ADB:Müller, Johann Friedrich Wilhelm
Joh. Gotth. M. (s. o.) und dessen zweiter Frau, Rosine geb. Schott. Er durchlief das Stuttgarter Gymnasium, dessen obere Abtheilung damals von der aufgelösten Karlsschule treffliche Lehrkräfte überkommen hatte. Früh aber hatte er sich auch schon im Zeichnen geübt und obwohl seine Lehrer „es nach ihrer Art zu sehen für Schade hielten, wenn er sich nicht ganz den Wissenschaften ergebe“, entschied er sich schon im 14. Jahre aus freier Wahl für die Kunst. Er ließ sich neben dem Gymnasium von seinem Vater in der Geometrie und Perspective unterweisen; der Bildhauer Professor Scheffauer gab ihm Unterricht im Zeichnen nach plastischen Werken; auch der kinderfreundliche Dannecker nahm sich damals und später seiner Bestrebungen liebreich an. Friedrich scheint sich künstlerisch ungewöhnlich rasch entwickelt zu haben; aber eine bösartige Blatternkrankheit, die er schon in seinem zweiten Lebensjahre durchzumachen hatte und wol auch die frühe leidenschaftliche Kunstübung, legten bei ihm den Grund zu einer hypochondrischen Anlage, unter der er vielfach selbst in der Jugend zu leiden hatte. Schon von 1797 an stach er Blätter nach Edelinck, Goltzius u. A., und kaum hatte er im J. 1800 das Gymnasium verlassen, als er von Frauenholz in Nürnberg den Auftrag erhielt, als Seitenstück zu seines Vaters Loder ein Bildniß des bekannten preußischen Leibarztes und Professors Chr. Wilh. Hufeland nach Fr. Tischbein zu stechen. Es erschien im J. 1802 als seine „erste Originalplatte“. Schon im Herbst desselben Jahres sandte ihn der Vater nach Paris. M. wurde in der Académie des Arts, deren Mitglied sein Vater war, sowie von Wille und andern Freunden desselben aufs Beste aufgenommen. An dem Kupferstecher Heinr. Guttenberg und dessen Schülern Geißler und Reindel, sowie an den französischen Fachgenossen Desnoyers und Bervic fand er den anregendsten Umgang. Von dem Letzteren, dem begabtesten französischen Schüler Wille’s, zeichnete er ein Brustbild nach dem Leben. M. muthete sich aber bald im Studium und in der Arbeit mehr zu, als seine zarte Constitution ertragen konnte. Er stach damals nach einer Zeichnung seines Vaters das von Ph. F. Hetsch gemalte Porträt des Hofkammerrathes Martin Notter, des Großvaters des Dichters Friedrich Notter. Nach Vollendung dieser Platte „fiel er in eine solche Ermattung, daß er sich für unfähig hielt, je wieder etwas zu unternehmen“. Um diesem neurasthenischen Zustand ein Ende zu machen, nahm ihn ein Freund seines Vaters, der Schweizer Maler Kymli, aufs Land, wo die reinere Luft und Flußbäder bald das Ihrige thaten. Um ihn leichter und angenehmer zu beschäftigen, unterrichtete ihn Kymli im Malen, was seiner Stecherkunst sicher sehr zu Gute kam. Friedrich malte rasch hintereinander drei Bildnisse nach der Natur, darunter sein eigenes (1803). Nach wenigen Monaten kehrte er mit so frischer Arbeitskraft und -Lust nach Paris zurück, daß er gleich zwei neue Platten in Angriff nahm. Die Herausgeber des Musée français, für welches wir schon seinen Vater beschäftigt fanden, übertrugen ihm den Stich einer antiken Statue, der sogenannten Venus von Arles (im Louvre) nach einer Zeichnung von Granger; einer derselben, Robillard-Perronville beauftragte ihn für seinen Privatverlag mit dem Stich einer schönen modernen Statue „La Jeunesse“ des Bildhauers François le Masson, gezeichnet von Bouillon. Die beiden Blätter zeigen eine merkwürdige Verschiedenheit. Bewegt sich M. bei der offenbar zuerst gemachten Venus von Arles auf dem ihm neuen Felde des Marmorstiches mit der überkecken Sicherheit eines jungen Gesellen, nicht ohne da und dort einmal zu straucheln, so hat er dagegen in „La Jeunesse“ schon den besonnenen Gang eines angehenden Meisters. Das letztere Blatt zeichnet sich in der That ebenso durch [618] seine Formdurchbildung, wie durch treueste Wiedergabe des besonderen Stoffcharakters des Marmors vor den meisten Statuenstichen jener Zeit aus. – Eine neue Gelegenheit zur Bewährung im Porträtstich gab M. im J. 1805 der Erbprinz von Württemberg, der nachmalige König Wilhelm, welcher von Italien über Paris nach Hause ging und sich von ihm zeichnen und stechen ließ. Als letzte Arbeit in Paris – ein nicht in den Handel gekommenes Porträtmedaillon von Napoleon gehört wol in die frühere Stuttgarter Zeit – legte er die Platte des heiligen Johannes, des Evangelisten nach Domenichino an, von welchem Bilde (damals im Besitz des Regierungsraths Fromman in Stuttgart, jetzt in der Eremitage in St. Petersburg) er sich schon von Stuttgart eine Zeichnung mitgebracht hatte. Zugleich zeichnete er im Louvre Domenichino’s heilige Cäcilie, welche sein Vater für das Musée français zu stechen übernahm. Im August 1806 trat er über Lausanne, Bern und Zürich die Rückreise nach Stuttgart an. Man kann sich kein schöneres Zusammenleben von Vater und Sohn denken, als wie es die beiden M. damals hatten, der Vater mit seiner Cäcilie, der Sohn mit seinem Johannes beschäftigt, beide in friedlichem Wettkampf um den höchsten Preis einer und derselben Kunst. Die Palme trug unstreitig der genialere Sohn davon; für den Vater aber konnte es keine bessere Entschädigung geben, als die Unterschrift unter dem im J. 1808 fertig gewordenen Johannes: „Seinem Vater und Meister Joh. Gotth. M. gewidmet von seinem Sohne“. – Noch in demselben Jahre 1808 erhielt er von dem Kunsthändler Rittner in Dresden den Antrag, die „Sixtinische Madonna“ von Raphael in der dortigen Gallerie zu stechen. Rittner hatte sie zu diesem Zwecke von der Malerin Apollonie Seydelmann geborene de Forgue († 1840 zu Dresden) zeichnen lassen. Obwol diese Frau (vgl. über sie Kunstblatt 1840, S. 280) als Copistin italienischer Bilder einen großen Ruf besaß, konnte die Zeichnung dem geübten Auge Müller’s nicht in allen Stücken genügen. Er entschloß sich deshalb, nachdem er den Auftrag angenommen hatte, zunächst in Dresden das Original zu sehen und theilweise zu copiren, und dann nach Italien zu reisen, um sich dort in die Kunst Raphael’s gründlich einzuleben. Im August 1808 kam er nach Dresden, im September nach Wien, im October nach Rom, überall von Künstlern und Kunstfreunden so aufgenommen, wie es der Ruf seines Vaters und sein eigener erwarten ließen. In Rom zeichnete er den Winter über unermüdlich Studien nach Raphael, Einiges auch nach Michel Angelo (s. d. chronologische Verzeichniß sämmtlicher von dem verewigten Professor Joh. Friedr. Wilh. Müller in Kupfer gebrachten Werke, nebst Anhang von einigen hinterlassenen Zeichnungen desselben im Kunstblatt 1816, S. 81 fl.; die ganze Reihe der Zeichnungen befindet sich jetzt im Cabinet Müller in Stuttgart). Von dem bedeutendsten modernen Gemälde, welches damals in Rom ausgestellt war, dem „Apoll unter den Hirten“ seines württembergischen Landsmannes Gottlieb Schick, bestellte er eine Copie in halber Größe, welche aber unvollendet blieb. Im Frühjahr machte er auch einen Ausflug nach Neapel und ging dann von Rom über Mailand und die Schweiz nach Stuttgart zurück, wo er im August 1809 ankam. Die im Februar 1809 ausgegebenen Abdrücke seines Johannes hatten inzwischen ihren Weg überallhin gefunden; sie genossen namentlich von Seiten der Frauen eine fast schwärmerische Verehrung. M. ließ im J. 1812 die Platte durch seinen Schüler M. Eßlinger unter seiner Aufsicht neu bearbeiten [s. darüber Pfeiffer, S. 273). Die Einladung der Gebrüder Boisserée, für ihren „Dom zu Köln“ zu arbeiten, lehnte Friedrich, wie sein Vater ab, blieb aber mit denselben in freundschaftlicher Verbindung. Mit Sulpiz reiste er im August 1810 nach Heidelberg. Es war wol auf der Rückreise von da, daß er in Karlsruhe J. P. Hebel kennen lernte und sein Bildniß nach der Natur [619] zeichnete, welches er später danach stach. Auch sein Schüler Lips machte nach dieser Zeichnung einen Stich in größerem Format. Im October dieses Jahres führte M. Henriette Rapp, die Tochter von Heinrich Rapp’s Bruder Georg, ein geist- und gemüthvolles Mädchen, als Frau heim und wurde dadurch der Neffe Dannecker’s, in dessen Haus Henriette erzogen war. – Mit der Platte zur Sixtinischen Madonna hatte er noch im J. 1809 begonnen, aber er konnte an diesem Werke nicht unausgesetzt arbeiten. Unter den leichteren Zwischenarbeiten ist zunächst eine Radirung nach Eberh. Wächter’s Bild: „Hiob und seine Freunde“ (Stuttg. Staatsgallerie) zu nennen; M. ließ aber nach 12 Abdrücken die Platte wieder abschleifen, weil sie ihn nicht befriedigte. Für die erste Gesammtausgabe von Schiller’s Werken (1812–15) stach er das Bildniß Schiller’s nach Dannecker’s Colossalbüste. Von 1810–13 machte er nach einer eigenen Zeichnung von Raphael’s Wandgemälde im Vatican, Adam und Eva, den mit der Bezeichnung „Der Sündenfall“ ausgegebenen schönen Stich, der sich durch besondere Schlichtheit der technischen Mittel auszeichnet. In jene Zeit fällt vermuthlich auch das Brustbild des Philosophen und Dichters Joh. Georg Jacobi, nach Joh. Zoll gestochen für Jacobi’s Werke. Die einzige Lithographie, welche M. machte, die auf einem Blatt vereinigten Köpfe von Raphael und Perugino stammt aus dem J. 1809. Eine vielverheißende Wendung in Müller’s Lebensgange brachte das Jahr 1814: er erhielt einen Ruf als Professor der Kupferstecherkunst an die Akademie in Dresden. Sein Landesherr hatte ihn zwar im März 1813 durch den Titel: „Zweiter Hofkupferstecher“ geehrt (der erste war damals sein Vater), aber es scheint nicht, daß der Versuch gemacht wurde, ihn durch Zuweisung einer Besoldung in Stuttgart festzuhalten. Ueberdies fand ja M. das Original seiner Madonna in Dresden, an deren höchster Vollendung er schon mit einer Art von religiöser Schwärmerei arbeitete, wobei er sich wohl immer mehr überzeugte, daß die Zugrundelegung der Seydelmann’schen Zeichnung ein großer Fehler war. Dieser Vermuthung wird sich Niemand erwehren können, welcher die einzelnen von M. selbst in Kreide copirten Theile des Originals (im Müllercabinet in Stuttgart), z. B. den Kopf der Madonna, die Arme und Hände der Engel u. A. mit dem Stiche vergleicht. So nahm er denn, um wenigstens die letzte Hand vor dem Originale selbst anzulegen, den Ruf freudig an und zog noch im J. 1814 mit seiner Gattin und zwei Kindern nach Dresden. Ueber die Entwicklung seiner dortigen Verhältnisse sind nun aber die Nachrichten sehr dürftig. Auch die neueste sonst so inhaltsreiche Biographie der beiden M. von Berthold Pfeiffer, giebt kein genügendes Licht. Es war wol bedenklich, daß M. seinen Ruf nicht von einer regelmäßigen Regierung, sondern von dem durch die Verbündeten eingesetzten Generalgouvernement erhalten hatte, welchem der russische Generalmajor Fürst Repnin vorstand. Als aber der König Friedrich August I. von Sachsen im J. 1815 nach Dresden zurückkam, erhielt die Kunstakademie in dem Hofmarschall Grafen von Vitzthum einen neuen Chef, und erlitt mancherlei Modificationen, wobei die Errichtung einer Kupferstecherschule, wozu M. berufen worden war, in Frage gestellt wurde. Bei seiner hypochondrischen Natur mochte M. sich durch die vorgenommenen Veränderungen und Beschränkungen, wie sie die Lage des erschöpften und verkleinerten Landes mit sich brachte, tiefer gekränkt fühlen, und die Zukunft seiner Sache für hoffnungsloser ansehen, als in der Natur jener Uebergangsverhältnisse begründet war. Auch mit seiner Platte gab es, nachdem sie fertig war, noch allerlei Druckschwierigkeiten, welche zur Verschlimmerung seines aufgeregten Zustandes beitrugen. Kaum hatte er dieselbe in die Hände seines Verlegers abgegeben, welcher damit nach Paris reiste, um sie dort drucken zu lassen, als seine Kräfte zusammenbrachen. Er verfiel in düstere Schwermuth [620] und bald in völligen Wahnsinn (vgl. darüber außer Heinr. Rapp’s Nekrolog den Bericht eines Ungenannten aus Dresden im Kunstblatt, Jg. 1816, S. 26). Seine religiösen Phantasieen und Visionen fanden zum Unglück noch Gläubige, (s. W. von Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes, S. 276 ff.), wodurch seine Aufregung gefährlich gesteigert wurde. Er wurde in die Irrenanstalt des Dr. Pienitz auf dem Sonnenstein bei Pirna verbracht, wo er am 3. Mai 1816 ein frühes Ende fand. Nach Hagen (Die deutsche Kunst in uns. Jahrh., Th. 1., S. 117–18) soll er mit List den Wächter für kurze Zeit zu entfernen gewußt und diese benützt haben, um durch einen Sprung durch das Fenster seiner Haft zu entrinnen. Wir haben diese Nachricht sonst nirgends gedruckt gefunden, wagen sie aber nicht zu verschweigen, weil sie in dem obgenannten Dresdener Bericht zwischen den Zeilen zu lesen ist und auch mit guten Stuttgarter Traditionen übereinstimmt. Der Kranke scheint die Wahnvorstellung gehabt zu haben, daß er in freier Luft nicht falle, sondern unter himmlischem Beistande emporschweben werde. An eine dauerhafte Genesung wäre übrigens dem Ausspruch der einsichtsvollsten Aerzte zufolge nicht mehr zu denken gewesen. Bei seiner Leiche wurde ein, wenige Stunden zuvor aus Paris eingetroffener tadelloser Abdruck seiner Madonna aufgestellt. Das wunderbare Blatt fand bei den Zeitgenossen die verdiente Aufnahme. Goethe (Ueber Kunst und Alterthum, Heft 2, S. 165 ff.) widmete demselben eine ausführliche Besprechung voll wärmster Anerkennung. Die Nachfrage war so groß und anhaltend, daß der Verleger die Platte wiederholt nacharbeiten lassen mußte (vgl. darüber Apell, Handbuch für Kupferstichsammler, S. 304). Es ist hier nicht der Ort, Müller’s Arbeit mit denen seiner Nachfolger zu vergleichen (s. Pecht, Die Sixtinische Madonna und Mandel’s Stich derselben in der Beilage zur (Münchener) Allgem. Zeitung 1883, S. 4505–06, und von Reumont, Die Madonna Sixtina und der Kupferstich Ed. Mandel’s, im Repert. für Kunstwissenschaft, Bd. VII, S. 163 ff.), aber das wird zur Ehre Friedrich Müller’s gesagt werden dürfen, daß sie zwar nicht die treueste, aber die congenialste Wiedergabe des Raphael’schen Werkes ist. – Ein Selbstporträt Müller’s vom J. 1803 (s. o.) besitzen seine Nachkommen. Mit Gedichten haben ihn und seine Madonna gefeiert: Vischer (Morgenblatt 1816, S. 641), Haug ebendas. S. 681), Fr. K. (Kunstblatt 1816, S. 65), Seubert, Die Sterne Schwabens, (S. 266) und B. Pfeiffer, (S. 277).
Müller: Johannes Friedrich Wilhelm M., Kupferstecher, geb. den 11. December 1782 zu Stuttgart, † den 3. Mai 1816 auf dem Sonnenstein bei Pirna, war der älteste Sohn des Kupferstechers- Vgl. den Nachruf (von ?) im Kunstblatt, Jg. 1816, S. 25 und 26 (mit der falschen Ueberschrift: Christian Friedrich M.); den Nekrolog von H.(einrich) R.(app), im Morgenblatt 1816, S. 749 ff.; J. Longhi, Die Kupferstecherei, übers. v. C. Barth, Th. l, S. 210 ff.; Andresen und Pfeiffer wie oben bei J. G. Müller.