Russische Schattenbilder aus Krieg und Revolution/Auf der Eisenbahn
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Januar 1917. Ich brauche ein Billett nach Petersburg. Was kann es nun Einfacheres geben, als ein Eisenbahnbillett zu kaufen. Ich will diesen Satz nicht bestreiten, wenn er in einem anderen Lande als in Rußland, und zu einer anderen Zeit, als während des Krieges, aufgestellt wird, glaubte ich doch selbst, daß es nichts Einfacheres geben könne, als den Kauf eines Eisenbahnbilletts. Doch ich mußte mich eines Schlechteren belehren lassen.
Auf dem Bahnhofe gibt es Queue, „Chwost“ nennt man das russisch, zu deutsch Schwanz. Es ist ein Schwanz von ungeheuerer Ausdehnung, wie etwa die Verlängerung eines der vorsintflutlichen Saurier, die nie daran gedacht zu haben scheinen, daß sie einst in räumlich beschränkten naturwissenschaftlichen Kabinetten untergebracht werden würden. Die Leute stehen dort schon seit vierundzwanzig Stunden, während früher die Reise nach Petersburg nur elf Stunden erfordert hatte. Doch das war früher so gewesen.
Während ich mir die Sache ansehe, bemerke ich, daß einige Menschen sich den Teufel um den Schwanz scheren, sondern frohgemut an den Schalter treten und ihr Billett in Empfang nehmen. Die scheinen das Goethesche Wort zu kennen, wonach nur Lumpe bescheiden sind. Ich werfe also alle Bescheidenheit über Bord und folge dem Beispiel dieser Auserwählten, doch schleudert mich alsbald ein wütender Zuruf in meines Nichts durchbohrendes Gefühl zurück: „Reihe halten! Nicht vordrängen!“ So schallt es [99] von der bärtigen Lippe des Gorodowoi, der das Schwert an der Seite trägt und Gewalt über uns hat.
„Aber erlauben Sie, da haben doch einige Herren …“
„Das sind die Herren Offiziere, die haben das Recht. Zurück! Nicht vordrängen! Reihe halten!“
In der Tat, da steht es schwarz auf weiß, daß die Herren Offiziere den Vortritt haben, sie brauchen nicht die einzelnen Wirbel des Saurierschwanzes zu bilden.
Ich frage mich, warum ich eigentlich meinen Beruf verfehlt habe und nicht Herr Offizier der kaiserlich russischen Armee geworden bin. Ich frage mich, wie es wohl kommen mag, daß so unendlich viele Herren Offiziere auf der Eisenbahn herumkarren, denn einer nach dem anderen tritt an den Schalter heran, während der Schwanz wächst und sich schon um die nächste Straßenecke schlingt. Ich frage mich, warum jene holde Dame dem Offizier, der ihr etwas überreicht, so süß zulächelt, ach, so süß … Da sehe ich, daß der Herr Offizier für die Dame ein Billett besorgt hat, und nun verstehe ich, warum sie so süß gelächelt. Ich verstehe mit einemmal Verschiedenes.
Wer hilft in allen Nöten und steht den Ratlosen bei? Das ist der Bahnhofsportier! Der Bahnhofsportier bleibt sich überall gleich, er befinde sich wo er wolle, in Sidney, Moskau, Wien oder Madrid, überall ist er stets auf dem Laufenden und zu Diensten bereit.
Da steht er mächtig, mit wehendem Bart. Auf der Brust glitzern die Kreuze und Medaillen. Er steht bolzgerade vor dem Offizier, dem er eine Auskunft erteilt. Ein Prachtkerl, das Urbild eines strammen, dienstfertigen Unterbeamten. Der Offizier geht, nun kann ich mich an den Mann wenden.
„Portier, wie kommt man zu einem Billett nach Petersburg?“
„Erster oder zweiter, zu welchem Zuge?“
[100] Der Mann ist kurz und sachlich, und das erweckt Vertrauen.
„Ganz gleich, ich brauche ein Billett zum nächsten Zuge.“
„Die Kommissionsgebühr beträgt 20 Rbl., der Preis des Billetts ist 17, macht 37.“
„Sagen wir glatt 40.“
Der Mann erhebt seine Rechte beinahe bis zum Mützenrande: „Bitte, nach einer Stunde.“
Nach einer Stunde habe ich das Billett in der Tasche, der Portier knittert 40 Rubel zusammen und tut es zum Übrigen.
Ich möchte im Wartesaal ein Glas Tee trinken. Der Saal ist gestopft voll von Offizieren und ihrem weiblichen Anhang. Es riecht nach Juchten, Tabak, Schnaps, Creme Simon, Puder und Jockeyklub. Dämchen wippen auf und ab. Offiziere klirren hin und her. Man lacht und schwatzt. Man sucht und findet.
Kein Tisch ist frei, alle sind von den Herren Offizieren und den Dämchen besetzt. Ich muß meinen Tee stehend am Büfett einnehmen. Im Wartesaal 3. Klasse und in der Bahnhofshalle liegen auf der schmutzigen, schlüpfrigen Diele todmüde Soldaten, das „heilige graue Vieh“, wie Dragomirow sie zutreffend nannte. Das heilige graue Vieh liegt hier bereits den dritten Tag.
„Seit zwei Tagen haben wir nichts gegessen,“ erzählt mir ein Mann gleichgültigen Tones.
„Ja, warum denn?“
„Sehen Sie, wir sind auf der Durchreise. Unser Rottenkommandeur zeigt sich nicht, er hat sich wohl festgetrunken.“
„Und ihr?“
„Wir warten.“
„Und hungert?“
„Und hungern. Was soll man schon machen, unsere Sache ist gehorchen.“
[101] Ich trete auf den Bahnsteig hinaus. Ich bin nicht so naiv zu glauben, daß ein Billett auch einen Platz bedeutet. Ich weiß, daß ich noch einen schweren Kampf zu bestehen haben werde, und ich wappne mich zu dem Kampfe, indem ich mich mit zwei handfesten Trägern verbünde, die mich in meinem heißen Bestreben, wenn auch nicht einen Platz an der Sonne, so doch am Abteilfenster zu erobern, werktätig unterstützen sollen.
Meine Verbündeten, die ihren Obolus bereits in der Tasche haben, — später kann man ja getrennt werden und ich kann in die Lage geraten, die Leute wider Willen um ihren Lohn zu bringen, erteilen mir einige praktische Winke: Mantel zuknöpfen, Brieftasche sichern, desgleichen Uhr und Portemonnaie; Hut fest aufsetzen und dann die erstbeste Waggontür forcieren und sich durch nichts zurückschrecken lassen.
Wie eine Sturmflut rast das Publikum durch die geöffnete Bahnsteigsperre, meine Verbündeten bilden die Vorhut und stoßen mit elementarer Wucht vor, unter ihren genagelten Stiefeln knirschen Hühneraugen und Gepäckstücke, ihre Ellenbogenstöße schleudern gewichtige Männer und zarte Frauen wie Spreu beiseite. Das nenne ich denn doch zu rücksichtslos, aber es ist keine Zeit um Rücksichten zu nehmen, denn nun werde ich selbst zum Spielball von Rippenstößen: eine Kofferecke bohrt sich in mein Kniegelenk, — sie muß unbedingt eisenbeschlagen sein, eine Reiherfeder kitzelt mich an der Nase, — der Tastsinn arbeitet prestissimo.
Hurra! Hurra! wir sind an der Waggontür. Doch da hat sich die Menge gestaut. Weiß Gott, woher sie gekommen, denn wir waren doch so ziemlich die ersten auf dem Bahnsteige. Meine Vorhut dringt vor, sie hat bereits eine Stufe erobert und bohrt sich nun mächtig vorwärts. Nun bin ich auch auf der Stufe, die nachdrängende Menge hebt mich empor, ich schwebe einen Augenblick über den Köpfen, dann sinke ich wieder! Herrgott, mein Brustkasten, [102] wenn der nur vorhält! Er hält; er kracht, aber er hält. Nochmals werde ich emporgehoben und dann fliege ich wie der Pfropfen aus einer schlecht temperierten Sektflasche in den Korridor des Waggons.
Uff! da wären wir nun. Meine Träger winken in der Ferne, ich arbeite mich zu ihnen durch, sie haben für mich einen Platz in einer Ecke des Korridors erobert, — die Abteile sind allesamt besetzt. Wie kommt das, wir gehörten doch zu den ersten?
Die Leute zucken die Achseln. Die sind früher durch die Sperre gelassen worden, knurrt einer von ihnen, sie haben Protektion!
Da ist nun nichts zu wollen, ich kann allenfalls bedauern, daß ich keine Protektion gehabt habe, immerhin darf ich mich glücklich preisen, denn meine Ecke liegt außerhalb der Wirbel des Malstroms, der an mir vorüberschießt.
Zweite Glocke, meine Verbündeten verabschieden sich. — „Lassen Sie sich nicht von Ihrem Platz vertreiben,“ sagen sie, „es komme, was da wolle, bleiben Sie auf Ihrem Koffer sitzen.“
Dritte Glocke. Der Korridor ist gestopft voll. Die Menschen stehen Schulter an Schulter, und so werden sie bis Petersburg stehen müssen, die ganzen 22 Stunden hindurch, unter Umständen auch länger, denn heutzutage weiß kein Mensch, wann ein Eisenbahnzug ankommt. Man hat die Umlaufszeit der verwegensten Sphärenbummler, der Kometen, auf Stunde und Minute berechnet, aber das Eintreffen eines russischen Eisenbahnzuges in der Kriegszeit kann niemand berechnen.
Der Zug rattert im Schneckengange durch die Nacht. In den Abteilen sitzen die Herrschaften mit Protektion; sie sitzen bequem, sie schauen auf uns Korridor-Plebejer herab. Man schwitzt fürchterlich in der drangvollen Enge. Eine Dame erklärt, daß ihr schlecht werde, man steht ihr bei mit guten Worten und Kölnischem Wasser. Sie beruhigt sich. [103] Aber bald wird es ihr wieder schlecht und man hilft ihr wieder. Sie kann das Stehen nicht vertragen, die Ärmste. Viele können das Stehen nicht vertragen. Man konstatiert das mit Ingrimm. Man spricht das ganz laut aus, damit die in den Abteilen Sitzenden es hören, damit altruistische Gefühle in ihnen wachgerüttelt werden.
Aber die tun so, als ob sie nichts hörten. Da streckt sich ein uniformierter Dickwanst stöhnend und ächzend auf dem Diwan und pafft eine dicke Papiros. Ein hagerer Herr in der Uniform irgendeines Ressorts hat seinen Platz mit Plaids und Kissen umpolstert und blinzelt nun wie ein Uhu aus seinem molligen Neste in den unruhigen Korridor hinaus.
Ein General, alt, dick, aufgeschwemmt, tritt aus einem der Abteile; er drängt sich durch die Menge, er will irgend wohin verschwinden. Er stößt die Leute rücksichtslos beiseite, er preßt sie an die Wand, er arbeitet mit Ellenbogen und Knien.
„Zum Teufel, geben Sie Platz!“ schreit er wütend. „Was ist das für eine Schweinewirtschaft, man kann sich nicht einmal frei bewegen!“
„Bitte, nicht zu drängen!“
„Was? Was sagten Sie da? Wissen Sie, mit wem Sie es zu tun haben? Verstehen Sie? Wie unterstehen Sie sich!“
Aber Seine Exzellenz ist an den Falschen gekommen. Der kleine nervöse Herr läßt sich nicht einschüchtern, er trumpft der Exzellenz auf. Man versperrt Seiner Exzellenz den Weg, er kann nicht weiter, aber er muß doch, er muß dringend! Er flucht und wettert, aber die Menge weicht nicht. Grollend zieht der General sich wieder zurück. Auf der nächsten Station werde er schon Ordnung schaffen.
Der bewußten Dame wird zum dritten Mal schlecht, sie kann das Stehen nicht vertragen. Man beschließt ihr in radikaler Weise zu helfen. Der kleine nervöse Herr wendet [104] sich an eines der Abteile mit der Bitte, zusammenzurücken und der Dame, die das Stehen nicht vertragen kann, ein Plätzchen zu gewähren. Er predigt tauben Ohren, man tut im Abteil so, als ob er Luft wäre.
Der kleine nervöse Herr wendet sich nun an die Korridor-Plebejer mit einer Ansprache, die dahin geht, daß es nicht angängig sei, daß in den Abteilen nur je vier Menschen sich breit machen, während andere, die ihr Billett ebenso bezahlt, wie jene, stehen müßten. Gleiches Recht für alle, sagt der kleine nervöse Herr, und die Korridor-Plebejer murmeln Beifall.
Aber seine Rede macht auf die Abteil-Insassen nicht den geringsten Eindruck. Der dürre Herr in der Uniform irgendeines Ressorts blinzelt aus seinem Neste hervor und meint, es wäre angebracht, unruhige Leute, die aufwiegelnde Reden führen, auf Numero Sicher zu bringen.
Der Fettwanst murmelt Beifall; ein Oberst meint, es sei überhaupt ein Unfug, daß man während des Krieges Zivilisten die Benutzung der Eisenbahn gestatte, sie könnten zu Fuß gehen, die Eisenbahn müsse den Leuten vorbehalten bleiben, die ihr Blut für das Vaterland vergössen.
Irgend jemand sagt bissig, wenn man die Uniform der Intendantur trage, dann vergieße man allenfalls Ochsenblut, und wenn man auf Staatskosten in die nächste Stadt fahre, um seine Geliebte zu besuchen, dann sei es besser, den Schnabel zu halten.
Hierauf wird die Tür zum Abteil energisch geschlossen.
Im Korridor ist es unerträglich heiß. Dem Waggondiener, der beständig hin und her läuft, wird bedeutet, daß er sich einer seßhaften Lebensführung zu befleißigen habe, widrigenfalls er ausgesperrt werden würde.
Jemand hat ein höchst verdächtiges Abteil ausfindig gemacht. Man hört in diesem Abteil keinen Laut, es scheint unbesetzt. Da muß etwas dahinterstecken. Vielleicht haben [105] die Schaffner dieses Abteil für sich reserviert; die Leute bekommen so etwas fertig.
Man beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Alle sind sehr interessiert, insbesondere aber die Dame, die das Stehen nicht vertragen kann. Sie sieht einen Hoffnungsstern winken.
Man pocht an der Tür des geheimnisvollen Abteils; erst leise, dann laut und schließlich so laut, daß der General von vorhin den Kopf aus seinem Abteil hervorsteckt und Ruhe gebietet. Man lacht über den alten Herrn und pocht weiter. Der kleine nervöse Herr schlägt einen kunstvollen Wirbel auf der Abteiltür, er scheint stählerne Knöchel an den Fingern zu haben. Und seine Bemühungen haben Erfolg, man hört den Verschluß schnappen und dann springt die Tür plötzlich auf. Mit einer Duftwelle dringt aus dem Abteil ein indignierter Schrei aus schönem Munde. Wir sehen die glückliche Besitzerin und Alleinherrscherin eines ganzen Abteils, sie steht inmitten eines Tohuwabohu von Köfferchen, Blumensträußen, Säckchen, Beutelchen und Necessaires in einem eleganten, etwas zu eleganten grauen Reisekleide und ist sehr böse, aber das steht ihr ganz ausgezeichnet.
„Was soll das?“ sagt die Dame, und ihre tiefe Bruststimme schwingt in empörten Tönen. „Was soll diese Unverschämtheit ! Dieser unerhörte Überfall!“ Die Dame skandiert sehr deutlich und nimmt eine wundervoll einstudierte Pose an. „Das Abteil ist mir von Seiner Exzellenz, General Beljajew, eingeräumt worden, vom Stabschef Beljajew, verstehen Sie? Ich bitte Sie, sich sofort zu entfernen, widrigenfalls ich von der nächsten Station General Beljajew telegraphieren werde; er wird den Zug anhalten, er wird nicht dulden, daß man mich beleidigt.“
Die schöne Dame, es ist eine Schauspielerin, holt ein goldenes Täschchen hervor und entnimmt ihm ein Papier.
[106] „Hier,“ sagt sie, „der Passierschein von General Beljajew. Er hat mir ein Abteil anweisen lassen, ich werde von der nächsten Station telegraphieren, er wird es nicht dulden …“
Der schönen Dame verschlägt die Stimme, sie schaut zornig auf uns.
Wir weichen zurück, denn wir wissen, daß General Beljajew ein gewaltiger Mann ist. Er braucht nur seinem Sancho Pansa, dem Polizeimeister Felitschkin, einen Wink zu geben oder die Abteilung für Konterspionage entsprechend zu informieren und jeder von uns wandert unweigerlich in die entfernteren Gegenden Sibiriens. General Beljajew versteht keinen Spaß, wenn es sich um eine schöne Schauspielerin handelt. Das wissen wir und weichen zurück.
Der kleine nervöse Herr läßt sich aber nicht ins Bockshorn jagen. Er pfeift auf General Beljajew, auf Felitschkin und die Konterspionage; er kann sich diesen Luxus leisten, denn er ist — Mirsojew. Mirsojew, der die Petroleum-, Stroh-, Heu-, Hafer- und eine Million anderer Lieferungen hat. Der legendäre Mirsojew, der in einer Woche eine Million verdient und in einer Nacht Zehntausende fortwirft. Mirsojew, der mit Großfürsten auf dem Duzfuße steht und den Kriegsminister um den Finger wickelt.
Mirsojew nennt seinen Namen und die zornige Dame wird eitel Sonnenschein. Mirsojew bittet die zornige Dame um ein Plätzchen für die Dame, die das Stehen nicht vertragen kann, und die zornige Dame nickt hold lächelnd Gewährung. Mirsojew bittet um ein Plätzchen für sich und für andere Korridor-Proletarier, und die zornige Dame tut entzückt.
Leider können nicht alle in das Abteil.
Mirsojew hat glücklich sechs Personen untergebracht, aber mehr gehen in das Abteil nicht hinein, da versagt auch Mirsojews Macht.
[107] Wir bleiben im Korridor, der noch immer gestopft voll ist. Wir schlummern und schwitzen und jappen nach Luft, wie Fische, die aufs Trockene geraten sind.
Wenn der Zug hält, dann steigen die Herren Offiziere ein. Sie schimpfen und wettern, daß die verfl..... Zivilisten sich im Korridor herumstoßen, und sie hinterlassen, wenn sie gegangen sind, einen Duft von Juchten, Tabak und Schnaps. Es ist verwunderlich, wieviele Herren Offiziere auf der Eisenbahn herumkarren und wie stark sie nach Juchten, Tabak und Schnaps riechen.
Mai 1917.
„Ich brauche ein Billett nach Petersburg.“
Der Portier steht im Vollbewußtsein seiner Menschenwürde an der Tür. Der Portier hat die Kreuze und Medaillen abgelegt und sich mit roten Schleifen dekoriert. Er lehnt lässig an der Tür und liest sein maximalistisches Leibblatt. In seiner Haltung drückt sich das Vollbewußtsein seiner Würde als Mensch, Bürger und Portier aus.
Das Vollbewußtsein der Menschenwürde rührt daher, daß die Eisenbahner die Erhöhung ihrer Gehälter um 150 Prozent und den Achtstundentag durchgesetzt haben.
„Ich brauche ein Billett nach Petersburg, Genosse,“ sag ich.
„Belieben Sie sich, Genosse,“ erwidert er, „an die Kasse zu begeben.“
„Ich bin eilig, ich möchte nicht Queue stehen, die Herren Offiziere …“
„Die Herren Offiziere? Heutzutage gibt es, Gott sei Dank, keine Herren Offiziere, überhaupt keine Herren, sondern nur gleichberechtigte Bürger-Genossen. Die Offiziere haben zu warten, die Soldaten der freien revolutionären Armee gehen voran.“
[108] Der Gewaltige wendet sich ab, er hat ohnehin zu viel Zeit verloren, er versenkt sich wieder in sein maximalistisches Leibblatt.
An der Kasse gibt es weder Anschläge noch Gorodowois. In einem freien Land sind Anschläge überflüssig, die Gorodowois sind längst abgeschafft worden. In der Ferne sieht man einen Milizionär, der die Funktionen eines Polizisten ausüben soll, doch hat er hierzu eben keine Neigung, er spielt mit einem Soldaten-Genossen Schrift oder Adler und erfreut die Zuschauer durch Kraftwörter von unerhörter Wucht.
Der Genosse-Kassierer stillt rasch mein Sehnen, ich habe mein Billett in den Händen, ohne daß ich Kommissionen zu zahlen oder im „Schwanz“ zu stehen brauchte.
Ich habe Zeit und beschließe, im Wartesaal ein Glas Tee zu trinken. Im Wartesaal erster Klasse, möchte ich hinzufügen, damit dem Leser die Situation ganz klar wird. Der Wartesaal bietet, wie im Januar, ein Abbild von Wallensteins Lager, nur sitzen jetzt an den Tischen und auf den Sofas nicht mehr die Herren Offiziere mit ihrem weiblichen Anhang, sondern die Herren Soldaten der großen glorreichen revolutionären Armee. Zum Teil auch mit weiblichem Anhang, den sie recht handgreiflich behandeln. Es riecht nicht mehr nach Juchten, Schnaps und Tabak, nach Creme Simon, Puder und Jockeyklub, sondern nach Machorka, Fußlappen, Klettenöl und Kaserne. Die Soldaten der großen revolutionären Armee sitzen mit aufgeknöpften Hemdkragen, die Luft des freien Wartesaals weht um freie Manneskehlen. Sie trinken Tee, rauchen und knacken Sonnenblumenkerne; die Schalen der Kerne bedecken in dicker Schicht den Fußboden, wenn man geht, dann raschelt es, als ob man im Herbstwalde über dürres Laub schritte.
Einzelne Soldaten der freien revolutionären Armee klimpern auf der Zupfgeige, andere entlocken der Ziehharmonika [109] die Töne der Marseillaise oder eines Gassenhauers, — man weiß nicht recht, welche Melodien mehr Beifall finden.
Ich schaue mich nach einem Plätzchen um, aber alle Tische sind besetzt und keiner der Soldaten der freien revolutionären Armee will mir einen Platz einräumen. Ich trinke daher meinen Tee stehend am Büfett, und neben mir stehen einige Offiziere, die gleichfalls still und bescheiden ihren Tee einnehmen und achtungsvoll beiseite treten, wenn ein Soldat an das Büfett herantritt, um seine Wünsche zu äußern.
Ich bin mit meinem Tee zu Ende und begebe mich auf den Bahnsteig. In der zugigen Vorhalle sitzen auf ihren Koffern einige Offiziere, sie warten auf den Abgang des Zuges, sie warten still und geduldig, ganz wie damals im Januar das „heilige graue Vieh“.
Es gibt keine Bahnsteigsperre, sie wäre eines freien Landes unwürdig. Das freie Volk flutet frei über den Bahnsteig, d. h. es flutet nicht, der Bahnsteig ist leer, ganz auffällig leer, man sieht nur einige Offiziere und wenige Zivilisten.
„Gott gebe,“ sagt im Waggon ein grauer Oberst, „daß wir unsere Plätze behalten dürfen.“
„Aber die Waggons sind doch beinahe leer, ganz auffällig leer.“
Der Oberst lächelt nachsichtig, wie man zu den Worten eines unvernünftigen Kindes lächelt. Er hat sich einen Platz an der Tür gewählt, einige andere Offiziere stehen im Korridor und bringen ihr Gepäck in den dort befindlichen Netzen unter.
„Warum kommen die Herren nicht ins Abteil?“
Der Oberst lächelt wieder nachsichtig und ordnet die Orden auf seiner Brust. Er muß ein tapferer Mann sein, denn er ist Inhaber einiger Auszeichnungen für Tapferkeit, und die Chevrons an seinem Rockärmel zeigen, daß er fünfmal verwundet worden ist.
[110] Die zweite Glocke. Es ist noch immer leer im Waggon.
„Das wird eine bequeme Fahrt werden,“ meine ich, „kein Menschenkind fährt.“
Der Oberst lächelt zum dritten und zum letzten Mal, dann wird sein Gesicht ernst und hart, denn man hört plötzlich das Brausen und Johlen einer großen Volksmenge.
„Was ist denn eigentlich los?“
Ich schaue zum Fenster hinaus und sehe die Soldaten der freien revolutionären Armee in hellen Haufen heranstürmen; einzelne von ihnen tragen Bündel, andere schleppen Körbe und Koffer, noch andere führen nichts als nur ihren weiblichen Anhang mit sich. Die Menge flutet heran, sie schwatzt, lacht, klimpert auf der Zupfgeige und sprüht Sonnenblumenschalen um sich.
„Vorwärts, Kinder,“ ruft ein Soldat der freien revolutionären Armee in die Waggons. Der Haufe drängt sich in den Korridor unseres Waggons erster Klasse. Ein Koffer fährt in eine Fensterscheibe, die dem Anprall nicht stand hält und zerbricht. Man lacht. Man drängt vorwärts.
„Das ist ein Waggon erster Klasse,“ sagt jemand.
„Das sehen wir,“ antwortet ein pockennarbiger Soldat, „wir fahren nicht anders, als erster Klasse.“
„Herr Oberst, rücken Sie einmal ans Fenster, ich will an der Tür sitzen.“
Der Oberst rückt ans Fenster, seinen Platz nimmt ein Soldat der freien revolutionären Armee ein. Er dehnt sich behaglich und rollt sich aus Zeitungspapier und Machorka eine Zigarette.
„Grischka, Trofim,“ ruft er, „hierher, hier ist noch Platz!“
Einige andere Soldaten erscheinen und füllen das Abteil mit dem Duft von Machorka, Fußlappen und Kaserne.
„Grischka, hast du dein Billett?“
„Red’ doch nicht so dumm, du Tölpel, wer braucht heutzutage noch ein Billett. Ich fahre ins Dorf und damit basta!“
[111] „Mit Urlaub?“
„Mit Urlaub? Hat sich was! Ich fahre ins Dorf und damit basta. In den Trancheen ist es zum Krepieren langweilig, im Dorf ist es aber jetzt wunderschön. Vielleicht komme ich im Herbst zurück, wenn es sich so machen sollte.“
Die Soldaten der großen revolutionären Armee fühlen sich durchaus als Herren der Situation. Die Zupfgeige klirrt und die Ziehharmonika dudelt; dazwischen erschallt das Kreischen des weiblichen Anhanges und Kraftwörter, die der Russe „dreistöckig“ nennt, schwirren durch den Waggon.
Im Nebenabteil ist ein Streit entstanden: ein Soldat nötigt die alte Dame, die am Fenster sitzt, den Platz seinem weiblichen Anhange zu überlassen. „Du hast in deinem Leben genug auf weichen Polstern gesessen,“ sagt er, „jetzt sind wir an der Reihe. Also, mach mal Platz.“
Die alte Dame remonstriert empört, aber man macht mit ihr wenig Federlesens, ihre Sachen fliegen krachend in den Korridor hinaus, und sie ergreift nun die Flucht, verfolgt von dem schallenden Gelächter der Soldaten und ihres weiblichen Anhanges. Die Dame wendet sich an einige Offiziere, die im Korridor stehen, doch diese zucken die Achseln, sie können der alten Dame nicht helfen, sie müssen froh sein, daß die Soldaten der freien revolutionären Armee sie nicht an die Luft setzen. Sie drücken sich an die Wand, wenn ein Genosse vorübergeht und sie geflissentlich anstößt.
Die dritte Glocke ist schon längst ertönt, aber der Zug steht noch immer am Bahnsteig, denn noch immer strömen Soldaten der großen revolutionären Armee herbei, die mitfahren wollen. Die Waggons sind schon lange überfüllt, die Soldaten sitzen auf den Plattformen und auf den Dächern. Dort oben geht es ganz besonders heiter zu, die Harmonika gellt und die Leute lassen ein Lied erschallen, [112] dessen Text sogar den weiblichen Anhang erröten läßt. Und Scherzbolde gibt es da oben, — sie haben die Ventilatoren entdeckt und benutzen sie, um Sonnenblumenschalen in den Waggon zu spucken.
Endlich setzt der Zug sich in Bewegung, er hat eine Verspätung von mehr als einer Stunde. Im Nebenabteil liegen Soldaten der freien revolutionären Armee mit schmutzigen Stiefeln auf den Sammetpolstern, sie räkeln sich und rülpsen.
Eine Station. Drei Soldaten der freien revolutionären Armee betreten den Waggon.
„Ihre Legitimation!“ herrschen sie einen Offizier an.
Der Offizier reicht den Soldaten ein Papier.
„Alles in Ordnung, Sie können fahren!“
Der Offizier legt die Hand an die Mütze, der Soldat nickt ihm herablassend zu. So gehen sie von Offizier zu Offizier und verlangen von ihnen die Vorweisung ihrer Legitimation. Als sie fertig sind, verlangt einer der Soldaten die Legitimation des Genossen, der auf dem Sammetpolster liegt und sich räkelt.
Man nimmt den Witz mit lautem Lachen auf.
„Meine Legitimation? Weißt du, woher du sie holen kannst …“
Es folgt ein mehr als dreistöckiges Wort. —
Aus einem der Abteile tritt ein Herr, sein Gesicht ist rot und von Ekel verzerrt.
„Man glaubt sich ja in Sodom und Gomorrha,“ murmelt er. „Es ist unglaublich, was die Kerle mit ihren Weibern angeben. Gibt es denn wirklich keine Gewalt, die dieser Schandwirtschaft ein Ende machen könnte!“
„Hoffen wir,“ flüstert ein anderer Herr, „daß es nicht schlimmer kommt. Auf der Kursker Bahn haben die Kerle während der Fahrt drei Offiziere und einen Schaffner zum Fenster hinausgeworfen. Bei Nishni Nowgorod haben sie einen Stationsvorsteher und den Lokomotivführer totgeschlagen, [113] weil diese sich weigerten, den Zug abzulassen, da die Linie besetzt war. Sie fuhren los, und als Resultat gab es einen Zusammenstoß, bei dem gegen dreihundert Menschen den Tod gefunden haben.“
Zwei Soldaten der großen freien Armee schlenkern aus einem Abteil; sie mustern die „Bourgeois“ voller Geringschätzung, lassen uns jedoch unbehelligt; sie begeben sich in einen anderen Waggon, wo eine grandiose Bank aufgelegt sein soll.
Wir sind froh, daß die Vertreter der freien revolutionären Armee gegangen sind, denn, wenn es ihnen beigefallen wäre, uns, die verhaßten „Bourgeois“ zu insultieren, so hätten wir das ebenso ruhig hinnehmen müssen, wie etwa die Offiziere, die sich in einer Ecke des Korridors und im Waschabteil zusammengedrängt haben. Man hat das unerquickliche, nein, unsäglich erniedrigende Gefühl, als ob der Waggon mit seinen Insassen unter der Herrschaft einer Herde von zum Teil drolligen, zum Teil ekelhaften und boshaften, ganz unberechenbaren Pavianen stände.
Wir stehen im Korridor und schwitzen. In den Abteilen liegen die Soldaten der großen revolutionären Armee, die Zupfgeige schwirrt und die Ziehharmonika dudelt. Der Zug rattert im Schneckengange durch das große freie Land.