Über die Gleichungen der Electrodynamik für bewegte Körper

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Autor: Emil Cohn
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Titel: Über die Gleichungen der Electrodynamik für bewegte Körper
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aus: Archives néerlandaises des sciences exactes et naturelles, Ser. II, Bd. 5, S. 516–523
Herausgeber: Société hollandaise des sciences à Harlem
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Erscheinungsdatum: 1900
Verlag: Martinus Nijhoff
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Erscheinungsort: Den Haag
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Quelle: Commons
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[516]
ÜBER DIE GLEICHUNGEN DER ELECTRODYNAMIK FÜR BEWEGTE KÖRPER.
VON
EMIL COHN.

§ 1. Wenn man die Frage nach der „Ruhe oder Bewegung des Aethers“ aller spekulativen Elemente entkleidet, so lautet sie: welche Form müssen die Maxwell’schen Gleichungen für den Fall willkürlich vorgeschriebener Bewegungen erhalten? Unter „Bewegung“ ist dabei – hier wie durchweg im Folgenden – Bewegung ausgedehnter ponderabler Massen verstanden.

Wir stellen die Erfahrungsthatsachen, von denen die aufzustellenden Gleichungen Rechenschaft zu geben haben, kurz zusammen:

1. Electrische Erscheinungen im engeren Sinn, d. h. solche, bei denen die zeitliche Ausbreitung des Feldes (Strahlung) nicht in Frage kommt. Hier ist alles ausschliesslich von der relativen Bewegung abhängig; diese Abhängigkeit ist gegeben durch das Faraday’sche Inductionsgesetz.

2. Strahlungserscheinungen. Bei allen Beobachtungen handelt es sich um die Ausbreitung des Lichts in Körpern und Systemen von Körpern, welche eine räumlich und zeitlich gleichförmige Geschwindigkeit besitzen. „Relativ“, bezw. „absolut“ heisse, was auf einen Raum bezogen ist, der an dieser Geschwindigkeit teilnimmt, bezw. nicht teilnimmt. Die Erfahrung zeigt dann:

a. In denjenigen Körpern, welche sich electromagnetisch nicht vom leeren Raum unterscheiden, ist die absolute Ausbreitung unabhängig von der Bewegung. Die relative Ausbreitung ergiebt sich daher durch [517] geometrische Zusammensetzung der für ruhende Körper geltenden Ausbreitungsgeschwindigkeit mit der negativ genommenen Körpergeschwindigkeit. In diesem Satz ist das Gesetz der Aberration enthalten.

b. In den übrigen durchsichtigen Körpern erhält man die absolute Ausbreitungsgeschwindigkeit, indem man die für den Fall der Ruhe geltende Geschwindigkeit mit einem bestimmten Bruchteil der Körpergeschwindigkeit zusammensetzt. Sei die Geschwindigkeit und der Brechungsexponent dann ist dieser Bruchteil . (Fizeau’s Versuch mit strömendem Wasser.)

c. Der relative Strahlengang wird durch die Bewegung nicht geändert. Insbesondere: die beobachtete Aberration ist unabhängig von der Wahl der durchsichtigen Substanzen im Fernrohr (Linsen, Füllung mit Wasser).

d. Interferenzerscheinungen werden durch die Bewegung nicht beeinflusst. (Michelson u. Morley.)

Zwischen den Sätzen, welche unter 2 als Ausdruck der Beobachtung hingestellt sind, bestehen geometrische Beziehungen: sie sind geometrisch nicht unabhängig von einander; sie sind aber zugleich in Strenge geometrisch nicht verträglich mit einander. Wir wollen als Grössen nter Ordnung solche bezeichnen, welche die nte Potenz des Verhältnisses der Körpergeschwindigkeit zur Lichtgeschwindigkeit als Faktor enthalten. Dann sind die Sätze unter 2 durchweg verträglich und teilweise abhängig von einander bezüglich der Grössen erster Ordnung; sie sind teilweise in Widerspruch mit einander bezüglich der Grössen zweiter Ordnung.

Für die Beobachtungen andererseits gilt: diejenigen unter 1 und 2 a, b c, können als verbürgt gelten bezüglich der Grössen erster Ordnung, diejenigen unter 2d hingegen auch bezüglich der Grössen zweiter Ordnung.

Die Maxwell’schen Gleichungen für ruhende Körper sind drei an Zahl: die beiden Gleichungen, welche die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Feldintensitäten und den beiden Polarisationen enthalten, und die Gleichung, welche den Wert der electromagnetischen Energie festsetzt. Wo es sich aber lediglich um den räumlich-zeitlichen Verlauf der Strahlung handelt, da kommt die letztgenannte Gleichung nicht in Frage.

[518] Wir wollen desshalb unsere Aufgabe zunächst vereinfachen: die ersten beiden Maxwell’schen Gleichungen sollen für den Fall gleichförmiger Bewegung aller Körper so modificiert werden, dass sie die Resultate unter 2 ergeben, und zwar in den obengenannten Grenzen der Genauigkeit.

§ 2. Zwei durchgeführte Theorien stehen sich hier gegenüber:

Nach der Hertz’schen Theorie ist die relative Ausbreitung in aller Strenge unabhängig von der gemeinsamen Bewegung; die Theorie erklärt also die Thatsachen unter c und d, sie ist dagegen in Widerspruch mit den Thatsachen unter a und b. Die Lorentz’sche Theorie ergiebt alle angeführten Thatsachen, aber nur als Näherungen erster Ordnung; sie widerspricht daher der Forderung zu d. Offenbar genügt man allen Forderungen, wenn man in den Gliedern erster Ordnung mit Lorentz in Übereinstimmung bleibt, zugleich aber zum Ausdruck bringt, dass die optische Länge eines in beliebiger geschlossener Curve verlaufenden Strahls durch die Bewegung nicht geändert wird. Das heisst mit anderen Worten: die gesuchten Gleichungen müssen sich von den Lorentz’schen derartig unterscheiden, dass nicht die Ausbreitungsgeschwindigkeit, sondern ihr reciproker Wert die nach der Ausbreitungsrichtung genommene Componente der Körpergeschwindigkeit linear enthält. Dieses Postulat führt zu folgendem Ansatz für die Lichtausbreitung in durchsichtigen Körpern:

(A).

Die Gleichungen gelten mit Bezug auf relative Coordinaten. Es bedeuten

die Zeit,
und electrische und magnetische Feldintensität,
und Dielectricitätsconstante und Permeabilität,
und die Werte dieser Constanten für das Vacuum,
die nach Zeit und Ort constante Geschwindigkeit der Körper,

[519]

die Rotation (curl) des Vectors ,
das Vectorproduct von und ,
die Divergenz von ,
und Vector – Addition bezw. – Differentiation.

Die Einheiten der electrischen und magnetischen Grössen sind so gewählt, dass

wird, wo die Lichtgeschwindigkeit im Vacuum (für ) bedeutet. Die Gleichungen sollen überall gelten, auch dort, wo die physikalische Beschaffenheit der Körper stetig oder unstetig variiert. In dieser Festsetzung sind die „Stetigkeitsbedingungen“ für die Grenzflächen bereits enthalten.

Um zu zeigen, dass die Gleichungen (A) unseren Forderungen genügen, führen wir in ihnen die Lorentz’sche Transformation aus:

(L).

Bezeichnen wir Rotation und Divergenz in dem neuen System durch bezw. , so lautet das Resultat:

(B).

Wesentlich ist, dass[WS 1] die Gleichungen (B) in aller Strenge aus (A) folgen, während die entsprechende Umformung bei Lorentz nur bei Beschränkung auf die Glieder erster Ordnung gilt. Denkt man in (B) für geschrieben, so hat man die Maxwell’schen Gleichungen der Lichtfortpflanzung für ruhende durchsichtige Körper vor sich. Wir können also nach dem Vorgang von Lorentz schliessen:

Jedem im ruhenden System möglichen Strahlungsvorgang entspricht ein möglicher Vorgang im bewegten System, bei welchem die [520] gleichen Werte , , welche im Punkte zur Zeit stattfanden, jetzt zur Zeit eintreten. Der Zeitunterschied ist eindeutige Function der Lage von .

Die Richtung des Lichtstrahls kann in definiert werden als gemeinsame Normale von und . Wir setzen fest: auch in den Gleichungen (A) sollen und die Vectoren bedeuten, zu welchen der Strahl normal ist; dann ist die Strahlrichtung in überall identisch mit der Strahlrichtung in . D. h. der relative Strahlengang wird durch die gemeinsame Bewegung nicht beeinflusst (siehe unter c).

Weiter aber: wenn einerseits in , andrerseits in das Licht auf zwei verschiedenen Wegen von nach gelangt, so wird die Zeit des Uebergangs zwar durch die Bewegung verändert, aber für beide Wege um genau den gleichen Betrag. Das Interferenzbild wird daher durch die Bewegung nicht beeinflusst (siehe unter d).

Wir betrachten näher ein System ebener Wellen; d. h. wir setzen an: alle Feldcomponenten sollen proportional einer und derselben Funktion des Arguments

(1)

sein. Damit dieser Ansatz den Gleichungen (A) genüge, muss

(2)
(3)

und wie normal zu sein. Die Richtung von ist also die Strahlrichtung, während die Richtung der Wellennormale hat.

Es handle sich zunächst um ein electromagnetisch dem Vacuum gleichwertiges Medium; dann wird der Zahlwert . Man erhält also die Richtung der Wellennormale, indem man einen Vector von der Richtung des Strahls und der Grösse mit einem Vector von der Richtung der Bewegung und der Grösse zusammensetzt, oder einfacher: mit .

Dieser Satz, angewandt auf die Bewegung der Erde, ergiebt die beobachtete Aberration.

Für jedes Medium gilt das folgende: Die „Strahlgeschwindigkeit“ [521] ist ein dem Strahl paralleler Vector, der, vom Coordinatenursprung aus gezogen, auf der Ebene

(4)

endet. D. h. ist bestimmt durch die Gleichungen

, (5)
. (6)

[Das gleiche Resultat erhält man, wenn man in der üblichen Weise als den Radiusvector der von den Wellenebenen (4) eingehüllten Fläche definiert; denn dies heisst, dass neben (5) noch die Gleichung

für alle zulässigen erfüllt sein soll oder

,

oder nach (2)

für alle zulässigen . Da aber die einzige Bedingung für diese Grössen die aus (3) sich ergebende Gleichung

ist, so folgen die Gleichungen (6).]

Aus (5) und (6) ergiebt sich als Zahlwert von :

,

oder

, (7)

wo die Componente von nach der Richtung des Strahls bezeichnet. Es ist also die Zeit, welche der Strahllänge entspricht,

. (8)

[522] Das zweite, von abhängige, Glied ist unabhängig von dem Medium, in welchem die Strecke zurückgelegt wird, und giebt daher denselben Gesamtbetrag, wenn mittels beliebiger Reflexionen und Brechungen an ebenen Flächen eine gegebene anfängliche Wellenebene auf verschiedenen Wegen in eine ebenfalls gegebene Endlage übergeführt wird. Dies ist eine specielle Form das Satzes unter d und enthält das Resultat von Michelson und Morley.

Das bisherige gilt streng; genähert erhalten wird aus (7):

, oder
, (9)

wo die Strahlgeschwindigkeit bei ruhenden Körpern und den Brechungsexponenten bezeichnet.

Die absolute Ausbreitungsgeschwindigkeit ist also

(siehe unter a und b).

§ 3. In § 2 wurde gezeigt, dass der Ansatz (A) mit keiner Erfahrung auf optischem Gebiet in Widerspruch ist. Wenn wir denselben auf die im engeren Sinn electrischen Erscheinungen anwenden wollen, so müssen wir der ersten Gleichung ein Glied für die electrische Leitung einfügen, und wir bedürfen ferner einer dritten Gleichung, welche den Wert der electromagnetischen Energie der Volumeinheit angiebt. Es muss dies eine Grösse sein, welche für in den Wert übergeht, und welche noch einer weiteren Bedingung genügt:

Wenn wir die erste der Gleichungen (A) mit , die zweite mit multiplizieren, und addieren, so entsteht auf der linken Seite die negativ genommene Divergenz des Vectors . Dieser Vector ist für ruhende Körper – seien sie isotrop oder krystallinisch – allgemein der Poynting’sche Strahlungsvector. Die gleiche Bedeutung haben wir ihm auch für den Fall der Bewegung beigelegt; die Festsetzung, dass er diese Bedeutung behalten soll, gab unseren mathematischen Folgerungen aus (A) den physikalischen Inhalt. Das heisst aber: bei der soeben angedeuteten mathematischen Operation entsteht links die in der Zeiteinheit der Volumeinheit durch die Oberfläche zuströmende Energie. [523] Die rechte Seite ist folglich die Summe aus der Energievermehrung und der abgegebenen Arbeit. Diese Summe also muss im Falle den Wert

erhalten, (wo unter das scalare oder geometrische Produkt der Vectoren und verstanden ist.)

Sind die drei Grundgleichungen für den Fall gemäss den soeben genannten Bedingungen gebildet, so haben wir ihnen noch Glieder einzufügen, welche Differentialquotienten der Geschwindigkeit enthalten.

Alle hier aufgezählten Zusätze zu (A) können die vollkommene Uebereinstimmung der Gleichungen mit den optischen Beobachtungen nicht aufheben. Sie sind so zu wählen, dass den bekannten electrischen Gesetzen in den Grössen erster Ordnung genügt wird. Dass diese Forderung erfüllbar sein muss, zeigt der Vergleich unserer Gleichungen mit den Lorentz’schen.

Strassburg i/Els., den 13 November 1900.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: das