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ADB:Andreae, Johann Valentin

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Artikel „Andreae, Johann Valentin“ von Ernst Henke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 1 (1875), S. 441–447, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Andreae,_Johann_Valentin&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 21:22 Uhr UTC)
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Andreä: Johann Valentin A., lutherischer Theolog, geb. zu Herrenberg in Würtemberg 17. August 1586, † zu Stuttgart 27. Juni 1654. Sein Vater Johann A., geb. 1554, war das siebente der 18 Kinder des Kanzlers Jakob A., und war seit 1591 bis zu seinem Tode im J. 1601 Abt von Königsbronn; seiner Mutter, Maria Moser, geb. 1550, † 1631[1][2], hat der Sohn, der sie mit der Monica vergleicht, 1633 eine eigene Denkschrift gewidmet. Schon als Kind zart und reizbar, aber wegen seines lebendigen Geistes überall gern gesehen (ingenio sagaci et festivo, sagt er selbst, ut propinquis et amicis voluptati essem) wurde er durch sehr verschiedene Menschen, wie durch zwei junge Aerzte seines Vaters, für vielerlei Dinge früh interessirt, auch für Mathematik, Mechanik, Malerei und Musik, daneben in den Sprachen gut unterrichtet. Nach dem Tode des Vaters zog die Mutter mit ihm und ihren 6 andern Kindern 1601 nach Tübingen, und hier breitete er seine Studien sechs Jahre hindurch immer weiter aus; Mästlin, der Lehrer Kepler’s, wurde auch sein Lehrer in der Mathematik; mit Heißhunger verschlang er alte und neue lateinische Historiker, Dichter und Redner, welche ihm in Chr. Besold’s Bibliothek zugänglich waren, von neueren Erasmus, Frischlin, Lipsius, Scaliger, Heinsius, de Thou u. a.; er theilte, wie er sagt, seine Zeit so, daß er die Wissenschaften den Tag hindurch und die Schriftsteller dergestalt in die Nacht hinein trieb, daß Augenleiden und Schlaflosigkeit, er meint auch Schwächung seines Gedächtnisses, davon die Folge waren. Daneben konnte er einen ausgebreiteten Verkehr mit vielen und vielerlei Freunden nicht entbehren, und wenn auch die alten Anhänger und Schüler seines Großvaters es ihm an Stipendien nicht fehlen ließen, so mußte er auch schon zur Unterstützung der Mutter Mitschüler unterrichten, welche er, wenn auch nicht „disciplinarum peritia, doch rerum cognitione“ übertraf: 1603 wurde er Baccalaureus und 1605 Magister; schon 1602 und 1603, also sechzehnjährig, schrieb er zwei Komödien, „Esther“ und „Hyazinth“ nach englischen Vorbildern, und um dieselbe Zeit auch schon die erst 1616 gedruckte „chymische Hochzeit Christiani Rosencreuz anno 1459,“ ein abenteuerliches Phantasiestück, welches Leser zum Aufsuchen tiefen Sinnes reizen und, da dieser nicht dahinter war, wenn sie dennoch suchten, dadurch verspotten sollte.

Schon hatte er auch seine theologischen Studien angefangen und selbst mehrmals gepredigt: aber ein Exceß, in welchen er im J. 1607 mit österreichischen Commilitonen, „qui in Veneres illius temporis petulantius luderent“, mitverwickelt wurde, und welchen er selbst nicht vertheidigen will, unterbrach jetzt seine Laufbahn im Vaterlande. Er verlor seine Beneficien und zunächst wol auch die Aussicht auf eine geistliche Anstellung, und so hielt er für nöthig, für die nächste Zeit Würtemberg zu verlassen. Dadurch verlängerten sich seine Lehrjahre noch bis 1614 um sieben andere, welche dadurch, daß sie unruhige [442] Wanderjahre wurden, viel bildender für ihn wirkten, als wenn er den Weg eines Tübinger Magisters in der gewöhnlichen Weise in der Heimath weiter verfolgt hätte. Das war ja wol unmöglich, daß der Enkel Jakob Andreä’s jemals in der Lehre vom strengen Lutherthum hätte abfallen können; aber was gerade einem solchen vor andern an schwäbischer Selbstseligkeit hätte gefährlich werden können, das wurde A. gründlich abgestreift durch die Welterfahrung und den erweiterten Ueberblick, welche er durch diese Reisen gewann; und durch das, was er an vielseitiger Bildung und an idealer Erhebung über das kleinstädtische seiner nächsten Umgebung schon dazu mitbrachte, vertiefte sich bei ihm noch die Unterscheidung, welche nachher einen Grundzug seines ganzen Wesens ausmachen sollte, zwischen der in den damaligen Zuständen kleiner lutherischer Länder sehr unvollkommenen Wirklichkeit, welche ihn reizte, sie satirisch oder reformatorisch zu beleuchten, und dem was er vollkommneres und christlicheres und darum als Gottes Wille an deren Stelle wünschte.

Auch als er von Straßburg, wohin er sich zunächst wegbegab, noch einmal nach Tübingen zurück kam, wurde ihm auch unter der neuen Regierung Johann Friedrichs 1608 wieder abgeschlagen, was ihm unter der vorigen, Friedrichs und Enzlins, versagt war und was er jetzt auch durch mehrere Schriften zu erreichen suchte, ein geistliches Amt im Inlande, und so glaubte er nun das theologische Studium aufgeben und eine andere Stellung suchen zu müssen. In Lauingen, wo er einen Auftrag als Erzieher annahm, kam er wieder in Gesellschaft solcher, deren Sitten den seinigen schaden konnten; auch mit den Jesuiten in Dillingen machte er Bekanntschaft. Dann wieder in Tübingen auf zwei Jahre unterrichtete er zwei Brüder Truchseß, schrieb pädagogische Schriften, lernte Laute und Zither spielen, verkehrte mit Uhrmachern und anderen Handwerkern, ohne doch seine theologischen Studien völlig aufzugeben, bei welchen ihn auch die Freunde seines Vaters und Großvaters immer noch festhielten. Entscheidend aber für sein ganzes Leben wirkte dann im J. 1610 ein Aufenthalt in der Schweiz. In Genf, wo er einige Jahre nach Beza’s Tode ankam, sah er zum ersten Male, was ihm dem Lutheraner noch ganz neu war, die Kirchenverfassung und Kirchenzucht Calvin’s und die daneben bestehende fromme und strenge Sitte, und wurde ganz davon hingerissen, auch überrascht dadurch, daß die hervorragenden Theologen dort für die deutschen Streitfragen wenig Interesse hatten und ihm so freundlich entgegenkamen. „Wenn mich nicht religionis dissonantia zurückgehalten hätte“, sagt er, „so hätte mich dort die consonantia morum für immer gefesselt, und ich habe mich seitdem mit jeder Anstrengung bemüht, etwas derart für unsere Kirchen zu erreichen.“ Man sieht, was ihm hier durch das reformirte Ausland hinzugebracht wurde zu seinem deutschen Lutherthum, dem es vor lauter Scholastik und Polemik abhanden gekommen war, die Aufforderung im wirklichen Leben der Gegenwart mit dem Christenthum Ernst zu machen, das bestimmte seine besondere Lebensaufgabe; er sagt wörtlich in seiner vita: „id omnium primum et unum me coxit, si qua ratione juvari res christiana et morum innocentia doctrinae puritati conjungi possit“ und setzt hinzu, daß ihn dazu die reformirte Kirche von Frankreich und vorzüglich die von Genf angetrieben hätte; er sagte in der Vorrede zum Menippus: praeter vitae doctrinaeque consensum, praesentis praeteritique junctam observationem nihil quicquam quaerimus; er nennt das in einem Briefe an Jos. Schmidt in Straßburg „causam Christi serio agi et doctrinae vitaeque Christianae connubium insolubile servatum volo;“ unter den lutherischen Theologen meint er darin nur an Johann Arndt einen Vorgänger und ein Vorbild zu haben. Auch in Frankreich also, wohin er weiter reiste, in Lyon, in Paris wurde er darin bestärkt, gewann auch an Verständniß der französischen Litteratur, woran Besold’s Bibliothek reich war; in Zürich und [443] Basel auch an Bekanntschaft mit Werken der Kunst. Wieder nach Tübingen zurückgekehrt, wurde er von Hafenreffer zu theologischen Arbeiten herangezogen, aber durch Besold auch schon im Italienischen geübt, wußte er noch eine Reise durch Oesterreich nach Italien durchzusetzen und drang über Venedig, dessen mancherlei Kunstfleiß ihn besonders anzog, noch bis nach Rom vor. Hier aber scheint sich ihm noch vollends der Unterschied zwischen dem, was sein sollte in der Kirche und dem mancherlei als kirchlich Bestehenden aufgedrängt und auch dies ihn ernster erregt und stärker zur Theologie zurückgerufen zu haben. In Schwaben wurde er jetzt freundlicher wieder aufgenommen, selbst vom Herzoge Johann Friedrich, der ihm freilich noch lieber ein weltliches als ein geistliches Amt übertragen wollte; man schaffte ihm im Stift einen Tisch mit den Repetenten; er arbeitete aus Hafenreffer’s Dogmatik eine kürzere „Summa doctrinae christianae“, welche 1614 erschien; schon früher die Schrift „ De Christiani Cosmoxeni genitura“, daneben „Collectanea mathematica“ 1614; er fuhr wol noch fort, allerlei sonstigen Unterricht zu ertheilen, z. B. im Voltigiren, wie er es in Padua gesehen, aber gerade in solchem Verkehr schloß er Freundschaften für das ganze Leben, wie mit einem jungen Lüneburger v. Wense, der ihn nachher mit Herzog August in Verbindung brachte. Endlich nach so langem Harren und so vielseitiger Vorbereitung dazu erhielt er sein erstes geistliches Amt; im Frühjahr 1614 wurde er als Diaconus in Vaihingen angestellt und verheirathete sich noch in demselben Jahre.

In den sechs Jahren, welche er hier bis 1620 zubrachte, Jahren der Einkehr und des Flüchtens aus den Zerstreuungen in die Gedankenwelt seiner Studien und seiner Ideale, gelangen ihm seine meisten und besten Schriften. Die lateinischen unter diesen übertreffen die deutschen weit durch die Fülle und Eleganz der bilder- und antithesenreichen und doch so präcisen und fein nüancirten Sprache; aber wie anziehend ist in beiden, ähnlich wie unter den Zeitgenossen, etwa bei Schuppius oder ein Jahrhundert später, bei Matth. Claudius, die Mischung der geistreichen Heiterkeit, die sich in ihrem eigenen Ueberfluß spielend ergeht, mit dem tiefen christlichen Ernst, welcher sich, als wäre er schamhaft, hinter Scherz und Witz, Fabeln und Allegorien verbirgt und diese als Vehikel für seine höheren Interessen verwendet! Klein sind alle Schriften Andreä’s, aber wer nur geben mag, was voll Geist und Leben und künstlerisch in der Form ist, kann keine Quartanten liefern. In das J. 1615 gehören seine „Kämpfe des christlichen Hercules,“ eine ethische Schilderung der Gefahren und Versuchungen, welche den Christen jederzeit bedrängen, allegorisirend angeknüpft an die Gestalten der Ungeheuer, welche der alte Heros eins nach dem andern zu überwinden hatte. In dasselbe J. 1615 wird auch die erst 1836 wieder bekannt gewordene „Christenburg“ gehören, ein deutsches Lehrgedicht, die Geschicke der Kirche und der Christen in der Welt als Geschichte einer belagerten Stadt und ihrer Vertheidigungsmittel darstellend. Im J. 1616 richtete er in der Komödie „Turbo“ eine Satire gegen das ganze damalige gelehrte Treiben und eine noch schärfere 1618 gegen verbreitete Fehler aller Stände in seinem „Menippus inanitatum nostratium speculum“, hundert Dialogen in der anziehendsten Leichtigkeit und Kürze seines Erasmischen Lateins geschrieben; ebenso 1619 in seiner „Mythologia Christiana sive virtutum et vitiorum vitae humanae imagines“. „Peregrini errores“ 1618 schildern das Sichverlieren des Menschen in der Welt, der „Civis christianus“ 1619 dagegen seine Einkehr und Rückkehr in sich selbst. Schon im J. 1617 erschien auch seine „Invitatio fraternitatis Christi ad sacri amoris candidatos“, welche zu einer engeren Verbindung von Freunden auffordert, die mit vereinten Kräften für Verwirklichung eines christlicheren Lebens mit Rückkehr zum Einfachen und zur Einkehr in sich selbst, mit Entlastung von Luxus und [444] Zerstreuung, mit mehr Bruderliebe und mehr Gebet an einander arbeiten sollen. Aus dem J. 1619 ist dann die „Christianopolis“, ideale Beschreibung eines christlichen Musterstaats, auch mit Hinweisung auf Thomas Morus’ Utopia, Joh. Arndt zugeeignet, als das beste, was A. hat und nur von ihm hat, eine Colonie des Jerusalems, welches Arndt der Welt gezeigt hat, detaillirter als die Christenburg schildernd, wie es in einer Gottesstadt anders aussehen und hergehen müsse als in der Gegenwart, deren Schäden dadurch zugleich in 100 kleinen Abschnitten charakterisirt werden; das schließt denn auch hier die Aufforderung ein, zum Zusammentreten einer Gesellschaft, welche jenen Zielen näher bringen will. Dieselbe Tendenz wird auch noch zwei kleinen Schriften, der „Christianae societatis idea“ und „Christiani amoris dextera porrecta“, beide vom J. 1620 eigen gewesen sein. Daß A. auch schon an die Ausführung gedacht hatte, beweist eine von seiner Hand noch vorhandene Liste von 24 Namen der würdigsten Männer, welche dazu eingeladen werden sollten, Arndt, Joh. Gerhard, J. Saubert u. a. Ebenso ist durch seine 1619 herausgegebene Schrift „Turris Babel sive iudiciorum de fraternitate Rosaceae crucis chaos“ außer Zweifel, wie A. die Schriften von Andern beurtheilt wissen wollte, durch welche im J. 1614 diese Bewegung angeregt war, die „Fama fraternitatis“ des Ordens des Rosenkreuzes und die „Confessio“ derselben, sammt der der erstern vorangeschickten aus Trajan Boccalini übersetzten „Allgemeinen und General-Reformation der ganzen weiten Welt“. In der Turris Babel nämlich, nachdem hier zuerst in 24 Dialogen alle bis 1619 über die Rosenkreuzerei etwa vorgebrachten Ansichten und Vermuthungen durchgesprochen sind, verkündigt die Fama zuletzt, die Sache sei nun erschöpft und zu Ende, und der letzte Beurtheiler, Resipiscenz genannt, erklärt sich ebenso wie A. selbst in der Zueignung, daß man also nun das Zweifelhafte und Zweideutige an der Sache fallen lassen und sich nur auf das dabei beschränken müsse, was allein sicher und was dort auch mitempfohlen sei, nämlich daß man sich an Christus halten und allein in dessen Gehorsam begeben müsse. Wäre nun A. selbst der Urheber der Fama und der Confessio, also der ganzen Mischung aus Wahrheit und Dichtung gewesen, welche er darin anerkennt, so müßte man annehmen, daß er, was Fiction darin war, die Geschichte vom Vater Rosenkreuz und seinen Geheimnissen, nur als Vehikel hinzugethan habe zu größerer Ausbreitung dessen, um was es ihm allein zu thun war, zur Empfehlung des Gedankens einer engern Verbindung eifrigerer Christen und daß er erwartet habe, die erdichtete Zuthat werde, nachdem sie ausgedient, von selbst in ihrer Richtigkeit erkannt werden. Aber da A. sich nicht nur niemals zu der Fama und der Confessio bekannt, wol aber sie oft als verwerfliche ludibria bezeichnet hat, so ist doch noch wahrscheinlicher, daß er in der ganzen Mystification, von deren Entstehungsart etwa im Tübinger Stift er immerhin Mitwissenschaft gehabt haben kann, bloß das, was er darin billigen konnte, die Einladung zu einer christlichen Gesellschaft, von der Fiction dabei unterschieden habe, aber nicht selbst der Urheber des Ganzen gewesen sei.

Im J. 1620 wurde A. als Specialsuperintendent nach Calv[3][4] versetzt, und in dem größern kirchlichen Wirkungskreise, welchen er hier erhielt, konnte er besonders in den ersten ruhigeren Jahren bereits manches unternehmen für Verwirklichung seiner Wünsche. Einen Verein, das „Färbergestift“, und reiche Mittel dafür brachte er zusammen zur Unterstützung von Handwerkern und Studirenden, Armen und Kranken; bei dem allem half „die Mutter der Stadt“, Andreä’s Mutter (Gust. Schwab in Piper’s Jahrbuch 1851, 220 ff.); auch für Kirchenzucht und Kirchengesang und für mehr Zusammenwirken der Christlichen seines Kreises that er was möglich war; in drei Dialogen „Theophilus“, welche er aber erst 1649 herausgab, faßte er damals kurz nach Arndt’s Tode seine [445] besten Wünsche im Sinne Arndt’s zusammen. Die christliche Gesellschaft, wie er sie ursprünglich gewollt, kam zwar wegen des Krieges nicht zu Stande, aber wengistens einen großen Kreis von Freunden und Anhängern erweckten ihm seine Schriften in ganz Deutschland, am meisten unter den gebildeten Laien, während ihm dieser Beifall Anfeindung lutherischer Theologen zuzog, wie sie aus gleichen Gründen auch schon Arndt hatte erfahren müssen. Schon fand aber auch sein Eifer für Herstellung von Kirchenzucht bei weltlichen Beamten des Inlandes Widerstand, und mit einer nicht gefahrlosen Freimüthigkeit stritt er gegen deren zunehmendes Uebergewicht als gegen eine schlimme Wirkung der Reformation; seine Schrift Apap proditus vom J. 1631 ist nicht, wie sie oft mißverstanden ist, gegen den wirklichen Papst gerichtet, sondern gegen den umgekehrten und verkehrten Papa, gegen den Cäsareopapatus und sicher auch gegen das, was davon in Würtemberg bestand und noch im Zunehmen war. Schwerer wurde Andreä’s Lage in Calv[3] in den letzten Jahren seines Dortseins. Wie nach der Schlacht von Nördlingen 1634 durch die siegreichen kaiserlichen Heere das ganze Land in eine Wüste verwandelt wurde wie kaum ein anderes – statt einer halben Million Einwohner zählte man 1641 nur noch 48,000 – so wurde die Stadt Calv[3] fast am schwersten getroffen; im September 1634 traf Johann v. Werth auf schwedische Truppenmassen, die sich hier gesammelt hatten, und bei diesem Zusammenstoß wurde die Stadt geplündert und großentheils niedergebrannt. Auch Andreä’s Haus verbrannte, darin alle seine Habe, seine Bibliothek, seine Kunstsammlungen, seine Dürer und Holbein; aber die noch größere Noth, welche ihn nun umgab, ließ ihn die seinige vergessen; er wußte große Summen für die Kranken und Verarmten herbeizuschaffen; er sammelte selbst für den schwachen Herzog Eberhard III., welcher sich schon 1634 nach Straßburg aus dem Lande geflüchtet und dieses dadurch vollends preisgegeben hatte, um seine Aussöhnung mit dem Kaiser dadurch zu befördern. Seine Feder, sagt er, ruhete in dieser Zeit der Noth; er betrachtete diese als eine göttliche Strafe für die in Polemik ausgeartete Theologie und für den Despotismus des Apap gegen die Kirche. Im J. 1638 wurde Calv[3] noch einmal verwüstet und diesmal auch A. zur Flucht genöthigt; schon suchten die Freunde in Nürnberg, J. Saubert u. a., ihm dort eine Stätte zu bereiten, aber er ließ sich von seinem Fürsten bewegen, auch ferner alles im Vaterlande mit zu ertragen, und so glaubte im J. 1639 Herzog Eberhard nichts besseres für die Herstellung seines Kirchenwesens thun zu können, als daß er auf Melch. Nicolai’s Rath A. in seine Nähe zog und ihn zu seinem Hofprediger und Consistorialrathe machte.

Doch auch in diesem Amte, in welchem er von 1639 bis 1650 blieb und in welches er ungern und voll Besorgniß eingetreten war, hatte er mehr Schmerzen und Fehlschlagungen zu beklagen, als sich über Erfolge für seine Ideale zu freuen. Wol war seine Thätigkeit unermüdet; durch ihn kam die Cynosura zu Stande, eine Kirchenordnung, welche über die Pflichten der Geistlichen, Katechismuspredigten, Kirchenzucht in reformatorischer Weise u. s. f. sehr specielle Vorschriften gab und nachher öffentliche Geltung in Würtemberg erhielt; in den 10 Jahren in Stuttgart hielt A. über 1000 Predigten, darunter in fünf Jahren 205 blos über den ersten Brief an die Korinther; es gelang ihm manches zur Wiederherstellung und Erweiterung des Tübinger Stifts und des Gymnasiums zu Stuttgart, er kämpfte gegen das, was ihm Simonie und Kirchenraub schien, gegen Habsucht und Schwelgerei, und hatte sich dabei der Zustimmung auswärtiger Freunde und Beschützer zu erfreuen, wie ihm in der Nähe die Anhänglichkeit der drei Schwestern des Herzogs, welche er die drei Grazien nennt, eine besondere Erquickung war; Herzog August von Braunschweig übernahm auch die Kosten seiner Promotion zum Doctor der Theologie im J. 1641. Aber sonst [446] hatte er hier immer bitterer über den Widerstand zu klagen, welcher ihm nicht vom Herzoge Eberhard selbst, aber von den geistlichen und weltlichen Machthabern neben ihm bei seinen Bemühungen zur endlichen Verwirklichung eines christlichen Lebens und darum zur Herstellung einer Kirchenzucht und der nöthigen Unabhängigkeit dafür von weltlichen Einflüssen entgegengesetzt wurden; er versichert wörtlich, in der ganzen Zeit seiner Amtsführung in Stuttgart habe er durch seinen Einfluß eben so wenig einen verdienten Mann in den Dienst der Kirche bringen, als einen verbrecherischen durch Anzeige seiner Vergehen daraus entfernen können (Vita 245). So bat er denn schon 1646 den Herzog um seinen Abschied und erhielt auch einige Erleichterung, Befreiung von den Sitzungen, wenn sein Befinden es fordere; im J. 1650 aber wurde er in Stuttgart entlassen und zum Abt von Bebenhausen ernannt.

Auch hier warteten seiner neue Lasten und Schmerzen, da er die Generalsuperintendenz dort übernehmen mußte, und alte und neue Gegner sich dabei gegen ihn als gegen einen Schwärmer erhoben. Schon war es auch im Munde der ächten Lutheraner ein Vorwurf wie Häresie, Calixtus beizustimmen, und mit diesem war A. allerdings durch den Herzog August in Verbindung und wenn auch nicht in allen einzelnen Lehren, doch darin einig, daß die Lehre allein es nicht thut und daß noch gewisser die heftige Streittheologie vom Uebel ist; A. mußte sich wirklich auf eine Anklage deshalb beim Consistorium in Stuttgart verantworten. Die Zöglinge, welche in seinem Kloster aufwachsen, geben ihm wohl Hoffnungen für die Zukunft, aber sonst sieht er diese immer schwärzer, ebenso wie die Gegenwart; „durch die offenen Thore dieses eisernen Zeitalters dringen drei Dämonen ein, Atheismus, Barbarei und Sklaverei“; die lutherische Religion ist in der Lehre die reinste, in der Praxis die beschmutzteste, „praeceptis non alia rectior, usu distortior, institutis innocentior, delictis culpatior“. „Der Mürbe“, den Namen wählte er selbst für sich in der fruchtbringenden Gesellschaft, welche ihn 1646 aufgenommen aber wenig befriedigt hatte, wurde immer muthloser. In dieser kalten Luft seiner Heimath, so bezeichnet er es selbst, war Herzog August von Braunschweig seine Sonne, wie er es schon seit 1640 gewesen war, er, den A. sich einst zum Haupte seiner christlichen Gesellschaft gewünscht hatte, überhäufte ihn so freigebig mit Titeln und Geschenken, mit hohem Gehalt, Bezahlen seiner Schulden und selbst Zuschüssen su seinen Wohlthätigkeitsanstalten in Würtemberg, daß man damit und mit der Noth wie mit der Liebebedürftigkeit Andreä’s wol auch, was zu überschwänglich ist in den jahrelang jede Woche fortgeführten Ausdrücken seiner Dankbarkeit und Verehrung gegen seinen Wohlthäter und dessen Kinder, wird erklären und entschuldigen dürfen. Noch im Sommer 1653 wollte ihn der Herzog, der ihn niemals gesehen hatte, nach Wolfenbüttel zu sich holen lassen, schickte ihm dazu eine Sänfte durch einen Kammerboten und zwei Reiter und noch sechs Pferde mit drei Knechten dazu, aber schon zu kränklich, wagte A. sich nicht mehr auf eine so weite Reise. Auch in Würtemberg erhielt er 1654 noch die Erleichterung, daß er von Bebenhausen auf die Prälatur von Adelberg versetzt wurde, und weil dies Kloster verbrannt war, in Stuttgart in dem Hause wohnen konnte, welches Herzog August ihm dort geschenkt und ausgestattet hatte, und welches A. nach ihm sein Selenianum nannte; aber er konnte sich an diesem refrigerium, wie er es im Gegensatz gegen das purgatorium in Bebenhausen nennt, nicht mehr lange erfreuen; fast sein letztes Wort war ein Brief, welchen er an seinem Todestage an den Herzog dictirte, aber nur noch mit zitternder Hand die zwei ersten Buchstaben seines Namens selbst darunter zu setzen vermochte.

Jo. Val. Andreae vita ab ipso conscripta, ex autographo primum ed. F. H. Rheinwald, Berlin 1849, in deutscher Uebers. mit Anm. schon früher [447] herausg. von Dav. Ch. Seybold. 1799. Ein Verzeichniß der Schriften Val. Andreä’s ist herausg. von M. Ph. Burk, Tüb. 1793; handschriftliche Nachträge dazu von Meusebach auf der k. Bibl. zu Berlin; ein ziemlich vollst. Verzeichniß auch bei Adelung; ein von Andreä selbst gegebenes steht in seiner Schrift Domus Selenianae juventutis exemplum, Ulm 1654 S. 350 f. Die Autographa seiner Briefe an Herzog August und dessen Antworten auf der H. Bibl. zu Wolfenbüttel. Biographien von Petersen, Würtemb. Rep. der Litt. 1782 St. 2 und von W. Hoßbach, Berl. 1819. Biographische Skizzen von C. Gl. Sonntag in Andreä’s Dichtungen mit Vorr. v. Herder, Leipz. 1786 und von Herder selbst in dessen zerstreuten Blättern Th. 5 (1793), von Tholuck in dessen Lebenszeugen der luth. Kirche (Berl. 1859) S. 314–339 und in Herzog’s theol. Encykl. 19, 60 ff., von C. Grüneisen vor seiner Ausg. von Andreä’s Christenburg (Zeitschr. f. hist. Theol. 1836 S. 230 ff.) und in Piper’s evang. Jahrb. f. 1851, S. 220–30; eine Darstellung seiner Theologie in Gaß’ Gesch. d. prot. Dogm. 2. 54–66. Mittheilungen aus Andreä’s Briefen in Mosers patriot. Archive Th. 6, S. 285–360 und in der Deutschen Zeitschrift für chr. W. 1852, S. 260–354.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 441. Z. 19 v. o. l.: 1632 (st. 1631). [Bd. 33, S. 795]
  2. S. 441. Z. 19 v. o. l.: 1632 (statt 1631). [Bd. 45, S. 666]
  3. a b c d S. 444. Z. 10 v. u., 445, Z. 14. 18. 30 v. o. l.: Calw st. Calv. [Bd. 2, S. 797]
  4. S. 444. Z. 10 v. u. l.: Calw. [Bd. 26, S. 825]