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Wolodja der Große und Wolodja der Kleine

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Textdaten
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Autor: Anton Pawlowitsch Tschechow
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Titel: Wolodja der Große und Wolodja der Kleine
Untertitel:
aus: Von Frauen und Kindern, S. 175–193
Herausgeber: Alexander Eliasberg
Auflage: 1. – 5. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1920
Verlag: Musarion
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Erscheinungsort: München
Übersetzer: Alexander Eliasberg
Originaltitel: Володя большой и Володя маленький
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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[175]
Wolodja der Große und Wolodja der Kleine

[177] „Laßt mich, ich will selbst kutschieren! Ich setz’ mich neben den Kutscher!“ sagte Ssofja Lwowna laut. „Kutscher, halt, ich setz’ mich zu dir auf den Bock.“

Sie stand im Schlitten, und ihr Mann Wladimir Nikitytsch und ihr Jugendfreund Wladimir Michailytsch hielten sie an den Händen, damit sie nicht umfalle. Die Troika raste schnell dahin.

„Ich sagte doch, daß man ihr keinen Kognak geben sollte,“ flüsterte Wladimir Nikitytsch seinem Begleiter zu. „Was bist du für ein Mensch!“

Der Oberst wußte aus Erfahrung, daß bei solchen Frauen, wie seine Ssofja Lwowna eine war, der stürmischen, ein wenig ausgelassenen Lustigkeit gewöhnlich ein hysterisches Lachen und dann Tränen folgten. Er fürchtete, daß er auch jetzt, nach Hause zurückgekehrt, statt zu schlafen, sich mit Umschlägen und Tropfen abgeben müssen werde.

„Halt!“ schrie Ssofja Lwowna. „Ich will kutschieren.“

Sie war wirklich lustig und triumphierte. In den letzten zwei Monaten, seit ihrem Hochzeitstage, hatte sie sich mit dem Gedanken gequält, daß sie den Obersten Jagitsch äußerer Vorteile wegen, oder, wie man es so nennt, „par dépit“ geheiratet habe; aber heute hatte sie im Vorstadtrestaurant endlich die Ueberzeugung gewonnen, daß sie ihn leidenschaftlich liebte. Trotz seiner vierundfünfzig Jahre war er noch sehr schlank, lebhaft und gelenkig und verstand so gut Witze zu machen und mit den Zigeunerinnen mitzusingen. Die Alten [178] sind jetzt wirklich tausendmal interessanter als die Jungen, und man könnte meinen, daß sie ihre Rollen vertauscht haben. Der Oberst ist zwar um zwei Jahre älter als ihr Vater, aber was bedeutet dieser Umstand, wenn in ihm, aufrichtig gesagt, unvergleichlich mehr Lebenskraft, Temperament und Frische steckt als in ihr, trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre?

Oh, Liebster! – dachte sie sich: – Du Herrlicher!

Im Restaurant gewann sie ferner die Ueberzeugung, daß vom früheren Gefühl in ihrer Seele nicht ein Funke übriggeblieben war. Gegen ihren Jugendfreund Wladimir Michailytsch, oder kurz Wolodja, den sie noch gestern wahnsinnig, bis zur Verzweiflung geliebt hatte, fühlte sie sich jetzt völlig gleichgültig. Heute Abend erschien er ihr so matt, verschlafen, uninteressant und unbedeutend; seine Kaltblütigkeit, mit der er der Bezahlung der Zeche auszuweichen pflegte, empörte sie dieses Mal, und sie mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht zu sagen: „Wenn Sie so arm sind, so bleiben Sie doch zu Hause!“ Die ganze Zeche bezahlte der Oberst.

Vielleicht weil vor ihren Augen Bäume, Telegraphenstangen und Schneehaufen vorüberflogen, kamen ihr die buntesten Gedanken in den Sinn. Sie dachte sich: die Rechnung im Restaurant machte hundertzwanzig Rubel aus, die Zigeuner bekamen hundert Rubel, und morgen kann sie, wenn sie will, auch tausend Rubel zum Fenster hinauswerfen; aber vor zwei Monaten, vor der Hochzeit besaß sie nicht mal drei Rubel eigenes Geld und mußte sich wegen jeder Bagatelle an den Vater wenden. Diese Veränderung!

Ihre Gedanken gerieten durcheinander, und sie erinnerte sich, wie der Oberst Jagitsch, ihr jetziger Gatte, als sie zehn Jahre alt war, ihrer Tante den Hof machte und alle im Hause sagten, daß er sie zugrunde gerichtet habe; die Tante kam auch [179] wirklich oft mit verweinten Augen zu Tische und ging oft auf Reisen, und man sagte von ihr, daß die Arme sich keinen Ort finden könne. Er war damals sehr hübsch und hatte einen ungewöhnlichen Erfolg bei den Frauen; die ganze Stadt kannte ihn, und man erzählte sich, daß er jeden Tag alle seine Verehrerinnen der Reihe nach besuchte, wie ein Arzt seine Patienten. Und auch jetzt ist sein mageres Gesicht, trotz der grauen Haare, der Runzeln und der Brille, besonders im Profil oft herrlich schön.

Der Vater Ssofja Lwownas war Militärarzt und diente einst im gleichen Regiment mit Jagitsch. Auch der Vater Wolodjas war Militärarzt und hatte im gleichen Regiment mit ihrem Vater und mit Jagitsch gedient. Trotz seiner oft sehr komplizierten und unruhigen Liebesabenteuer lernte Wolodja ausgezeichnet; nachdem er die Universität mit großem Erfolg absolviert hatte, widmete er sich den fremden Literaturen und schrieb jetzt, wie man sagte, an einer Dissertation. Er lebte bei seinem Vater, dem Militärarzt, in der Kaserne und besaß trotz seiner dreißig Jahre keinen Pfennig eigenes Geld. Ssofja Lwowna und er hatten als Kinder in getrennten Wohnungen gewohnt, doch unter dem gleichen Dache, und er kam oft zu ihr, um mit ihr zu spielen; sie lernten auch gemeinsam tanzen und französisch sprechen; als er aber zu einem schlanken, sehr hübschen Jüngling herangewachsen war, fing sie an, sich seiner zu schämen, dann gewann sie ihn lieb und liebte ihn wahnsinnig bis zur allerletzten Zeit, wo sie den Jagitsch heiratete. Auch er hatte einen ungewöhnlichen Erfolg bei den Frauen, beinahe von seinem vierzehnten Lebensjahre an, und die Damen, die mit ihm ihre Männer hintergingen, rechtfertigten sich damit, daß Wolodja noch klein sei. Kürzlich hatte von ihm jemand erzählt, daß er als Student in [180] einer Pension in der Nähe der Universität gewohnt habe, und so oft man bei ihm anklopfte, hätte man hinter der Tür seine Schritte und dann die leise Entschuldigung gehört: „pardon, je ne suis pas seul.“ Jagitsch war von ihm entzückt und segnete ihn zu seiner ferneren Tätigkeit, genau so, wie der alte Derschawin den jungen Puschkin; er liebte ihn auch anscheinend. Sie spielten beide stundenlang stumm Billard oder Piquet, und wenn Jagitsch mit einer Troika ausfuhr, so nahm er immer auch Wolodja mit; Wolodja weihte seinerseits nur Jagitsch allein in die Geheimnisse seiner Dissertation ein. Früher, als der Oberst noch jünger war, standen sie sich oft als Nebenbuhler gegenüber, waren aber niemals aufeinander eifersüchtig. In der Gesellschaft, wo sie verkehrten, hieß Jagitsch – Wolodja der Große, und sein Freund – Wolodja der Kleine.

Im Schlitten befand sich außer Wolodja dem Großen, Wolodja dem Kleinen und Ssofja Lwowna noch eine vierte Person – Margarita Alexandrowna, oder, wie man sie allgemein nannte, Rita, eine Kusine der Frau Jagitsch, ein Mädchen von über dreißig Jahren, mit sehr blassem Gesicht, schwarzen Augenbrauen und einem Zwicker auf der Nase, die unaufhörlich, selbst im Froste, Zigaretten rauchte; auf ihrer Brust und ihren Knien war immer Zigarettenasche. Sie sprach durch die Nase, dehnte jedes Wort, war kühl, konnte Liköre und Kognak in beliebigen Mengen vertragen, wurde niemals betrunken und pflegte matt und langweilig zweideutige Witze zu erzählen. Zu Hause las sie vom Morgen bis zum Abend dicke Monatsschriften, die sie mit Asche überschüttete, oder aß gefrorene Aepfel.

„Ssonja, sei nicht so verrückt,“ sagte sie mit singender Stimme. „Es ist sogar dumm.“

[181] An der Stadtgrenze schlug die Troika ein langsameres Tempo ein; Häuser und Menschen flogen vorüber, und Ssofja Lwowna wurde still, schmiegte sich an ihren Mann und gab sich ihren Gedanken hin. Wolodja der Kleine saß ihr gegenüber. Jetzt gesellten sich zu ihren lustigen und leichten Gedanken auch düstere. Sie dachte sich: dieser Mensch, der ihr gegenüber sitzt, weiß, daß sie ihn geliebt hat, und glaubt sicher, daß sie den Obersten par dépit geheiratet hat. Sie hat ihm noch kein einziges Mal ihre Liebe gestanden und auch nicht gewollt, daß er es wisse; sie verheimlichte ihr Gefühl, aber seinem Gesicht konnte man ansehen, daß er sie vollkommen durchschaute, und das tat ihrem Ehrgeiz weh. Das Erniedrigendste an ihrer Lage aber war, daß dieser Wolodja der Kleine ihr nach ihrer Hochzeit plötzlich in auffallender Weise seine Aufmerksamkeit zuwendete, was früher nie der Fall war; er saß stundenlang an ihrer Seite, schwieg oder redete irgendeinen Unsinn; und auch jetzt im Schlitten trat er ihr, ohne mit ihr zu sprechen, leicht auf den Fuß und drückte ihre Hand; offenbar hatte er nur darauf gewartet, daß sie sich verheirate; es war auch offenbar, daß er sie verachtete, und daß sie in ihm nur ein ganz bestimmtes Interesse als ein schlechtes und verdorbenes Frauenzimmer weckte. Und wenn sich in ihrer Seele der Triumph und die Liebe zum Mann mit dem Gefühl der Erniedrigung und des verletzten Stolzes mischten, geriet sie in eine eigentümliche Raserei und hatte den Wunsch, auf den Bock zu steigen, zu schreien und zu pfeifen…

Gerade als sie am Frauenkloster vorbeifuhren, ertönte das Dröhnen der großen, viele Zentner schweren Glocke. Rita bekreuzigte sich.

„In diesem Kloster wohnt unsere Olja,“ sagte Ssofja Lwowna. Auch sie bekreuzigte sich und fuhr zusammen.

[182] „Warum ist sie eigentlich ins Kloster gegangen?“ fragte der Oberst.

„Par dépit,“ antwortete Rita böse, offenbar mit einer Anspielung auf die Ehe Ssofja Lwownas mit Jagitsch. „Dieses ‚par dépit‘ ist jetzt Mode. Eine Herausforderung an die ganze Welt. Sie war so lustig, eine raffinierte Kokette, liebte nur die Bälle und ihre Kavaliere, und jetzt haben wir’s! Damit alle staunen!“

„Es ist nicht wahr,“ sagte Wolodja der Kleine, seinen Pelzkragen umlegend, so daß sein hübsches Gesicht sichtbar wurde. „Es war kein par dépit, sondern ein unsagbares Grauen. Ihren Bruder Dmitrij hat man nach Sibirien verschickt, und niemand weiß, wo er jetzt ist. Und ihre Mutter starb vor Kummer.“

Und er stülpte den Kragen wieder auf.

„Olja hat ganz recht getan,“ fügte er dumpf hinzu. „Als Pflegetochter zu leben, dazu noch mit einem solchen Goldkinde wie Ssofja Lwowna, sowas überlegt man sich erst!“

Ssofja Lwowna hörte in seiner Stimme einen verächtlichen Unterton und wollte ihm eine Frechheit sagen, sagte aber nichts. Ihrer hatte sich wieder die gleiche tolle Stimmung bemächtigt; sie stellte sich im Schlitten auf und schrie mit weinerlicher Stimme:

„Ich will zur Frühmesse! Kutscher, zurück! Ich will die Olja sehen!“

Sie wandten um. Die Klosterglocke dröhnte tief und sprach, wie es Ssofja Lwowna vorkam, von Olja und von ihrem Leben. Nun begann man auch in den anderen Kirchen zu läuten. Als der Kutscher das Dreigespann anhielt, sprang Ssofja Lwowna aus dem Schlitten und ging allein, ohne Begleiter, mit schnellen Schritten zum Klostertor.

[183] „Mach’ es, bitte, etwas schneller!“ rief ihr der Mann zu. „Es ist schon spät!“

Sie passierte ein dunkles Tor und ging die Allee entlang, die vom Tore zur Hauptkirche führte; der Schnee knirschte unter ihren Füßen, und das Glockengeläute tönte direkt über ihrem Kopfe und durchdrang gleichsam ihr ganzes Wesen. Da ist schon die Kirchentür, drei Stufen führen hinab, dann kommt die Vorhalle mit Darstellungen von Heiligen zu beiden Seiten, es riecht noch Wacholder und Weihrauch; dann kommt noch eine Türe, eine dunkle kleine Gestalt macht sie vor ihr auf und verbeugt sich tief, fast zur Erde… Der Gottesdienst hat noch nicht begonnen. Eine Nonne geht vor der heiligen Wand hin und her und entzündet die Kerzen, eine andere zündet die Lichter im Kronleuchter an. Hier und dort stehen an den Säulen und vor den Seitenkapellen unbewegliche schwarze Gestalten. „So werden sie jetzt hier bis zum Morgen stehen!“ dachte sich Ssofja Lwowna, und es kam ihr hier so finster, kalt und langweilig vor, viel öder als auf einem Friedhofe. Gelangweilt betrachtete sie die unbeweglichen, gleichsam erstarrten Gestalten, und plötzlich krampfte sich ihr Herz zusammen. In einer der Nonnen, die klein gewachsen war, schmächtige Schultern und ein schwarzes Tüchlein auf dem Kopfe hatte, erkannte sie, sie wußte selbst nicht woran, Olja, obwohl Olja, als sie ins Kloster ging, voller und vielleicht auch größer ausgesehen hatte. Unentschlossen, in starker Erregung ging Ssofja Lwowna auf die Novize zu, blickte ihr über die Schulter ins Gesicht und erkannte Olja.

„Olja!“ rief sie und schlug die Hände zusammen. Vor Erregung konnte sie kaum sprechen. „Olja!“

Die Nonne erkannte sie sofort; sie hob erstaunt die [184] Brauen, und ihr blasses, reines, frisch gewaschenes Gesicht und selbst das weiße Tuch, das unter dem schwarzen hervorlugte, erstrahlten vor Freude.

„Da hat mir der Herr ein Wunder beschert!“ sagte sie und schlug gleichfalls ihre mageren blassen Hände zusammen.

Ssofja Lwowna umarmte und küßte sie fest, fürchtete aber dabei, daß die Nonne den Weingeruch spüren könnte.

„Wir fuhren eben vorbei und erinnerten uns deiner,“ sagte sie, wie nach schnellem Gehen keuchend. „Mein Gott, wie blaß du bist! Ich… ich freue mich sehr, dich zu sehen. Nun, wie geht’s? Langweilst du dich nicht?“

Ssofja Lwowna blickte auf die anderen Nonnen zurück und fuhr mit gedämpfter Stimme fort:

„Bei uns gibt es viele Neuigkeiten… Weißt du, ich habe Wladimir Nikitytsch Jagitsch geheiratet. Du kannst dich seiner sicher erinnern… Ich bin mit ihm sehr glücklich.“

„Nun, Gott sei gelobt. Und wie geht es deinem Papa?“

„Es geht ihm gut. Er denkt oft an dich. Besuch’ uns doch in den Feiertagen, Olja. Hörst du?“

„Ich werde kommen,“ sagte Olja und lächelte. „Ich werde am zweiten Feiertag kommen.“

Ssofja Lwowna fing, sie wußte selbst nicht warum, zu weinen an. Nachdem sie eine Weile leise geweint hatte, wischte sie sich die Augen und sagte:

„Es wird Rita sehr leid tun, daß sie dich nicht gesehen hat. Sie ist hier mit uns. Auch Wolodja ist hier. Sie warten draußen vor dem Tor. Wie froh wären sie, wenn sie dich sehen könnten! Komm doch zu ihnen hinaus, der Gottesdienst hat ja noch nicht angefangen.“

„Gut, gehen wir,“ sagte Olja.

[185] Sie bekreuzigte sich dreimal und ging mit Ssofja Lwowna zum Ausgang.

„Du sagst also, daß du glücklich bist, Ssonetschka?“ fragte sie, als sie vor dem Tore waren.

„Sehr glücklich!“

„Gott sei Dank.“

Als Wolodja der Große und Wolodja der Kleine die Nonne erblickten, stiegen sie aus dem Schlitten und begrüßten sie mit Ehrfurcht; sie waren beide von ihrem blassen Gesicht und dem schwarzen Nonnengewand sichtlich gerührt, und beiden war es angenehm, daß sie sich ihrer erinnert hatte und herausgekommen war, um sie zu begrüßen. Damit sie es nicht kalt habe, hüllte sie Ssofja Lwowna in den Plaid und schlug einen Schoß ihres Pelzmantels um sie. Die vor kurzem vergossenen Tränen hatten ihre Seele erleichtert und erheitert, und sie freute sich, daß diese lärmende, unruhige und im Grunde genommen unreine Nacht unerwartet ein so reines und sanftes Ende genommen hatte. Um Olja möglichst lange bei sich zu behalten, machte sie den Vorschlag:

„Wir wollen sie etwas spazieren fahren! Olja, setz dich, wir fahren nur eine Weile.“

Die Männer erwarteten, daß die Nonne sich weigern würde, – die Heiligen pflegen ja nie Troika zu fahren, – doch zu ihrem Erstaunen willigte sie ein und stieg in den Schlitten. Während die Troika in der Richtung zur Stadt dahinsauste, schwiegen sie alle und waren nur um das eine besorgt, daß Olja es bequem und warm habe, und ein jeder dachte, wie sie früher gewesen war und was aus ihr geworden ist. Jetzt hat sie ein leidenschaftsloses, ausdrucksloses, kaltes und blasses Gesicht, so durchsichtig, als hätte sie in ihren Adern statt Blut Wasser. Aber vor zwei oder drei Jahren [186] war sie so voll und rotbackig gewesen, hatte nur von Verehrern gesprochen und wegen jedes Unsinns wie wahnsinnig gelacht…

Vor der Stadtgrenze wandte die Troika wieder um; als sie nach zehn Minuten vor dem Kloster hielt, stieg Olja aus dem Schlitten. Jetzt läuteten schon alle Glocken durcheinander.

„Der Herr sei euch gnädig,“ sagte Olja und verbeugte sich tief auf Nonnenart.

„Komm doch zu uns, Olja.“

„Gut, ich werde kommen.“

Sie entfernte sich mit schnellen Schritten und verschwand bald im dunklen Tore. Als die Troika weiterfuhr, überkam alle auf einmal, sie wußten selbst nicht warum, eine gedrückte Stimmung. Alle schwiegen. Ssofja Lwowna fühlte sich plötzlich schwach und ließ den Mut sinken; daß sie die Nonne gezwungen hatte, sich in den Schlitten zu setzen und in einer nicht ganz nüchternen Gesellschaft Troika zu fahren, erschien ihr jetzt dumm und taktlos, beinahe als Blasphemie; zugleich mit dem Rausche hatte sich in ihr auch der Wunsch verflüchtigt, sich selbst zu betrügen, und es war ihr nun klar, daß sie ihren Mann nicht liebte und auch nicht lieben konnte, daß alles nichts als Unsinn und Dummheit war. Sie hatte ihn geheiratet, weil er, wie ihre Institutsfreundinnen sagten, blödsinnig reich war, weil sie fürchtete, wie die Rita als alte Jungfer sitzen zu bleiben, weil ihr Vater, der Militärarzt, ihr auf die Nerven ging und weil sie Wolodja den Kleinen ärgern wollte. Hätte sie vor der Heirat ahnen können, daß es so schwer, unheimlich und häßlich werden würde, so wäre sie um nichts in der Welt zur Trauung gegangen. Das Unglück [187] ließ sich jetzt nicht wieder gutmachen. Sie mußte sich damit abfinden.

Sie kamen nach Haus. Als Ssofja Lwowna sich in ihr warmes weiches Bett legte und unter die Decke schlüpfte, erinnerte sie sich wieder der dunklen Kirchenvorhalle, des Weihrauchgeruchs und der Gestalten an den Säulen, und es wurde ihr ganz unheimlich bei dem Gedanken, daß diese Gestalten, solange sie schliefe, unbeweglich stehen würden. Die Frühmesse wird furchtbar lange dauern, dann kommen die Horen, dann die Spätmesse und ein Bittgottesdienst…

– Es gibt aber einen Gott, es gibt ihn bestimmt, und ich werde unbedingt sterben, folglich muß ich früher oder später auch an meine Seele, an das ewige Heil denken, wie Olja. Olja ist jetzt gerettet, sie hat alle Fragen gelöst… Wenn es aber keinen Gott gibt? Dann ist ihr Leben verloren. Wie ist es aber verloren? Warum verloren? –

Nach einer Minute denkt sie sich wieder:

– Gott ist, der Tod wird unbedingt kommen, und man muß an sein Seelenheil denken. Wenn Olja in diesem Augenblick ihren Tod vor sich sieht, so wird sie nicht erschrecken. Sie ist bereit. Das Wichtigste aber ist, daß sie die Lebensfrage für sich schon gelöst hat. Gott ist… ja… Gibt es aber keinen anderen Ausweg, als ins Kloster zu gehen? Das bedeutet doch, sich vom Leben loszusagen, sein Leben zugrunde zu richten… –

Ssofja Lwowna wurde es ein wenig unheimlich zumute, und sie vergrub den Kopf unter das Kissen.

„Man soll nicht daran denken,“ flüsterte sie. „Nein, das soll man nicht…“

Jagitsch ging, leise mit den Sporen klirrend, im Nebenzimmer auf dem Teppich auf und ab und dachte über etwas [188] nach. Ssofja Lwowna kam der Gedanke, daß dieser Mensch ihr nur aus einem Grunde wert und lieb sei: weil auch er Wladimir heiße. Sie setzte sich im Bette auf und rief zärtlich:

„Wolodja!“

„Was willst du?“ fragte der Mann.

„Nichts.“

Sie legte sich wieder hin. Sie hörte Glockengeläute, das vielleicht sogar von jenem Kloster kam: sie erinnerte sich wieder der Vorhalle und der dunklen Gestalten; sie dachte wieder an Gott und an den unvermeidlichen Tod, und zog die Bettdecke über den Kopf, um das Glockengeläute nicht mehr zu hören: sie sagte sich, daß dem Alter und dem Tode ein unendliches Leben vorangehen werde: sie werde von Tag zu Tag mit der Nähe eines ungeliebten Mannes, der eben ins Schlafzimmer gekommen ist und sich gerade auszieht, rechnen und in sich die hoffnungslose Liebe zu einem anderen jungen, reizenden und, wie sie glaubte, ungewöhnlichen Manne ersticken müssen. Sie blickte ihren Mann an und wollte ihm gute Nacht sagen, fing aber statt dessen plötzlich zu weinen an. Sie ärgerte sich über sich selbst.

„Nun, jetzt geht die Musik los!“ sagte Jagitsch.

Sie beruhigte sich, doch spät, erst um die zehnte Morgenstunde: sie hörte auf zu weinen und am ganzen Körper zu zittern, bekam aber dafür heftige Kopfschmerzen. Jagitsch wollte zur Spätmesse gehen und brummte im Nebenzimmer seinen Burschen an, der ihm beim Anziehen half. Leise mit den Sporen klirrend, kam er ins Schlafzimmer, um etwas zu holen, kam dann noch einmal, diesmal mit Epauletten und Orden, vor Rheuma leicht hinkend, und Ssofja Lwowna schien es aus irgendeinem Grunde, daß er wie ein Raubtier schleiche und lausche.

[189] Dann hörte sie, wie Jagitsch telephonierte.

„Sind Sie so gut, verbinden Sie mich mit der Wassiljewschen Kaserne!“ sagte er. Nach einer Minute fuhr er fort: „Die Wassiljewsche Kaserne? Rufen Sie, bitte, den Doktor Ssalimowitsch zum Telephon…“ Nach einer weiteren Minute: „Wer ist am Telephon? Bist du es, Wolodja? Freut mich sehr. Liebster, bitte deinen Vater, er möchte sofort zu uns kommen, meine Gattin ist nach der letzten Nacht ganz aus dem Leim gegangen. Du sagst, er ist nicht zu Hause? Hm… Ich danke. Sehr schön… du erweist mir damit einen großen Dienst…“

Jagitsch kam nun zum dritten Male ins Schlafzimmer, beugte sich über seine Frau, bekreuzigte sie, ließ sich von ihr die Hand küssen (alle Frauen, die ihn liebten, pflegten ihm immer die Hand zu küssen, und er war es so gewöhnt) und sagte, daß er zum Essen zurückkehren werde. Und dann ging er.

Gegen zwölf Uhr meldete das Dienstmädchen den Besuch Wladimir Michailytschs. Ssofja Lwowna zog schnell, vor Müdigkeit und Kopfschmerzen wankend, ihren neuen wunderbaren, pelzverbrämten, fliederfarbenen Morgenrock an und brachte flüchtig ihr Haar in Ordnung: sie fühlte in ihrer Seele unsagbare Zärtlichkeit und zitterte vor Freude und vor Angst, daß er wieder weggehen könnte. Sie wollte nur einen Blick auf ihn werfen.

Wolodja der Kleine kam als offizieller Besuch, ganz wie sich’s gehört, in Frack und weißer Binde. Als Ssofja Lwowna in den Salon kam, küßte er ihr die Hand und bedauerte lebhaft, daß sie sich unwohl fühle. Sie setzten sich, und er lobte ihren Morgenrock.

„Mich hat die gestrige Begegnung mit Olja so aufgeregt,“ [190] sagte sie. „Anfangs war es mir unheimlich, aber jetzt beneide ich sie. Sie ist ein unerschütterlicher Fels, der sich nicht mehr verrücken läßt. Hat sie aber wirklich keinen anderen Ausweg gehabt, Wolodja? Bedeutet denn dieses Begrabensein bei lebendigem Leibe die Lösung aller Lebensfragen? Das ist ja der Tod und kein Leben.“

Als sie Olja erwähnte, drückte das Gesicht Wolodjas des Kleinen Rührung aus.

„Sie sind ein kluger Mensch, Wolodja,“ sagte Ssofja Lwowna. „Lehren Sie mich, daß ich ihrem Beispiele folgen soll. Ich bin zwar ungläubig und werde nie ins Kloster gehen, kann aber doch wohl etwas tun, was dem gleich käme. Mein Leben ist nicht leicht,“ fuhr sie nach einer Pause fort. „Belehren Sie mich doch. Sagen Sie mir etwas Ueberzeugendes, nur ein Wort.“

„Ein Wort? Ich bitte sehr: Tararabumdiä.“

„Wolodja, weshalb verachten Sie mich?“ fragte sie lebhaft. „Sie sprechen zu mir in einer besonderen, verzeihen Sie, geckenhaften Sprache, wie man mit seinen Freunden und anständigen Frauen nicht zu sprechen pflegt. Sie haben Erfolg als Gelehrter, Sie lieben die Wissenschaft, warum sprechen Sie aber mit mir nie von der Wissenschaft? Warum? Bin ich unwürdig?“

Wolodja der Kleine verzog geärgert das Gesicht und sagte:

„Warum verlangen Sie plötzlich nach der Wissenschaft? Wollen Sie vielleicht auch eine Verfassung? Oder vielleicht gar Stockfisch mit Meerrettich?“

„Also gut, ich bin eine unbedeutende, schlechte, prinzipienlose, beschränkte Frau… Ich habe eine Menge Fehler, ich bin überspannt und verdiene jede Verachtung. Sie sind aber um zehn Jahre älter als ich, Wolodja, und mein Mann ist [191] um dreißig Jahre älter. Ich bin vor Ihren Augen aufgewachsen, und Sie hätten, wenn Sie gewollt hätten, aus mir alles machen können, sogar einen Engel. Aber Sie… (ihre Stimme zitterte) Sie behandeln mich schrecklich. Jagitsch hat mich als alter Mann geheiratet, und Sie…“

„Genug, genug,“ sagte Wolodja, näher rückend und ihr beide Hände küssend. „Wir wollen es den Schopenhauers überlassen, zu philosophieren und Beliebiges zu beweisen; wir wollen nur Ihre Händchen küssen.“

„Sie verachten mich und wissen gar nicht, wie sehr ich darunter leide!“ sagte sie unsicher, denn sie wußte im voraus, daß er es ihr nicht glauben würde. „Wenn Sie aber wüßten, wie sehr ich eine andere werden und ein neues Leben beginnen möchte! Ich denke daran mit Begeisterung,“ sagte sie, während ihr vor Begeisterung wirklich Tränen in die Augen traten. „Ich will ein guter, ehrlicher Mensch sein, niemals lügen, ein Lebensziel haben…“

„Bitte, bitte, spielen Sie keine Komödie! Ich mag es nicht!“ sagte Wolodja mit unzufriedener Miene. „Ganz wie auf der Bühne. Wir wollen uns wie Menschen benehmen.“

Damit er nicht böse werde und nicht weggehe, fing sie an, sich zu rechtfertigen und ihm zuliebe zu lächeln. Dann brachte sie aber wieder die Rede auf Olja und darauf, wie gerne sie alle Lebensfragen lösen und ein Mensch werden möchte.

„Ta – ra – ra – bumdiä…“ sang er leise. „Tara – ra – bumdiä!“

Und plötzlich nahm er sie um die Taille. Sie aber legte ihm, ohne zu wissen, was sie tat, beide Hände auf die Schultern und sah eine Minute lang entzückt, wie berauscht auf sein kluges, spöttisches Gesicht, auf seine[WS 1] Augen und auf seinen schönen Bart…

[192] „Du weißt es ja schon selbst längst, wie ich dich liebe!“ gestand sie ihm. Sie errötete schmerzlich und fühlte, wie sich sogar ihre Lippen vor Scham verzerrten. „Ich liebe dich. Warum quälst du mich?“

Sie schloß die Augen und küßte ihn fest auf den Mund. Lange, vielleicht eine ganze Minute lang, konnten sie diesen Kuß nicht abbrechen, obwohl sie wußte, wie unanständig es war, daß er selbst sie verurteilen würde und daß das Dienstmädchen hereinkommen könnte…

„Oh, wie du mich quälst!“ wiederholte sie.

Als er nach einer halben Stunde, nachdem er das, was er haben wollte, bekommen hatte, im Eßzimmer saß und aß, lag sie vor ihm auf den Knien und blickte ihm gierig in die Augen; und er sagte ihr, daß sie einem Hündchen gleiche, das auf ein Stückchen Schinken warte. Dann setzte er sie sich auf ein Knie, wiegte sie wie ein Kind und sang:

„Tara rabumdiä… Tara – rabumdiä!“

Und als er sich verabschiedete, fragte sie ihn mit leidenschaftlicher Stimme:

„Wann? Heute? Wo?“

Und sie streckte beide Hände nach seinem Munde aus, als wollte sie die Antwort mit den Händen auffangen.

„Heute wird es kaum gehen,“ sagte er, nachdem er etwas nachgedacht hatte. „Vielleicht morgen.“

Und sie trennten sich. Vor dem Essen fuhr Ssofja Lwowna ins Kloster, aber man sagte ihr, daß Olja irgendwo bei einer Leiche die Psalmen lese. Aus dem Kloster fuhr sie zu ihrem Vater und traf auch ihn nicht an. Dann wechselte sie die Droschke und begann planlos durch die Straßen und Gassen herumzufahren. So fuhr sie bis zum Abend. Dabei mußte [193] sie aus irgendeinem Grunde an jene Tante mit den verweinten Augen denken, die sich gleichfalls keinen Ort finden konnte.

Nachts fuhren sie aber wieder mit einer Troika und hörten Zigeunergesang in einem Vorstadtrestaurant. Und als sie am Kloster vorbeifuhren, dachte Ssofja Lwowna wieder an Olja, und es wurde ihr unheimlich beim Gedanken, daß es für die Frauen und Mädchen ihrer Kreise keinen anderen Ausweg gäbe, als unaufhörlich Troika zu fahren, oder ins Kloster zu gehen und das Fleisch abzutöten… Am nächsten Tag hatte sie aber eine Zusammenkunft mit Wolodja, und Ssofja Lwowna fuhr wieder allein mit einer Droschke durch die Stadt und dachte an die Tante.

Nach acht Tagen gab ihr Wolodja der Kleine den Laufpaß. Und dann begann wieder ein langweiliges, uninteressantes und zuweilen auch qualvolles Leben. Der Oberst und Wolodja der Kleine spielten stundenlang Billard und Piquet. Rita erzählte langweilig und fade ihre Witze, Ssofja Lwowna fuhr immer mit Droschken herum und bat ihren Mann, mit ihr wieder einmal Troika zu fahren.

Sie kam fast jeden Tag ins Kloster, setzte Olja zu, beklagte sich über ihre unerträgliche Qual und weinte. Dabei hatte sie das Gefühl, daß sie in die Klosterzelle etwas Unreines, Jämmerliches, Abgelebtes hereinbrachte. Olja aber sagte ihr mechanisch, wie man eine Lektion aufzusagen pflegt, daß alles keine Bedeutung habe, daß alles vergänglich sei und daß Gott ihr verzeihen werde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: seinen