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ADB:Kerner, Justinus

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Artikel „Kerner, Justinus“ von Hermann Fischer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 15 (1882), S. 643–645, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kerner,_Justinus&oldid=- (Version vom 26. Dezember 2024, 05:26 Uhr UTC)
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Kerner: Justinus Andreas Christian K., Arzt und Dichter, wurde am 18. September 1786 zu Ludwigsburg als Sohn des dortigen Oberamtmanns und jüngerer Bruder von Georg K. (s. d.) geboren. Im J. 1795 zog die Familie nach Maulbronn und nach des Vaters vier Jahre später erfolgtem Tode wieder nach Ludwigsburg. K. trat bei der dortigen herzoglichen Tuchfabrik in die Lehre; durch Unterstützung des Tübinger Professors Conz wurde es ihm aber möglich gemacht, seinen Hang zum Studium der Natur zu befriedigen. Er studirte von 1804 an in Tübingen Medicin. Er war daselbst außer mit Varnhagen namentlich auch mit dem ein Jahr jüngeren Uhland eng befreundet, eine Freundschaft, welche auf gemeinsamer poetischer Neigung beruhte und trotz der weit auseinandergehenden Naturen und Gesinnungen beider Dichter, namentlich ihrer ganz verschiedenen politischen Ansichten, bis zum Tode festgehalten hat (beide starben im nämlichen Jahre). K. erwarb sich am 20. December 1808 den Grad eines Dr. med. mit einer Dissertation „De functione singularum partium auris“, und trat hierauf im April 1809 eine längere wissenschaftliche Reise an, die ihn nach Hamburg und Wien führte. Im Mai 1810 kehrte er nach Württemberg zurück und ließ sich im October 1810 in Dürrmenz, im Januar 1811 in Wildbad als praktischer Arzt nieder. Im Januar 1812 ging K. nach Welzheim, wo er sich im Februar 1813 verheirathete, im Frühjahr 1815 als Oberamtsarzt nach Gaildorf und am 19. Januar 1819 in derselben Eigenschaft nach Weinsberg. Dort lebte er (von 1851 an im Ruhestand) in seinem 1822 erbauten eigenen Hause, das außer manchen Dichtern und Dichterfreunden, die seine grenzenlose Gastfreundschaft genossen, auch verschiedene von ihm zur Beobachtung und Kur aufgenommene Nervenkranke beherbergte, bis zu seinem Tode, der am 21. Februar 1862 in Folge einer Grippe eintrat.

K. war als Schriftsteller sehr fruchtbar und zwar nicht allein auf dem Gebiete der Poesie, sondern ebenso sehr oder noch mehr auf dem seines praktischen Berufs. Als Nichtmediciner muß ich mich hier auf ein kurzes Referat beschränken. Resultate eingehender, durch den Aufenthalt Kerner’s in Welzheim und Gaildorf veranlaßter Studien waren die Schriften: „Neue Beobachtungen über die tödtlichen Vergiftungen durch den Genuß geräucherter Würste“ (1820) und „Das Fettgift oder die Fettsäure und ihre Wirkung auf den thierischen Organismus“ (1822), denen 1815 sein Aufsatz „Ueber das Wurstgift“ in den „Tübinger Blättern für Naturwissenschaft und Arzneikunde“, Bd. III, vorangegangen war. Mehr praktische Tendenz hatten die Schriften „Ueber die Besetzung der Physikate“ (1817) und „Sendschreiben an die Bürger des Oberamts Weinsberg, in Betreff der uns drohenden Cholera“ (1831; im selben Jahr gab K. eine Schrift des Arztes Harst über die Cholera heraus). Am bekanntesten ist aber der Arzt K. geworden durch seine spiritistischen Schriften. Auf irgend eine Discussion ihres Werthes oder Unwerthes kann ich freilich nicht eingehen. Nervöse Constitution, frühe aufgetretene Krankheitserscheinungen eigenthümlicher Art an der eigenen Person, ein melancholischer Zug zu den „Nachtseiten der Natur“, der auch den Dichter K. kennzeichnet, sowie der Umstand, daß er selbst mehrere somnambüle Personen zur Behandlung bekam, darunter namentlich die durch ihn berühmt gewordene „Seherin von Prevorst“ (einem Dorfe nicht weit von Weinsberg), die 1828–29 [644] in seinem Haus wohnte – alles das mußte den gemüthvollen und leicht erregbaren Mann in die spiritistische Richtung bringen und darin bestärken, wozu noch die Verbindung mit dem Tübinger Philosophen Eschenmayer beitrug. Die lebhafte Phantasie und der Humor des Dichters mögen sich manchmal in diese Studien eingemischt und mit diesen Vorstellungen ihr Spiel getrieben haben; aber von der Anschuldigung bewußter Fälschung ist K. entschieden freizusprechen. In diese Richtung seiner Studien gehören: „Geschichte zweier Somnambülen“, zuerst 1824; „Die Seherin von Prevorst“, 1829, seither noch 4 mal aufgelegt; „Blätter aus Prevorst“, 1.–12. Sammlung 1831–1839, die Fortsetzung davon bildet „Magikon. Archiv für Beobachtungen aus dem Gebiete der Geisterkunde und des magnetischen Lebens“, 1.–5. Bd., 1840–1853; „Geschichten Besessener neuerer Zeit“, 1834; „Gesichte des Thomas Ignaz Martin, Landmanns zu Gallardon, über Frankreich und dessen Zukunft“, 1835; „Eine Erscheinung aus dem Nachtgebiete der Natur“, 1836; „Nachricht von dem Vorkommen des Besessenseyns“, 1836; „Die somnambülen Tische“, 1853; „Fr. A. Meßmer, der Entdecker des thierischen Magnetismus“, 1856. – Auf festerem Boden steht K. in seinen Schriften über Geschichte und Landeskunde Württembergs. Noch mit seiner medicinischen Thätigkeit hängt zusammen: „Das Wildbad im Königreich Würtemberg“, von 1813 bis 1839 viermal aufgelegt; die Schrift schildert außer dem berühmten Bade selbst auch die landschaftliche Umgebung. 1817 gab K. heraus: „Herzog Christophs (von Württemberg) Leben, geschrieben von seinem Beichtvater (nach dem Drucke von 1660).“ Besonderes Verdienst erwarb er sich um die Auffrischung der localen Traditionen Weinsbergs. Wie er die Erinnerung an die Sage von der Weibertreue dadurch wach zu erhalten bemüht war, daß er die zerfallene Burg, soweit es möglich war, vor dem Untergang schützte, sie zugänglich machte und durch Anlagen verschönerte, so hat er auch das Andenken an den Bauernkrieg erneuert durch das Schriftchen „Die Bestürmung der württ. Stadt Weinsberg durch den hellen christlichen Haufen i. J. 1525“ (1821, 2. Aufl. 1848). An den politischen Bewegungen seiner Zeit und seines Landes hat K. sich wenig betheiligt und lediglich als Gefühlspolitiker, weshalb seine vollständig entgegengesetzte Stellung auch das Freundschaftsverhältniß zu Uhland nicht zu trüben im Stande war. Vor Allem aber ist hier zu nennen Kerner’s reizende autobiographische Schrift „Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Erinnerungen aus d. J. 1786–1804“ (1849 erschienen). Sehr anziehend und romantisch geschrieben, voll Empfindung und Humor, ist das Buch zugleich eine Fundgrube altwürttembergischer Erinnerungen; leider hört es da auf, wo für den wissenschaftlichen Biographen der wichtigere Theil anfangen würde, bei Kerner’s Abgang auf die Universität. – Als Kuriosum und Beweis für Kerner’s große Geistesgewandtheit mag noch erwähnt sein, daß er für den Gebetswunderthäter Alexander Fürsten von Hohenlohe eine Anzahl von Fastenpredigten schrieb, welche dieser 1836 unter seinem eigenen Namen herausgab; wie denn auch in manchen seiner Gedichte der gläubig protestantische K. bewiesen hat, wie leicht es ihm gelang, sich in die Welt des Katholicismus zu versetzen. – Das eigentliche Centrum von Kerner’s Wesen, seine höchste Begabung und seine dauernde Bedeutung liegt in der Poesie und innerhalb derselben wiederum in der Lyrik. Will man ihm seine Stelle in der Geschichte der deutschen Poesie anweisen, so muß man von der Romantik in ihrer späteren Periode ausgehen. In ihr liegt, wie Uhland’s, so auch Kerner’s Ausgangspunkt; nur daß die Wege beider weit auseinandergehen und zwar so, daß K. der echte Romantiker geblieben ist. Phantastischer Humor und grübelnde Mystik, liebevolles Umfassen der Dinge und tändelndes Spielen mit denselben, Weltflucht und Weltliebe wohnen bei ihm hart neben einander; was ihn aber vor anderen Romantikern rühmlich auszeichnet, ist ein [645] warmes und bei aller Neigung zur Melancholie stets unverbittertes, bei allem satirischen Humor wohlwollendes Gemüth, in dem diese Gegensätze ihre Versöhnung finden. Am meisten gehört K. der Romantik in seinen erzählenden Werken an. In erster Linie sind da die „Reiseschatten“ zu nennen, welche 1811 als Kerner’s erstes Buch erschienen; eine durchaus phantastische Reihe von dissolving views, mit manchen persönlichen Beziehungen, als Ganzes allzu ungeordnet, aber im Einzelnen oft von bedeutender Schönheit. Neigen die „Reiseschatten“ mehr nach der Seite des lustigen Humors, so ist das Märchen „Die Heimathlosen“ (zuerst 1816 im Morgenblatt) bei nicht minderer Phantastik durchaus von der sentimentalen Gattung. Daran reihen sich zwei kleine, phantastische dramatische Arbeiten: „Der Bärenhäuter im Salzbade“, worin K. seinen Geisterspuk selbst ironisirt (1837 aus Lenau’s Frühlingsalmanach besonders abgedruckt), und „Der Bär“ oder „Die Bärenritter“, ein mit Uhland gemeinsam verfaßtes komisches Singspiel. – Gewiß am bedeutendsten ist K. als Lyriker; lyrisch gefärbt sind auch die erwähnten Schriften überall, wo die unmittelbare Empfindung zum Ausdruck kommt. Von K. „besorgt“ war der „Poetische Almanach für 1812“; zu diesem wie zu dem 1813 erschienenen „Deutschen Dichterwald“ haben außer K. namentlich die schwäbischen Freunde Uhland und Schwab beigesteuert. 1826 erschienen Kerner’s „Gedichte“, 1834 „Dichtungen“ (vermehrt 1841), die „Lyrischen Gedichte“ allein wieder 1847 und 1854; 1852 „Der letzte Blüthenstrauß“, 1859 „Winterblüthen“. Außer dem, was schon von Kerner’s Dichtung im Allgemeinen gesagt wurde, ist für seine Lyrik besonders charakteristisch die fast zum Ueberdruß oft ausgesprochene Sehnsucht nach dem Tode, welche übrigens stets nur den Charakter sanfter Wehmuth und Ergebung, nie den der Zerrissenheit und des Pessimismus an sich trägt. Charakteristisch ist auch eine sehr rege, oft fast leidenschaftliche Naturempfindung, sowie eine Neigung zum Volksliede, der wir köstliche Lieder verdanken. Selten, aber nicht ohne Glück, schlägt K. auch den Ton ungebrochener Jugendlust oder munterer Schalkheit an. Daß in seinen erzählenden Gedichten romantische Stoffe vorwiegen, ist nach dem Gesagten natürlich; mit wie viel Geschick er in solchen sich bewegen konnte, mag der „Geiger zu Gmünd“ beweisen. Was Gehalt und Form seiner Lieder betrifft, so hat K. die Kunst des Sichtens leider nicht so gut verstanden wie Uhland, und wir begegnen bei ihm manchem, was nur wenig befriedigen kann; immer aber ist noch Vieles übrig, was den Namen echter, gottbegnadeter Lyrik vollauf verdient. K. bohrt sich mehr in die Empfindungen ein, läßt sich mehr fortreißen und schlägt wol auch manchmal stärkere Töne an als Uhland, wie er in Leben und Persönlichkeit der weichere und zugleich leidenschaftlichere von beiden war; mag er daher manchmal mehr Feuer und Wärme zu haben scheinen, so steht er an ruhiger Männlichkeit und künstlerischer Größe, welche die Empfindung nicht unterdrückt, aber mit weisem Maße ihren Ausdruck zu zügeln weiß, weit hinter Uhland zurück, und man mag sich gern dem geistreichen Worte von Strauß anschließen, daß Uhland innerhalb der Romantik wiederum der Klassiker, K. der Romantiker sei.

Kerner’s Schriften sowie die über ihn sind sehr genau aufgeführt bei Goedeke, Grundriß, III. 312–320. Nachzutragen ist jetzt zu den ersteren: die Ausgabe der „Bärenritter“ in Geibel’s Münchner Dichterbuch von 1862, sowie „Ausgewählte poetische Werke“, 2 Bde., Stuttg., Cotta 1878; zu den letzteren die anekdotenreiche Schrift von Kerner’s Tochter Marie Niethammer, „Justinus Kerners Jugendliebe und mein Vaterhaus“, Stuttg., Cotta 1877; sowie, als für Kerner’s und Uhland’s politische Stellung von Interesse, „Aus Briefen von Justinus Kerner an Ludw. Uhland, 1816–1819, 1848“, in den Württemb. Vierteljahrsheften für Landesgeschichte, Bd. I, 217–223.