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ADB:Grimm, Jakob

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Artikel „Grimm, Jacob“ von Wilhelm Scherer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 678–688, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Grimm,_Jakob&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 15:36 Uhr UTC)
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Grimm: Jacob (Ludwig Karl) G., der Anfang und das Haupt der deutschen Alterthumsforschung; er ist es auch nach seinem Tode noch, der ideale Mittelpunkt, zu dem wir emporschauen; in Geist, Gesinnung, Leistung ein Stolz der deutschen Gelehrtenwelt für alle Zeiten.

Er stammte aus Hessen, speciell aus dem früheren Fürstenthum Hanau. Der Urgroßvater, welchem Jacob G. merkwürdig ähnlich sah, war Prediger zu Hanau, der Großvater Pfarrer zu Steinau, der Vater Jurist, zuerst Advokat, dann fürstlicher Stadt- und Landschreiber zu Hanau, seit 1791 Amtmann zu Steinau. In Hanau am 4. Januar 1785 wurde Jacob G. geboren. Er ist aus beschränkten Verhältnissen hervorgegangen. Früh (schon 1796) starb sein Vater; die Mutter überwachte mit Sorge ihre fünf Söhne und eine Tochter; [679] eine Schwester der Mutter hat viel für die Kinder gethan. Von frühester Jugend an hatte G. mit seinem jüngeren Bruder Wilhelm Alles gemein; diese Gemeinsamkeit ist ihnen durchs Leben geblieben. G. konnte geläufig lesen, ehe andere Kinder überhaupt anfangen zu lernen. Den ersten rohen Unterricht ertheilte ihm Präceptor Zinkhan zu Steinau. Dann besuchte er das Kasseler Lyceum, welches unter der Leitung des Directors Karl Ludwig Richter stand. Bei seiner Entlassung im Frühjahr 1802 erhielt er das Lob herrlicher Geistesgaben und eines unaufhaltsamen Fleißes. Er bezog die Universität Marburg und besuchte juristische Collegien. Unter allen seinen Lehrern ragte Savigny unvergleichlich hervor; er wußte die Befangenheit des Jünglings zu überwinden und gab seiner Seele kühneren Schwung; die erste schriftliche Arbeit, welche G. bei ihm einlieferte, erlangte das Urtheil: „Nicht nur vollkommen richtig entschieden, sondern auch sehr gut dargestellt“. Solches Lob muß sich G. bei Savigny ferner verdient haben; er scheint ihn als den wissenschaftlich fähigsten unter seinen Zuhörern angesehen zu haben. Im Januar 1805 ließ er ihn nach Paris nachkommen, um ihn bei seinen Vorarbeiten zur Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter zu verwenden. Im Herbste kehrte er nach Kassel zurück und erhielt seine erste Anstellung als Kriegssecretariatsaccessist; während der französischen Occupation wurde die Plackerei dabei so arg, daß er seine Entlassung nahm und eine Zeit lang amtlos lebte. Durch Johannes v. Müller’s Vermittelung wurde er aber 1808 Vorsteher der Privatbibliothek des Königs Jérôme zu Wilhelmshöhe und 1809 Staatsrathsauditor, so daß seine Besoldung rasch von 2000 auf 4000 Francs stieg. Seine Amtspflichten waren leicht; er behielt viel Muße für eigene Arbeiten. Nach der Schlacht bei Leipzig hatte diese Herrlichkeit allerdings ein Ende; aber G. wurde doch im Staatsdienste verwendet und begann am 28. December 1813 seine kurze diplomatische Laufbahn als Legationssecretär. Er konnte in Paris helfen, die aus Kassel weggeführten Bücher wiederzuerlangen; über seine Beobachtungen auf der Rückreise durch das Elsaß gab er im Teutschen Merkur (vom 6. August 1814) Bericht: „die Elsässer seien ein gesunder, haltfester Schlag Menschen; seit sie von Kaiser und Reich im Stich gelassen, hätten sie sich selbst beigestanden, Sprache, Sitten und Trachten aufrecht erhalten, was nicht beschrieben, sondern nur mit Augen angeschaut werden könne, weil es bis in die Mienen, Redensarten, Hausgeräth und Einrichtung der Stuben gehe“. „Mit dem wahren deutschen Sinn und mit der rechten Vaterlandsliebe insgemein, ist es so beschaffen, daß sie von selbst und verborgen in der Brust wächst, und da ist sie an ihrer Stelle, wenn sie auch vielleicht im ganzen Leben nicht zur Sprache gelangt … Die Elsässer sind und hören uns von Gott und Rechtswegen, darum sollen wir nicht gegen unser eigen Fleisch sprechen, sondern warten, bis ein gutes Schicksal uns mit Ehren zu ihnen und sie ohne Sünde zu uns führe“. G. nahm ferner Theil am Wiener Congreß, und einem preußischen Auftrage gemäß forderte er 1815 in Paris geraubte Handschriften zurück. Eine hessische Anstellung am Bundestage lehnte er ab, desgleichen eine Professur in Bonn, und war froh, 1816 die zweite Bibliothekarstelle am kurfürstlichen Museum zu Kassel zu erlangen, wo er nun eine Reihe ruhiger, arbeitsamer und fruchtbarer Jahre verlebte. Als aber 1829 der erste Bibliothekar starb und die Brüder G. nicht, wie sie erwarten durften, befördert wurden, folgten sie einer Berufung nach Göttingen als Professoren und Bibliothekare. Im Sommer 1830 las G. sein erstes Colleg über deutsche Rechtsalterthümer. Der Vortrag blieb, wie ein Zeuge versichert, hinter den Erwartungen zurück: wol traten häufig die schönen schlagenden Bilder hervor, an denen seine Schriften so reich sind, aber gesprochen wirkten sie nicht wie geschrieben, sie wurden hastig, ruckweise hingeworfen und unterbrachen, fast befremdend, [680] die nie versiegende Fülle der thatsächlichen Angaben. Rührend war es, wie einmal mitten im sachlichen Vortrag eine Stockung eintrat, und er sich dann rasch gefaßt entschuldigte: „Mein Bruder ist so krank“. Wilhelm hatte gleich anfangs eine gefährliche Lungenentzündung durchzumachen. Es wurde den Brüdern schwer, sich an Göttingen zu gewöhnen, Jacob hielt seine öffentliche Antrittsrede über das Heimweh, „de desiderio patriae“: die Vaterlandsliebe, führte er aus, sei ein so heiliges und jeder menschlichen Brust tief eingeprägtes Gefühl, daß sie durch Leiden und Unglücksfälle, die uns im Geburtslande treffen, nicht geschwächt, sondern eher gesteigert werde. Aber die Sehnsucht nach der hessischen Heimath trat doch allmählich zurück; er lebte in den angenehmsten collegialen Verhältnissen; zu Dahlmann, Otfried Müller, Gervinus ergaben sich nähere, ja sehr innige freundschaftliche Beziehungen; Benecke stand ihnen von Anfang an treulich zur Seite; und so vergingen fast acht Jahre. Da erfolgte der Staatsstreich des Königs von Hannover, der Protest der sieben Professoren, die Ausweisung von Dahlmann, Gervinus, Jacob G. (s. den Art. Dahlmann 4, 697): am 16. December 1837 wandte sich G. wieder nach Kassel, wo ihn sein Bruder Ludwig bei sich aufnahm und wohin ihm Wilhelm im September 1838 folgte. Durch das große Unternehmen des „Deutschen Wörterbuches“ sollte die Unabhängigkeit der Brüder, ohne jede Rücksicht auf irgend eine Regierungshülfe, gewährleistet werden. Aber 1840 wurde ihre Berufung als Mitglieder der Berliner Akademie der Wissenschaften ins Werk gesetzt und im März 1841 siedelten sie in die preußische Hauptstadt über, mit der sie mehr und mehr fest verwuchsen. Im Herbst 1843 reiste G. nach Italien, im Herbst 1844 nach Scandinavien; 1846 und 47 präsidirte er den Germanistenversammlungen zu Frankfurt und Lübeck; 1848 saß er im Frankfurter Parlament und betheiligte sich an der Parteiversammlung in Gotha, ohne indessen bedeutend hervorzutreten. Seinen Bruder Wilhelm überlebte er um vier Jahre; am 20. Septbr. 1863 ist er gestorben.

Ein Gelehrtenleben pflegt wenig Abwechselung zu bieten, wenn man nur die äußeren Schicksale kennt und nicht die inneren Wandlungen; davon ist uns bei Jacob G. wenig enthüllt. Er blieb unverheirathet, aber nicht einsam: das eigene Haus wurde ihm ersetzt durch Wilhelm und die Seinigen, unter denen er lebte, unter deren Pflege er starb. Aber wenn wir auch von seinen Seelenerlebnissen nichts wissen, wir blicken ihm doch ins Herz. Er verbirgt sich nicht, er ist ein einfaches Gemüth und gar nicht problematisch. Ein beneidenswürdiger Optimismus tritt früh hervor. In einer Aufzeichnung vom 25. Januar 1814 beklagt er sich über die Unannehmlichkeiten des diplomatischen Berufes und er findet recht viele; man sieht, daß ihm hinlänglicher Stoff gegeben ist, um sich sehr unglücklich zu fühlen; aber gleich lenkt er ein und besinnt sich auf das Tröstliche, daß ihn stärkt und erhebt, die Freude, daß es mit Deutschland vorwärts gehe, die Hoffnung, daß ihm Gott bald in einen anderen Stand helfen werde. Mäßige Vermögensumstände erklärt er als ein Glück zu empfinden und führt rühmliche und eigenartige Leistungen der Deutschen darauf zurück, daß sie kein reiches Volk seien. Alles Enge hat für ihn etwas Behagliches. „Für glücklich halte ich mich nicht (schreibt er 1822), allein Gott hat mir im Grund ein heiteres Gemüth verliehen, das gleich wieder ausmauert, wo es Risse und Lücken setzt.“ Allerlei Klagen eines Fachgenossen erwiderte er 1826 mit dem Hinweis auf eigene Belastung, wobei er doch getrost und vergnügt lebe: „Es scheint heute (schließt er) eine milde Frühlingssonne und Gott ist so gut, seien Sie auch von diesem Frühling an heiter und zufrieden, man kann sich daran gewöhnen, und das ist eine der schönsten Gewohnheiten.“ Gewiß! Aber das Privilegium genügsamer, bescheidener Naturen.

[681] Es gibt nun auch eine Genügsamkeit der Phantasie, die sich an das Nahe, Enge, Kleine hält. Sie wirkt nicht extensiv, sondern intensiv. Sie enteilt nicht in alle Höhen und Tiefen des Weltlebens, sondern siedelt bescheiden am heimischen Herd. Unter den Dichtungsgattungen entspricht ihr die Idylle, welche in ihren verschiedenen Formen die Menschen des vorigen Jahrhunderts zur Empfindung für die einfachen Reize des Alltäglichen und Natürlichen erzog. Aber Hand in Hand mit dem Geschmack am Idyllischen und Naiven ging der Geschmack an der Volkspoesie und an der altdeutschen Dichtung: die Minnelieder, das Nibelungenlied schienen Verkörperungen des volksthümlichen und naiven Ideals. Aus diesem Antriebe, verbunden mit allen conservativen Kräften des deutschen Volkes, entstand die deutsche Philologie. Sie hat unter den Wissenschaften zuerst jene genügsam intensive Phantasie entfesselt; die „Andacht zum Unbedeutenden“, welche Wilhelm Schlegel verspottete, ist die Grundlage für Grimm’s wissenschaftliche Größe. Wie seine Erinnerung mit wunderbarer Treue die engste häusliche Jugendumgebung bis in alle Einzelheiten festhielt, wie seine Darstellungsweise auf den äußeren Details gemüthlich interessanter Situationen zur Rührung des Lesers verweilt; so haftet er wissenschaftlich an der kleinsten Thatsache mit liebevollem Antheil, immer bedacht, ob sich nicht anderes dazu füge, das weiten Ausblick eröffnete; sein kühnster Flug ist unbeschwert durch unverfälscht genau erfaßte, reichlich angehäufte Facta. Die Akribie ist freilich eine alte Philologentugend; aber ihre Anwendung auf das Naheliegende, Einheimische war etwas ganz Neues, wie es uns z. B. heute noch unnatürlich scheint, zeitgenössischen Schriftstellern die Genauigkeit der Betrachtung zu widmen, welche wir denen des vorigen Jahrhunderts schon gerne gewähren. Auch die Wissenschaft hat ein Princip der idealen Ferne zu überwinden, wie seiner Zeit die Tragödie. Außerdem aber hielt sich die Philologie bis auf G. in einer gewissen vornehmen Quellenregion: ihm dagegen ist Alles gleich lieb und gleich classisch; ein sinnloser Kinderreim, ein thörichter Aberglaube kann zu bestimmten Zwecken wichtiger sein, als das herrlichste Gedicht, als die tiefsinnigste Sentenz großer Poeten und Denker.

Grimm’s Anfänge liegen, dem allgemeinen Gang unserer Bildung gemäß, ganz auf einer Linie mit den patriotisch-litterarischen Bemühungen der älteren und jüngeren Romantik, welche Arnim mit den Worten ausdrückte: „Wir wollen Allen Alles wiedergeben, was im vieljährigen Fortrollen seine Demantfestigkeit bewahrt hat.“ Es handelte sich um Erneuung oder Herausgabe altdeutscher Gedichte und um die Sammlung volksthümlicher Poesie aus Litteratur und lebendiger Ueberlieferung. Regelmäßig vereinigten sich dabei in der frühesten Zeit ihres Wirkens Jacob G. und sein Bruder Wilhelm zu gemeinsamer Arbeit. Ihre Editionen sind: „Die beiden ältesten deutschen Gedichte“ (Hildebrandslied und Wessobrunner Gebet, 1812); „Der arme Heinrich von Hartmann von Aue“ (1815); „Die Lieder der alten Edda“ (1815): überall fördern sie die Kritik und das Verständniß. Von ihren Sammlungen aus der volksthümlichen Tradition, den „Kinder- und Hausmärchen“ und den „Deutschen Sagen“ wird unten in dem Artikel über Wilhelm G. näher gesprochen werden. Allen ihren wissenschaftlichen Tendenzen von damals diente die Zeitschrift „Altdeutsche Wälder“ (3 Bde. 1813, 1815, 1816).

G. allein schrieb außer zahlreichen Aufsätzen und Recensionen in Zeitschriften nur über den altdeutschen Meistergesang (1811), über ein mythologisches Thema („Irmenstraße und Irmensäule“, 1815) und gab spanische Romanzen heraus („Silva de romances viejos“, 1815). Alle seine Arbeiten hängen, wie es scheint, mehr oder weniger zusammen mit dem großen Plane einer Geschichte der altdeutschen Poesie. Diese aber faßte er in einem ganz neuen Sinne als [682] Geschichte der Sage. Er meinte: es liege viel weniger daran, zu wissen, welcher Sprache oder Form etwa ein Gedicht nachgebildet sei, oder welchen Urheber es gehabt habe, insofern dies nicht dazu beitrage, über Alter und Gestalt der Sage selbst Aufschlüsse zu verschaffen; vielmehr darauf komme es an, die Ursprünglichkeit der Sage oder ihre Veränderung sammt dem Verhältnisse zum Ursprunge klar zu sondern. So genommen aber hing die altdeutsche Dichtung mit der Weltpoesie überhaupt zusammen. G. unterscheidet in der Sage ein factisches und ein nicht factisches Element, das letztere nennt er mythisch. Und alles Mythische entspringt ihm wie die Sprache aus einer ältesten Einheit: alle Wörter seien im Grunde nur eines; es komme lediglich darauf an, die Kette ihres Zusammenhanges richtig aufzuweisen; ebenso sänken in der ursprünglichen Mythologie Zeiten und Räume zusammen, es handle sich nur darum, die Reihe aller Mittelglieder zu finden. Er weiß denn in der That jede Wort- und Mythenvergleichung möglich zu machen; er steht darin vollständig unter dem Einflusse von Görres und Arnold Kanne. Er, der später für die Begründung einer wissenschaftlichen Etymologie mehr gethan, als irgend ein anderer, spricht jetzt einmal den Grundsatz aus: am richtigsten betrachte man die meisten Anfangsconsonanten als gleichgiltige Vorsätze vor dem Wurzelvocal. Er, der später scandinavische und deutsche Mythologie zu scheiden suchte, verknüpft jetzt das Fernliegendste und benutzt mythologische Vorstellungen der einen Nation ohne weiteres zur Aufhellung von mythologischen Vorstellungen einer anderen Nation. Die Poesie überhaupt steckt ihm voll mythischer Ueberbleibsel. Er unterscheidet zwischen Natur- und Kunstpoesie wie Herder: die erstere ist die nationale, einheimische, ursprungstreue, traditionell gebundene; die zweite ist die romantische, fremde, selbstherrliche, individuell freie. Volkslieder vermögen sich nach ihm nur „selbst zu dichten“. Das Volkslied, das Epos geht aus der stillen Kraft des Ganzen leise hervor. Die Naturpoesie hat Grimm’s ganze Sympathie; sie erscheint bei ihm wie ein verlornes Paradies der Unschuld und Einfachheit; die Kunstpoesie tritt dagegen zurück, den Antheil des Einzelnen ist er geneigt, möglichst gering anzuschlagen.

Solchen und ähnlichen Anschauungen setzte Wilhelm Schlegel im J. 1815 schroffen Widerspruch entgegen, sehr ungerecht zum Theil, höchst gerecht, was die Verurtheilung des enthusiastisch wüsten Etymologisirens betrifft. Ob G. dieser Zurechtweisung bedurfte? Ob er selbst das Unsichere seines bisherigen Verfahrens gefühlt hatte? Ob die maßvolle besonnene Weise seines Bruders auf ihn einwirkte? Jedenfalls trat in ihm eine Krisis ein, die ihn mächtig förderte und ihn erst zu den grundlegenden Werken führte, um deren willen wir ihn verehrungsvoll bewundern. Der Plan einer Geschichte der altdeutschen Poesie wurde fallen gelassen; nüchtern inductive Sprachbetrachtung fesselte ihn eine Zeit lang ausschließlich. Er war 34 Jahre alt, als der erste Band seiner „Deutschen Grammatik“ erschien, welcher die Formenlehre enthielt (1819); die zweite Ausgabe dieses Bandes fügte 1822, nicht ohne Einwirkung des Dänen Rask, die für wissenschaftliche Etymologie entscheidende Lautlehre hinzu (daraus der Vocalismus 1840 neu bearbeitet); der zweite und dritte Band (1826, 1831) brachte die Wortbildung, der vierte (1837) die Syntax des einfachen Satzes. (Neue Abdrücke des ersten Bandes von 1822 und des zweiten Bandes, mit nachgelassenen Zusätzen vermehrt, sind 1870 und 1878 erschienen.)

G. erklärte, seinem Lehrer Savigny alle wissenschaftliche Anregung für sein Leben zu danken. Er lernte bei ihm nicht blos inductive Forschung überhaupt, das Streben nach vollständiger Induction, das Hinaufgehen zu den echten und reinen Quellen, die nicht von der Doctrin getrübt sind; er lernte insbesondere historische Betrachtungsweise rechtlicher Institutionen, er lernte – wie man zu [683] sagen pflegt – „das Sein aus dem Werden begreifen“, d. h. die einzelne Erscheinung durch alle ihre Gestalten geschichtlich verfolgen. Die charakteristischen Züge von Savigny’s Methode mochten ihm schon bei seinen Sagenvergleichungen vorgeschwebt haben; aber er erreichte das Vorbild entfernt nicht; dieses Arbeitsfeld war einer exacten Behandlung nicht günstig: die Sprache war es dagegen im höchsten Maße. Mit Grimm’s „Deutscher Grammatik“ wurde die historische Grammatik überhaupt begründet. Aber wie Savigny selbst, pflegte G. die Dinge weniger mit begrifflicher Schärfe, als aus klarer allseitiger Anschauung zu ordnen und zu gliedern (man hat es wol intuitive Methode genannt), der Philosophie war und blieb er abhold, die historischen Processe verfolgte er in ihrem Verlauf, aber die Ursachen dieser Processe kümmerten ihn selten.

Das Wort „Deutsch“ in dem Titel von Grimm’s Hauptwerk bedeutet, was wir heute lieber germanisch nennen: zum Deutschen das Englische, Scandinavische, Gothische. G. hat es ebenso in der Geschichte der deutschen Sprache und in den Rechtsalterthümern verwendet. In der Mythologie dagegen bedeutet es einen Gegensatz gegen scandinavisch; im Wörterbuch geht es auf die hochdeutsche Sprache seit dem 16. Jahrhundert. In der Grammatik also waren alle germanischen Sprachen berücksichtigt, aber so, daß auf die ältere Zeit das Hauptgewicht fiel, die jüngeren Epochen nur als späte, ziemlich uninteressante Entstellungen auftraten. Indem jedoch überall neue Beleuchtungen gewonnen wurden und die Thatsachen sich auf unerwartete Weise ordneten, kam die Arbeit auch unserm heutigen Deutsch und seiner grammatischen Auffassung zu gute. Wie es sich für den gebildeten Beurtheiler der Poesie geziemt, antike oder mittelalterliche Bestandtheile eines modernen Werkes sofort zu erkennen; so ist es schicklich geworden, daß über deutsche Grammatik Niemand mitrede, der nicht in unserem heutigen Sprachgebrauche sofort die altbegründeten von den auf spät überwuchernder falscher Analogie beruhenden Elementen zu unterscheiden weiß. In beschränkten Grenzen kann daher auch die geschichtliche Einsicht eine Norm für schwankenden Gebrauch darbieten; wie weit dies in der Orthographie der Fall sein dürfe, ist noch immer streitig. G. verbannte 1822 die großen Anfangsbuchstaben der Substantiva und setzte, womit er gewiß zu weit ging, den Buchstaben ß überall, wo in der älteren Sprache z entsprach; andere sind auf demselben Wege noch weiter gegangen, und im Ganzen ist bis jetzt der Schade, der unserer Orthographie aus diesen Reformbestrebungen erwuchs, größer gewesen, als der Nutzen, den sie stifteten.

Daß die germanischen Worte und Wortformen aus der Gegenwart in die Zeit des Ulfilas zurückverfolgt und die charakteristischen Veränderungen, welche sie durchliefen, auf deutliche Regeln gebracht wurden: das ist die Leistung der drei ersten Bände von Grimm’s Grammatik. Und der vierte Band wendete dieselbe Betrachtungsweise auf die syntaktischen Constructionen an. G. zeigte, wie einfache Vocale zu Diphthongen, Diphthonge zu einfachen Vocalen wurden, wie nach den Regeln von Umlaut und Brechung sich reine Vocale in trübe verwandelten (für rein gilt der uralte Dreiklang a, i, u); wie die Consonanten sich verstärken, verflüchtigen, assimiliren; wie die Ableitungs- und Flexionssilben verblassen, während die betonte Wurzelsilbe unangetastet besteht; wie die starken Declinationen und Conjugationen zurückweichen, die schwachen um sich greifen. G. wies die Regel des Ablautes in der Conjugation und die Metamorphosen altgermanischer Perfectreduplication durch alle verwandten Sprachen hin auf. Er erläuterte den Gebrauch der Ableitungssilben und den Unterschied zwischen eigentlicher und uneigentlicher Zusammensetzung. Dem grammatischen Geschlechte widmete er einen schönen phantasievollen Abschnitt. In der Syntax stellte er z. B. Verschwinden [684] des bestimmten Werthes grammatischer Formen und Ueberhandnehmen der äußeren verdeutlichenden Hülfsmittel ins Licht.

Ueber die Grenze des germanischen Gebietes hinaus war die Regel der Lautverschiebung bedeutungsvoll, die er auffand. Alle ursprünglichen arischen p, t, k haben sich im Germanischen zu f, th, h verschoben, die tönenden und aspirirten Verschlußlaute haben ebenso eine gesetzmäßige Wandlung erfahren; und der ganze Proceß vollzog sich in demselben Sinne noch einmal in der hochdeutschen Sprache gegenüber dem Niederdeutschen. Es war dadurch für alle Etymologie eine unumstößliche Richtschnur gewonnen, es war ein „Lautgesetz“ gefunden und damit der Weg gebahnt zu dem Grundsatze, daß wissenschaftliche Etymologie überhaupt nur möglich, so weit sich gesetzmäßiges Verhalten der Laute feststellen lasse: der äußerste Gegensatz zu der früheren Etymologie nach dem ähnlichen Klange.

Grimm’s deutsche Grammatik hat sich durch ihre Einwirkung auf Bopp und Pott an der Ausrichtung einer vergleichenden Grammatik der arischen Sprachen wesentlich betheiligt. Diese vergleichende Grammatik ihrerseits aber wirkte auf G. zurück und nöthigte ihn vielfach, seine früheren Aufstellungen zu modificiren. Die „Geschichte der deutschen Sprache“ (1848) ist das Resultat seiner Auseinandersetzung mit der vergleichenden Sprachwissenschaft; zugleich aber auch mit der altgermanischen Ethnographie, wie sie Kaspar Zeuß begründete. G. brachte die nicht glückliche Hypothese von der Identität der Geten und Gothen hinzu und suchte dadurch der deutschen Geschichte einen Hintergrund zu geben, der allerdings einen großen Reiz für die Phantasie darbieten würde, aber vor streng methodischer Forschung nicht bestehen kann. Werthvoller war, daß G. diejenigen germanischen Sprachen charakterisirte, von denen uns nur einzelne Worte und Namen, aber keine zusammenhängenden Schriftdenkmäler erhalten sind, z. B. das Langobardische, Salfränkische, Burgundische. Dem Salfränkischen besonders (der malbergischen Glosse) galt noch die Vorrede zu Merkel’s Ausgabe der Lex salica (1850).

Einzelne Punkte der Grammatik behandelten die Aufsätze über Diphthonge nach weggefallenen Consonanten (1845), über den Personenwechsel in der Rede (1856), über einige Fälle der Attraction (1858), über Vertretung männlicher durch weibliche Namensformen (1858). Auf der Grenze zwischen Recht und Sprache lag „Das Wort des Besitzes“ (1850). Ueber den Ursprung der Sprache handelte er 1851 im Anschluß an Herder und Wilhelm v. Humboldt, indem er die großen Erfahrungen der neueren Sprachwissenschaft verwerthete und die Ausbildung der Flexion, ihre Blüthe, ihren Verfall – drei Perioden der Sprachentwickelung – meisterhaft zu schildern wußte. In dem Vortrag über Etymologie und Sprachvergleichung (1854) gab er einen historischen Ueberblick der griechischen, römischen und mittelalterlichen Etymologie und suchte das Verbum als Wurzel aller übrigen Redetheile hinzustellen. Ein früherer Aufsatz (1847) geiselte die Pedanten und Puristen, „was eigentlich Eine Brut ist“ und erwägt überhaupt den pedantischen Zug in Charakter und Sprache der Deutschen mit gutem Humor: man fühlt sich an eine alte romantische Leistung, Clemens Brentano’s „Philister vor, in und nach der Geschichte“ erinnert.

Neben den späteren der genannten Arbeiten geht schon das „Deutsche Wörterbuch“ einher: nicht weniger als 83 Gelehrte hatten Excerpte dafür geliefert und so den Brüdern einen Theil ihrer Arbeitskraft zur Verfügung gestellt. Durch dieses bereitwillige Zusammenwirken Vieler ist es ein ganz einziges Werk. Im J. 1852 hat G. die erste Lieferung fertig gebracht und damit Ton und äußere Einrichtung des Ganzen angegeben. Von ihm rühren die Buchstaben A, B, C, E und F bis zum Worte „Frucht“ her. Er hat die Aufgabe mit [685] genialer Freiheit ergriffen, die Hauptpunkte fest im Auge, über Nebensachen nicht ängstlich. Der Hauptpunkt aber war, daß die Methode geschichtlicher Sprachbetrachtung dem neuhochdeutschen Wortschatze seit etwa 1450 zu gute kommen sollte. Man kann streiten, ob der Ausgangspunkt richtig gewählt war, ob nicht aus der älteren Zeit allzu viel Fremdartiges eindringen mußte, ob nicht das 18. Jahrhundert und die zweite Hälfte des 17. vollkommen genügten, so daß wir mehr innerhalb der Sphäre unserer eigenen gewohnten Sprache gehalten wären. Aber neben dem Zweck eines Sprachschatzes für die Gegenwart sollte auch die rein gelehrte Absicht erreicht werden, die Sprache Luther’s und Fischart’s und ihrer Zeitgenossen lexikalisch zu verzeichnen, kurz die Auszüge aus älteren Schriftstellern ungefähr dort zu beginnen, wo nach der üblichen Begrenzung das Mittelhochdeutsche aufhört. Wichtiger als dieser untergeordnete Gesichtspunkt war, daß für jedes Wort die älteste historisch zu ermittelnde Bedeutung an der Spitze stand, daß die verwandten Sprachen noch tiefere Ergründung gestatteten, daß der Uebergang vom Sinnlichen zum Abstracten überall anschaulich, daß die Fülle poetischer, sprichwörtlicher, abgerundeter Wendungen, die sich an jedes einzelne Wort heften, in großer Vollständigkeit erkennbar wurde. Das sinnliche Element der Sprache war Grimm’s Liebe von jeher; in der Etymologie wahrte er nicht immer die Strenge der Lautgesetze, zu deren Begründung er selbst so viel gethan; ein Zug romantischer Willkür kehrt ihm zurück. In der Aufstellung der Wortformen erlaubte er sich unhistorische Vorschläge, welche Aelteres, Aufgegebenes an die Stelle des längst Ueblichen und zur Sprachregel gewordenen gesetzt haben würden; auch die Einführung von sz in unsere Orthographie schuf nur eine Seltsamkeit, die ohne Nachahmung blieb. Auf der anderen Seite geschah nicht genug, um in bescheidenem Maße auf Richtigkeit und Reinheit des gegenwärtigen Sprachgebrauches hinzuwirken. Durchgeführte praktische Tendenzen liegen G. in der Regel fern, und sein Wort von 1819 über die Schulgrammatiken hat das Signal für eine verhängnißvoll falsche Richtung des Schulunterrichtes gegeben. Es lautet: „Jeder Deutsche, der sein Deutsch schlecht und recht weiß, d. h. ungelehrt, darf sich, nach dem treffenden Ausdruck eines Franzosen: eine selbsteigene, lebendige Grammatik nennen und kühnlich alle Sprachmeisterregeln fahren lassen“. Unser Schriftdeutsch kann man aber nicht schlecht und recht lernen, überall hat es zu kämpfen gegen die Mundart und gegen Sprachfehler, die auf mißverstandener Regel beruhen; und die Richtigkeit und Festigkeit des gegenwärtigen Gebrauches ist das Wichtigste und Erste für den Sprachunterricht; historische Einsicht kommt nur für die höchsten Stufen der Bildung in Betracht. Auch Grimm’s Wörterbuch setzt überall Leser voraus, welche Gymnasialbildung erworben haben. Für diese aber birgt es einen reichen Schatz, auch in praktischer Hinsicht: die große Menge der Belege zeigt so mannigfaltige Anwendungen des einzelnen Wortes, daß viele Muster des Ausdruckes dadurch aufgestellt werden.

Von 1819 bis zu Grimm’s Tode reiht sich für ihn eine sprachliche Aufgabe an die andere. Und die übrigen großen Leistungen, welche dazwischen treten, entbehren meist nicht eines starken sprachlichen Elementes. In den Rechtsalterthümern wurde die juristische, in der Mythologie die gottesdienstliche Terminologie germanischer Sprachen auseinandergesetzt und damit das Vorbild für Untersuchungen geliefert, die sich auf alle Lebensgebiete erstrecken müßten, bisher aber wenig Anklang gefunden haben.

Die „Deutschen Rechtsalterthümer“ (1828) widmeten außerdem hauptsächlich den symbolischen Handlungen ihre Aufmerksamkeit, welche schon Savigny die eigentliche Grammatik des Rechtes in der ältesten Periode genannt hatte und welche G. bereits 1816 mit einem Aufsatz über die Poesie im Recht als das [686] Sinnliche, Phantasievolle gefeiert hatte. Das Sinnliche, nicht das Begriffliche, zog ihn im Recht, wie in der Sprache an. Wie bei der Sprache lagen ihm vergleichende Ausblicke nicht fern. Wie bei der Sprache gehört seine Sympathie der alten Zeit und setzt sich der triumphirenden Verkündigung des modernsten Fortschrittes recht absichtlich, doch nur gelegentlich, nie aufdringlich entgegen. Wie bei der Sprache die Volksmundart gleichberechtigt neben die hohe Litteratur tritt, so gelten als eine Quelle, ja als die vornehmste der Rechtsalterthümer, die autonomen Satzungen der Bauern, die Dorfweisthümer, von denen er später eine große Sammlung veranstaltete („Weisthümer“, Bd. I–IV, Göttingen 1840–1863, fortgesetzt von Schröder), die er leider nicht mehr zu einer zweiten Ausgabe der Rechtsalterthümer verwerthen konnte.

Die „Deutsche Mythologie“ (1835, zweite Ausgabe 1844, vierte mit Zusätzen aus dem Nachlaß 1875–78) verzichtete auf die Erkenntniß des mythischen Gehaltes der alten Heldenfage; sie nahm dagegen die Volksüberlieferung der Gegenwart und der modernen Jahrhunderte überhaupt, Aberglauben, Märchen und Sagen, ja die Poesie des 13. Jahrhunderts, allzu vertrauensvoll als Quelle hin: auch entschieden christliche Vorstellungen wurden nicht erkannt. G. war geneigt, alle Volksüberlieferung wie eine unterste geologische Schicht zu betrachten, welche durch alle Jahrhunderte hin verhältnißmäßig treu bewahrt sei. Er hielt sich nicht genug gegenwärtig, daß aus der obersten Schicht der Bildung immer einzelne Elemente populär werden, durch alle Stände gleichsam hindurchsickern und in jener untersten Schicht fortleben. Der große Fehler des Buches, der auf die nächsten Nachfolger nicht günstig einwirkte, läßt sich als Mangel an Kritik bezeichnen. Trotzdem ist es ein bezauberndes Buch, und der große Erfolg, den es hatte, war vollkommen begreiflich. Gerade die unhistorische Vermischung der Zeiten ergab eine Art Idealbild der Vorstellungen vom Uebersinnlichen beim deutschen Volke, einen symbolischen Ausdruck des deutschen Glaubens, so weit er nicht der officiell christlichen Dogmatik angehört. Die unbefangene Freude am Poetischen bewahrt den Verfasser vor dem verführerischen Drange nach Mythendeutung, so daß ein klarer, unbefangener Geist ohne theoretische Nebenabsichten uns durch eine schöne reichbevölkerte ideale Welt hindurchführt, welche eine gewisse sehnsüchtige Stimmung erweckt, wie sie erwachsene Menschen nach ihrer Kindheit empfinden können.

In den Stoffkreis der Mythologie fällt die Gratulationsschrift „Frau Aventiure klopft an Benecke’s Thür“ (1842), die Herausgabe der von Waitz entdeckten Merseburger Zaubersprüche (1842), die Abhandlungen über den Liebesgott (1851), über die Namen des Donners (1854), über Frauennamen aus Blumen (1852) und über das Gebet (1857). Auf dem Gebiete des medicinischen Aberglaubens bewegt sich die Arbeit über Marcellus Burdigalensis (1847) und über die Marcellischen Formeln (1855). Ueber Sagenverwandtschaft handelt „Der Traum von dem Schatz auf der Brücke“ (1860). Sprachliches, Mythisches, Rechtliches berührt sich in den deutschen Grenzalterthümern (1843). Und wenn schon sonst in Rechtsalterthümern, Mythologie, Geschichte der deutschen Sprache das Gebiet der altgermanischen Sitte oft gestreift wurde, das vom Recht und vom Glauben nicht rein abgelöst werden kann, so waren die Abhandlungen über Schenken und Geben (1848) und über das Verbrennen der Leichen (1849) diesem Gebiete ganz speciell entnommen: ein besonderes zusammenfassendes Buch über deutsche Sitte gehörte zu den letzten großen unausgeführten Entwürfen des Meisters.

Der Reichthum seiner Thätigkeit ist aber hiermit noch nicht erschöpft. Sprache und Alterthumskunde sind nicht die einzigen Territorien, die er urbar macht und bebaut. Sein alter Plan einer Geschichte der altdeutschen Dichtung [687] war ihm freilich entschwunden. Aber Beiträge zur vaterländischen Litterarhistorie hat er reichlich gegeben und darüber hinaus, wie seine Uebersetzungen serbischer Volkslieder, sein Vortrag über das finnische Epos und gelegentliche Bemerkungen über Ossian beweisen, namentlich der fremden epischen Volkspoesie eingehende Aufmerksamkeit geschenkt. Seine größeren Arbeiten verbanden sich zum Theil mit Editionen; als Herausgeber steht er nicht auf der obersten Stufe, aber daß er entschlossen zugriff, auch wo er selbst sich schwächer fühlte, das ist ein Zeichen, wie sehr es ihm stets um die Sache und nicht um persönlichen Ruhm zu thun war. „Versiegte Quellen wieder aufzuthun, lag ihm sehr am Herzen (so sagt er von sich selbst), doch, so hoch er die Kritik achtet und an Geistern, die für sie ausgerüstet scheinen, bewundert, ihm galt es mehr darum, in dem fluthenden Wasser zu baden, als die hineingefallenen Halme und Spreuer wegzuschaffen, die sich entweder von selbst ausstoßen oder von tapfern Fegern fortgebracht werden.“ Seine Edition von „Andreas“ und „Elene“ (1840) brachte Beiträge zur Synonymik und dem Formelwesen des germanischen Epos; seine mit Schmeller herausgegebenen lateinischen Gedichte (1838) enthielten u. a. eine Charakteristik des Waltharius; seine „Gedichte des Mittelalters auf König Friedrich I. den Staufer“ (1843) lenkten die Aufmerksamkeit auf das poetische Treiben der fahrenden Cleriker des 12. Jahrhunderts; der „Reinhart Fuchs“ (1834, dazu das „Sendschreiben an Karl Lachmann über Reinhart Fuchs“, 1840), eines seiner schönsten Bücher, gab eine vollständige Uebersicht der Thiersage und bemühte sich, die freilich unrichtige Hypothese eines uralten arischen Thierepos zu begründen, von welchem die äsopischen Fabeln nur zusammengeschrumpfte Reste, unsere deutschen Thiergedichte eine verhältnißmäßig treue Fortsetzung wären. Dem mächtigsten Prediger des 13. Jahrhunderts, dem Franciscaner Berthold von Regensburg, widmete er eine ausgeführte Charakteristik (1825). Und die Rede auf Schiller (1859) gab ihm Gelegenheit, zugleich seine Ansicht über Goethe und die neuere deutsche Poesie überhaupt in großem Umrisse vorzutragen. Das Verhältniß moderner Schriftsteller zu unserer Sprache, ihre größere oder geringere Herrschaft darüber konnte Niemand besser als der Hauptverfasser des „Deutschen Wörterbuches“ beleuchten, und der Litterarhistoriker findet daher bei ihm manche werthvolle Beobachtung, die es zu verfolgen lohnt.

Ein Kabinetstück durch anmuthige Freiheit des Tones und durch weite Ausblicke von einem beschränkten Kreise aus ist die Abhandlung über eine Urkunde des 12. Jahrhunderts (1851). Ruhiges überlegenes Walten eines wahrhaft geklärten Geistes bezeichnet noch manchen von Grimm’s akademischen Vorträgen, namentlich aus der letzten Zeit. Es herrscht darin eine Freimüthigkeit in Politik und Religion, wie sie nur das Bewußtsein gibt, allen irdischen Richtern bald entrückt zu sein; und eine natürliche Lebensphilosophie, eine merkwürdige Kunst, an die großen menschlichen Wahrheiten ohne Trivialität und ohne gesuchte Geistreichigkeit zu erinnern, welche, wenn irgend etwas, auf den Namen der Weisheit den gegründetsten Anspruch hat. Ueber Wissenschaft und ihre Pflege gibt die Abhandlung „Ueber Schule, Universität, Akademie“ (1849) Grimm’s letzte geläuterte Meinungen. Und indem er „Ueber das Alter“ handelt (1860), liefert er zum Schluß noch einmal einen wahrhaft rührenden Beweis für seinen Optimismus: er setzt die Vortheile des Alters ins Licht, es ist ihm die Zeit einer im vorausgegangenen Leben noch nicht so dagewesenen Ruhe und Befriedigung: „Der Greis (sagt er) sollte, von Dank erfüllt, fühlen, daß ihm zur letzten Lebensstufe vorzuschreiten vergönnt war, er hat nicht nöthig zu jammern, wenn sie annaht; es ist ihm gestattet, mit stiller Wehmuth hinter sich zu blicken und nach dem schwülen Tag in abendlicher, labender Kühle gleichsam [688] auf der Bank vor seiner Hausthüre sitzend, sein verbrachtes Leben zu überschlagen.“ G. hat wiederholt, auch schon früher, auf seine eigene Laufbahn zurückgeschaut, von seinem Thun öffentlich Rechenschaft, über Erlebnisse Bericht erstattet: so in der Selbstbiographie (1831), in der Schrift „Ueber meine Entlassung“ (1838), in der Vorlesung „Italienische und scandinavische Eindrücke“ (1844). Aber auch seine Widmungen, seine Reden auf Lachmann, auf Wilhelm Grimm, sind zugleich Denkmale persönlicher Beziehungen und Empfindungen. Und durch alle seine Schriften hin kann bei Gelegenheit Persönliches hervorbrechen, wie sie alle den Stempel einer harmonischen, aber ursprünglichen und unverwischbaren Eigenart an sich tragen.

„Wer die Geschichte durchforscht (sagt G.), muß die Poesie als einen der mächtigsten Hebel zur Erhöhung des Menschengeschlechtes, ja als wesentliches Erforderniß für dessen Aufschwung anerkennen.“ Hochschätzung der Poesie zeichnet diesen Gelehrten vor anderen aus; in weitgreifender Combination will er deutsche Dichtung an ihre Ursprünge verfolgen; von falschen Zielen der Forschung befreit er sich für die Sprache; und doch fällt er ihnen für die Sagenforschung (in „Mythologie“ und „Reinhart Fuchs“), wie für die Ethnographie später wieder anheim und das Dunkel der Urzeiten sucht er mehr nach Wünschen und Neigung, als mit streng nüchterner Methode zu enthüllen; dichterische Phantasie wird ihm eine irreführende Leuchte auf dem Wege zur Wahrheit, aber sie leitet ihn lebenslang sicher zur Schönheit. Das Ideal der Einfalt und Natur hat sein Herz und seinen Stil gebildet. Die Erscheinung Grimm’s wird für alle Zeiten eine edle Offenbarung schlichten Sinnes bleiben, und sein Stil verbindet reiche Bildlichkeit und sinnlichen Schmuck mit anspruchsloser Wahrhaftigkeit, Wärme, Gemüth und einer ungezierten Freiheit ohne Beispiel. Wollte man seinen Genius in mythologischer Gestalt bilden, so müßte es einer jener bescheidenen deutschen Hausgeister sein, welche dem begünstigsten Menschen lautlos, heimlich die befohlene Arbeit thun. Prunklose Genialität, häuslich und heimathlich gebunden, ist Grimm’s Wesen.

Kleinere Schriften von G., 5 Bde, Berlin 1864–71 (mit biographischen Zusätzen von Herman Grimm). Eigenhändiger Lebensabriß Zs. f. deutsche Phil., 1, 489. Lycealzeugniß ibid. 6, 103. Denhard, Die Brüder Jacob und Wilhelm G. (Hanau 1860). Grenzboten 1863, 17. S. 281–300. Weinhold, Rede auf Jacob G. (Kiel 1863). Waitz, Zum Gedächtniß an Jacob G. (Göttingen 1863). Andere Litteratur aus dem Todesjahr s. Germania 9, 80. Baudry, Les Frères Grimm (Paris 1864 mit Briefen an Michelet und Regnier). Scherer, Jacob G. (Berlin 1865, mit Benutzung des Briefwechsels zwischen G. und Lachmann). Gervinus, Geschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. VIII. (1866), S. 57–66. Benfey, Geschichte der Sprachwissenschaft (München 1869), S. 427–470. Andresen, Ueber die Sprache Jacob Grimm’s (Leipzig 1869). Raumer, Geschichte der germanischen Philologie (München 1870), S. 378–446, 495–534, 632–654. Curtius, Jacob G. (Leipzig 1871). Raßmann bei Ersch u. Gruber Sect. I. Bd. 91 (1871), S. 176–275. Goedeke in: Göttinger Professoren (1872) S. 169 bis 203. Haupt, Opuscula, 3 (1876), 164–200. – Briefe in der Germania Bd. XI ff., in Görres’ Gesammelte Briefe Bd. II, III. Ein Brief an ‚Mr. Grimm‘ von Walter Scott in Macmillan’s Magazine (January 1868) S. 268. Briefe an Wyß, herausgegeben von Ludwig Hirzel im Anz. für deutsches Alterthum 3, 204. Briefwechsel zwischen Jacob G. und Fr. Dav. Gräter, herausgegeben von Hermann Fischer (Heilbronn 1877). Freundesbriefe von Wilhelm und Jacob G., herausgegeben von Alexander Reifferscheid (Heilbronn 1878 mit Uebersicht der bisher publicirten Briefe der Brüder).