ADB:Bethmann Hollweg, August von
*), Moriz August von B.-H., großer Rechtsgelehrter und preußischer Staatsminister, geboren zu Frankfurt am Main am [763] 8. April 1795, gestorben auf Schloß Rheineck am 14. Juli 1877. Der Doppelname ist die Verbindung des väterlichen und mütterlichen Familiennamens. Der väterliche Stamm wurzelt in Hessen. Er läßt sich zurückverfolgen bis auf Johannes Hollweg, Bürger und Schuhmachermeister in Gießen, welcher in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts lebte. Sein Sohn Johann Hermann, wie sein Enkel Johannes Valentin gehörten dem geistlichen Stande an und bekleideten Pfarren in hessischen und nassauischen Landen. Des letztgenannten Sohn Georg Philipp Hartmuth, geboren am 25. April 1657 studirte die Rechte und ward in Frankfurt am Main nach vorgängigem Kanzleidienst im J. 1686 Procurator am Schöffengericht. In Frankfurt verbleibt die Familie und wendet sich in des Procurators Sohn Johann Abraham dem Kaufmannsstande zu. Aus seiner Ehe mit Anna Elisabeth geborenen Bengerath wurde Bethmann-Hollweg’s Vater Johann Jacob Hollweg am 7. Januar 1748 geboren. Er heirathete im J. 1780 Susanne Elisabeth aus Frankfurts erstem und weit berühmtem Banquierhause Bethmann. Gleichzeitig trat er unter Annahme des Bethmännischen Namens in die Handlung ein, deren geistiges Haupt er nach dem Tode des Schwiegervaters 1792 wurde und blieb. Vier Kinder wurden ihm geboren, von denen Moritz August das jüngste war.
Bethmann-HollwegDie äußeren Verhältnisse und geistigen Einflüsse des elterlichen Hauses waren ihrem Reichthum und ihrer Vielseitigkeit nach wol dazu angethan, die Kindheit glücklich und eindrucksvoll zu gestalten. Die Mutter, eine Frau von hohem Geistesadel, machte das vornehme Patrizierhaus zu einem Mittelpunkt der glänzenden Gesellschaft, welche zeitweise gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die freie Reichsstadt belebte. Die weise Liebe der Mutter und der streng gewissenhafte, allem falschen Schein abgewendete, fromme Sinn des Vaters gaben das Gegengewicht, welches bei allem Glanze des Lebens die Bedingungen für eine gesunde innere Entwickelung des Knaben barg. In Karl Ritter, dem späteren Begründer der geographischen Wissenschaft, hatten die Eltern den trefflichen Erzieher ihrer Kinder gefunden. Am 10. October 1798 war er, der neunzehnjährige Jüngling, in das Hollweg’sche Haus eingetreten. Er hatte seine Ausbildung unter Salzmann’s Leitung in Schnepfenthal empfangen und darauf drei Semester auf der Universität in Halle zugebracht. Eine durchaus ideale Natur, von feinem religiösen Gefühl und tief wissenschaftlicher Begabung, von festen Grundsätzen, starkem Unabhängigkeitssinn und hervorragendem Lehrtalent übte er alsbald auf die Entwickelung des ihm kongenialen Knaben einen entschiedenen Einfluß. Die Weisheit der Eltern und Ritter’s Auffassung seiner Aufgabe bekundete sich in der merkwürdigen Thatsache, daß er mit dem Knaben am 28. Februar 1805 aus dem elterlichen Hause in das sehr einfache eines Freundes der Familie zog, um die Erziehung möglichst von verwöhnenden und störenden Einflüssen fern zu halten. Hier verblieb man bis zum Frühjahr 1807. Am 21. Januar 1808 verlor B.-H. seinen Vater. In den Jahren 1808–1811 werden die klassischen Studien unter Ritter’s Assistenz theils in der Schule, theils in Privatstunden von Conrector Grotefend, dem berühmten Entzifferer der persepolitanischen Keilschrift und Rector Matthiä geleitet. Der gute Fortgang der Studien entschied für den gelehrten Beruf. Doch wurden die Jahre vom Juli 1811 bis zum Juli 1813 zur Vorbereitung für die Universität in Ritter’s Gesellschaft auf Reisen, vorzüglich in Genf und in Rom, zugebracht. Am 18. Juli 1813 bezogen beide die Göttinger Universität. B.-H. hatte sich für die Rechtswissenschaft entschieden. Ritter, welcher jetzt ganz seinen eigenen wissenschaftlichen Interessen lebte, blieb ihm als Freund und Berather zur Seite. Neben mancherlei allgemein wissenschaftlichen Vorträgen hörte B.-H. die Fach-Vorlesungen von Hugo und Heise. Bei der Geistes- und Lehrart beider Docenten wollte sich die Freude an der Rechtswissenschaft nicht einstellen. [764] Den Ersatz boten historische Privatstudien und der geistig angeregte Verkehr mit ernststrebenden jugendfrischen Genossen. Sein heißer Wunsch, mitzukämpfen für die Befreiung des Vaterlandes scheiterte an dem unbesieglichen Widerstande der sorgsamen Mutter. Im zweiten Jahre seines Göttinger Aufenthaltes knüpfte sich das Herzensverhältniß mit Auguste Gebser, welches für ihn bis zu seinem Lebensende die Quelle des reichsten Familienglückes wurde.
Im Herbst 1815 bezog B.-H. die Berliner Universität. Hier entschied sich die Richtung seiner Lebensbahn. Hier erfuhr sein religiöses Leben neue Erweckung; hier bildete sich ein edler Freundeskreis, der, wenn auch zu pietistisch gefärbt, doch das Höchste in reiner Frömmigkeit suchte. Hier gewann Savigny B.-H. für die Rechtswissenschaft. Er veranlaßte ihn, Göschen in Verona bei der Entzifferung der Gaius-Handschrift zu Hülfe zu kommen. Vom 15. Juli bis zum 11. October 1817 wurde in angespanntester Thätigkeit das Werk vollendet. Die erfolgreiche Mitarbeit Bethmann-Hollweg’s, mancherlei glückliche Conjectur, der Nachweis der Ordnung und Vollständigkeit der Gajanischen Schrift befestigten in Savigny die Ueberzeugung von Bethmann-Hollweg’s Beruf für die Wissenschaft und halfen seine eigenen Bedenken überwinden. Am 29. August 1818 bestand er in Göttingen das mündliche Doctorexamen gemeinschaftlich mit Lancizolle summa cum laude. Nach solenner Disputation wurde er am 12. September 1818 promovirt. Auf Grund der nachträglich vollendeten, vorerst handschriftlich eingereichten Doctordissertation („de causae probatione“) habilitirte B.-H. sich in Berlin im Frühjahr 1819. Am 31. Mai begann er seine akademische Thätigkeit mit einer Vorlesung über die Lehre von der Vormundschaft. Die Dissertation jedoch erschien im Druck erst im Januar des folgenden Jahres. Am 28. April 1820 feierte B.-H. seine Vermählung. Der Berliner Aufenthalt, welcher mit der Uebersiedelung nach Bonn 1829 seinen Abschluß fand, hat Bethmann-Hollweg’s wissenschaftliche Persönlichkeit zur vollen Reife entwickelt. Seine äußere Stellung an der Universität war schnell befestigt. Schon am 8. Februar 1820 beschloß die Universität ihn als außerordentlichen Professor ohne Gehalt dem Ministerium in Vorschlag zu bringen. Am 15. März wurde er ernannt. Nach Hasse’s und Göschen’s Abgang 1823 erfolgte seine Beförderung zum ordentlichen Professor. Im Jahr 1827 ehrte ihn, den Dreiunddreißigjährigen, die Universität durch die Wahl zum Rector.
Seine Lehrthätigkeit war anfänglich auf die Institutionen und specielle Abschnitte des geltenden römischen Rechts beschränkt. Nach Göschen’s Abgang traten die Pandekten im ganzen Umfang hinzu. Aber schon vorher, im Winter 1820 auf 1821 hatte B.-H. auf Savigny’s Rath den Civilproceß unter seine Lehrgegenstände aufgenommen. Damit begann für die Civilproceßwissenschaft eine neue Epoche. Der Aufschwung der Rechtswissenschaft, welcher mit dem Namen Savigny’s für alle Zeiten verknüpft im Anfang dieses Jahrhunderts eingetreten war, hatte bisher der Civilproceßwissenschaft keine Früchte getragen. B.-H., indem er im Geiste der historischen Schule darauf ausging, überall aus der geschichtlichen Entwickelung heraus das geltende Recht festzustellen und zu verstehen, gelangte zu dem Ergebniß, daß sich das gemeine deutsche Proceßrecht nicht aus den römischen, kanonischen Quellen und der Reichsgesetzgebung darstellen lasse und daß das in den Gerichten wirklich zur Anwendung kommende Gewohnheitsrecht nur durch umfassendes Studium der Schriften der praktischen Juristen erkennbar sei. Damit waren der Proceßwissenschaft neue Bahnen gewiesen. Die Dogmengeschichte trat als Hülfsmittel der wissenschaftlichen Forschung bedeutsam hervor. Daß dabei auf die Zeit der Glossatoren zurückgegangen werden müsse, blieb B.-H. nicht verborgen. In seinem „Grundriß zu Vorlesungen über den allgemeinen Civilproceß mit einer Vorrede über die wissenschaftliche Behandlungsweise desselben“, 1821, sprach er diese Gedanken [765] öffentlich aus und gab gleichzeitig in litterargeschichtlichen Notizen eine Handhabe für ihre Ausführung. – Die Vorlesung war von vornherein darauf angelegt, dem Hörer ein Gesammtbild der historischen Entwickelung des Processes zu geben und bei den einzelnen Lehren das Bestehende als Entstandenes zu erklären. Ein kurzer Abriß der Geschichte des römischen Processes, mit welchem die historische Einleitung beginnt, ist bei dem damaligen Stande der Litteratur und der Jugend des Docenten geradezu meisterhaft zu nennen. In der Geschichte der deutschen Gerichtsverfassung lehnte er sich hauptsächlich an Eichhorn an. Ueberall zeigte sich in der dogmatischen Darstellung die Fruchtbarkeit der historischen Betrachtung, die Freiheit von einer gedankenlos überlieferten Doctrin, ein begriffliches Erfassen des Stoffs. In der Systematisirung ursprünglich unselbstständig, an Martins Lehrbuch angeschlossen, hat B.-H. sich bald, schon in der zweiten Auflage des Grundrisses (1825), auf eigene Füße gestellt. Als litterarische Frucht der Beschäftigung mit der Geschichte und Dogmatik des Processes veröffentlichte er 1827 seine „Versuche über einzelne Theile der Theorie des Civilprocesses“. Es kam ihm vorzüglich darauf an, „die juristische Methode in Entwickelung und Anwendung allgemeiner Rechtsprincipien, die eigentlich juristische Technik an Beispielen zu zeigen“[WS 1]. Daher beschränkte er sich nicht auf die Untersuchung unmittelbar praktischer Lehren, sondern nahm auch solche auf, „die für ganz verjährt zu halten sind.“ Und in der That lieferte B.-H. in dieser in Form und Inhalt gleich vollendeten Schrift den überzeugenden Beweis von der Trefflichkeit seiner Methode. In einigen der bedeutendsten Fragen des Proceßrechts wird der hergebrachte Lehrschutt fortgeräumt und in den Gegensätzen alter und moderner Rechtsanschauung, in der Entwicklung der letztern der wahre Gedanke des geltenden Rechts enthüllt. – Speciell der Geschichte des römischen Processes gewidmet ist der in diese Zeit fallende Aufsatz in der Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft (Bd. 5. S. 358) über die Competenz des Contumacialgerichts. Nach derselben Seite neigt die Abhandlung über die Compensation in Hasse’s Rheinischem Museum (Bd. 1, S. 257 ff.). Dem inneren Bedürfniß, seine Wissenschaft in Einklang zu bringen mit seiner gesammten Weltanschauung, sie in Beziehung zu setzen zu dem letzten Grunde unseres Seins ging B.-H. nach in dem mehrmaligen Vortrage der „Encyklopädie des positiven Rechts“. Einer historischen und systematischen Gesammtdarstellung des Rechts schickte er voraus eine orientirende Einleitung, in welcher die philosophischen Grundlagen des Rechts gesucht wurden. Ebenso frei von naturrechtlicher, wie von theokratischer Auffassung und der in seinem Freundeskreise umgehenden Haller’schen Doktrin sondert er bis zur Gegensätzlichkeit Ethik und Recht, stellt er Liebes- und Rechtspflicht als sich ausschließend hin, und leitet das Recht ab aus der durch den Interessenkampf der Menschen gegebenen Nothwendigkeit einer Zwangsordnung. Bis zum Kern, dem letzten inneren einheitlichen Grunde von Sittlichkeit und Recht durchzudringen, ist ihm damals noch nicht gelungen.
Der Politik blieb B.-H. fern. Die Reaction mit ihren Demagogenverfolgungen, ihrem polizeilichen Aufseher- und Inquirententhum stieß ihn zurück. Dagegen entwickelte sich damals schon in ihm ein lebhaftes Interesse für die öffentlichen Zustände Englands. Im religiösen Leben gewinnen Einfluß auf ihn Hofprediger Strauß und Goßner. Die gleiche Gesinnung vereinigte ihn mit vielen der lebendigen Christen, an denen jene Zeit der Erweckung reich war, ohne daß er das erregte und übertriebene Wesen billigte, welche das neubelebte Christenthum in manchen Theilen Preußens annahm. Im J. 1827 ging unter seiner Mitwirkung aus dem Kreise seiner Gesinnungsgenossen die neue evangelische Kirchenzeitung hervor. Man berief Hengstenberg an ihre Spitze, seiner polemischen und streng confessionellen Richtung nicht gewärtig. In diese Berliner Zeit fällt eine Reise nach [766] Paris (1827), welche für die Wissenschaft reiche Früchte tragen sollte. B.-H. machte hier die gründlichen handschriftlichen Studien in den Werken der altitalienischen Processualisten, welche später in seinem letzten Bande der Geschichte des Civilprocesses Verwerthung fanden.
Die schon erwähnte Uebersiedelung nach Bonn im J. 1829 war die Erfüllung eines lange gehegten Herzenswunsches der Mutter, welche dem geliebten Sohn sich näher wissen wollte. Die Versetzung ward in der von B.-H. beantragten Art genehmigt. Er trat als Ordinarius ohne Gehalt – erst später wurde er veranlaßt, eine Besoldung anzunehmen – und mit der Freiheit, soviel zu lesen, als ihm convenire, in die Bonner Facultät. Dabei hatte der König ihm in Anerkennung seiner verdienstvollen Leistungen die Rückkehr an die Berliner Universität, wenn B.-H. sie wünsche und die Verhältnisse sie zuließen, vorbehalten. In Bonn verband ihn bald enge Freundschaft mit einer Reihe trefflicher Männer. Er wohnte Niebuhr gegenüber und als in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1830 Niebuhr’s Haus niederbrannte, fand er mit seiner ganzen Familie bei B.-H. gastliche Aufnahme. Dieser Anlaß brachte die Männer einander nahe. Von nun an lebten sie im freundschaftlichsten Verkehr, bis ihn am 2. Januar 1831 Niebuhr’s Tod, die Folge einer jäh verlaufenden, durch Erkältung herbeigeführten Lungenentzündung, löste. Am 2. Juni desselben Jahres verlor B.-H. seine Mutter. Die großen Mittel, welche ihm dadurch zufielen, änderten nichts an seiner Berufsstellung, sondern ermöglichten ihm nur ein noch kräftigeres Wirken für die ihm am Herzen liegenden Werke christlicher Liebesthätigkeit. Schon im Laufe des ersten Jahres bildete sich ein von entschieden christlichem, wenn auch gegenüber dem Berliner Freundeskreis freierem Geist beseelter Verkehr mit Männern wie Nitzsch, E. M. Arndt, Brandis, Mendelssohn, Löbell, Sack. Das gesunde Leben der Bonner kleinen Gemeinde, das praktische, festeingewurzelte Element der presbyterial-synodalen Verfassung verfehlten ihre Wirkung auf B.-H. nicht. Es gab neue Nahrung seiner innersten Ueberzeugung, daß das Christenthum nicht ein isolirtes Gebiet unseres Denkens und Fühlens sondern das Princip sei, welches das ganze Leben durchdringe. Deutlich tritt die sich jetzt ganz und aufs Schönste entwickelnde Einheit seines Wesens heraus. Die Schwierigkeit, welche B.-H. früher gefunden hatte, die Erscheinung der Rechtsordnung in Einklang zu setzen mit seiner religiös-sittlichen Weltanschauung und die er in seinen Berliner encyklopädischen Vorträgen nicht überwunden hatte, lag jetzt hinter ihm. Die neue Vorrede, welche er der dritten 1832 erscheinenden Auflage seines Grundrisses mitgab, ist dafür ein deutliches Zeugniß. Hier sprach er sich über die Grundlage des Rechts, über die Aufgabe des Juristen, besonders auch des Praktikers, über das Verhältniß von Theorie und Praxis aus. Wenn auch B.-H., wie er später selbst gesagt hat, bis zur vollen Erkenntniß der formalen Freiheit als dem Grundbegriffe des Rechts damals noch nicht gelangt war, so hatte er doch den sittlichen Kern des Rechts, seinen Zweck, das Gute zu verwirklichen, soweit es sich zur allgemeinen Regel eignet, klar ergriffen. Und dieses Wissen der sittlichen Seite des Rechts erfüllt die ganze Schrift mit frischer Lebenswärme. Savigny urtheilt darüber – und trifft damit die Wahrheit vollkommen –, „alles ist uns recht an dieser Arbeit. So das laute, unbefangene religiöse Zeugniß, daß Sie ablegen und das hier durchaus wohl thut, weil es an seiner Stelle steht –. Ebenso auch die ganz unabhängige, unbefangene politische Gesinnung, die sich gelegentlich darin ausspricht. Ich möchte daher unter anderem diese Arbeit auch als ein Muster empfehlen, woran man sehen kann, was es heißt, frei sein und sich selbst angehören, im Gegensatz derer, die es vorziehen, nur die Wortführer einer Partei zu sein und bei welchen man daher schon im Voraus weiß, was und wie sie reden werden. Gott erhalte Ihnen diese Freiheit der Seele.“
[767] Die Studien über den römischen Proceß hielten B.-H. ununterbrochen beschäftigt. Treu seiner Ueberzeugung, „daß in dem Civilproceß die geschichtliche Behandlung in vorzüglichem Maaße nothwendig sei“, trug er sich seit längeren Jahren mit dem Plane einer umfassenden Darstellung der Geschichte und des Systems des Civilprocesses. Jene sollte anheben mit dem rein römischen Proceß und fortgeführt werden durch das Mittelalter bis auf die neueste Zeit. Schon im Anfang des Jahres 1830 ist B.-H. über diesen Plan mit Savigny in Correspondenz. Im J. 1834 erschien als erster Band der ersten, geschichtlichen Abtheilung eines Handbuchs des Civilprocesses „Die Gerichtsverfassung und der Proceß des sinkenden römischen Reiches“. Das Buch enthält ein System des justinianischen Rechts mit einleitungsweiser historischer Beleuchtung bei den einzelnen gesonderten Materien. Diese Behandlungsweise wird damit motivirt, daß es gelte im römischen Recht die Eine Wurzel des modernen Rechtszustandes aufzudecken und daß daher die letzte Gestalt des römischen Rechts wesentlich interessire, alles frühere dagegen nur als Mittel zum Verständniß zu betrachten sei. Der zweite Band sollte die Geschichte des römischen Processes im Mittelalter enthalten; der dritte die des deutschen Processes bis auf die Neuzeit. Es war ein bis dahin wenig angebautes Feld, welches B.-H. in diesem Buche in Angriff nahm. Sein Werk ist grundlegend geworden. Er hat seinen Nachfolgern nur die Nachlese, die weitere Ausführung und Vertiefung im Einzelnen gelassen. Und als er 32 Jahre später selbst sein Buch überarbeitet ediren konnte, da fand er wohl in Folge neuer Quellenfunde und wissenschaftlicher Leistungen Manches zu vervollständigen und zu berichtigen, aber in der Hauptsache konnte er dies frühere Werk unverändert festhalten. In der Herrschaft über das Material, in der Exactheit und Solidität der wissenschaftlichen Methode, in dem Maaß und der Klarheit der Darstellung, der Einfachheit der Sprache bewährte B.-H. in diesem seinen ersten größeren Werke die volle Meisterschaft. Puchta sprach es ihm aus: „Es ist meine Ueberzeugung, daß man einem Savigny’schen Werke nur aus dem einzigen Grund einen Vorzug vor dem Ihrigen einräumen könnte, weil er Ihr Lehrer ist, weil also Sie ein Vorbild an ihm, er aber nicht ein ähnliches hatte.“ Im Bonner Corpus iuris Anteiustinianei veröffentlichte B.-H. im J. 1834 eine kritische Ausgabe der vaticanischen Fragmente. Von kleineren Arbeiten erschienen in dieser und der folgenden Zeit seine Besprechung von Rudorff’s Vormundschaft im Rheinischen Museum (1834), von der fünften Auflage des Savigny’schen Besitzes in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik (1837), sein Aufsatz über die Classification der Contracte in Beziehung auf Culpa als Anhang IV zu der von ihm besorgten zweiten Ausgabe von Hasse’s Culpa (1838).
Eine wichtige Wendung in Bethmann-Hollweg’s Leben brachte das Jahr 1840. Ueberarbeitung machte längere Ruhe wünschenswerth. Ein jähriger Urlaub sollte zu einer Reise nach der Schweiz und Italien vom Sommer 1840 ab benutzt werden. Aber der Plan kam nicht ungestört zur Ausführung. Er wurde durch den am 7. Juni erfolgenden Tod Friedrich Wilhelms III. durchkreuzt. Zur Huldigung des ihm persönlich wohlgeneigten Thronerben eilte B.-H. aus der Schweiz nach Berlin, woselbst er als Mitglied der sächsischen Ritterschaft erschien. Bei dieser Gelegenheit wurde er in den Adelsstand erhoben. Den Winter brachte er in Begleitung des ältesten Sohnes in Italien zu und nahm nach der Rückkehr im Mai 1841 nur vorübergehend die akademische Thätigkeit wieder auf. Denn schon im Sommer 1842 überkam er das Amt des Curators und außerordentlichen Regierungsbevollmächtigten an der Bonner Universität, welches er bis zum Jahre 1848 verwaltete. Für das Wohl der Universität auf das lebhafteste bemüht, bewirkte er u. a. die Berufung Dahlmann’s und regenerirte er die in Folge des [768] hermesianischen Streits zersetzte katholisch-theologische Facultät. Das Amt, die größere durch die veränderte Stellung gewährte Muße, die Beziehungen zur Regierung, die Zeitbewegung, sein lebendiges patriotisches Gefühl und kirchliches Interesse mochten zusammenwirken, wenn B.-H. jetzt mehr und mehr seine Aufmerksamkeit der politischen und kirchlichen Entwickelung zuwendete. Unmittelbare persönliche Beziehungen zu Friedrich Wilhelm IV. gaben ihm Gelegenheit, seinen Ueberzeugungen an höchster Stelle Ausdruck zu verleihen. Diese gingen staatlich auf die Einführung der Reichsstände und gegen das Project der vereinigten Landtage. Sie gingen kirchlich, den apostolisch-episcopalen Plänen des Königs entgegen, auf die Fortbildung und Ausdehnung der rheinisch-westfälischen Kirchenverfassung für die Landeskirche. Hieraus allein schon ist begreiflich, daß B.-H. sich dem Gedanken des Königs und seines Ministers Eichhorn gegenüber, ihn als Director in das Cultusministerium eintreten zu lassen, ablehnend verhielt. Doch erfolgte am 2. September 1845 seine Ernennung zum Mitgliede des Staatsrathes. Das zog ihn für den Winter 1845 auf 1846 nach Berlin. Er wohnte nicht nur den Sitzungen des Staatsraths bei, sondern trat auf Savignys Wunsch auch in die Gesetzgebungscommission ein. In Eichhorn’s Auftrag präsidirte er der Anfang 1846 zusammentretenden von Württemberg her durch Pistorius veranlaßten Kirchenconferenz der von den Fürsten Deutschlands deputirten Abgesandten zur Annäherung der evangelischen Landeskirchen. Die Grundgedanken, für welche B.-H. zu wirken bis an sein Lebensende nicht müde geworden ist, standen schon damals in ihm fest, aber die Conferenz war ihren Vollmachten und der Zeitlage nach nicht dazu geeignet, ihnen Nachdruck zu verleihen. Immerhin war es ein erfreuliches Resultat, daß die Conferenz für die wechselseitige Anerkennung und die „Einigkeit im Geiste“ Zeugniß ablegte und die regelmäßige Wiederholung solcher Kirchentage zur Pflege der Gemeinsamkeit empfahl. Die Eisenacher Conferenzen sind die Folge gewesen. Am 13. Februar 1846 löste sich die Conferenz auf. Im Sommer desselben Jahres trat in Berlin die General-Synode der evangelischen Landeskirche zusammen, welche dazu berufen erschien, in den wachsenden Wirren über die Bekenntnißfrage und in dem Streben nach der Fortbildung der Verfassung den Consens der Kirche zum Ausdruck zu bringen. B.-H. nahm an ihr als Vertreter der rheinischen Provinzialkirche Theil. Er stand auf Seiten der vermittelnden Richtung, welche ihn auch als Candidaten für die Wahl des Vicepräsidenten gegen Neander aufgestellt hatte; er arbeitete in der liturgischen Commission und griff erfolgreich in die Debatte über die Verfassungsfrage ein. Die Ausführung der Beschlüsse scheiterte an der Abneigung des Königs und an der politischen Entwickelung der folgenden Jahre. Diese war für B.-H.’s äußere Stellung insofern bedeutsam, als die Revolution und der durch sie bewirkte Sturz des Ministeriums der Grund wurde, das Curatorium der Universität Bonn niederzulegen. Es hatte ihn diese Stelle je länger je mehr unbefriedigt gelassen, da theils aus finanziellen Gründen, theils um der Zeitverhältnisse willen die von ihm erstrebte Förderung der Universitätsinteressen nicht zu erreichen gewesen war. Es endigte damit Bethmann-Hollwegs amtliche Wirksamkeit, bis völlig veränderte Verhältnisse ihn zu neuer und größerer Aufgabe riefen.
Die wissenschaftliche Arbeit hatte in dieser Lebensperiode nicht geruht. Allerdings gehört ihr als Publication nur die Arbeit über den „Ursprung der lombardischen Städtefreiheit“, Bonn 1846 an. Aber die Studien zur Proceßgeschichte hatten sich, wie Bethmann-Hollweg’s Collectaneen ergeben, auf breitester Basis fortgesetzt. Ein doppelter Umstand, einmal der Umfang der Untersuchung über die Entstehung der mittelalterlichen italienischen Städteverfassung und sodann die Befürchtung, daß die öffentliche praktische Thätigkeit ihn zur vollen Ausführung seines großen Handbuch-Planes nicht [769] kommen lassen werde, veranlaßten ihn, jene Specialarbeit selbständig erscheinen zu lassen. In ihr widerlegte er Savigny’s Ansicht der Erhaltung der römischen Municipalverfassung in der Lombardei und suchte er die romanische Wurzel der Städteverfassung aufzudecken. Sein Verdienst ist nicht gemindert dadurch, daß nahezu gleichzeitig Hegel in umfassender Erforschung der italienischen Städteverfassung zu wesentlich gleichen Resultaten gelangte.
Die Schrecken der Revolution und die großen und schweren sittlichen Schäden, welche sich nach allen Seiten hin in ihr und durch sie offenbarten, bestimmten B.-H. seine ganze Kraft für das religiöse, sittliche und politische Wohl des Volkes einzusetzen. Es erfüllte sich, was Eichhorn ahnungsvoll am 10. Mai 1848 niederschrieb: „es wird ein anderer Geist kommen …, nicht menschlichen, sondern göttlichen Ursprungs wird er die in Selbstsucht Versunkenen wieder aufrichten, die Gedanken des Ewigen wieder in ihnen erwecken und in segnendem Walten neues Leben zur Blüthe und Frucht fördern. Ich kann sagen, daß ich mitten im Brausen und Toben der Gegenwart das Wehen dieses Geistes schon fühle.“ Von B.-H. und von anderen Seiten wurde gleichzeitig der Gedanke einer freien deutschen Kirchenversammlung angeregt. Er gewann Gestalt in der Einberufung einer solchen auf den 21. September nach Wittenberg durch eine im Juni in Frankfurt stattfindende Vorversammlung. Diese Wittenberger Versammlung war eine neue Blüthe christlichen Lebens und sie reifte unter Bethmann-Hollweg’s segensreicher Einwirkung zur schönen Frucht, zu dem großen Werke der innern Mission und des sich periodisch wiederholenden Kirchentags. B.-H. trat sowohl in dem für diesen gewählten Ausschuß, wie in den damals constituirten Centralausschuß für innere Mission als Vorsitzender ein. Die Arbeiten auf diesem Felde haben B.-H. ein Jahrzehnt eifrig beschäftigt und seine Förderung und seine Theilnahme bis an sein Lebensende besessen. Nicht minder blieb er in diesen und den folgenden Jahren für die Entwicklung der kirchlichen Dinge, besonders Rheinlands und Westfalens bemüht. – Im politischen Leben tritt B.-H. jetzt als einer der Träger des conservativen Staatsgedankens hervor. Mitglied der neuconstituirten ersten Kammer steht er auf der äußersten Rechten, damals noch im Bunde mit Stahl. In der deutschen Frage hatte er das Ziel des Bundesstaats unter Preußens Führung klar erfaßt. In der inneren Politik war er in scharfem Gegensatz gegen die demokratisirende Strömung der Zeit. Die Erfolglosigkeit des Widerstandes gegen dieselbe veranlaßte ihn, eine Wiederwahl in die erste Kammer und ebenso die ihm vom Könige angetragene Stelle eines Directors des evangelischen Oberkirchenraths abzulehnen. Es vollzieht sich mehr und mehr seine Loslösung von der in reaktionärem Fahrwasser treibenden Kreuzzeitungspartei, mit welcher er kirchlich und religiös schon längere Zeit in einem nicht mehr latenten Gegensatze sich befand. Oeffentlich erfolgte die Trennung bei Gelegenheit der Reactivirung des rheinischen Provinziallandtags. B.-H. lehnte die Theilnahme an ihm in einem durch die Presse veröffentlichten Schreiben ab, in welchem er unumwunden die Bestrebungen der Reaction mißbilligte. Und auf dem hiermit betretenen Wege der festen Abweisung des falschen überlebten Conservativismus der Kreuzzeitungs-Männer und ihres exklusiv konfessionellen Standpunktes ist B.-H. ohne Wanken fortgeschritten. Er gründete im Verein mit Gesinnungsgenossen das Preußische Wochenblatt, welches durch seine muthvolle freie conservative Haltung unter dem Mißfallen der Regierung und des Junkerthums der Bildung einer wahrhaft staatserhaltenden Partei die Bahn brach. Durch mehrfache Artikel des Wochenblattes markirte B.-H. scharf seine politische Stellung. Die nächste Folge war sein Eintritt in die zweite Kammer und seine Wahl zum Vicepräsidenten im November 1853, welche freilich nicht dauerte, [770] da die Regierungspartei ihn bei der definitiven Wahl fallen ließ. In der That war er das Haupt seiner Fraction, welche der kleinen Zahl unerachtet durch geistige Bedeutung ihrer Mitglieder und vorzüglich durch die Tüchtigkeit ihrer politischen Gesinnung hervorragte. Doch gelang es ihr nicht, sich zwischen den heftig sich bekämpfenden Extremen auf die Dauer zu behaupten. Bei der Wiederwahl im Jahr 1855 verlor B.-H. das Mandat seines Wahlkreises und zog sich nun für längere Zeit von dem politischen Leben zurück.
Die Regentschaft brachte die Wandlung. Am 6. November 1858 erfolgte der Ministerwechsel. B.-H. übernahm das Ministerium des Cultus. Das Ministerium „der neuen Aera“, welches dazu bestimmt war, ein gesundes Verfassungsleben zu inauguriren, wurde das Opfer des Ringens, ohne welches das Gleichgewicht zwischen dem Königthum, der Volksrepräsentation und der im Herrenhaus organisirten Reaktion nicht hergestellt werden konnte. Die Constitution harrte vorerst ihrem Grundgedanken nach noch der Ueberführung ins Leben. Zwischen den liberalen Doctrinarismus und die verfassungsfeindlichen Bestrebungen des mit der Orthodoxie verbundenen Junkerthums gestellt, sollte die Krone als die verkörperte Staatsgewalt ihre durch die letzten zehn Jahre stark erschütterte Hoheit und Macht thatsächlich machen, ohne die natürliche Mitwirkung des Volkes an der Regierung auszuschließen. Das Problem war nicht kurzer Hand zu lösen; das Ziel wie der Weg zu ihm war nicht deutlich und scharf bestimmt. Das Ministerium war der Ausdruck und das Opfer dieser in den Verhältnissen liegenden Unfertigkeit und Unklarheit. Zur Lösung führte der Weg durch den schweren Verfassungsconflict, welcher sich gelegentlich der Militärreorganisation entwickelte, und durch die blutigen Kämpfe, welche die Beantwortung der deutschen Frage brachten. Daher wich das Ministerium, dessen Schwergewicht seiner Zusammensetzung nach auf dem Gebiete der innern Politik lag zum größeren Theil im J. 1862 dem alsbald folgenden Ministerium Bismarck. Am 9. Mai erbat B.-H. seine Entlassung, welche ihm der König widerstrebend gewährte. In seinem Ressort strebte B.-H., getreu seinen Grundsätzen, nach einem die Freiheit der Kirche ohne Gefährdung des Staates gewährleistenden System, nach einer Fortentwicklung der evangelischen Kirchenverfassung auf der presbyterial-synodalen Grundlage, nach Befestigung des christlichen Charakters der Volksschule, nach möglichster Förderung der höheren Lehranstalten durch Berufung tüchtiger Lehrkräfte. Doch erfuhr er hier, wie das Ministerium in seiner Gesammtthätigkeit, Hemmungen von der Rechten wie von der Linken. So scheiterte sein auf die fakultative Civilehe gerichtetes Gesetz am Widerstand des Herrenhauses, so wurde der Fortbau der evangelischen Kirchenverfassung gehindert durch die Schwäche des evangelischen Oberkirchenrathes.
B.-H. trat, 67 Jahre alt, ins Privatleben zurück. Nach einem so langen Leben, reich an Arbeit und Ehren, pflegen andere zu ruhen. Seinen jugendfrischen Geist, seinen Schaffenseifer hatte die Ermattung des Alters nicht berührt. Die 15 Jahre, welche ihm noch zu leben beschieden waren, sind ununterbrochener Thätigkeit gewidmet gewesen. Der Politik freilich hatte er entsagt, wenn er auch dem Gange derselben mit lebhaftestem Interesse folgte und ihn der Aufschwung Deutschlands mit begeisterter Freude erfüllte. In kirchlichen Dingen, der Verfassungsentwickelung, den Werken der innern Mission, blieb er rege betheiligt. Aber staunenswerth entfaltete sich jetzt eine wissenschaftliche Arbeit, deren Umfang und Inhalt ein ganzes Menschenleben auszufüllen genügt haben würde.
Es war ein Zeichen seltenster Tiefe des wissenschaftlichen Lebens, daß B.-H. sofort nach seinem Austritt aus dem Ministerium die seit reichlich 12 Jahren unterbrochene gelehrte Arbeit wieder aufnehmen konnte. Es galt die endliche [771] Ausführung des großen, seit dreißig Jahren ruhenden Planes eines Handbuches des Civilprocesses, und zwar nicht in Fortsetzung der begonnenen Arbeit, sondern auf völlig neuer Grundlage. Die Erkenntniß, daß „das Schicksal des Proceßrechts im Mittelalter“ nicht begriffen werden könne, ohne Darlegung der germanischen Anschauungen von Recht und Rechtsstreit, und daß durch die Beschränkung der grundlegenden römisch-rechtlichen Darstellung auf die Gerichtsverfassung und den Proceß der späteren Kaiserzeit es unmöglich wurde, die Gegensätzlichkeit des römischen und germanischen Elementes vollkommen klar zu machen, bestimmte B.-H., das Werk in weiteren Grenzen von Neuem zu beginnen. Unter dem Generaltitel „Der Proceß des gemeinen Rechts in geschichtlicher Entwickelung“ sollte der erste Theil in drei Bänden den römischen Proceß von seinen geschichtlichen Anfängen bis auf Justinian verfolgen, der zweite Theil war dem germanischen Proceß in seinem Ursprung und seinen Wandlungen in den romanischen Ländern bestimmt. Der dritte Theil sollte dieselbe Aufgabe für Deutschland lösen und in seinem letzten Abschluß die praktischen Fragen der Gegenwart berühren, ohne in eine eigentlich systematische Darstellung des geltenden Proceßrechtes auszulaufen. In schneller Aufeinanderfolge, in den Jahren 1864, 1865, 1866 erschienen die drei, den römischen Civilproceß umfassenden Bände. Der erste behandelt die Legisactionen, der zweite die Zeit des Formularprocesses, der dritte das Verfahren nach Kaiserrecht, die Cognitiones. Daran schloß sich schon im J. 1868 der erste Band des germanisch-romanischen Civilprocesses im Mittelalter, die Zeit vom fünften bis achten Jahrhundert umfassend. Der fünfte Band erschien in zwei Abtheilungen 1871 und 1873. Er ist der fränkischen Rechtsentwicklung und deren Fortbildung in Italien bis zur Neubelebung des römischen Rechts im 12. Jahrhundert gewidmet. Vom römisch-canonischen Civilproceß des 12. bis 15. Jahrhunderts veröffentlichte B.-H. im November 1874 die erste Abtheilung, die Darstellung der juristischen Literärgeschichte. Das Werk weiter zu führen war ihm nicht vergönnt.
B.-H. erfaßte seine Aufgabe von der vollen Höhe des Standpunktes, welchem das einzelne geistige Lebensgebiet nicht ein isolirter, sondern ein untrennbarer Theil des ganzen geistigen Seins ist. Wie ihm seine Wissenschaft nicht nur eine Summe des Wissens sondern eine Seite seiner durchgebildeten sittlichen Persönlichkeit war, so wollte er auch die Geschichte der Rechtspflegeordnung als ein Stück des sich nach innerem Vernunftgesetz entwickelnden Menschheitslebens zur Anschauung bringen. Daher schickte er der historischen Darstellung eine rechtsphilosophische Einleitung voraus, welche die sittliche Seite des Rechts, seine Vernunftmäßigkeit und speciell die der Proceßordnung als des Mittels der Rechtsbewährung darlegte. Die Geschichte des Proceßrechtes aber vertiefte er bis zur Aufdeckung der nationalen Gesammtanschauungen, aus denen sich die Gegensätze römischen und germanischen Wesens erfassen ließen. Er stellte sie in den Fluß der ganzen Staats- und Rechtsentwicklung. Dadurch ist das Werk nicht für den Processualisten nur, sondern für jeden Forscher der Rechtsgeschichte von hervorragender Bedeutung.
Die schon den früheren Arbeiten nachgerühmte[WS 2] Klarheit und Einfachheit, das schöne Ebenmaß der einzelnen Theile, das scharfe Scheiden des Wesentlichen und Unwesentlichen geben dem Ganzen den Charakter des Kunstwerkes, dessen keine wissenschaftliche Leistung entbehren sollte. Von einer dem Alter leicht eignenden Breite, von dem Abirren in ungehörige Detailuntersuchungen ist Nichts bemerkbar. Durchweg ruht das Werk auf eigenen Quellenstudien. Und es ist das bei der nothwendigen Ausdehnung derselben geradezu bewunderungswerth. Der römische Civilproceß hat durch B.-H. seine erste befriedigende Gesammtdarstellung empfangen. Das processualische Element, welches bis dahin, selbst in der vorzüglichen Arbeit Keller’s gegen die actionenrechtliche und formulare Seite zu [772] sehr zurücktrat, kommt jetzt zu seinem vollem Recht. Wird die Darstellung der Zeit der Völkerwanderung mehr als eine werthvolle Zusammenfassung der feststehenden Resultate germanistischer Forschungen unseres Jahrhunderts anzusehen sein, so füllt der fünfte Band eine Lücke in der Literatur aus. In dem literargeschichtlichen Theil ist das bibliographische und selbst das äußerlich biographische in erfreulicher Weise gegen die lichtvolle Schilderung der wissenschaftlichen Persönlichkeiten zurückgestellt.
Außer diesem großen Werke veröffentlichte B.-H. 1867 eine biographische Skizze über seinen unvergeßlichen Freund und Lehrer Savigny, und als er auf die Fortsetzung der Geschichte des Civilprocesses verzichtet hatte, legte er seine Gedanken über die bevorstehende deutsche Civilgesetzgebung nieder in einer Schrift „Ueber Gesetzgebung und Rechtswissenschaft als Aufgabe unserer Zeit“, 1876. Seine letzte Arbeit galt der Belehrung der Jugend. Zu ihrer Einführung in die Quellen und die Methode der römischen Juristen verarbeitete er exegetisch in glossirender Form den ersten Titel des zwanzigsten Buchs der Pandekten.
Ohne vorgängige schwere Krankheit entschlief B.-H. sanft am 14. Juli 1877 auf Schloß Rheineck im Kreise der Seinen. Eine volle Würdigung Bethmann-Hollweg’s erreicht Niemand, der die gelehrte, die kirchliche, die sociale, die politische Seite seiner Thätigkeit betrachtet und ihn nicht als einheitliche Persönlichkeit erfaßt. So bedeutsam er auch nach jenen verschiedenen Richtungen gewirkt hat, so liegt doch die wahre Größe des Mannes, welche ihn zu einer der edelsten und vornehmsten Erscheinungen der Nation macht, in der tiefen Harmonie seines Wesens. Er war ein Christ, eine in Gott gegründete Natur, voll Demuth und Bescheidenheit, voll unerschütterlicher Wahrhaftigkeit, voll inniger Liebe für seine Mitmenschen, frei von aller confessionell-dogmatischen Enge, von ungesund empfindelndem, mystischem Wesen. Was er Savigny nachrühmt, daß ihm die Religion nicht nur Sache der Erkenntniß, sondern die Richtschnur und Kraft seines Lebens gewesen sei, das galt von ihm selbst in besonderem Maße. In seinem religiösen Leben wurzelte seine ganze Persönlichkeit. Seine ausgeprägt ideale Richtung hatte ihr bewußtes Ziel in unserer ewigen Wesensbestimmung. Seine Wissenschaft, Politik, sein sociales, kirchliches Wirken waren Ausstrahlungen dieser Lebensanschauung. Ihm war die Wissenschaft nicht nur ein Werk des Intellekts, sondern zugleich der Sittlichkeit, und das historische Forschen nicht ein Sammeln todten Wissens, sondern ein Eindringen in das stille Wirken der ewigen in die Menschheit gelegten, ihre Entwickelung bestimmenden Ideen. Er ist für die deutsche Proceßwissenschaft geworden, was Savigny für die Civilistik ist. Er konnte es nur werden dadurch, daß er gleich ihm das Recht als ein im Weltplan bedingtes sich fort und fort entwickelndes Element der Menschheitsgeschichte behandelte. Seine Liebe und Begeisterung für sein deutsches Vaterland, sein starkes Staatsgefühl, seine Hingabe an die idealen Güter der Nation bestimmten seinen politischen Lebensgang. An sich keine streitbare, sondern eine irenische Natur, ließ ihn doch sein Wahrheits- und Rechtsgefühl, seine tiefe Liebe zur Nation thätig eingreifen in die Kämpfe der Parteien. Parteimann im eigentlichen Sinne war er nie und konnte er nicht sein, weil ihm immer nur an der Sache nicht an Doctrinen, noch an den Interessen bestimmter Gesellschaftsgruppen gelegen war. Er war conservativ im besten Sinne des Wortes, d. h. er stand felsenfest im Glauben an ein ewiges Ziel, an ein ewiges Heil, an ewig unverlierbare Güter und Pflichten der Menschheit. Er war zugleich liberal im besten Sinne, da er, allen Standesvorurtheilen, aller Interessenpolitik fern, nur einen Rechtszustand erstrebte, welcher, ohne die Individualität vor das Allgemeine zu stellen, doch die Entfaltung der sittlichen und wirthschaftlichen Kräfte des Volkes darbieten sollte. Daher verabscheute er die Reaction. Daher war er [773] nicht ein Gegner einer konstitutionellen Verfassung, sondern der Demokratie und eines seichten Liberalismus, welcher in Gleichmacherei, Ueberschätzung der Individualität und Abschwächung der Staatsgewalt das Heil suchte. Dieser seiner Geistesart nach mußte er dem formal gesetzmäßigen Wesen und der Parteiung am feindlichsten sein, wo sie am widerwärtigsten ist, im Gebiet des kirchlichen, des religiösen Lebens. Und so liegt denn auch auf diesem Gebiet – von der wissenschaftlichen Wirksamkeit abgesehen – Bethmann-Hollweg’s stärkster praktischer Einfluß. Er ist die Stütze und das schöne, bleibende Vorbild einer mehr und mehr wachsenden Richtung, des vom confessionellen Dogmatismus befreiten, dem Evangelium lebenden praktischen Christenthums. Im kirchlichen Verfassungsleben ist das Programm dieser Richtung eine auf der Glaubensgemeinschaft ruhende Belebung des allgemeinen Priesterthums in praktisch gesunder Verfassungsform; auf christlich-socialem Gebiet ist ihr Programm das der innern Mission; in dem Verhältniß der Confessionen ist es das einer die individuellen Verschiedenheiten nicht wegwerfenden echten christlichen Brüderlichkeit.