen Häuser schloß und die Insassen gnadenlos in die Städte der inneren Gouvernements abschieben ließ. Das gleiche Verfahren wurde auch auf die nicht kasernierten Mädchen angewendet, aber der Oberst kämpfte mit der Hydra, an Stelle eines abgeschlagenen Kopfes erwuchsen drei und mehr. Jedem vernünftigen mußte einleuchten, daß der Oberst in diesem Kampfe unterliegen mußte, aber er ließ nicht locker, er tat ein Übriges, indem er alsbald alle in Kaffeehäusern und Konditoreien angestellten jungen Mädchen kurzer Hand entlassen ließ, weil auch diese die Sittlichkeit der Armee gefährden konnten.

Wieviele junge Mädchen der Oberst durch diese Maßnahme ins Unglück gebracht, und in welchem Maße er zur Verbreitung der die russische Armee verpestenden Geschlechtskrankheiten beigetragen hat, bleibe ununtersucht.

Noch viele andere Vorschriften ähnlichen Charakters erließ Oberst Felitschkin, und er sorgte dafür, daß die örtliche [86] Presse seine vielfachen Verdienste nach Gebühr würdigte, denn welchen Sinn hätten seine Bemühungen gehabt, wenn sie nicht in die breite Öffentlichkeit und namentlich vor die Augen der hohen Vorgesetzten gelangt wären!

Freilich stieß der gute Oberst in seinen auf Sittlichkeit und Ordnung gerichteten Bestrebungen auf viele Hindernisse und mußte so manche bittere Enttäuschung erleben. Daß er im Kampfe mit der Unsittlichkeit ein vollständiges Fiasko erlitt und schließlich beide Augen zudrücken mußte, haben wir bereits gesehen.

Sein Kampf mit dem Alkohol brachte ihm neben einigen ganz handgreiflichen Zusammenstößen mit bezechten Offizieren auch insofern Kummer ein, als der Hausbrand trotz eines außerordentlich entwickelten Spitzelsystems und trotz der üppig blühenden Angeberei sich zu immer größeren Umfängen entwickelte und offenbar überhaupt nicht ausgerottet werden konnte. Das mußte dem Obersten um so mehr einleuchten, als es sich gar bald erwies, daß die größte Rigasche Hausbrennerei einen sicheren Unterschlupf im Gebäude der Polizeiverwaltung gefunden hatte und sozusagen unter den Auspizien des Gestrengen wirkte.

Nicht viel besser erging es mit dem Verbote der Konditorei- und Kaffeemädel, denn viele von den brotlos gewordenen Mädchen funktionierten nun nicht mehr als Verkäuferinnen in den Kaffeehäusern, sondern als deren Besucherinnen, und zwar in Gesellschaft derselben Offiziere, deren Sittlichkeit Felitschkin beschützen wollte. Was nun das Verlassen der Häuser nach neun Uhr abends anlangt, so konnte auch diese Vorschrift nicht aufrecht erhalten werden, denn es erwies sich, daß die Patrouillen, die den Wachdienst zu besorgen hatten, die Passanten, — an solchen hatte es trotz allem nicht gefehlt —, wohl anhielten, sie aber gegen entsprechende Zahlung wieder laufen ließen, oder aber die späten Wanderer einfach ausplünderten. Am längsten hielt sich noch die Vorschrift die Einstellung der Straßenbeleuchtung [87] betreffend. Im Laufe eines langen Herbstes mußte man sich durch die finsteren Straßen nach Hause tappen, und es gab da eine Menge ergötzlicher, aber auch trauriger Zwischenfälle. Die kleinen Handlaternen, mit denen man sich bewaffnete, wenn man abends über die Straßen zu gehen hatte, waren eigentlich auch verboten, aber man duldete sie, nur dann und wann wurde irgendein altes Weiblein mit seinem Laternchen eingefangen und auf die Polizei geschleppt, von wo man es dann nach einer Vermahnung wieder entließ.

Schlimmer war es freilich, daß in der herrschenden Dunkelheit Kollisionen der durch die Stadt sausenden Kraftwagen an der Tagesordnung waren, und vom Felde eintreffende Ordonnanzen die Personen und Stellen, an die sie sich zu wenden hatten, oft stundenlang suchen mußten. Aber alle diese Lappalien kamen gegenüber den höheren Zwecken, die Felitschkin verfolgte, nicht in Betracht.

Der Oberst war eben nicht nur auf die Sittlichkeit von Armee und Bürgern bedacht, sondern er sorgte auch dafür, daß den bösen deutschen Fliegern das Zielen und Beobachten unmöglich gemacht oder doch erschwert wurde. Er hatte daher von seinem Standpunkte durchaus recht, als er im Herbste 1916 einen alten achtzigjährigen Juden, der sinnlos vor Schreck über die vom Zeppelin geworfenen Bomben mit der brennenden Lampe auf die Straße gestürzt war, einsperren ließ, weil der Mann seiner Ansicht nach den deutschen Zeppelinmännern Signale gegeben hatte. Der unglückliche Alte wurde erst nach achtmonatiger Einzelhaft und wiederholtem hochnotpeinlichem Verhör entlassen.

Am längsten bestand das Verbot von Konzerten und Theatervorstellungen, aber dann wurde auch dieses umgeworfen, und zwar von keinem Geringeren, als von dem direkten Vorgesetzten des Obersten Felitschkin, dem Stabschef des Generals Radko Dmitriew, General Beljajew, einem außerordentlich selbstherrlichen Kriegsmanne, der zur Zeit der [88] zweiten Katharina fraglos eine außerordentlich gute Figur gemacht haben würde. Doch es ist nicht meine Aufgabe, mich über die militärischen Fähigkeiten dieses Grandseigneurs von echt russischer Prägung auszulassen.

Fest steht, daß die von diesem General verfügten und vom Polizeimeister minutiös ausgeführten Verfügungen mit dem Augenblick erheblich gelockert wurden, als das Hauptquartier aus Wenden nach Riga verlegt worden war. General Beljajew hätte sich in der Tat in dem Trappistenkloster kaum wohl gefühlt, denn er war ein feiner und genußfreudiger Kenner und Verehrer des Schönen und Angenehmen in seinen mannigfachsten Gestalten. So liebte er beispielsweise guten Kaffee, den er in einem der eleganten Kaffeehäuser der Stadt einnahm. Man könnte über diese von nicht wenigen geteilte Liebhaberei mit Schweigen hinweggehen, wenn die Neigung des allmächtigen Stabschefs für guten Kaffee nicht auch anderen zugute gekommen wäre. Das geschah in der Weise, daß man in diesem Kaffeehause nicht nur süßen Kaffee, sondern auch Torten und ähnliche Leckereien erhalten konnte, während man sonst in der Stadt Zucker nur mit einer Laterne auftreiben konnte, deren Scheiben aus einigen Hundertrubelscheinen bestehen mußten. Das Backen von Kuchen war schon längst untersagt worden, weil es eben nicht angängig war, daß die einen, die wenigen, schlemmten, während die anderen, die vielen, kaum das tägliche Brot hatten. Wer nun Geld genug in seinen Beutel tun konnte, dem war es nicht verwehrt, jenes Kaffeehaus zu besuchen, dort an dem seigneuralen Gehaben des von lieblichen Mundschenkinnen — auch solche gab es dort —, bedienten Generals sich zu erbauen, und die eben aufgezählten guten und seltenen, also auch danach bewerteten Dinge sich einzuverleiben.

General Beljajew liebte aber nicht nur guten Kaffee in der erforderlichen verfeinerten Aufmachung, sondern er war auch ein Freund der Kunst Terpsichorens und als solcher der Freund des Theaterdirektors Angarow, den er alsbald [89] nach Riga berief und ihm zunächst das russische und dann auch das deutsche Stadttheater zur Verfügung stellte. Nebenbei sei bemerkt, daß besagter Angarow in der Folge alle anderen Theatersäle der Stadt in seine Hand nahm, weil Exzellenz Beljajew keinem anderen als nur seinem Freunde seine Konzession erteilte. Es war also für gutes Theater, Drama und Oper gesorgt, und schließlich wurden auch die Schleusen der lange eingedämmten Musik geöffnet, und es gab mit einem Mal so viel Konzerte, daß es bald an Hörern zu mangeln begann. Nebenher blühten ein paar Dutzend Kinos und drei oder vier Tingeltangel, deren Darbietungen an Unzweideutigkeit nichts zu wünschen übrig ließen und sich daher des ungeteilten Beifalles des Kriegsvolks erfreuten.

Die Bemühungen des Polizeimeisters waren also vergeblich gewesen, Exzellenz Beljajew hatte in seine weisen Verordnungen eine mächtige Bresche gelegt, durch die Frohsinn und heiterer Lebensgenuß ihren sieghaften Einzug feierten. Aber Oberst Felitschkin ließ sich dieserhalb nicht anfechten. Wenn er bis dahin die Fahne der Enthaltsamkeit in nerviger Faust gehalten hatte, so folgte er nun als getreuer Schatten seinem hohen Patron in die Kaffeehäuser, die Theater, die Tingeltangel und sonstige vergnügliche Etablissements, wozu er sich, nebenbei gesagt, keiner sonderlichen Überwindung zu befleißigen hatte, — es erwies sich, daß auch der Oberst die Rosen, die am Wege des Kriegsmannes blühten, zu schätzen und zu pflücken verstand.

Es wurde also in den altersgrauen Mauern Rigas glänzend, geräuschvoll und lustig. Dafür sorgten neben Exzellenz Beljajew die zahlreichen Offiziere des Stabes, fast alle sehr wohl situierte, sehr auskömmlich besoldete und an eine breitwürfige Lebensführung gewöhnte Herren, die sich nichts abgehen ließen, in Kraftwagen von ungeheueren Pferdestärken oder in Gespannen von kolossaler Schneidigkeit und Kostspieligkeit einherfuhren, sich englisch kleideten und nach [90] jeder größeren Aktion den nächsten Orden mit Schwertern und Schleife erhielten.

Neben diesen Köpfen der Armee gab es noch andere Köpfe, wenn man sich so ausdrücken darf, das waren die Militärbeamten verschiedener Bezeichnungen und verschiedener Ressorts, die Herren Intendanten, Ingenieure, Techniker, die Leute vom Roten Kreuz, die Vertreter der großen Verbände der Städte und Landschaften, sowie anderer Organisationen, die man unter dem Namen der „Landschaftshusaren“ zusammenfaßte, und die allerlei Uniformen von äußerst kriegerischem Schnitt sowie die Schärfe des Schwertes an ihrer Hüfte trugen, wenngleich ihre Funktionen die friedfertigsten von der Welt waren. Das alles ging in den elegantesten Waffenröcken von englischem Schnitt und den wundervollen Gallifets einher, rasselte mit dem Säbel, klirrte mit den Sporen, trug die Mütze im Nacken und war bemüht, sein Geld mit Anstand unter die Leute zu bringen.

Um diese militärischen und militärisch aufgeputzten Herrschaften drängten sich verschiedene außerordentlich solid ausschauende Zivilisten, die auf den ersten Blick die Petersburger oder Moskauer Herkunft und die Zugehörigkeit zur hohen Finanz verrieten, das waren die großen Lieferanten der Armee, Männer, die Millionengeschäfte machten und sich mit den Herren vom Stabe gut standen. Damit soll nun nicht vielleicht etwas angedeutet werden, — bewahre, Rußland ist über die Zeiten der Greger, Horwitz und Kohan, der Lieferanten des Türkenkrieges, die beinahe den damaligen Höchstkommandierenden, den Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch, den Vater des einstigen Höchstkommandierenden im gegenwärtigen Kriege, kompromittiert hätten, wenn die Untersuchung gegen die Hallunken nicht auf allerhöchsten Befehl rechtzeitig niedergeschlagen worden wäre, Rußland ist längst über diese Zeiten hinausgewachsen, es hat keinen Platz mehr für die Greger, Horwitz und Kohan. Man machte Millionengeschäfte, ohne sich und den Höchstkommandierenden [91] zu kompromittieren, und verdiente nicht weniger, als die eben genannten legendären Spitzbuben.

Und wie man verdiente! Die Milliarden, die der Krieg kostete, mußten doch irgendwo bleiben, und es war nur zu natürlich, daß das schöne Geld in die Hände gelangte, die damit umzugehen verstehen. Einiges blieb ja freilich hier und dort kleben, aber das meiste wurde doch seiner sozusagen natürlichen Bestimmung zugeführt.

Ja, man verdiente viel Geld, entsetzlich viel Geld! Wer offene Augen, einen offenen Kopf und greifsichere Hände hatte, konnte über Nacht zum Millionär werden. Die Millionäre schossen wie die Pilze aus der Erde. Man brauchte sich nur an eine der blitzschnell auftauchenden Konjunkturen zu hängen und sie wieder beizeiten loszulassen, um sich an die nächste zu klammern. Heute waren es Rotholzmöbel, morgen Dauerbutter, übermorgen Zucker, überübermorgen Barchentunterjacken, die Reichtum brachten. Man machte in Häusern, Schiffen, Juwelen, Konservenbüchsen, Fabrikationsrückständen, Tabak und schließlich in allem, was verkauft und gekauft wird. Es war eine Lust zu leben, für den, der eine Konjunktur zur rechten Zeit erkannte und sie zur rechten Zeit wieder fahren ließ!

Was Wunder, daß der verbotene Sekt in Strömen floß, daß die Goldschmiede, Luxuswaren- und Juwelenhändler Bombengeschäfte machten und die Delikatessenhandlungen gar nicht Waren genug herbeischaffen konnten, um der enormen Nachfrage genügen zu können. Man zahlte für Blumenarrangements, die man befreundeten Damen darbrachte, Hunderte von Rubeln; man erlegte, ohne mit der Wimper zu zucken, für eine Birne zehn Rubel und für eine Flasche Portwein 75. Man sah Offiziere und Militärbeamte Luxuswäsche für Hunderte und Tausende von Rubeln kaufen.

Die Juwelenhändler aber feierten wahre Feste; wenn sie auch die Preise ins Ungemessene steigerten, so kaufte man doch, denn man wollte nicht nur freies Geld anlegen, sondern [92] man hatte sich auch hier und da erkenntlich zu zeigen und Souvenirs zu stiften, die schwerer wogen als Süßigkeiten, Blumen und Wohlgerüche, die übrigens auch mit Gold aufgewogen werden mußten.

Kurzum, der Rubel rollte, und man hätte sich die über die Stadt hereingebrochene Goldflut gar gern gefallen lassen, wenn sie sich gleichmäßig verteilt hätte und nicht nur einzelnen wenigen zugeströmt wäre. Die Übertragung des Petersburger bzw. Moskauer großen Lebensstils auf Riga hatte eine Verteuerung aller Bedarfsartikel zur Folge, die nur von denen nicht empfunden wurde, die sich an dem frohen Reigen beteiligen durften. Trotz der ungeahnten Geldfülle wußte man bald nicht mehr ein noch aus. Man hatte die teuersten Delikatessen im Überfluß, aber kein Brot; man konnte sein Auge an den schönsten Blumen ergötzen, aber es mangelte an Kartoffeln; man hatte Parfümerien zu Phantasiepreisen zur Verfügung, aber es fehlte an Petroleum. Wir konnten uns in fünf Theatern, diversen Tingeltangeln und ungezählten Kintöppen amüsieren, aber wir wußten nicht, wie wir unsere Wohnungen warm bekommen sollten, denn Brennholz war so teuer geworden, als ob es pures Mahagoni gewesen wäre.

Die Nöte der Bürgersleute konnten das Hauptquartier natürlich nicht anfechten, es war und blieb glänzend und geräuschvoll, und der einzige stille und schlichte in dieser lauten Schar war der Kommandierende der XII. Armee, General Radko Dmitriew, den man weder im Kaffeehause, noch im Theater oder Tingeltangel, sondern lediglich in stillen Alleen auf einsamen Spaziergängen sah. Der kleine, untersetzte General war immer still und ernst. Man sah ihn nur dann lächeln, wenn er spielenden Kindern zuschaute und sie mit Süßigkeiten fütterte, mit denen er sich die Manteltaschen vollgestopft hatte.

In dieses Sodom und Gomorrha platzte wie eine Bombe die Nachricht von der Revolution herein. Die Autoritäten, [93] also wiederum Beljajew und Felitschkin, mögen gehofft haben, daß es sich um einen zeitweiligen Putsch handelte, denn sie verheimlichten die Nachricht, so lange sie sich verheimlichen ließ, aber schließlich mußte man doch mit der außerordentlich unangenehmen Wahrheit herausrücken, und nun waren die goldenen Tage des Hauptquartiers zu Ende. Statt der glänzenden Herren vom Stabe und von der Garde gab nun den Ton der Soldat an, der Arm in Arm mit dem Arbeiter einherging und von der Errichtung des Zukunftsstaates nicht nur träumte, sondern ihn auch praktisch ins Leben zu rufen trachtete.

Das geschah zunächst in der Weise, daß der Soldat die Disziplin und sonstige Dinge, die ihn in der freien Entfaltung seines Menschentums behindern konnten, abschaffte, wie etwa die täglichen Exerzitien und ähnlichen Firlefanz, der des Zukunftsstaates auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts unwürdig gewesen wäre. Die Herren vom Hauptquartier hatten nun böse Stunden zu durchleben; freilich wurden sie nicht, wie das an anderen Orten geschehen ist, entwaffnet, auch wurden sie nicht an Leib und Leben geschädigt, aber man nahm ihnen einen beträchtlichen Teil ihrer Gewalt; mit dürren Worten, der Stab und das Generalkommando durften nur dann verfügen, wenn sie sich vorher mit dem ausführenden Komitee des Soldatenrates, dem „Iskosol“, in Verbindung gesetzt und dieser seine Genehmigung zu dieser oder jener Maßnahme erteilt hatte. Die eigentlichen Herren der Situation waren also nunmehr nicht etwa General Radko Dmitriew und seine Gehilfen, sondern die Leute vom Iskosol, Soldaten, vorzugsweise jüdischer Nationalität, die im Zivilverhältnis Juristen gewesen waren.

Die wesentliche Sorge der bisherigen Gewalthaber war nunmehr darauf gerichtet, diesem fatalen Geruche zu entgehen, die Herren vom Iskosol nicht zu vergrämen und sich überhaupt den neuen Verhältnissen, die ihnen natürlich [94] nichts weniger als sympathisch sein konnten, anzupassen. Und man muß sagen, daß sie die Anpassungspolitik mit viel Schmiegsamkeit und Geschick durchführten.

Freilich vermochten nicht alle ihre Überzeugungen und Anschauungen so fabelhaft rasch gegen die nötige demokratische Gesinnung umzutauschen. Zur Ehre des Generals Beljajew sowie seines getreuen Schildknappen Felitschkin sei gesagt, daß beide zu diesen ganz wenigen gehörten und von der Bildfläche verschwanden. Sie mußten für einige Zeit in sicheres Gewahrsam gebracht werden, da man anderenfalls gegen sie gerichtete Ausschreitungen zu befürchten gehabt hätte.

Das auf den hochherrschaftlichen Ton gestimmte Leben des Hauptquartiers der XII. Armee veränderte sich in wenigen Tagen bis zur Unkenntlichkeit. Es schien, als ob das bisher so geräuschvoll pulsierende Leben erstorben sei, man sah auf den Straßen weder Offiziere, noch Militärbeamte oder die „Landschaftshusaren“, dafür aber um so mehr Soldaten, die sich der jungen Freiheit erfreuten und von ihr in ihrer Art Gebrauch machten. Wer konnte das souveräne Volk und die große revolutionäre Armee daran hindern? Etwa die Offiziere, die sich nicht zeigen mochten, um unangenehmen, zuweilen tragisch endenden Zusammenstößen zu entgehen, oder die Polizei, die ja nicht mehr bestand, — man hatte sie sofort abgeschafft und an ihre Stelle die Volksmiliz gesetzt. Nichts konnte weder Volk noch Armee behindern, und so tagten denn in den ersten Revolutionswochen Tag und Nacht an hundert Orten zu gleicher Zeit die Soldaten- und Volksmeetings, auf denen man an der Errichtung des Zukunftsstaates arbeitete, indem man Rede auf Rede losschoß, aber leider nie ins Ziel traf.

Das war nun freilich schwer, denn wem sollte man eigentlich glauben? Irgendwelche Aufklärungen oder Hinweise gab es in der ersten Zeit noch nicht, auch die revolutionäre Presse war noch nicht ins Leben getreten. Man [95] lauschte also den Rednern, von denen der eine genau ebenso glänzend sprach wie der andere, — das russische Volk ist ja, zu seinem Unglück, ein Rednervolk von Beelzebubs Gnaden. Man jubelte allen Rednern zu, die das Wort „Freiheit“ recht häufig aussprachen, gegen die Vorgesetzten und Bourgeois wetterten und die Menschenrechte des Soldaten betonten.

Im übrigen vernichtete man die alten ruhmreichen Feldzeichen und setzte an ihre Stelle rote Fahnen mit zumeist unorthographischen Inschriften hochdemokratischen Charakters. Von den Mützen verschwanden die kaiserlichen Kokarden, man übertünchte sie mit roter Farbe. Die Armee durchlebte eine Orgie in Rot. Rot waren nicht nur die Feldzeichen und Kokarden, sondern auch die Knöpfe und Achselstücke, und zum Überflüsse trug noch jeder Soldat und fast jeder Offizier eine flatternde rote Bandschleife. Der Rotkoller der Zivilisten fand seinen prägnantesten Ausdruck darin, daß der Roland vor dem Rathause über Nacht rot angestrichen wurde.

Es ging also auch unter dem republikanischen Regiment, wenn nicht glänzend, so doch um so geräuschvoller zu.

Am meisten Geld ließen aber die Soldaten der glorreichen revolutionären Armee in den von ihnen in der freien Gottesnatur etablierten Kartenklubs draufgehen. In diesen Klubs, die in den öffentlichen Parks florierten, wurde das Hasardspiel ununterbrochen Tag und Nacht betrieben. Man spielte auf ausgebreiteten Mänteln im Schatten der Bäume oder in Zelten. In den Banken, die aufgelegt wurden, befanden sich oft viele tausend Rubel, und einzelne Spieler gewannen und verloren in einer Nacht oder an einem Tage wiederum Tausende. Freilich ging es in diesen eigenartigen von der Revolution geborenen Klubs nicht immer glatt ab, — nur zu häufig entstanden Meinungsverschiedenheiten, die entweder mit der Faust oder mit der Waffe in der Hand ausgetragen wurden. Nun muß aber gerechterweise [96] bemerkt werden, daß im selben Maße, wie das lustige Leben der Armee sich verdichtete und schließlich zum Bacchanal ausartete, die Zahl der Verbrechen in der Stadt und auf dem flachen Lande in erschreckendem Maße zunahm; der ursächliche Zusammenhang ist wohl nicht schwer herzustellen.

Das Offizierskorps sah sich veranlaßt, so wenig als möglich in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Einerseits war es gewiß nicht angenehm, im Theater oder Kaffeehause neben einem mitunter bezechten, stets mehr als ungenierten Soldaten von urwüchsigsten Sitten zu sitzen, andererseits aber waren die Einnahmequellen vieler erheblich knapper geworden, denn die Soldatenkomitees, die viel ungereimtes Zeug zustande brachten, bewirkten doch auch einiges Gute, so beispielsweise eine sehr genaue Kontrolle über verausgabte Gelder …

Wenn in der vorhergehenden Periode die „Bourgeoisie“, die nun vollständig unten durch war, goldene Zeiten erlebt hatte, so blühte jetzt der Weizen des Arbeiters, der seine schwielige Faust nach den Gütern des Lebens ausstreckte und davon nach Möglichkeit zu erraffen suchte. Die Arbeitslöhne stiegen von Tag zu Tag, und gleichzeitig stipulierte das Proletariat den acht- und später den sechsstündigen Arbeitstag. Man schaltete die Arbeitgeber vollständig aus, ihre Funktionen übernahmen die Arbeiterräte der einzelnen Betriebe; die Prinzipale hatten schließlich nichts anderes zu tun, als die wachsenden Löhne zu zahlen und darüber nachzusinnen, wie sie diese herausarbeiten könnten. Im übrigen war ihre vollständige Erledigung nur eine Frage der Zeit, — alle Betriebe sollten natürlich kostenfrei an die Arbeiter übergehen, und das erforderliche Betriebskapital sollte in der Weise aufgebracht werden, daß man die besitzenden Klassen so lange und so weit besteuerte, bis sie sich in die besitzlosen verwandelt haben würden.

Daß es wirklich dazu gekommen wäre, unterliegt keinem [97] Zweifel, denn das Proletariat, das im engsten Zusammenhang mit der Armee stand, hatte bereits einige Kraftproben in der angedeuteten Richtung abgelegt und hatte seinen souveränen Willen bekundet, auf der einmal erfolgreich beschrittenen Bahn weiter zu gehen.

Man hätte sich auf eine weitere Fortsetzung der heiteren Zwischenspiele, die sich merklich zur Tragödie zuspitzten, gefaßt machen können, wenn der Einzug der Deutschen das Wolkenkuckucksheim nicht in Trümmer geschlagen, und Iskosol, rote Fetzen, Demagogen und den ganzen Plunder nicht wie eine Windsbraut fortgeblasen hätte.