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ADB:Kleist-Retzow, Hans von

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Artikel „Kleist-Retzow, Hans Hugo von“ von Hermann von Petersdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 191–202, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kleist-Retzow,_Hans_von&oldid=- (Version vom 27. Dezember 2024, 13:39 Uhr UTC)
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Kleist-Retzow: Hans Hugo von Kl.-R., der markanteste Vertreter des altpreußischen Junkerthums in der Bismarck’schen Zeit, wurde am 25. November 1814 zu Kieckow im Kreise Belgard in Pommern geboren und starb ebenda am 20. Mai 1892. Dem altberühmten pommerschen Geschlechte der v. Kleist angehörig, hat er den Namen Kleist-Retzow, unter dem er bekannt geworden ist, erst seit dem 24. Lebensjahre geführt, indem sein Vater Hans Jürgen v. Kleist, geb. 1771, † 1844, Herr auf Kieckow, Gr. Tychow, Kl. Krössin, Gr. Konarzin und Möthlow, Landrath des Kreises Belgard und Erbküchenmeister von Hinterpommern, mit königlicher Genehmigung vom 13. Februar 1839 infolge einer testamentarischen Verfügung seiner (Hans Jürgen’s) Großmutter, der Wittwe des aus dem Siebenjährigen Kriege bekannten Generallieutenants Wolf Friedrich v. Retzow, als Erbe des Retzow’schen Gutes Möthlow im westhavelländischen Kreise für sich und seine Leibeserben Namen und Wappen der v. Retzow annahm. Hans Hugo, genannt Hans, war der jüngste Sohn Hans Jürgen’s, das einzige Kind aus dessen dritter Ehe, die er mit Auguste v. Borcke, verwittweten Frau v. Glasenapp (geb. 1778, † 1847) schloß. Hans Hugo genoß von seinem zehnten Jahre an Unterricht bei einem mehr rationalistisch gerichteten Pfarrer in Gr. Tychow bei Belgard. Im October 1828 brachte ihn sein Vater nach Schulpforta. War bisher seine noch mehr wie die Eltern von den pommerschen Erweckten, den Anhängern der Herren v. Below-Reddentin und Adolf v. Thadden-Trieglaff, angeregte Stiefschwester Liutgarde v. Glasenapp, die spätere Mutter der Fürstin Johanna v. Bismarck, auf sein inneres Leben von besonderem Einflusse gewesen, die u. a. in ihm den Wunsch weckte, dereinst den Beruf eines Missionars zu ergreifen, so schloß er sich in Schulpforta besonders an den Theologen Schmieder, der später Director des Wittenbergischen Predigerseminars und einer der Begründer der inneren Mission wurde, an. Daneben wirkte der Mathematiker Professor Jacobi sehr auf ihn ein. Sein erster Obergeselle war der nachmalige Aegyptologe Richard Lepsius, mit dem er bis an sein Lebensende befreundet [192] blieb. Inniger wurde seine Freundschaft mit seinem Altersgenossen, dem jüngsten Bruder des Historikers Leopold v. Ranke, späteren Marburger Theologen Ernst Ranke. Der Verkehr mit diesem wurde auch für seine religiöse Entwicklung von Bedeutung. K. zeichnete sich bald durch Fleiß und Gaben auf der Anstalt aus und bestand am 1. September 1834 als Primus Portensis die Reifeprüfung, um darauf acht Monate als Freiwilliger beim 5. (Blücher’schen) Husarenregiment in Belgard zu dienen. Dann studirte er, großentheils mit Ernst Ranke sowie dem späteren Superintendenten Freiherrn v. Rechenberg zusammenlebend, in Berlin (Mai 1835 bis October 1836 und Sommer 1838) und Göttingen (Dezember 1836 bis März 1838) die Rechtswissenschaften. Außer juristischen Collegien bei Savigny, Homeyer und Mühlenbruch, von denen besonders Savigny’s Schüler Mühlenbruch für seine Ausbildung wichtig wurde, hörte er auch bei Karl Ritter, Leopold Ranke, Henrich Steffens und Dahlmann, die ebenfalls anregend auf ihn wirkten. In Berlin ging er sehr im geselligen Leben auf; so verkehrte er viel in den Häusern August Twesten’s und des Ministers Eichhorn. Gleichzeitig fand er Anschluß an die Kreise des frommen Barons v. Kottwitz, in dessen Hause er viel des Sonntags war. Sein Aufenthalt in Göttingen fiel in die Zeit der Feier des hundertjährigen Bestehens der Georgia Augusta und des Auszugs der Sieben. Er hat damals, wie es scheint, im wesentlichen eine neutrale Haltung im Gegensatz zu der großen Mehrzahl der Studenten bewahrt. Im Herbste 1838 wurde er Kammergerichtsauscultator beim Stadtgericht in Berlin, 1840 Referendar beim Oberlandesgericht zu Frankfurt a. O. unter dem Vicepräsidenten Ludwig v. Gerlach. Die Berührung mit diesem und dessen Bruder Leopold, der damals als Chef des Generalstabes des 3. Armeecorps ebenfalls in Frankfurt stand, wurde für ihn von großer Bedeutung, desgleichen die Freundschaft, die er in Frankfurt mit dem damaligen Referendar, späteren Kreuzzeitungsredacteur Hermann Wagener schloß. Ludwig Gerlach’s richterliche Thätigkeit sowol wie dessen kirchliche Anschauungen und überhaupt dessen ganze Persönlichkeit machten einen außerordentlichen Eindruck auf ihn. Mit Wagener ging er zusammen zur Vorbereitung für das Assessorexamen im J. 1843 nach Berlin. Beide verkehrten dort viel mit dem damaligen Privatdocenten, späteren Professor der Theologie Kahnis, dem Assessor, späteren Geheimrath Bindewald und sonstigen streng religiös gerichteten Altersgenossen. Damals trat K. auch in Beziehungen zu dem nachherigen Geheimrath Schede, mit dem ihn in der Folge die engste Freundschaft verbinden sollte. Am 3. September 1844 bestand K. das Assessorexamen. Die Prüfungscommission rühmte in ihrem Bericht an den Minister u. a. bei ihm die „Gabe des mündlichen Vortrages“. Schon einige Zeit vorher war K. gegen eine starke Minderheit an Stelle seines am 13. März 1844 verstorbenen Vaters zum Landrath des Kreises Belgard gewählt und am 20. August auch ernannt worden. Unter dem 1. October wurde ihm die Ernennung zugestellt. Er widmete sich sofort mit großem Eifer der Verwaltung seines Kreises, die er sieben Jahre führen sollte, und bewirthschaftete daneben die von seinem Vater ererbten Güter Kieckow und Kl. Krössin. Eine bemerkenswerthe Unterbrechung dieser Zeit bildete die Reise, die er im Herbst 1847 zusammen mit Ludwig v. Gerlach und Thadden-Trieglaff durch Baiern, die Schweiz und den Rhein hinunter unternahm. Sie bezeichnet etwa den Abschluß seines innerlichen Werdeganges. Seitdem war er mit sich, religiös und politisch, so gut wie fertig. An den gewonnenen Anschauungen, zu denen er sich, was die religiösen anbelangt, mit heißem Bemühen, dem zum Theil nicht ein asketischer Zug fehlte, durchgerungen hatte, hielt er sein Lebenlang unverrückbar fest.

[193] Gleich darauf, im J. 1848, wurde er in die politische Arena gerufen, um Zeugniß von seinem Können und Denken abzulegen. Er zeichnete sich damals durch ungewöhnliche Entschlossenheit und sichere Haltung aus. Er war es, der durch eine von ihm angeregte Adresse des Belgarder Kreistages an den nach England geflüchteten Prinzen von Preußen, in der dieser um seine Rückkehr ersucht wurde, das Signal zu einer ganzen Reihe ähnlicher Kundgebungen gab. Die erfreute Antwort, die er vom Prinzen erhielt, ist ihm vielleicht das kostbarste Document geworden, das ihm in seinem öffentlichen Leben zu theil wurde. Eine hohe Freude war es gleichfalls für ihn, als der bald darauf heimgekehrte Prinz und noch mehr dessen Gemahlin, die Prinzessin Augusta, ihm als Vertreter des Kreises in Stettin in auffälliger Weise ihren Dank wiederholten. Der Prinz behielt einige Zeit mit ihm politische Fühlung. K. war dann zugegen, als im Sommer 1848 in Reinfeld im Garten von Bismarck’s Schwiegervater Heinrich v. Puttkamer eine Berathung zur Abwendung der dem Lande durch die Revolution drohenden Gefahr stattfand, an der außer ihm und dem Gutsherrn noch Bismarck und Herr v. Below-Hohendorf theilnahmen. Below regte die Berufung eines Gegenparlamentes gegen die preußische Nationalversammlung an und Kleist wurde beauftragt, den mit seinem Vater befreundeten agrarischen Schriftsteller v. Bülow-Cummerow, der unter seinen Standesgenossen wegen der Beweglichkeit seines Geistes und seiner fruchtbaren Feder außerordentlich angesehen war, zur Berufung dieses Gegenparlaments zu veranlassen. Bülow ging darauf ein, und so kam das vielberufene Junkerparlament zustande, das am 18. und 19. August 1848 in Berlin tagte und dessen Vorsitzender Kleist wurde. Dies sollte für seine Laufbahn entscheidend werden. Auch nach dem Urtheile der Gerlachs, denen die ganze Versammlung und insbesondere Bülow weniger zusagte, erwies sich K. als ein ausgezeichneter Präsident. Ebenso zeigte er, daß er ein tüchtiger Redner war, der namentlich agrarische und verwaltungsrechtliche Materien beherrschte. Mit einem Schlage wurde er jetzt allgemein bekannt. Das Junkerparlament aber erwies sich als eine fruchtbringende That, wie Leopold Gerlach später rückschauend notirte: „als die Basis und der Anfang der kleinen, aber mächtigen Partei“. Anfangs sah es so aus, als sollte Kleist’s Haltung auf dem Junkerparlament üble Folgen für ihn nach sich ziehen. Die Kritik der agrarischen Gesetze Hansemann’s auf der Tagung hatte zur Folge, daß K. von dem Minister des Innern, Kühlwetter, in eine Disciplinaruntersuchung gezogen wurde. Der bald darauf an Kühlwetter’s Stelle tretende Minister Eichmann schlug jedoch das Verfahren sofort nieder. Kleist’s kühnes und sicheres Auftreten ließen in der Kamarilla den Gedanken entstehen, bei Bildung des Ministeriums Brandenburg K. zum Minister des Innern vorzuschlagen. Doch verhielt sich K. dagegen ablehnend, weil er sich noch nicht einer solchen Aufgabe gewachsen fühlte; dies brachte ihm einen Vorwurf Bismarck’s ein, der ihm Entschlossenheit als das einzige Erforderniß der Zeit bezeichnete. Nach Auflösung der preußischen Nationalversammlung wurde K. in die Kammer gewählt. Der Prinz von Preußen schrieb ihm bei dieser Gelegenheit eigenhändig ein herzliches Glückwunschschreiben. Gleich darauf (Februar 1849) sondirte ihn Leopold v. Gerlach aufs neue wegen Uebernahme eines Ministeriums, und zwar sollte er das landwirthschaftliche übernehmen. K., der Zeit seines Lebens persönlich eine große Bescheidenheit bekundete, lehnte indes einstweilen abermals ab. Bei Eröffnung der Kammer setzte er einen amtlichen Gottesdienst im Dom durch. Zur selben Zeit veranlaßte er in Belgard die Gründung eines conservativen Blattes, „Der Pommer“, an dem er selbst mitarbeitete, [194] das aber bald wieder einging. Eine Erklärung, die er darin während eines Wahlkampfes gegen einen liberalen Gutsbesitzer erließ, brachte ihm eine Verurtheilung zu sechs Monaten Festung ein, welche Strafe in zweiter Instanz in eine Geldbuße umgewandelt und schließlich im Gnadenwege erlassen wurde. Bei der Gründung der Kreuzzeitung im Frühjahr des Jahres 1848 war er unter den eifrigsten und erfolgreichsten Förderern dieses großen Unternehmens, nachdem er schon im J. 1847 lebhaft das Bismarck’sche Project zur Gründung einer conservativen Zeitung, das nicht zur Ausführung gebracht wurde, unterstützt hatte. Der Kreuzzeitung blieb er fortan ein einflußreicher Berather und hat bis in seine letzten Lebensjahre an ihr mitgearbeitet.

Bis zum Jahre 1853 gehörte K. der zweiten Kammer für den Wahlkreis Belgard-Neustettin-Schivelbein-Dramburg, durch königliche Berufung 1850 auch dem Staatenhause in Erfurt an. Er trat sehr bald als feuriger Wortführer der äußersten Rechten hervor. Er gehörte zu der kleinen Minderheit, die gegen die Annahme der Kaiserkrone stimmte. Bei dem Eide auf die Verfassung, der ihm in hohem Grade bedenklich schien, erließ er mit einigen Gesinnungsgenossen eine Sondererklärung. Die Entschließungen des Königs bei Erlaß der Botschaft wegen der Eidesleistung auf die Verfassung wurden von ihm noch in letzter Stunde wesentlich beeinflußt im Hinblick auf die künftige Bildung des Herrenhauses. An dieser selbst hat er auch nachher, insbesondere im J. 1852, unter unmittelbarer Berathung des Königs, einen hervorragenden Antheil genommen. Die Consequenz und Beharrlichkeit, mit der er bei diesen Gelegenheiten verfuhr, nicht minder wie seine Beredsamkeit übten auch auf einen so einsichtvollen Beobachter, wie den 24 Jahre älteren General Leopold v. Gerlach, einen außerordentlichen Eindruck aus. Bei den parlamentarischen Verhandlungen trat er insbesondere bei der Communalgesetzgebung und bei dem Ablösungsgesetz hervor. Auch Graf Brandenburg dachte in dieser Zeit (Januar 1850) daran, den jugendlichen Landrath ins Ministerium zu nehmen, und Friedrich Wilhelm IV. war bereit, ihm das landwirthschaftliche Ministerium zu geben. Dem widersetzte sich indeß namentlich der Kriegsminister v. Stockhausen wegen der pietistischen Richtung Kleist’s. Jedoch im December 1850 candidirte dieser wieder ernstlicher mit Otto v. Manteuffel’s Einverständniß für den Posten des Ministers des Innern. Diesmal entschied sich der König aber für Westphalen. Kleist’s Pietismus und die Energie, mit der er ihn verfocht, erschien auch Manteuffel in der Folge zu weitgehend. K. brachte es fertig, daß der Minister v. d. Heydt einen Ball in der Fastenzeit, zu dem bereits die Einladungen ergangen waren, absagen ließ zum höchsten Verdruß der jungen Welt. Im nächsten Jahre versuchte er dasselbe bei dem russischen Gesandten v. Budberg zu erreichen, jedoch mit weniger Glück. Infolgedessen griff er Budberg in der Kreuzzeitung an, was fast zu diplomatischen Verwicklungen führte. Angesichts dieses Pietismus trug Manteuffel schließlich Bedenken, K. auch nur ein Regierungspräsidium zu übertragen. Es war der Einspruch Bismarck’s, der diese Bedenken beseitigte. Infolgedessen wurde K. am 26. Juni 1851 zum Regierungspräsidenten in Köslin ernannt. Er hat diesen Posten indeß nie angetreten. Denn schon am 3. Juli entschloß sich Manteuffel, wie Leopold v. Gerlach am 13. Juli 1851 bucht, ganz selbständig, den kaum Sechsunddreißigjährigen zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz zu ernennen, namentlich um mit seiner Hülfe die rheinische Gemeindeordnung abzuschaffen. Mitgewirkt zu diesem auffälligen Entschlusse hat höchst wahrscheinlich der Hausminister Graf Anton Stolberg.

In dieser Zeit seiner ersten parlamentarischen Thätigkeit freundete sich K. auf das innigste mit Bismarck, dem Schwiegersohn seiner geliebten Stiefschwester [195] Liutgarde, an, den er am 4. October 1844 auf der Hochzeit seines gleichgerichteten Freundes Moritz v. Blanckenburg kennen gelernt hatte und der ihm seitdem schon sehr nahe gekommen war. K. und Bismarck wurden damals förmlich Inseparables und ihre Namen fast immer zusammen genannt. Soweit die conservative Partei volksthümlich war, gründete es sich großentheils auf die männlichen, siegesgewissen, stolzen und frischen Reden dieser beiden. Gerade in dem Pietismus Kleist’s lag auch seine fröhliche zuversichtliche Haltung begründet. Innerhalb der Partei nahmen die beiden eine gewisse Sonderstellung ein, und die Gerlachs sahen in ihnen bereits die conservative Partei der Zukunft. Zum großen Verdruß dieser Gebrüder war K. ebenso wie Bismarck durchaus nicht mit der matten Haltung der Regierung in den Olmützer Tagen einverstanden und sehr geneigt, einer kriegerischen Haltung das Wort zu reden. Seit dem August 1849 führten die beiden in Berlin eine gemeinsame Junggesellenwirthschaft, da Bismarck’s Frau in Schönhausen geblieben war. Charakteristisch für Kleist’s beherrschende Natur ist es, daß es sogar einem so selbständigen Manne, wie Bismarck es war, außerordentlich schwer fiel, in den täglichen Lebensgewohnheiten ihm gegenüber seine Unabhängigkeit zu behaupten, und daß Bismarck sich mancherlei von ihm gefallen lassen mußte. Daß sie trotzdem zwei Jahre hindurch – bis daß Bismarck nach Frankfurt a. M. versetzt wurde – in dem besten Verhältniß von der Welt miteinander blieben, beweist aber auch mehr als alles andere, wie nahe sie sich standen. Der überaus rege politische und kirchliche Verkehr, den der von einem ungewöhnlichen Thätigkeitstrieb erfüllte K. unterhielt, störte den Frieden dieser „Ehe“, wie Bismarck das Zusammenleben nannte, weniger, als der Zwang, den K. auf das kirchliche Leben und die religiösen Ansichten der anderen Hälfte auszuüben suchte, obwol der Gatte Johanna’s v. Puttkamer vielleicht gerade in jenen Jahren mit dem Pietismus die meiste innere Gemeinschaft gehabt hat. Es ist aber nicht zu bezweifeln, daß K. nicht nur in jenen Jahren, sondern auch noch lange nachher bis in die Ministerzeit Bismarck’s hinein Einfluß auf dessen Stellung zur Religion gehabt hat, wenn auch nicht so viel, als Bismarck’s „lieber Hans“ selbst sich in seiner Treuherzigkeit einreden mochte. Zu Zeiten ist K. wirklich für Bismarck keeper of his conscience gewesen, wie sich Ludwig Gerlach einmal ausdrückt. Trotz seiner inneren Heiterkeit hatte K. damals bereits ein äußerst würdiges Wesen, das ihn über seine Jahre alt machte, wozu noch kam, daß er schon damals ganz graue Haare hatte. „Der kleine graue pommersche Landrath“, sagt er selbst einmal von sich im J. 1851. Auch fehlte ihm der Humor ganz, der ihn bei anderen herzlich erquicken konnte. Seine Freunde und er selbst hatten es schon fast aufgegeben, daß er sich noch verheirathen würde. Da verlobte er sich am 4. Mai 1851 noch kurz vor Bismarck’s Versetzung nach Frankfurt a. M. mit der am 27. März 1821 geborenen Probeschwester im Diakonissenhause Bethanien zu Berlin, Gräfin Charlotte v. Stolberg-Wernigerode, der Tochter des damaligen Hausministers Graf Anton v. Stolberg, und führte sie am 24. Juli 1851 als Frau heim, ein Schritt, der ihn sehr glücklich machen sollte.

Seine Berufung an die Spitze der Verwaltung der Rheinlande empfing ihren besonderen Sinn durch die Thatsache, daß er an die Stelle des liberalen Rudolf v. Auerswald neben den Hof des Prinzen und der Prinzessin von Preußen gesetzt wurde und gewissermaßen ein Gegengewicht gegen dessen liberalisirenden Einfluß bilden sollte. Der von der Kamarilla selbst anfangs gepriesene Schachzug sollte sich indeß als ein sehr übler Mißgriff erweisen. Denn K. rieb sich, soweit sich bisher erkennen läßt, bei dem Versuch, die ihm gestellte Aufgabe durchzuführen, förmlich auf, was einmal in dem großen [196] Einfluß, den das prinzliche Paar in den Rheinlanden und am Hofe behauptete, dann aber auch in der für die rheinischen Verhältnisse wenig geeigneten Persönlichkeit Kleist’s selbst seine Ursache hatte.

K. ging mit wahrem Feuereifer an seine neue Mission, der er sich, wie seinem Landrathsamt, auch sieben Jahre widmen sollte. Doch dauerte es nicht lange, so hatte er überall angestoßen. Durch sein pietistisches Wesen verdarb er es gerade mit vielen der führenden Katholiken, die durch die darin enthaltene Confessionalität unangenehm berührt wurden. Die rheinische Bevölkerung in ihrem leichten Sinn konnte das ernste puritanische Wesen, das aus Kleist’s Verwaltung sprach, gar nicht vertragen. Einen Sturm erregte es, als er es einzuführen suchte, das öffentliche Feste durch ein Gebet eröffnet wurden, das ein evangelischer Geistlicher oder der Oberpräsident sprach. Der patriarchalische Zug, der sich hierin und auch sonst auf Schritt und Tritt in Kleist’s Verwaltung bemerkbar machte, vertrug sich wenig mit der Luft am Rhein. Die Gestaltung des rheinischen Preßwesens, wie sie K. anstrebte und vielfach auch erreichte, weckte allenthalben Verstimmung, ebenso die Umgestaltung der rheinischen Gemeindeordnung und die Einführung einer besonderen Städteordnung für die Provinz im Sinne des Ministeriums. Die liberalen Beamten, die K. vielfach vorfand, erschwerten ihm auch nach Möglichkeit jedes ersprießliche Wirken und fanden dabei am prinzlichen Paare einen starken Rückhalt. Die Thatsache, daß es durch das enge Zusammenleben mit dem prinzlichen Paare, das über dem Oberpräsidenten im Koblenzer Schlosse wohnte, vielfach zu üblen Mißverständnissen vornehmlich mit der Prinzessin kam, bei denen sich K. als Vertreter des Königs nichts vergeben zu dürfen glaubte, die Prinzessin aber ihrer damaligen starken Abneigung gegen die schroff-conservative Persönlichkeit des Oberpräsidenten sehr deutlichen Ausdruck zu geben pflegte, verschlimmerten die Verhältnisse. Es half nichts, daß K. sich im Laufe der Jahre mit einem Stabe tüchtiger und ihm homogener Beamten umgab. Gerade die wichtigste Persönlichkeit, deren Berufung er nach langen Kämpfen durchsetzte, der feingebildete, fromme und arbeitsame Vicepräsident Schede, war durchaus nicht die geeignete Kraft, die ihn vertreten konnte. Das machte sich um so fühlbarer, als K. nicht nur viel von Koblenz abwesend sein mußte, sondern auch wiederholt längere Zeit erkrankte. So lag er im J. 1856 in Düsseldorf mehrere Monate auf den Tod darnieder, und auch im J. 1857 mußte er längere Zeit völlig ausspannen. Sein Hauptwidersacher wurde der vom Prinzen von Preußen sehr ausgezeichnete begabte Regierungospräsident in Köln, v. Möller, der spätere Oberpräsident in den Reichslanden. Aber auch mit seinem Freunde, dem späteren Cultusminister v. Bethmann-Hollweg, kam K. am Rhein auseinander, namentlich, weil sich Bethmann gegen die Wiederberufung der Provinzialstände sträubte. Bei der Fülle der Arbeit, die ihm erwuchs, hielt K. es sehr bald für gerathen, auf seine parlamentarische Thätigkeit zu verzichten, so gern man in Berlin deren Fortsetzung gesehen hätte. Auch waren ihm die öfteren plötzlichen Berufungen in die Hauptstadt gar nicht lieb, weil eine Unterbrechung seiner Verwaltungsthätigkeit ihm wenig nach dem Herzen war. Ueber all dem Widerstand und Widerspruch, den er in seiner rheinischen Thätigkeit erfahren hat, ist das Gute, was ihm trotz allem gelang, nicht genügend beachtet worden. So war es durchaus segensreich, daß er confessionelle Schulen einführte. Hierdurch vor allem, aber auch durch sonstige Maßnahmen, wurde das evangelische Bewußtsein in den Rheinlanden gestärkt. Auch eine von ihm erlassene Anweisung zur Ausführung der Schulregulative bewährte sich. Ebenso konnten seine Vorkehrungen zur Einschränkung der lärmenden Vergnügungen und zur Sonntagsheiligung trotz einiger Mißgriffe nur nützlich [197] wirken. Seiner Energie war die Aufhebung der Aachener Spielbank zu danken. Andrerseits war er wie die Gerlachs auch kein Freund eines allzu eifrigen Polizeiregiments und verhinderte im Einvernehmen mit Leopold Gerlach die Ernennung von Hinckeldey’s gelehrigem Zögling Stieber zum Polizeipräsidenten von Köln. Auch auf agrarischem Gebiete wirkte er sehr heilsam, ebenso in Tagen der Noth, so bei Gelegenheit einer Ueberschwemmung am Niederrhein (1855). Schließlich bereitete ein Zwist mit Möller seinen Fall vor. Einige Wochen nach Uebernahme der Regentschaft durch den Prinzen von Preußen, am 17. November 1858, wurde er zur Disposition gestellt. In seiner vornehmen Art träufelte der Regent Balsam in die schwere Wunde, die dem in der Fülle der Kraft stehenden Manne durch diese Inactivirung zugefügt wurde, indem er ihn versicherte, daß K. hierin nicht ein Zeichen seiner Ungnade zu finden habe, sondern daß er den ehrenhaften Gesinnungen und der treuen Hingabe für Thron und Vaterland, welche K. zu allen Zeiten bewährt, sowie dem Ernst und der Lauterkeit seiner Bestrebungen volle Anerkennung widerfahren lasse. Nur habe „er sich der von dem Staatsministerium ausgesprochenen Ueberzeugung nicht verschließen können, daß K. in der Totalität seiner Anschauungen und Auffassungen sich mit den Verhältnissen der Rheinprovinz nicht in dem Einklange befinde, durch welche eine wahrhaft ersprießliche Wirksamkeit bedingt werde“.

K. fand sich mit bemerkenswerther Ruhe in sein Schicksal. Er war sich wol schon damals einigermaßen bewußt, daß er auf dem verlornen Posten, auf den ihn das Ungeschick seiner nächsten Freunde gestellt hatte, seine Kraft nicht recht entfalten konnte. Lange Jahre später hat er in Aufzeichnungen über sein Leben von dieser Periode selbst gestanden, daß er nicht die in solcher Stellung nöthige Diplomatie und Vorsicht, die eben ganz seinem Wesen widersprechend war, gezeigt habe. Nach Berufung eines vorwiegend liberalen Ministeriums waren die Aussichten für eine gedeihliche Thätigkeit am Rhein für ihn noch geringer. Er war daher froh, daß nicht sein Widersacher Möller zu seinem Nachfolger ernannt wurde, was in der That die schroffste Verleugnung seiner Amtsthätigkeit gewesen wäre, sondern eine neutrale Persönlichkeit, und schritt guten Muthes in den neuen Lebensabschnitt, indem er zunächst auf seine Güter nach Pommern ging. Seine Thatkraft hatte durch seinen Mißerfolg am Rhein nicht den mindesten Stoß erlitten. Freilich war er in den sieben schweren Koblenzer Jahren noch ernster geworden.

Es eröffnete sich für ihn gleich ein neuer großer Wirkungskreis, in dem er seine stärkste Gabe, seine feurige Beredsamkeit, uneingeschränkt zur Geltung bringen konnte. War er doch kurz vorher, ehe er aus Koblenz schied, durch königlichen Erlaß vom 1. Februar 1858 infolge der Präsentation der Familie v. Kleist zum Mitgliede des Herrenhauses ernannt worden, und sollte doch gerade in den nächsten Jahren diesem gesetzgebenden Factor eine besondere historische Rolle zufallen.

Erst war es die liberale Gesetzgebung, der er sich entgegenstemmte. So half er mit Erfolg die vom Grafen Schwerin geplante Kreisordnung hintertreiben, nicht ohne dabei positive Verbesserungsvorschläge anzugeben. Er widersprach der Einführung der Wucherfreiheit. Aber auch die Aufhebung der pommerschen Lehen, die ein großer Theil seiner Gesinnungsverwandten, so auch Thadden, für zeitgemäß hielt, wurde von ihm eifrig bekämpft. Ein von ihm zusammen mit seinem alten Lehrer Homeyer und Anderen entworfener Gesetzentwurf, durch den er die auch von ihm zugestandenen Mängel des Lehnswesens zu beseitigen gedachte, fiel durch. Vergeblich bekämpfte er auch die Grundsteuer, an deren Stelle er den englischen Verhältnissen entsprechend eine [198] erhöhte Einkommensteuer vom fundirten Einkommen befürwortete. Nach dem Tode Stahl’s wurde er der unbestrittene Führer der von diesem begründeten Fraction des Herrenhauses. Als solcher fand er namentlich in dem Militärconflict Gelegenheit, die Krone zu stützen. Daß der Träger dieser Krone der Mann war, der ihm in Koblenz viel bittere Stunden bereitet hatte und dem er auch jetzt noch in den Anschauungen sehr fern stand, kümmerte ihn nicht im geringsten. Je schwieriger die Lage für die Regierung wurde, um so mehr reizte es ihn, sich für sie einzusetzen. „Als ich die Minister gestern vor dem tobenden Hause sah“, schrieb er am 11. September 1862 an Ludwig Gerlach, „da durchzuckte mich die Lust solchen Kampfes“. Roon ist von ihm wesentlich bestärkt worden, auf die Berufung Bismarck’s hinzuarbeiten. Als Bismarck ernannt war, sagte ihm K.: er wolle nicht über die Schwierigkeiten des neuen Amtes mit ihm reden, sonst ginge es ihm wie dem Petrus auf dem Meer in der Morgenlection jenes Tages beim Anblick der großen Wellen, er solle nur in allen Stücken über die Wellen fort allein auf den Herrn sehen und hinzu nehmen die gleich darauf folgende Erzählung von der Heilung des Aussätzigen auf seinen Ruf an den vorübergehenden Herrn „Herr hilf mir“. Deshalb unausgesetztes Gebet täglich, bei jeder Sache. „Es bewegte ihn innerlich“, so fuhr er in seinem Bericht über diese Unterredung mit dem alten Freund an Ludwig Gerlach vom 4. October 1862 fort, „denn ihm gingen die Augen über, und er fragte: meinst du, daß ich das nicht thue?“ Mit Begeisterung und voller Bewunderung für dessen kühne Sicherheit hat er Bismarck in dem Kampfe gegen die parlamentarischen Herrschaftsgelüste beigestanden. Nicht minder folgte er ihm in der schleswig-holsteinschen Sache voll stolzer Freude, im Gegensatz zu Ludwig Gerlach, der sein Vertrauen zu Bismarck zu erschüttern suchte. Auch bei der Polenfrage im Frühjahr 1863 unterstützte er Bismarck wirksam. Doch als es zum Kriege mit Oesterreich ging, vermochte er ihm nur widerstrebend zu folgen. Am Feldzuge nahm er als Johanniterritter theil. Er war seiner Zeit derjenige gewesen, der die Wiederaufrichtung des Ordens der Johanniter angeregt und insbesondere seinen Schwager Graf Eberhard Stolberg zu deren Betreibung beim Könige Friedrich Wilhelm IV. vermocht hatte. Mit ganzer Seele war er bei der Liebesthätigkeit im Felde. Seiner Obhut unterstanden die zahlreichen Lazarette zu Görlitz. Er hatte am 20. September 1859 als Rittmeister seinen Abschied vom Militär genommen und trug daher das weiße Kreuz auf der Uniform eines Rittmeisters der Landwehrcavallerie.

Als nach dem Feldzuge die Indemnitätsvorlage eingebracht wurde, erlitt sein Verhältniß zu Bismarck den ersten empfindlichen Stoß. Er war durchdrungen davon, daß nicht nur das sachliche, sondern auch das formelle Recht in dem langen erbitterten Streite auf Seiten der Krone gewesen wäre, und konnte es nicht verwinden, daß man den Gegnern goldene Rückzugsbrücken baute. Das schien ihm eine schwächliche Nachgiebigkeit, die nicht ohne schweren Schaden für die Monarchie bleiben konnte. Er hat alles darangesetzt, die große staatsmännische Absicht des Ministerpräsidenten, von der er vorzeitig Kenntniß erhielt, zu vereiteln. Das von Bismarck verfolgte und erreichte Ziel der Versöhnung und Annäherung der Liberalen lag gänzlich außerhalb seiner Berechnungen. Den Liberalen gegenüber hielt er Unversöhnlichkeit als die einzige innezuhaltende Richtschnur. Doch die herzliche persönliche Gemeinschaft zwischen den beiden Freunden erhielt sich trotz dieser allerdings sehr tief gehenden sachlichen Meinungsverschiedenheit noch einstweilen. Gleichzeitig rückte K. aber von seinem alten Freunde Ludwig Gerlach ab, der die Eroberungspolitik Bismarck’s bis aufs Blut bekämpfte. K. empfand zu sehr als Preuße, [199] um diesen Doctrinarismus Macht über sich gewinnen zu lassen; und wenn Ludwig Gerlach seinem alten Schüler zwar an Geistesschärfe und Ideenreichthum überlegen war, so erwies sich K. doch ungleich mehr auf das Positive gerichtet. Ebenso verfolgte K., wenn auch von seiner hinterpommerschen Heimath aus, mit Begeisterung die Krönung des Einigungswerkes im J. 1870. Er entwarf die Adresse des Herrenhauses, in der Wilhelm I. von diesem um die Annahme der Kaiserkrone gebeten wurde. Nach dem Frieden brachte jedoch der kirchenpolitische Streit den Bruch zwischen ihm und Bismarck. Es sind ohne Frage beide Theile daran schuld, daß dieses innige Freundesband zerrissen wurde. Bismarck’s überreizte Nerven führten den Bruch vorschnell herbei. K. hingegen ist nach seiner ganzen Art zu starr gewesen. Nicht nur sachlich hätte er dem Kanzler als Führer des Herrenhauses wol entgegenkommen können, er hätte vor allem auch diplomatischer mit ihm umgehen müssen. So aber brachte er sich nicht nur selbst um jene herzliche Stellung zu dem leitenden Staatsmanne, sondern er schädigte auch seine Parteisache, indem Bismarck dadurch nur noch mehr von den Conservativen entfernt und die Herrschaft des Liberalismus weiter gestärkt wurde. Es wäre Kleist’s Aufgabe gewesen, Bismarck zu fesseln, anstatt ihn abzustoßen. Der Bruch erfolgte bei den Berathungen über das Schulaufsichtsgesetz zu Anfang des Jahres 1872. K. wurde dabei vom Herrenhaus zum Referenten bestellt. Er hat es gefühlt, daß er in diesem Falle nicht der rechte Mann dafür war, und sich gesträubt, den Auftrag anzunehmen. Insofern trifft das Herrenhaus mit die Schuld. Einmal im Zuge, kannte K. nur Verfechtung aller seiner Grundsätze bis in ihre äußersten Consequenzen. So kam es dazu, daß Bismarck das „Tischtuch“ zwischen ihnen Beiden für „zerschnitten“’ erklärte (5. März 1872).

Es lag eine Tragik für Bismarck darin, daß er sich mit diesem Herzensfreunde überwarf. Eine noch tiefere Tragik bestand aber darin für K., in dessen Dasein das Verhältniß zu dem Kanzler einen viel größeren Platz einnahm und einnehmen mußte, als umgekehrt im Dasein Bismarck’s dessen Verhältniß zu K., so groß dieser Platz auch gewesen ist. Es hat etwas Rührendes, zu sehen, wie schmerzlich der tapfere und fromme Junker die Trennung empfand, wie er still im Innern stets die Hoffnung nährte, daß es wieder ins Gleichgewicht zwischen ihm und dem gewaltigen Manne kommen würde, und wie er unablässig jede schick1iche Gelegenheit ergriff, die Bande wieder anzuknüpfen. Freilich verharrte er in dem ganzen kirchenpolitischen Streite in schroffer Opposition. Das war unausbleiblich. Dadurch wurde Bismarck natürlich noch mehr gereizt, sodaß auch der Familienverkehr der Beiden unterbrochen wurde. Immerhin schlossen die kirchenpolitischen Differenzen der Beiden es nicht aus, daß sie gleichzeitig gemeinsame Sache in einer Frage der Verwaltungspolitik machten. Bei der Eulenburg’schen Kreisordnungsreform, die K. mit aller Kraft zu hintertreiben suchte, hat Bismarck hinter den Coulissen indirect mit ihm zusammen operirt, um das in seinen Augen unheilvolle Werk seines Collegen im Ministerium zu vereiteln.

K. wandte sich im Verlaufe der Dinge immer mehr religiösen Bestrebungen su. Er war ein eifriger und erfolgreicher Förderer der Inneren Mission und trat als solcher früh in herzliche Beziehungen zu Wichern. Durch unermüdliche Thatkraft gab er auch in dieser Beziehung weithin, namentlich in den Kreisen seiner Standesgenossen, ein leuchtendes Beispiel. Sein Wohlthätigkeitssinn kannte keine Grenzen. Unzählige Male mußte er dabei Enttäuschungen erleben. Aber niemals fiel es ihm ein, einen Stein auf jemand zu werfen, der sich seiner Wohlthaten unwürdig gezeigt hatte. Selbst geschädigt, hatte er nur Mitgefühl mit den Andern. Daneben beschäftigten ihn [200] unausgesetzt kirchliche Organisationsfragen. Die Angliederung Schleswig-Holsteins, Hannovers und Hessen-Nassaus ließen in ihm, der alle Zeit als Jünger der pommerschen Erweckten ein ausgesprochener Lutheraner und ein Gegner der Union war, die Hoffnung auf eine Einigung der evangelischen Kirche auf Grundlage des Lutherthums entstehen. Er hat unendlich viel Kraft auf die dahingehenden Bestrebungen verwandt, die schließlich im wesentlichen unfruchtbar blieben. Sie hatten aber zusammen mit seinem Auftreten im Herrenhause den Erfolg, daß sein Name unter der lutherischen Geistlichkeit im Lande und in einigen religiös besonders angeregten Gegenden von einer mächtigen Wirkung war. Namentlich trug seine Thätigkeit auf der Generalsynode von 1875, bei der er geradezu den Mittelpunkt bildete, dazu bei, sich den Gemüthern einzuprägen. So kam es, das dem 63jährigen pommerschen Junker, der in seiner Gegend vorher wiederholt vergeblich für den Reichstag candidirt hatte, von dem westfälischen Wahlkreise Herford-Halle ein Mandat zum Reichstage angeboten wurde. K. lehnte erst ab, einmal weil es ihm in seiner Gewissenhaftigkeit schwer fiel, zwei Mandate zu vereinigen, zumal da er sich bei aller Schlichtheit seiner Lebensweise in seinen Geldmitteln beengt fühlte, dann aber auch, weil es ihm widerstrebte, seine Opposition gegen Bismarck noch mehr auszudehnen, außerdem, weil er sich bewußt war, daß er inmitten seiner Standes- und Parteigenossen stetig mehr vereinsamte. Hatte man ihn doch bei der Neuorganisation der conservativen Partei im J. 1875 absichtlich nicht aufgefordert, an den vorbereitenden Besprechungen theilzunehmen, weil sein Puritanerthum die modernen Junker abschreckte; und empfand er selbst doch nicht so agrarisch, wie neuerdings die Mehrheit des Landadels. Erst nach seiner am 10. Januar 1877 erfolgten Wahl gab er dem Drängen seiner kirchlichen Freunde nach und entschloß sich zur Annahme des auf ihn gefallenen Mandats. Er hat seitdem den Kreis Herford-Halle bis zu seinem Tode vertreten.

Die Cursänderung, die Bismarck im J. 1878 herbeiführte, brachte wieder eine Annäherung zwischen Beiden zuwege. K. wurde einer der beredtesten Vertheidiger des Socialistengesetzes und begrüßte begeistert die Einleitung der socialpolitischen Gesetzgebung, an der er einen äußerst positiven Antheil nahm. Mit besonderer Genugthuung erfüllte es ihn, in der Frage der Sonntagsruhe, deren Lösung von ihm schon mit thatkräftiger Hand in Angriff genommen wurde, als noch nirgends rechtes Verständniß dafür vorhanden war, allmählich zu positiven Ergebnissen zu gelangen. Ebenso war es ihm eine Freude, die Wuchergesetzgebung wirksam zu beeinflussen. Die rege und erfolgreiche Unterstützung der Regierungspolitik führte ihn auch seinem Monarchen wieder näher, der ihm allezeit mit Gnade begegnet war, aber es bezeichnenderweise unterlassen hatte, die außerordentliche Kraft Kleist’s wieder im Staatsdienst zu verwenden, obwol Bismarck dies, nach einer Aeußerung gegen G. v. Diest, angestrebt hat. Ob hierbei retardirende Einflüsse dritter Personen, die Mißklänge aus der Koblenzer Zeit nicht vergessen konnten, mitspielten, entzieht sich heute noch der Beurtheilung. Möglich, daß Bismarck daran gedacht hat K. mit dem landwirthschaftlichen Ministerium zu betrauen, für das dieser auch während seiner Oberpräsidialzeit immer wieder als Candidat genannt wurde. Allmählich mochte K. zu alt erscheinen, um ihn noch in eine amtliche Stellung zu berufen. Dafür bewies eine Ordensauszeichmmg (Stern zum Rothen Adlerorden 2. Classe), die er im August 1879 empfing, daß sich ihm die Gunst des Monarchen wieder mehr zuwandte. Noch deutlicher trat dies zu Tage, als K. am 28. Mai 1883 die Beförderung zum Wirklichen Geheimen Rathe mit dem Prädicate Excellenz zu Theil wurde. Die Anträge, die K. nachher im Verein [201] mit dem geschickten parlamentarischen Taktiker Freiherrn v. Hammerstein, dem Redacteur der Kreuzzeitung, zwecks einer selbständigeren Stellung der evangelischen Kirche einbrachte und die lange Jahre ein Aushängeschild der conservativen Partei wurden, mußten sein Verhältniß zum Fürsten Bismarck, das überhaupt nach den heftigen Zerwürfnissen trotz aller Versöhnung nie mehr ganz das alte geworden ist, abermals trüben, da Bismarck diesen Bestrebungen völlig gegnerisch gegenüberstand und die Consequenz und Hartnäckigkeit, mit der K. sie verfocht, lästig empfand. Diese Gegnerschaft des Kanzlers ließ aber auch die Gefühle Kleist’s für Bismarck erkalten. Denn ihm schien die Stärkung der Kirche als das dringendste Erforderniß zur Bekämpfung der aus der Tiefe steigenden Gefahren. So empfand er den Sturz des alten Freundes von seiner Macht nur wenig. Mit hellem Jubel begrüßte er den Volksschulgesetzentwurf des Grafen Zedlitz-Trützschler. Auch dieser Staatsmann war ihm verwandt geworden. Hatte doch sein zweiter Sohn Jürgen am 4. Februar 1886 die Tochter des Grafen Zedlitz, Ruth, heimgeführt. Wie neue Jugend überkam es ihn, als die Berathungen über jenen Entwurf begannen. Daß das Gesetz scheiterte, war eine der schwersten Enttäuschungen seines Lebens. Nicht lange darauf, am 20. Mai 1892, schloß er seine Augen. Zu der feierlichen Beisetzung in Kieckow in der von K. erbauten Familiengruft unter der auch von ihm geschaffenen stattlichen Capelle daselbst entsandte Kaiser Wilhelm II. einen seiner Flügeladjutanten.

K. hinterließ zwei Söhne, von denen der eine Landrath in seinem alten Kreise geworden war, und eine Tochter. Beim ältesten, 1852 geborenen Sohne hatte der alte Kaiser, bei der Tochter die Königin Elisabeth Pathe gestanden. Seine Gattin, mit der er in unendlich glücklicher Ehe gelebt hatte, war ihm bereits am 6. April 1885 im Tode vorausgegangen, ebenso sein jüngster Sohn, Lieutenant im 1. Garderegiment zu Fuß, ein Pathenkind König Friedrich Wilhelm’s IV.

Mit K. schied ein ungewöhnlicher Willensmensch aus dem Leben, der die Wurzeln seiner Kraft in einem felsenfesten, kindlichen Glauben, imponirendem monarchischem Sinne und tief im Blute steckendem Standesbewußtsein fand. In mancher Beziehung steht er da wie ein Glaubensheld aus alten Zeiten; getreu seinem Wahlspruch: „Fürchte dich nicht, glaube nur“ wandelte er unbeirrt seinen Weg, auch wenn alles um ihn herum zu zerbrechen schien. Er ist ohne Frage einer der edelsten Menschen seiner Zeit gewesen und bei Freund und Feind in gleichem Maße geachtet worden. Lauter und rein in seinem Wollen wie Wenige, war er von einer Hingabe an seine Ideen, die ihres Gleichen sucht. In seinem Conservatismus vereinigt sich zugleich seine Stärke und Schwäche. Er war nur allzu conservativ. Nichts wurde ihm in politischen Dingen schwerer als sich in die Forderungen der Zeiten und der Lagen hineinzufinden und vom Ueberkommenen abzulassen. Diese Starrheit hat seine Richtung vielfach in Verruf gebracht. Er war aber nicht immer unverbesserlicher Doctrinär, sondern zuweilen auch recht impressionabel und belehrbar, was ihm bei seinem Doctrinarismus zu gute gehalten werden muß. In gewissen Perioden entfaltete sich sein Conservatismus aber wahrhaft segensreich, in jenen kritischen und entscheidungsschweren Augenblicken, wo es geboten war, für die Ideale, auf die er sich eingeschworen füh1te, in die Bresche zu springen, so im J. 1848, so in der Conflictszeit, so bei Schaffung des Socialistengesetzes, so bei Einleitung der socialpolitischen Gesetzgebung. Da hat Kl.-R. seine historische Mission erfüllt. Andere Naturen wie er wären nach dem Mißerfolg am Rheine in den Schatten getreten. Kl.-R. wurde von seiner Feuerseele und seinem unermüdlichen, stets auf das Positive gerichteten [202] Thatendrange aufrechterhalten. Die Parlamentarier, die sich so lange auf der Höhe zu halten wissen, sind selten, und zwar um so mehr, je weniger sie mit der Zeit zu gehen wissen. Bei Kl.-R. grenzt es geradezu an das Wunderbare, wie er sich im politischen Leben behauptet hat, obwol sich um ihn alles neugestaltete. Als er nach einer vierundvierzigjährigen politischen Wirksamkeit starb, war es, als würde er mitten aus seiner Bahn geschleudert, so wenig hat er das Loos der meisten parlamentarischen Doctrinäre getheilt, sich zu überleben.

Wenn der kleine lebendige Mann mit der Adlernase, dem dichten schlohweißen Haar, dem noch in den sechziger Jahren schwarzen, später auch gebleichten Schnurrbart und den buschigen Augenbrauen, der sich fast nur im Geschwindschritt bewegte, im Parlament oder auf der Synode sprach, dann war es, als wenn ein Gießbach mit stürmischem Getose daherrauschte. Schon im J. 1851 fiel dem späteren Hofprediger Kögel sein klangvolles und biegsames Organ auf. Der fand, daß in Kleist’s „Kehle wohlthuende Erzstufen steckten“. Das Kataraktartige seiner Rede wird oft genug hervorgehoben. K. sprach dabei mit einer bewundernswerthen Klarheit und Bestimmtheit und in seinen größeren Reden nach einer feingegliederten Disposition, nicht immer neu und originell – geistvoll und ideenreich ist er weniger zu nennen –, aber die Materie beherrschend und zugleich mit großer Beherrschung der parlamentarischen Form. Zorn, Schmerz, Ironie und mitleidige Ueberlegenheit, alle Stimmungen wußte er gleich vollendet auszudrücken. Seine Schlagfertigkeit und die Unerbittlichkeit, mit der er blitzenden Auges den Gegnern zu Leibe ging, machte ihn bei diesen geradezu gefürchtet. Es war in solchen Fällen, als wenn ein Geier sich über sein Opfer stürzte, und mancher mußte sich buchstäblich ducken, wenn es über ihn herging. Jedermann fühlte, daß die ganze Wucht einer bedeutenden Persönlichkeit in diese Beredsamkeit hineingelegt war.

So wird Hans v. Kleist-Retzow im Gedächtniß der Deutschen als der größte Redner der preußischen conservativen Partei in der Bismarckischen Zeit und ein außergewöhnlicher starker und liebenswürdiger Charakter fortleben.

Vornehmlich nach den Aufzeichnungen Kleist’s in dem von Kypke herausgegebenen Theile der Kleist’schen Familiengeschichte und zahlreichen Familienpapieren. Ich denke, einer mir von der Familie v. Kleist gegebenen Anregung entsprechend, in einiger Zeit bei Cotta ein größeres Lebensbild dieser interessanten Persönlichkeit zu veröffentlichen.