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ADB:Gerlach, Otto von

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Artikel „Gerlach, Otto von“ von Otto von Ranke in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 19–22, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gerlach,_Otto_von&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 06:40 Uhr UTC)
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Gerlach: Karl Friedrich Otto v. G., evangelischer Geistlicher, geb. in Berlin den 12. April 1801 als Sohn von Karl Friedrich Leopold v. G. (s. o. unter Leopold v. G.). G. reifte unter den Augen einer trefflichen Mutter (geb. v. Raumer) im Umgang mit seinen drei älteren reichbegabten Brüdern unter dem Eindruck jener gewaltigen Bewegung der Befreiungskriege, welche zwei seiner Brüder mitgemacht hatten, zu einer frühen inneren Selbständigkeit, die den Grundton einer ernsten Stimmung festhielt, heran. Er besuchte das Friedrich-Werder’sche Gymnasium, wo er vorzüglich dem Unterricht Spillecke’s viel verdankte. „Mit dem 15. Jahre erwachte in ihm durch Gottes Gnade ein Anfangs ihm selbst unverständlicher Trieb, in der Religion Frieden und Gemeinschaft mit Gott zu finden. Das im October 1817 gefeierte Reformationsjubiläum lenkte ihn auf die Schriften der Reformatoren und die Kernschriften der rechtgläubigen Lehrer der evangelischen Kirche. Die Rechtfertigung aus Gnaden durch den Glauben war seitdem die Angel, um die sich sein inneres Leben bewegte. Auf der Schule bereits wurde er vom Professor Spillecke aufgefordert Theologie zu studiren.“ (Aus einer kurzen autobiographischen Aufzeichnung Gerlach’s in einer Chronik der St. Elisabethkirche in Berlin, handschriftl. im Archiv der Kirche.) Dennoch bezog er 1818 die Universität, um Jurisprudenz zu studiren. In Berlin war er ½ Jahr, dann in Heidelberg 1 Jahr, in Göttingen 1 Jahr, endlich noch 1 Jahr in Berlin in der juristischen Facultät immatrikulirt. Zu seinen juristischen Lehrern gehörten Savigny, Thibaut, Eichhorn und Hollweg. Als er 1820 nach Berlin zurückgekommen war, trat er in einen religiösen Kreis ein, in welchem das christliche Leben in frischester Blüthe stand. „Es war die schöne Zeit der ersten Liebe“ – schreibt Tholuck, auch ein Glied dieses Kreises –, „welche eine Anzahl junger Männer der edelsten Familien, Militärs und Juristen vorzüglich, zum Theil aus den Befreiungskriegen zurückgekehrt, zu lebendiger Freundschaft in Christo zusammenschloß“. Unter den Eindrücken, welche G. in diesen Kreisen erhielt, erwachte der Wunsch mit Drangabe aller im Staatsdienst lockenden Aussichten das akademische Studium noch einmal zu beginnen und sich dem Dienst der Kirche zu widmen. Er hörte mit großem Eifer Schleiermacher, Neander, Marheineke, Hengstenberg. Er erkannte die Vorzüge dieser Lehrer und was er von ihnen zu lernen habe, gern an. Doch um eines Menschen Schüler zu werden war er selbst viel zu weit gefördert! Außer den Werken Luther’s, welche er mit Vorliebe studirte, zog ihn das Leben und Wirken Zinzendorf’s, mit dem G. Geistesverwandtschaft hat, des Würtembergers Bengel und des Engländers Wesley mächtig an. Auch anderen Männern der englischen Kirche widmete G. sein besonderes Studium. Ueberhaupt zogen die kirchlichen Zustände Englands und ihre geschichtliche Entwickelung früh seine Aufmerksamkeit auf sich. G. lernte sie gründlicher als die meisten deutschen Theologen verstehen. Auf den Rath seines Freundes Tholuck entschloß er sich, wiewol sein Herz für die unmittelbare Einwirkung auf Andere brannte, die akademische Laufbahn zu ergreifen. Die nöthige Ruhe zur Vorbereitung dazu suchte er 1825 in Wittenberg, wo er aus eigener Anschauung das Prediger-Seminar kennen lernte. Dies ist in soweit für sein ganzes späteres Wirken von Bedeutung gewesen, als er sich der Candidaten allezeit mit besonderer Wärme angenommen und sie für den praktischen Dienst der Kirche zu verwerthen versucht hat. Im December 1826 kehrte er nach Berlin zurück und promovirte am 28. Februar 1828 als Licentiat der Theologie. Er habilitirte sich alsbald an der Berliner Universität und hielt Vorlesungen über Kirche, Kirchenrecht, Geschichte der Theokratie und Auslegung einzelner biblischer [20] Schriften. – Sein Standpunkt war nicht der eines wissenschaftlichen Systems, nicht der einer politischen und theologischen Partei, nicht der einer kirchlichen Sekte. G. war seinerseits entschieden „die heilige Schrift als das Wort der Wahrheit unbedingt und unbeschränkt zur Geltung zu bringen, die Kirche als die Grundfeste der Wahrheit in ihrer Freiheit durch die Wahrheit und in ihrer Gebundenheit durch die Geschichte zu behaupten“. Einige seiner Zuhörer verstand G. im sogenannten exegetischen Kränzchen näher an sich zu ziehen. Mit einem engeren Kreise tiefer angelegter Studenten las G. die heilige Schrift mit Gebet zur Erbauung des Herzens und mit Bezug auf die künftige Amtsführung, also die collegia biblica eines Spener und Francke auf diese Weise erneuernd. Zugleich nahm ihn die im J. 1824 gestiftete „Berliner Gesellschaft zur Verbreitung des Evangeliums unter den Heiden“ besonders in Anspruch. Mit einer damals seltenen Kenntniß der älteren und laufenden Missionsgeschichte ausgestattet, schrieb er eine Reihe von gediegenen und interessanten Darstellungen der Missionsgebiete für die Berliner Mission. An dem 1828 gegründeten Missionsseminar hatte G. den hauptsächlichsten Antheil. Die Missionszöglinge hatte er sogar eine Zeit lang in seinem eigenen Hause bei sich und leitete ihre Uebungen. Auch Gerlach’s Schriftstellerei war schon damals zumeist der unmittelbaren Erbauung der Kirche gewidmet. So gab er heraus: Zinzendorf’s „Jeremias“, Baxter’s „Lehrbuch für evangelische Geistliche“, „Der Evangelische Geistliche“, Ermahnung an Prediger ihr Amt im Geist und in der Kraft des Herrn zu führen, und besonders Baxter’s „Ruhe der Heiligen“. Auch die Anfänge des Bibelwerks, von dem später die Rede sein wird, datiren aus dieser Periode. – Als aber im J. 1834 König Friedrich Wilhelm III. in den nördlichen Vorstädten Berlins 4 Kirchen, welche von der übergroßen Sophien-Parochie abgezweigt wurden, erbauen ließ, bewarb sich G. um eins der neu zu creirenden Pfarrämter. Er that dies, indem er unter Zusendung der von ihm veranstalteten Ausgabe von Baxter’s Evangelischem Geistlichen den König unmittelbar darum anging, ihn für die beschwerlichste unter den zu bildenden Pfarreien zum Prediger zu bestimmen. Der König befahl auf den Bericht des Cultusministers auf den Licentiat G. ganz vorzüglich Rücksicht zu nehmen. So wurde G. am 3. Juni 1835 ordinirt und am 28. Juni desselben Jahres in die zugleich eingeweihte St. Elisabethkirche als erster Prediger derselben eingeführt. Seine Antrittspredigt ward später gedruckt. Der König ertheilte dieser Predigt das in seiner Terminologie schon sehr schmeichelhafte Lob „einer sehr zweckmäßigen Kanzelrede“. Zweckmäßig – fügt Tholuck hinzu, im höchsten Sinne, nämlich den Zweck Seelen zu gewinnen mit einer Inbrunst und Hingabe ohne Gleichen verfolgend, entfaltete von nun an G. in seiner Stellung eine so vielseitige, so umfassende, so in der Liebe erfinderische Thätigkeit, daß wenige Geistliche gefunden werden möchten, deren pfarramtliche Thätigkeit für angehende Seelsorger ein so lehrreiches Vorbild darbietet. Er gehört zu den seltenen Predigern, deren Beredtsamkeit nicht eine Kunst, sondern, wie Theremin sie charakterisirt, eine Tugend ist. Die eigene sittliche Lauterkeit war der Lebensquell, aus dem G. die Begeisterung seiner Rede schöpfte. Daher die erwärmende Klarheit seiner Predigt, welche dieselbe ebenso anziehend machte für seine arme schlichte Vorstadtgemeinde, als für die sogenannten Gebildeten der Residenz, die jeden Sonntag hinausströmten, um das Gotteshaus zu St. Elisabeth zu füllen oft bis zur Ueberfülle. Doch mit der Predigt war Gerlach’s Wirksamkeit für die Gemeinde keineswegs beschlossen. All’ jene seelsorgerlichen und auf Hebung des Cultus berechneten Bestrebungen, welche seit jener Periode in der evangelischen Kirche ein Hausrecht erlangt haben, sehen wir in der pfarramtlichen Thätigkeit dieses Mannes bereits wirksam; was später unter dem Namen „der inneren Mission“ zusammengefaßt worden, hat G. in St. Elisabeth praktisch einzuführen [21] verstanden. Hausbesuche und Hausandachten bei den Gemeindegliedern, Büchervertheilung, ein Frauenverein, eine Beschäftigungsanstalt für brodlose Weber und deren Frauen, ein Handwerkerverein, ein Sparverein, wodurch G. das arme Voigtland in einen Garten Gottes umzuwandeln hoffte; ein Schulbesuchsverein zur gütlichen Einwirkung auf säumige Schulpflichtige, liturgische Gottesdienste, Privatbeichte (Stunden lang saß er Sonnabends Abends in der Sacristei, ohne daß Jemand zur Beichte kam, aber er war glücklich, wenn nach Stunden langem Warten doch etliche Seelen sich fanden, die ihm das Herz ausschütteten), endlich ein Convikt für Candidaten, welches er 1843 einrichtete, gab einem längst gehegten Plan festere Gestalt. In den 5–6 Jahren, wo dieses Convikt bestand, haben in demselben einige 20 Candidaten längere oder kürzere Zeit ein theologisches Asyl und eine pastorale Vorschule gefunden. Auch die Pastoral-Hülfsgesellschaft, welche sich die Vermehrung der geistlichen Kräfte durch Heranziehung von Hülfspredigern zur Aufgabe stellt, ist eine Schöpfung Gerlach’s. Gern pflegte er die brüderliche Gemeinschaft auf Pastoralconferenzen, welche er in Berlin meist zu leiten hatte. So suchte er nach allen Seiten hin neues Leben in die fast erstarrten Berliner kirchlichen Verhältnisse zu bringen, praktisches Christenthum in den Herzen der Einzelnen aufzurichten. Schon von seinen juristischen Studien her war für G. die Verfassung der Kirche ein Gegenstand des höchsten Interesses, dem er die sorgfältigsten Studien zugewandt hatte. Ein gründlicher Aufsatz in Tholuck’s literarischem Anzeiger 1832 „Die Bearbeitung des Kirchenrechts in der evangelischen Kirche mit besonderer Rücksicht auf K. F. Eichhorn’s Grundsätze des Kirchenrechts“ und die Schrift „Kirchrechtliche Untersuchung der Frage: Welche ist die Lehre und das Recht der evangelischen Kirche auf Ehescheidungen“, 1839, geben davon Zeugniß. Seinen streng-kirchlichen Anschauungen folgte G. denn auch in seinem Amtsleben. Es ist bekannt, daß er die durch das bürgerliche Gesetz verstattete Trennung schriftwidrig Geschiedener verweigerte und darüber zweimal mit Amtsentsetzung bedroht ward. Doch wie sehr sich auch sein Interesse der Frage nach der Verfassung der Kirche zuwandte, so sah er es als seine Lebensaufgabe an, um sich seines eigenen Ausdrucks zu bedienen, für Vermehrung der Heilsmittel und Kanäle zu sorgen, wodurch man erst die Kirche in die Leute bringt. Mit den britischen Kirchengemeinschaften hielt sich G. stets in enger Verbindung. Zahlreiche Berichte über die englisch-kirchlichen Ereignisse wurden von ihm für die evangelische Kirchenzeitung geschrieben. Im J. 1842 übernahm er im Auftrage König Friedrich Wilhelm IV. in Gemeinschaft mit anderen preußischen Geistlichen und einem Oberbaurath eine Reise nach England und Schottland. Mit neuen fruchtbaren Ideen und praktischen Vorschlägen kehrte er von dieser Reise zurück. Der amtliche Bericht über den Zustand der Anglikanischen Kirche in ihren verschiedenen Gliederungen im J. 1842 und die überaus praktische Schrift „Die kirchliche Armenpflege nach dem Englischen des Dr. Chalmers“, 1847, sind die litterarischen Resultate dieser Reise. Bald nach seiner Rückkehr aus England wurde G. zum Consistorialrath und Mitglied des königlichen Consistoriums der Provinz Brandenburg ernannt und 1847 berief ihn der König zum Hof- und Domprediger. Nur widerstrebend war er diesem Rufe gefolgt in der Hoffnung, in der neuen Stellung mehr Zeit für litterarische und kirchlich-allgemeine Zwecke zu finden. Auch die Thüre zum akademischen Lehramt wurde ihm auf’s Neue eröffnet. Nachdem die Berliner theologische Fakultät G. zum Dr. theologiae ernannt, wurde er zum Professor honorarius berufen. So schien ihm für die Entfaltung des kirchlichen Lebens in Berlin, ja für die gesammte Entwicklung der preußischen Landeskirche eine einflußreiche Stellung geworden – da rief ihn der Tod plötzlich ab. Von einer Erholungsreise nach Schlesien kränkelnd zurückgekehrt, mochte er dem Drange, seine [22] geliebte Kanzel zu besteigen, trotz des Verbotes des Arztes nicht widerstehen. Am 20. Sonntage nach Trinitatis predigte er lebendiger und feuriger denn je vom hochzeitlichen Kleide. Todkrank kehrte er nach Haus. Drei Tage später – am 24. October 1849 hatte er vollendet. Außerhalb Berlins ist Gerlach’s Name am meisten bekannt geworden durch seine vollständige Auswahl der Hauptschriften Luthers mit historischen Anmerkungen, Einleitungen und Registern und durch sein Bibelwerk, die heilige Schrift nach Luthers Uebersetzung mit Erläuterungen und erklärenden Anmerkungen versehen. Anfänglich in der Absicht, nach dem Wunsche eines hochgestellten Freundes, des Grafen Schönburg, eine erneute Ausgabe der Hirschberger Bibel zu veranstalten, wurde es bald eine selbständige Arbeit, in welcher er mehr und mehr die Ergebnisse einer nicht hinter der Zeit zurückgebliebenen Forschung und eines in der christlichen Erfahrung gereiften Verständnisses zum Gebrauch für nichtgelehrte Christen niederlegte. Tholuck urtheilt: eine für einen gebildeten Leserkreis berechnete Bibelerklärung, welche auf den sorgfältigsten gelehrten Studien beruht. Wir schließen, indem wir das Gesammturtheil zweier Männer, welche mit G. keineswegs überall übereinstimmen, ja gemeinhin einer anderen Richtung und Partei der evangelischen Kirche Preußens zugerechnet werden. Sein Freund August Tholuck glaubt in der That keine treffendere Bezeichnung für den kirchlichen Charakter Gerlach’s finden zu können, „als wenn wir ihn den Wesley der Berliner Kirche nennen“, und Nitzsch (Deutsche Zeitschrift für christliches Leben und christliche Wissenschaft von Schneider, 1. Jahrg. 1850) bekennt: G., in ausgezeichneter Weise ein kirchlicher Mann und ein Pastor aus dem Ganzen, hat durch sein Bibelwerk namentlich in einem großen Umfange die häusliche Erbauung mit heiliger Schrift geleitet! – Außer den bereits erwähnten Schriften Gerlach’s sind noch nach seinem Tode von G. Seegemund herausgegeben: „Es ist ein Bann über Dir, Israel“. Predigt nach Tschech’s[WS 1] Hinrichtung am 18. December 1844 (damals durch die Censur verboten, 1850 zum Druck befördert.) „Predigten über herkömmliche Perikopen und freie Texte, gehalten in der St. Elisabethkirche im J. 1835–40“, 1850.

Evangelische Kirchenzeitung 1849, Nr. 101 u. 102. Schmieder, Fortsetzung des Bibelwerks, 4. Bd. 1. Abth. Seegemund, Vorrede zu den Predigten von Otto v. Gerlach, 1850. Tholuck, in der Real-Encyklopädie von Herzog Bd. V., 1856.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Heinrich Ludwig Tschech, geb. 1789, wurde wegen des Attentats vom 26. Juli 1844 auf König Friedrich Wilhelm IV. zum Tode verurteilt und enthauptet.