ADB:Lindemann, Friedrich
[675] Studien vorbereitet, trat er, als sein Vater das Pfarramt in Mauersberg bei Wolkenstein übernommen hatte, im J. 1807 in die Lateinschule zu Marienberg ein und besuchte dann seit 1809 die Landesschule zu Meißen. Von hier aus bezog er, einem älteren Bruder folgend, im J. 1811 die Universität Wittenberg, jener um Theologie, er um Philologie zu studiren. Er gehörte dem Seminar von Pölitz an und betrieb mit besonderer Vorliebe das Studium des Griechischen in der griechischen Gesellschaft Lobecks. Der Ausbruch des großen Befreiungskrieges im J. 1813 trieb ihn im März in seine erzgebirgische Heimath zurück. Wie fern aber dem sächsischen Gelehrten damals der Gedanke an eine Theilnahme an diesem Kampfe lag, beweist der kleine Umstand, daß L. während der Waffenruhe eine wissenschaftliche Reise nach Böhmen unternahm und kaum waren die Donner der Völkerschlacht verhallt, als er im November 1813 das verwüstete Leipzig aufsuchte. Hier brachte er unter der Leitung Beck’s und besonders G. Hermann’s seine akademischen Studien zum Abschluß und sah sich bereits im April 1814, nachdem er kaum sein 22. Lebensjahr vollendet hatte, als Conrector an das städtische Lyceum in Torgau berufen, endlich noch zu Michaelis desselben Jahres zum Rector desselben ernannt. Der Frische und Energie seines Wesens gelang es in kurzer Zeit, die Schülerzahl der drei oberen Classen von 40 auf 100 zu steigern; gleichzeitig setzte er im Verein mit gleichgesinnten Collegen seine griechischen Studien eifrig fort und faßte dann den Entschluß, eine Geschichte des vorrömischen Italien zu schreiben. Da dazu die Kenntniß der altitalischen Sprachen ihm unerläßlich schien, so führte ihn dies weiter auf den Gedanken, die lateinischen Grammatiker, zunächst wegen der von ihnen aufbewahrten altitalischen Ueberreste, kritisch herauszugeben. Um dafür den von Bondam gesammelten und in Leyden aufbewahrten Apparat zu benutzen, unternahm er im J. 1817, auf eigene Kosten und von seiner jungen Frau Auguste geb. Müller aus Torgau begleitet, eine etwa halbjährige Reise nach den Niederlanden. Sie vermittelte ihm zwar manche werthvolle persönliche Beziehungen, brachte aber seinem wissenschaftlichen Zwecke nicht die gewünschte Förderung und da auch seine materiellen Verhältnisse in Torgau trotz mancher Anerkennungen und Zusicherungen sehr wenig befriedigten, so bewarb er sich um die sechste Professur an der Landesschule Meißen, die er auch im August 1819 erhielt. Aus dieser auch äußerlich ihm sehr angenehmen Stellung berief ihn 1823 der Rath der Stadt Zittau in das durch die Emeritirung Friedrich August Wilhelm Rudolphs († 1826) soeben erledigte Rectorat des städtischen Gymnasiums. Damit begann für L. eine Periode eingreifender, bedeutungsvoller Wirksamkeit, denn in die Zeit seines beinahe 30jährigen Rectorats fiel die Neugestaltung des gelehrten Schulwesens in Sachsen unter dem mehr und mehr bestimmenden Einflusse des Staates.
Lindemann: Friedrich L., Philolog und Schulmann, geb. am 10. März 1792 zu Jöhstadt im sächsischen Erzgebirge, wo sein Vater Director der Stadtschule war. Von diesem mit mehreren anderen Knaben seines Alters zu wissenschaftlichenSchon unter Rudolph’s Leitung (1798–1823) hatte das Gymnasium seine beiden unteren Classen, die sogen. Lateinschule, an die im J. 1811 errichtete Allgemeine Stadtschule abgegeben und dadurch, sowie durch den Uebergang der für den Landschullehrerberuf bestimmten Schüler auf das eben damals gegründete Seminar sich von unerwünschten Elementen befreit. Die Anstalt zählte also damals vier Classen, doch so, daß die Prima vier Jahrgänge umfaßte. Wer es irgend vermochte, ließ seine Söhne privatim für den Eintritt in die Prima vorbereiten, sodaß die übrigen Classen im ganzen nur die weniger tauglichen Bestandtheile enthielten. Dazu war die Zahl der Lehrer allzu gering (nur fünf ordentliche und ein Collaborator), die Besoldung durchweg ungenügend, Lehrmittel so gut wie nicht vorhanden, und so treulich Rudolph auch gearbeitet, diese äußeren Hindernisse waren ihm unüberwindlich gewesen. Selbst in den classischen Sprachen hatte so die Schule nicht die wünschenswerthe Höhe zu behaupten [676] vermocht. „Der lateinische Vortrag theils gänzlich verschwunden, theils auf einige zeitraubende Dictate oder einige Worte beim Beginn der Lectionen zusammengeschrumpft, nur noch gleichsam als eine Erinnerung an die vergangene Zeit, Vielen zum Schrecken, im öffentlichen Examen beibehalten; im Griechischen Reuchlinische Aussprache, accentuirtes Lesen der Verse, wenig Formenfestigkeit, geringe Kenntniß der Syntax, so war der wahre Zustand des Gymnasiums“, sagt ein glaubwürdiger Zeitgenosse. In diese Verhältnisse griff L. sofort mit kräftiger Hand ein, eine markige Persönlichkeit von ausgeprägter Eigenart, schonungslos, ja heftig gegen alles, was ihm als Trägheit oder niedere Gesinnung erschien, aber die Tüchtigen fesselnd durch ernste Milde und jene Frische des Unterrichts, wie sie nur fortgesetzte wissenschaftliche Studien vermitteln, seinen Collegen gegenüber hülfreich und rücksichtsvoll ohne schwächliche Nachgiebigkeit, auch im Verkehr mit Behörden und Bürgerschaft ebenso geeignet als gewillt, seine Anstalt und sein Collegium fest und würdig darzustellen und zu behaupten. Eben in diesen mehr äußeren Beziehungen griff er zuerst durch. Sogleich im J. 1824 führte er förmliche Aufnahmeprüfungen und die feierliche Entlassung der zur Universität Uebergehenden ein, 1826 auch die Maturitätsprüfung, drei Jahre eher als die sächsische Regierung sie allgemein anordnete (4. Juli 1829). Im Unterricht ließ er zunächst aus Mangel an geeigneten Lehrkräften die Mathematik und die Naturwissenschaften ganz ausfallen; jene wurde jedoch wieder aufgenommen, als Michaelis 1825 durch die Berufung Leopold Immanuel Rückert’s, des nachmals bekannten Jenaischen Theologen († 1871) ins Conrectorat eine tüchtige Persönlichkeit gewonnen worden war; die Naturwissenschaften dagegen wurden erst seit Ostern 1831 wieder betrieben. Persönlich arbeitete L. natürlich besonders an der Hebung der classischen Studien. Langsamer ging es mit dem Ausbau der Organisation vorwärts, die das Mandat vom 4. Juli 1829 zuerst übereinstimmend zu regeln begann. Mit Ostern 1830 wurde endlich ein sechster ordentlicher Lehrer angestellt, die Zahl der Classen auf sechs vermehrt. In die Debatte über die Neugestaltung des Gymnasialwesens griff L. durch ein paar kleine Schriften lebhaft ein („Die wichtigsten Mängel des Gelehrtenschulwesens im Königreiche Sachsen, nebst Anträgen zu deren Verbesserung“, 1833, „Die Verhandlungen über den Entwurf eines Gesetzes, die Organisation der Gelehrtenschulen betreffend, in der ersten Kammer der hohen Ständeversammlung des Königreichs Sachsen, 1834“). Das Regulativ vom J. 1847 hat er dann auch an seiner Anstalt gewissenhaft durchgeführt, nur die darin vorgeschriebenen anderthalbjährigen Curse hat er mit ministerieller Genehmigung bald wieder beseitigt. Sein fünfundzwanzigjähriges Rectoratsjubiläum im December 1848 brachte ihm neben zahlreichen Beweisen der Anerkennung auch den Professortitel. Ein besonders großes Verdienst erwarb sich seine Verwaltung durch die systematische Vermehrung der Schulbibliothek, die im J. 1823 nur etwa 60 Bände zählte, und durch die Begründung eines ansehnlichen Apparates an Lehrmitteln für den geographischen und naturwissenschaftlichen Unterricht, an denen es bis dahin gänzlich gefehlt hatte. In beiden Beziehungen sah sich L. durch verhältnißmäßig ansehnliche Beiträge der Stadtgemeinde gefördert. Auch eine Schülerbibliothek entstand damals allmählig (seit Ostern 1827). Die Schülerzahl war niemals sehr groß (höchstens 100) und ziemlich beträchtlichen Schwankungen unterworfen. Doch haben unter L. mehrere nachmals bedeutende Gelehrte den Grund zu ihrer Bildung gelegt. Wir nennen unter den seither Verstorbenen nur Moritz Haupt und Hermann Lotze, unter den noch Lebenden Moritz Willkomm.
Seine wissenschaftlichen Studien setzte L. stets mit unermüdlichem Eifer fort. Die zahlreichen stiftungsmäßigen Gedächtnißreden (Orationen) und die Pflicht, den Jahresbericht zu verfassen, nöthigten fortwährend zur Herausgabe kleiner [677] Gelegenheitsschriften, deren allein in Zittau von ihm 64 erschienen sind. Mit besonderer Vorliebe führte er die schon in Torgau begonnenen Studien zu einer kritischen Ausgabe der lateinischen Grammatiker fort. Im J. 1818 gab er „Prisciani opera minora“ heraus, 1820 folgte „Pompeji commentum artis Donati. Ejusdem in librum Donati de Barbarismis et Metaplasmis commentariolum. Accessit ars grammatica Servii“. Auf die zu erwartende Gesammtausgabe wies er dann hin durch „De nova editione grammaticorum Latinorum epistola ad Nieburium“, 1828. 1831–34 erschien endlich in vier stattlichen Quartbänden das „Corpus Grammaticorum latinorum veterum“, das wissenschaftliche Hauptwerk seines Lebens. Kleine Gelegenheitsschriften legten zugleich Zeugniß ab von seinen, besonders den ältesten Stufen des Lateinischen zugewandten Studien (so die Aufsätze „De originibus linguae latinae“, 5 Thle., 1828–31). Wie von selbst kam er durch solche Beschäftigung auch auf die Komödien des Plautus. Schon 1822 erschienen „Plauti comoediae tres, Captivi, Miles gloriosus, Trinummus“, 1830 besondere Ausgaben der Captivi und des Trinummus 1834 Plauti Amphitruo, 1841 die 2. Auflage der Ausgabe von 1822. Gewiß ist die neuere Kritik weit über Lindemann’s Arbeiten hinausgekommen, immerhin darf man sagen, daß er ein Vorläufer Fr. Ritschl’s und K. Keil’s, ja in Bezug auf den Grundgedanken der Erforschung der altitalischen Dialekte, auch Th. Mommsen’s gewesen ist. Von den lateinischen Autoren hat er sonst noch mit Horaz und Cicero sich kritisch beschäftigt und im J. 1828 „M. Tullii Ciceronis ut ferunt Rhetoricorum ad Herennium libri IV. Ejusdem de inventione rhetorica libri II“ nach der Bearbeitung von Graevius und Burmann neu herausgegeben. Mehr praktische Zwecke verfolgte sein „Uebungsbuch zur Fertigung griechischer Verse für die mittleren und oberen Classen der Gymnasien“, 1824, und der „Novus thesaurus linguae latinae prosodiacus“, 1827. Später galten seine Arbeiten besonders Homer und den griechischen Tragikern, von denen er manche Stücke geschmackvoll übersetzt hat (so Euripides Hecuba, Rhesus, Phönissen, Iphigenia in Aulis, Sophokles’ Antigone), leider nur in wenig verbreiteten Schulschriften. Daneben fand er Interesse auch für griechische und römische Alterthümer und selbst für ferner abliegende Gegenstände. So beschäftigte er sich eine Zeit lang nicht nur mit dem Althochdeutschen, sondern sogar mit dem Sanskrit und dem Arabischen, wie denn überhaupt feste Concentration auf einen Punkt nicht seine Sache war. Bei solcher Vielseitigkeit konnte ihm die Regierung im J. 1840 zunächst provisorisch, im März 1841 definitiv die Leitung der königl. Gewerbeschule und Baugewerkenschule übertragen; seine Theilnahme für diese neue Wirksamkeit sollte eine kleine Gelegenheitsschrift „Einige Andeutungen über die Bauschulen des Alterthums“ (1841) erweisen. Selbst rein praktischen Interessen blieb er nicht fern. Er wurde Mitvorsteher des Gewerbevereins und Begründer des pomologischen Vereins, in dessen Namen er auch die Zeitschrift „Opora“ und das „Obstzuchtbüchlein“ herausgab; ja er lehrte damals als Pomolog am Seminar und hatte seine Freude an den schönen Obstsorten seines Rectoratsgartens, die er mit Liebe und Verständniß pflegte. So beinahe zerstreuende Thätigkeit machten ihm vielleicht seine häuslichen Verhältnisse zu einer Art Bedürfniß. Seine Gattin versank in tiefe Schwermuth, aus der erst nach jahrelangem Leiden der Tod sie erlöste; Kinder hatte er nicht. Aber auch ihn selbst erfaßte seit 1847 ein hartnäckiges Herzleiden. Zwei Badereisen nach Kissingen blieben ohne Frucht, eine Kur in Karlsbad (1851) verschlimmerte sogar seinen Zustand. Matt und muthlos nach Hause zurückgekehrt, konnte er den Pflichten seines Berufes nur noch mit größter Anstrengung genügen und bat endlich im November 1852 um einen längeren Urlaub, der ihm bis zum 1. April 1853 gewährt wurde. Kurz darnach aber kam er um [678] Entlassung ein und ging mitten im Winter nach Eisleben in das Haus eines Bruders, dann nach Boppard am Rhein, wo eine Kaltwasserkur eine scheinbare Besserung herbeiführte. Trotzdem bestand er auf seiner Emeritirung und kehrte im September 1853 nur noch auf einige Tage nach Zittau zurück, um Abschied zu nehmen. Den Winter brachte er in Wiesbaden zu, aber am 15. Juni 1854 verschied er in Boppard, fern von der Heimath und den Freunden. Treue Verehrer haben später sein Grab mit einem Denkmale geschmückt. Er selbst hatte sich ein unvergängliches Andenken gestiftet, indem er seine reichhaltige Bibliothek, an 3000 Bände, dem Gymnasium testamentarisch vermachte.
- H. Kämmel, Friedrich Lindemann, Director des Gymnasiums in Zittau, 1854. Rückblicke auf die Geschichte des Gymnasiums in Zittau (1871 ff.), S. 49 ff. F. Lachmann, Andenken an Friedrich Lindemann. Gedächtnißrede, 1854. H. M. Rückert, Das Gymnasium zu Zittau in den Jahren 1823 bis 1848 (Festschrift zu Lindemann’s Rectoratsjubiläum), 1848.