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ADB:Baeyer, Johann Jakob

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Artikel „Baeyer, Johann Jakob“ von Siegmund Günther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 46 (1902), S. 281–287, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Baeyer,_Johann_Jakob&oldid=- (Version vom 27. Dezember 2024, 01:52 Uhr UTC)
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Baeyer: Johann Jakob B., Geodät, geboren am 5. November 1794 zu Müggelsheim bei Köpenick (Provinz Brandenburg), † am 11. September 1885 zu Berlin. Das Dorf, in welchem Baeyer’s Großvater das Schulzenamt bekleidete, ist eine Gründung reformirter Pfälzer, welche sich 1740 hier unter Friedrich II. niederließen; ursprünglich stammte die Familie aus Odernheim a. d. Glan. Der Vater besaß ein Bauerngut, hatte sich aber durch längeren Aufenthalt in Berlin eine für einen Landmann damaliger Zeit ungewöhnliche Bildung angeeignet. Großvater und Vater konnten selbst den Schulunterricht ertheilen, den auch der junge B. besuchte; dazu trat seit 1807 wöchentlich ein Mal der Religionsunterricht, den der Pastor Gronau im nahen Köpenick zu geben hatte, und dieser wackere Geistliche nahm sich auch sonst des Knaben an, der ihm durch sein selten gutes Gedächtniß auffiel. Er nahm B. zu sich in seine Wohnung und ließ ihm zu sehr geringem Preise nicht nur völlige Verpflegung, sondern auch die Vorbereitung für das Gymnasium zu Theil werden, und wieder war es Gronau, der, nachdem 1810 die Prüfung bestanden war, eine Freistelle im „Joachimsthal“ zu erwirken wußte. Hier durchlebte B. die schwere Zeit seines Vaterlandes, und seine autobiographischen Aufzeichnungen bekunden, daß die heranwachsende Jugend, als sich 1811 der Krieg gegen Rußland voraussehen ließ, mit fieberhafter Spannung die Zukunft erwartete. Auch B. war unter denen, welche sich auf der Hasenheide an Jahn’s Leibesübungen betheiligten. Man stellt sich leicht vor, welche Aufregung es unter den Gymnasiasten hervorrief, als sie im Januar 1813, bei Tschernitschew’s bekanntem Ueberfalle, die Kosaken vor den Fenstern ihrer Anstalt vorübersprengen sahen. Als daher der „Aufruf an mein Volk“ erschien, verließ B. mit tausend [282] anderen die Schulbänke und meldete sich zum Eintritt in die Armee. Man wies den kränklich aussehenden Jüngling ab, aber ein Bruder des commandirenden Generals v. Bülow ermöglichte es, daß letzterer auf B. aufmerksam wurde, und so durfte er bei den freiwilligen Jägern des Füsilierbataillons des 3. Ostpreußischen Infanterieregimentes eintreten. B. kämpfte in den ersten Gefechten des Feldzuges mit, durch welche der in Deutschland den Oberbefehl führende Vicekönig Eugen nach Magdeburg hineingeworfen und zum Verlassen der Elbe gezwungen wurde. Auch bei der Erstürmung von Halle a. S. am 2. Mai nahm das Bataillon hervorragenden Antheil. In schwere Nöthe kam dasselbe während des Gefechtes bei Hoyerswerda, wo Oudinot die um die Hälfte schwächeren Preußen zurückdrängte, aber gleich darauf half es durch seine tapfere Vertheidigung des Kirchhofes den Sieg bei Luckau erringen, welcher die bedrohte Hauptstadt zum ersten Mal schützte. Ein zweites Mal geschah dies bekanntlich bei Großbeeren, wo Baeyer’s Leben nur wie durch ein Wunder erhalten blieb; mit einer Patrouille war er nach anscheinender Beendigung des Treffens zwischen die sich bekämpfenden Reitermassen hineingerathen, und als der Reitersturm über ihn hinweggebraust war, erfuhr er erst durch den General v. Oppen, daß der Sieg errungen sei. Wie so oft der gemeine Soldat, hatte er keine Ahnung vom Ausgang der Kämpfe gehabt. Die blutigsten Scenen standen dem Bataillon übrigens erst bei Dennewitz bevor, wo Major v. Gleißenberg durch Besetzung eines Grabens die Franzosen und Sachsen daran verhinderte, aus dem im Sturme genommenen Göhlsdorf vorzubrechen. Eine Kugel nahm B. den Stiefelabsatz fort, ohne ihm mehr als eine Contusion zuzufügen. Auch am dritten und vierten Tage der Leipziger Völkerschlacht war B. im Feuer; bei der Erstürmung des Grimmaischen Thores fand Baeyer’s verehrter Bataillonschef den Heldentod. Die Truppe dagegen machte den berühmten Eroberungszug nach den Niederlanden mit, kämpfte bei Antwerpen und später bei Laon und Soissons und kam auf dem Montmartre eben an, als die Capitulation von Paris stattgefunden hatte. Die Winterquartiere bezog das Bataillon in Flandern, und im August 1814 traf es wieder in Berlin ein; B. verließ hier die Reihen der Kampfgenossen und kehrte zu seinen Gymnasialstudien zurück.

Freilich nicht für lange. Denn als die Mobilmachung des Jahres 1815 begann, wurde B., der sich die Officiersqualification erworben hatte, zum Lieutenant befördert und nach Aachen gesandt, um die rheinische Landwehr organisiren zu helfen. Zur Berührung mit dem Feinde kam dieselbe nicht, obwol sie längere Zeit im nördlichen Frankreich cantonnirte. B. entschloß sich, Soldat zu bleiben und meldete sich zur Aufnahme in die vom General v. Gneisenau zu Koblenz eingerichtete Kriegsschule, an der die besten Lehrkräfte wirkten – v. Clausewitz z. B. für Kriegsgeschichte. B. bestand sehr gut die Austrittsprüfung und wurde dem 36. Reserve-Infanterieregimente zugetheilt. Zum activen Dienste kam er jedoch nicht wieder, denn der Generalquartiermeister v. Müffling (s. A. D. B. XXII, 452), als Kartograph in wissenschaftlichen Kreisen wohl bekannt, begründete in Koblenz ein topographisches Bureau, zu welchem B. auf Ansuchen abcommandirt ward. Mit vieler Mühe arbeitete er sich, unter Anleitung eines Freundes, des Adjutanten v. Schelski, in das Situationszeichnen nach Lehmann’scher Schraffenmanier hinein, und bald hatte er die Genugthuung, daß v. Müffling Baeyer’s Aufnahme des Feldberges im Taunus dem Großherzoge Karl August von Sachsen-Weimar als eine besonders gelungene Leistung vorlegte. Dabei wurde die Mathematik eifrig fortgetrieben, und der als geographischer Schriftsteller später bekannt gewordene Hauptmann O’Etzel weihte den Schüler, der ihm rasch befreundet wurde, in die Theorie und Praxis dessen ein, was bald Baeyer’s Lebenswerk werden sollte, der trigonometrischen Landesvermessung. [283] Im Siebengebirge und Westerwald legte er seine ersten geodätischen Proben ab. Im J. 1819 verlegte General v. Müffling sein Bureau nach Erfurt, und B. begann hier mit der Triangulation von Thüringen; es war keine leichte Arbeit, denn die Wege waren überaus schlecht, und einmal brauchte B., obwol er sich seines neu erkauften Ponys bediente, drei Tage, um von Erfurt nach Mühlhausen zu kommen. Eine dem Jahre 1822 entstammende Notiz des Generals in den „Astron. Nachrichten“ über die Längengradmessung Dünkirchen-Mannheim-Seeberg gedenkt des Lieutenants B. als thätigen Mitarbeiters an den Berechnungen auf der sphäroidischen Erdoberfläche. Als endlich Müffling 1821 nach Berlin berufen wurde, um die Leitung des Generalstabes zu übernehmen, zog er den als tüchtig erkannten Gehülfen ebendorthin, und bald nachher ergab sich Gelegenheit, daß B. durch seinen Chef zwei Männern vorgestellt ward, welche für sein Leben von Wichtigkeit werden sollten. Es waren dies Bessel und A. v. Humboldt. Der letztere sah sofort, daß er in dem jungen Officier den richtigen Begleiter für die geplante asiatische Reise finden werde, und ermunterte ihn zu vorbereitenden Studien. Demzufolge hörte B. bei Weiß mineralogische und chemisch-geologische Vorlesungen. Es sei gleich hier erwähnt, daß der Plan sich zerschlug, weil B., als endlich das Reiseproject (1828) zur Verwirklichung gelangte, von schwerer Krankheit an das Lager gefesselt war; die chemischen Bücher aber, welche zu dem Ende angeschafft waren, dienten dem jüngsten Sohne Baeyer’s in noch sehr jungen Jahren, um mit den Anfangsgründen einer Wissenschaft bekannt zu werden, in welcher er nachmals so Großes leisten sollte. Im J. 1823 avancirte B. zum Premierlieutenant.

Ein günstiger Zufall brachte es mit sich, daß B. den Artilleriemajor v. Scharnhorst, seinen früheren Lehrer von der Koblenzer Kriegsschule, nach Italien begleiten durfte; um dem Urlaub einen officiellen Anstrich zu geben, trug ihm v. Müffling auf, die alpinen Kriegszüge des Generals Suwarow zu recognosciren. In Zürich nahmen Ebel und Horner, in Genf Pictet und Dufour den durch A. v. Chamisso bestens empfohlenen Reisenden freundlich auf und ermöglichten ihm die Anstellung einer Reihe von barometrischen Höhenmessungen (vgl. Ann. d. Phys. u. Chem., 5. Band), für die sich auch der Prior des St. Bernhard-Hospizes lebhaft interessirte. Den Herbst und Winter 1824/25 verwendete B. zur Ausarbeitung eines sorgfältigen Reiseberichtes. Das nächste Frühjahr brachte die endgültige Versetzung in den Generalstab, und bis 1832 hatte B. in reiner Mathematik und deren Anwendung zu unterrichten; als 1832 Professor Poselger zurücktrat, übernahm Hauptmann B. auch die Vermessungskunde, und dieses Lehrfach hat er ein volles Vierteljahrhundert lang beibehalten. Ebenso blieb er bis 1837 Mitglied der Militärstudiencommission. Durch O’Etzel war B. mit der Familie des bekannten Criminalisten Hitzig bekannt geworden, dessen Tochter Eugenie, erst neunzehnjährig, dem jungen Officier 1826 als Gattin verbunden ward. Im März 1827 war B., um diese Aeußerlichkeiten vorwegzunehmen, Hauptmann geworden; 1836 rückte er zum Major, 1845 zum Oberstlieutenant, 1848 zum Oberst, 1852 zum Generalmajor vor. Der Juli 1827 brachte, wie schon erwähnt ward, Baeyer’s Leben in ernsteste Gefahr, denn während er in Posen die Vermessung einer Hauptdreieckskette leitete, erkrankte er an einer damals dortselbst epidemisch auftretenden, dem gelben Fieber ähnlichen Krankheit, und erst eine längere Badecur in Cudowa stellte den aufs äußerste erschöpften Reconvalescenten soweit her, daß er wieder seinen Dienst-Pflichten nachzukommen vermochte. Um diese Zeit half er auch die seitdem segensreich wirkende Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin begründen.

Es war ein Glück, daß die Genesung rasch fortschritt, denn es gab bald neues zu thun. B. wurde der Commission zugeordnet, welche unter der Leitung [284] des Feldmarschalls Grafen Gneisenau und der Generale v. Müffling und v. Braun Versuche über die Verbesserung der Raketen vorzunehmen hatte und vom Herbst 1828 bis zum Frühjahr 1830 in Permanenz verblieb. Gleich nachher trat eine andere, weit aussehende Aufgabe an B. heran, die Theilnahme an Bessel’s ostpreußischer Gradmessung. Von 1831–1834 dauerte die Feldarbeit, während welcher der große Astronom seinen Mitarbeiter überaus hoch schätzen lernte, während dieser umgekehrt eine Fülle von Anregungen in sich aufnahm, die zeitlebens in ihm nachwirkten. Im J. 1838 trat das von beiden Männern bearbeitete, inhaltlich und methodologisch gleich bedeutende Werk an die Oeffentlichkeit, welches den Gang und die Resultate des Unternehmens darlegt. Es führt den Titel: „Gradmessung in Ostpreußen, ausgeführt von Bessel, Director der Königsberger Sternwarte, und Baeyer, Major im Generalstabe“ (Berlin 1838). Auch bei diesen Operationen fehlte es nicht an Störungen aller Art, deren geringste nicht die war, daß B. in Woldenberg eine sechswöchentliche Choleraquarantäne über sich ergehen lassen mußte. Parallel mit den Gradmessungsarbeiten ging eine Specialaufnahme nebst Auslotung der preußischen Küstengewässer, die ebenfalls B. übertragen war; die glückliche Lösung auch dieser nicht leichten Aufgabe brachte den Rothen Adlerorden 4. Cl. Und gleich darauf rief ihn Bessel, der 1835 in Berlin seine classischen Pendelversuche anstellte, zu einer neuen, schwierigen Arbeit auf, denn eine unerläßliche Vorbedingung für den Erfolg jener Studien war eine genaue Kenntniß der Meereshöhe des Beobachtungsortes. B. bestimmte diese Größe sowol mittelst des ihm längst vertraut gewordenen Barometers, als auch mit Hülfe trigonometrischer Vermessung. Die beiden großen Operationen haben erst später publicistisch ihre Verwerthung gefunden („Das Nivellement zwischen Swinemünde und Berlin“, Berlin 1840; „Die Küstenvermessung und ihre Verbindung mit der Berliner Grundlinie“, Berlin 1849). In den Jahren 1837–1842 führte B. seine litorale Dreieckskette bis zum Anschlusse an das dänische Netz fort. Man erkennt leicht, daß Baeyer’s Bezeichnung „Nivellement“ mit dem, was hierunter die Gegenwart versteht, nicht übereinstimmt, aber eine Autorität, wie Helmert, gesteht ausdrücklich zu, daß das trigonometrische Ergebniß ein außerordentlich genaues war. Eine Nebenfrucht der trigonometrischen Verkettung Berlin-Swinemünde war die Normirung eines Normalnullpunktes in jener Stadt, und hieran konnten viel später Seibt’s für die Geophysik so wichtig gewordenen Untersuchungen über das Mittelwasser der Ostsee anknüpfen.

Gelegentlich sehen wir B. auch auf ein ganz anderes Gebiet eine wissensschaftliche Excursion unternehmen. Er ließ 1843 und 1844 zwei kleine Schriften über praktische Hydraulik erscheinen, bei deren erster auch der Generalstabsmajor Blesson als Mit-Verfasser genannt ist („Die Bewässerung und Reinigung der Straßen Berlins“, Berlin 1843; „Ueber die Mittel der Alten, Brunnen zu graben, Wasser zu heben und zu leiten, und über die Einwirkung des fließenden Wassers auf den allgemeinen Gesundheitszustand“, Berlin 1844). Der Vorschlag, Berlins jammervolle Rinnsteine durch Dampfkraft ausspülen zu lassen, ging an einen aus v. Müffling, v. Humboldt und dem Oberbaurath Eytelwein zusammengesetzten Ausschuß, der die Sache auch recht ernsthaft in die Hand nahm und B. zu einem Studium der entsprechenden Verhältnisse nach Paris und London entsandte. Der Bericht fiel günstig aus, und König Friedrich Wilhelm IV. erklärte sich zu einer namhaften materiellen Beihülfe bereit; allein die Stadtverwaltung war nicht aus ihrem Schlendrian herauszubringen. Doch hat B. auch später seine Mitwirkung nicht versagt, als der bekannte Polizeipräsident v. Hinckeldey einer englischen Gesellschaft die Concession für die Wasserversorgung der Residenz verschaffte. Jedenfalls verrathen die genannten beiden [285] Schriftchen ebensosehr antiquarisches und technisches, wie auch hygienisches und socialpolitisches Verständniß. Heute ist Baeyer’s Zukunftsproject, die Legung von Röhrenleitungen in den Häusern, die „zu lebendigen Pulsadern der Reinlichkeit werden“, an sehr vielen Orten eine vollzogene Thatsache geworden. Solche Intermezzos hielten den Fortschritt der großen Vermessungsarbeiten nicht auf, welche B. übertragen waren. Im J. 1846 wurde bei Berlin, im Jahre darauf bei Bonn eine Basis gemessen, im letzteren Falle mit Unterstützung belgischer Officiere. Dabei stellte sich heraus, daß die Annahme, der Ausdehnungscoefficient der Metalle sei eine absolut constante Größe, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Die belgischen Gelehrten, welche sich zur Prüfung dieser auffallenden Wahrnehmung vereinigten – Stas, Plateau, Liagre –, fanden Baeyer’s Behauptung vollauf bestätigt. Kurz zuvor war derselbe Abtheilungschef „für das westliche Kriegstheater“ geworden; im J. 1848 wurde er, da der Telegraphendirector O’Etzel einen Schlaganfall erlitten hatte, mit der Beaufsichtigung der – optischen – Staatstelegraphen betraut. Von 1849 an datirt die Ausdehnung des trigonometrischen Nivellements Ostsee-Berlin auf den Brocken und Inselsberg, und bei dieser Gelegenheit begann B. mit seinen grundlegenden Studien über die terrestrische Strahlenbrechung, die allerdings schon 1840 die Aufmerksamkeit der Geodäten auf sich gezogen hatten (vgl. 17. und 41. Band der „Astron. Nachrichten“ und Jahrgang 1860 der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften). Es wird hier die Ursache der Veränderungen, welchen der sogenannte Refractionscoefficient unterliegt, vollkommen richtig angegeben, doch fand die Herleitung nicht die verdiente Beachtung in Fachkreisen, und erst ziemlich viel später, nachdem v. Bauernfeind’s Refractionstheorie aufgestellt worden war, begann man wieder des Verdienstes auch dieses Vorgängers mehr eingedenk zu werden. Vor allem ist auch Baeyer’s neue Entwicklung der Barometerformel auf Grund einer der Zunahme der Höhe proportionalen Temperaturverminderung (Ann. d. Phys. u. Chem., 98. Band) rühmend in Erinnerung zu bringen. So wurde der bisherige Geodät nachgerade auch zum eifrigen Pfleger der wissenschaftlichen Meteorologie. Im „Archiv für Landeskunde“ veröffentlichte er 1858 eine einschlägige Abhandlung („Ueber die Beziehung der Strahlenbrechung zur Witterung und über den Zusammenhang einer Landesvermessung mit der Meteorologie“). Zwei weitere Aufsätze (Ann. d. Phys. u. Chem., 104. u. 107. Band) verfolgen das Ziel, die atmosphärischen Bewegungen auf ihre Abhängigkeit von der ablenkenden Tendenz der Erdumdrehung zu prüfen; die Ergebnisse sind ebenso sehr zur Widerlegung der Desor’schen Föhnhypothese, wie auch zur Richtigstellung jener allzu schematischen Lehre vom Luftaustausche zu verwerthen, welche Dove zur Grundlage der atmosphärischen Physik gemacht hatte.

Noch muß erwähnt werden, daß Baeyer’s Thätigkeit auch zwei anderen deutschen Staaten zu gute gekommen ist. Von ihm ging der Entwurf zu der mustergültigen Triangulirung Mecklenburgs aus, welche Paschen durchführte, und 1830 zog ihn die Regierung des Fürstenthums Schwarzburg-Sondershausen wegen einer neuen Catastrirung zu Rathe. Sein Gutachten wurde befolgt, und es erhielt so das Ländchen eine treffliche Kartirung, die sich jedoch nach Baeyer’s Ansicht auch für größere Staaten wohl geeignet hätte. Damals fanden Baeyer’s Ideen beim preußischen Kriegsministerium nur theilweise Eingang; gegenwärtig dagegen hat man sich ihnen durchweg anbequemt. Die betreffende Vorlage wurde im December 1851 gemacht, kam aber erst 1868 auch im Buchhandel heraus („Entwurf zur Anfertigung einer guten Karte von den östlichen Provinzen des preußischen Staates nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft“, Berlin). B. redete insbesondere durchgängiger Anwendung des Theodoliten [286] und des Calculs – mit Ausschluß der graphischen Verfahrungsweisen – das Wort. Von maßgebenden Persönlichkeiten nahm zumal A. v. Humboldt an der vorgeschlagenen Neuerung Antheil, deren Grundzüge er auch dem Könige vorlegte.

Im J. 1854 hatte B. eine Besprechung in Warschau mit dem russischen Geodäten General v. Tenner; er wurde hier dem Zaren Nikolaus vorgestellt und von diesem aufs höchste ausgezeichnet. Die Jahre 1856–1857 nahm eine im Auftrage der Admiralität ins Werk gesetzte Vermessung des Jahdebusens, sowie der Weser- und Elbemündung in Anspruch. Um diese Zeit sah sich B. vor die Alternative gestellt, als Brigadegeneral in den activen Dienst zurückzutreten oder auf weiteres Avancement zu verzichten. Auf Betrieb Humboldt’s, der sehr zutreffend meinte, zur Führung einer Brigade habe man Leute genug, aber nur einen B., versetzte diesen der König im Frühjahr 1857 zu den „Officieren von der Armee“ mit Fortbezug des Gehaltes der Charge auf Lebenszeit und mit der Aussicht auf eine neue Organisation des Vermessungswesens nach Baeyer’s Entwürfen. Als aber mit dem Grafen v. Moltke ein Generalsstabschef eintrat, der jünger als B. war, legte dieser die Leitung der trigonometrischen Abtheilung im Generalstabe nieder und wurde nunmehr, mit dem Charakter als Generallieutenant, dem Kriegsministerium direct unterstellt. Zwischen ihm und dem Generalstabe entspann sich alsdann ein mehrjähriger Streit, dessen Ursache allerdings eine rein wissenschaftliche war, immerhin aber auch des persönlichen Beigeschmackes nicht entbehrte; gleichwol drang Baeyer’s Antrag, die Kartenprojectionslehre als Hauptfach in den Lehrplan der Officiere aufzunehmen, noch 1857 durch. Aus einer Eingabe vom März 1882 geht hervor, daß B. die im J. 1858 erfolgte Quiescirung schmerzlich empfand, allein auf der anderen Seite sicherte ihm doch erst diese die Möglichkeit, jenes gewaltige Werk in Angriff zu nehmen, welches ihm die Unsterblichkeit verliehen hat.

Schon geraume Zeit trug sich W. v. Struve in Dorpat mit der Absicht, eine Längengradmessung zwischen Orsk in Sibirien und Valentia in Irland – ursprünglich hatte man nur an die Linie Astrachan-Brest gedacht gehabt – auszuführen und so Klarheit über die durch Meridianmessungen allein nicht zu lösende Streitfrage zu erhalten, ob die Erdgestalt eine rein ellipsoidische sei oder nicht. B. betheiligte sich an den Conferenzen und kam zu der Erkenntniß, daß eine wirkliche Einsicht nur dann zu gewinnen sei, wenn geodätische Operationen in zwei zu einander senkrechten Richtungen über einen möglichst großen Theil der Erdoberfläche erstreckt würden. Diesen Grundgedanken erläuterte er in einer gemeinverständlichen, für alle Zeiten normativen Schrift („Ueber die Größe und Figur der Erde, eine Denkschrift zur Begründung einer mitteleuropäischen Gradmessung“, Berlin 1861), welcher rasch eine zweite von exactestem Charakter folgte („Das Messen auf der sphäroidischen Erdoberfläche“, Berlin 1862). Die letztere stützt sich zum Theile auf Bessel’sche Originalien und enthält u. a. einen neuen Beweis für die wichtigsten Eigenschaften der sogenannten geodätischen Linien.

Selten hat eine Anregung so rasche und vollständige Erfolge gehabt. Ein Land nach dem anderen erklärte seinen Beitritt zur mitteleuropäischen Gradmessung; und bereits der „Generalbericht“ von 1862 durfte 15 participirende Staaten aufzählen. Auch die von B. geleiteten Organisationsarbeiten nahmen einen raschen Fortgang. Es erfolgte 1863 die Einsetzung einer „permanenten Commission“, 1864 die erste allgemeine Conferenz, aus welcher noch im gleichen Jahre das „Centralbureau der mitteleuropäischen Gradmessung“ hervorging. Die Erweiterung der mitteleuropäischen zur „europäischen“ Gradmessung fand 1867 statt, und heute ist überhaupt nur noch von „internationaler Erdmessung“ die Rede. Die Schaffung des Geodätischen Institutes in Berlin ist 1869 vollzogen [287] worden. B. war, solange ihm seine Kräfte die Theilnahme verstatteten, ständiger Ehrenpräsident der Generalversammlungen, auf denen die Fortschritte des Gradmessungswerkes besprochen wurden, und als er 1883 in Rom fehlen mußte, ward ihm von dort aus eine goldene Medaille übersandt, welche seine Verdienste in markigen Worten feierte. Daß es B. an äußeren Ehren überhaupt nicht fehlte, ist etwas so selbstverständliches, daß es mit diesem kurzen Hinweise sein Bewenden haben kann.

Baeyer’s Lebensabend war ein in jeder Hinsicht glücklicher. Seine geistigen und körperlichen Kräfte zeigten keine merkbare Abnahme; noch in seinen letzten Lebenstagen, die er auf dem Krankenbette zubrachte, hatte er für alle wissenschaftlichen Fragen ein lebhaftes Interesse und freute sich insbesondere der Ergebnisse, welche Seibt’s automatischer Wasserstandsmesser für die Festlegung des mittleren Ostseeniveaus erzielt hatte. Auch als die mit Lungenentzündung gepaarte Influenza, der er erlag, gefahrdrohende Formen annahm, ahnte er nichts von der Nähe des Todes, und dieser ereilte den alten Kämpfer der Befreiungskriege schmerzlos um die Mitternachtstunde des 11. September 1885.

Helmert, J. J. Baeyer, Vierteljahrsschrift d. Astronomischen Gesellschaft, 21. Jahrgang, S. 2 ff. – General Baeyer, Zeitschrift für Vermessungswesen, 14. Bd., S. 369 ff. – Private Mittheilungen aus J. Baeyer’s Familie.